Achim Russer


Sarkozys Alleinherrschaft


»Ich oder das Chaos« – der Umbau der politischen Führungsstruktur nach Unternehmensleitbildern

Der tatkräftige Präsident, der mutig gegen die Windmühlenflügel des Finanzkapitals ankämpft? Der Schein trügt. Nicolas Sarkozy ist auf ganz anderen Feldern kämpferisch. Er hat nicht nur die starke Position des Präsidenten in der 5. Republik ausgebaut, sondern mittlerweile nahezu allen wesentlichen Kontrollinstanzen, von der Regierung bis hin zur Justiz, die Flügel gestutzt. Er ist dabei, die französische Demokratie in eine Monokratie umzuwandeln, in die Richtung eines autoritären Staates. Mit politischen Gegenkräften muss er kaum rechnen.


Öffentlich lässt der französische Staatspräsident keine Gelegenheit aus, dem Finanzkapital die Leviten zu lesen. Ob es um erneut explodierende Bonuszahlungen an Finanzjongleure geht oder um die Weigerung französischer Banken, der produzierenden Wirtschaft mit Krediten auf die Beine zu helfen: Niemand wettert vollmundiger gegen Spekulanten und Profiteure staatlicher Subventionen, droht unmissverständlicher mit Konsequenzen und der Abstrafung Schuldiger. Diese deutliche Sprache und seine Appelle an den nicht vorhandenen europäischen Gemeinschaftsgeist haben Sarkozy in Deutschland seit dem vergangenen Herbst Anerkennung verschafft.

In Frankreich, wo man die großen Sprüche des Präsidenten gewohnt ist, lasen sich seine antiliberalen Diatriben von vornherein etwas anders. Sie wirken hier mehr als rhetorisches Ablenkungsmanöver von wirtschaftspolitischem Ungeschick und sozialpolitischem Versagen, das ihn, der sich vor seiner Wahl noch für Hypothekenkredite nach amerikanischem Muster ins Zeug legte, seither nicht verlassen hat. Der Öffentlichkeit eingeprägt hat sich vor allem die misslungene Initiative zur Kaufkrafterhöhung: der Slogan Travailler plus pour gagner plus (»mehr arbeiten, um mehr zu verdienen«) wurde bald zur Lachnummer, Sarkozys Selbsternennung zum président du pouvoir d’achat (»Kaufkraftpräsident«) zum Markenzeichen für haltlose Ankündigungen.

Im Windschatten der Auseinandersetzungen um seine ökonomischen Fehlleistungen und privaten Affären brachte Sarkozy in der Zwischenzeit jedoch einen Umbau des Staates in Gang, der, anders als seine antikapitalistische Rhetorik, Folgen hatte. Als Kern dieses Projekts lässt sich die Ausweitung der Machtfülle des Staatschefs ausmachen – die umgehend veranlasste Aufbesserung seiner persönlichen Bezüge um 172 Prozent (der französische Präsident genießt unter anderem das Privileg, über die Höhe seines Einkommens selbst zu entscheiden) gab davon bereits einen gewissen Vorgeschmack. Um jedoch Umfang und Tragweite der Veränderungen einschätzen zu können, die sich in der Organisationslogik der 5. Republik seither vollzogen haben, müssen wir etwas weiter ausholen.


Die 1958 verabschiedete Verfassung der 5. Republik machte dem »Parteienregime« der 4. bekanntlich durch die Dominanz des Staatspräsidenten ein Ende, der, gewählt als Kandidat einer Partei, durch seine Wahl wunderbarerweise mit einem Schlag von allen Parteien unabhängig wird. Über ihnen wie überhaupt über allem schwebend, von der Justiz ohnehin nicht belangbar, aber auch keinem Parlament verantwortlich, Regierungen nach Gutdünken einsetzend und entlassend, war und blieb er niemandem sonst Rechenschaft schuldig als dem Volk, das er während seiner Amtszeit in wichtigen Fragen konsultieren sollte. So hielt es de Gaulle, und als er 1969 ein Referendum verlor, trat er konsequenterweise zurück – ein Beispiel, dem allerdings keiner seiner Nachfolger sich anschloss, so deutlich die Ablehnung der vom jeweiligen Präsidenten vorgeschlagenen Politik auch ausfallen mochte.

Die »Begegnung zwischen einem Mann und einem Volk« (de Gaulle), dieser Ursprungsmythos der 5. Republik und Legitimationsgrund für die Machtfülle des Staatschefs, war damit im Grunde schon passé. Sarkozy hat durch seine Erklärung, auf das Instrument des Volksentscheids gar nicht erst zurückgreifen zu wollen, und durch seine Entscheidung, das störende Ergebnis des letzten Referendums (die Ablehnung des Europavertrags) auf parlamentarischem Weg auszuhebeln, damit inzwischen auch offiziell gebrochen.

Mit dem Wegfall der Institution des Referendums steht der Alleinherrschaft des französischen Staatschefs während seiner Amtszeit nicht mehr viel im Wege. Zwar sieht die Mischung aus plebiszitärer Führerdemokratie und parlamentarischer Republik, als die der Verfassungstext sich liest, eine exekutive Doppelspitze vor: neben dem Präsidenten, der bei aller Machtfülle mehr fürs Repräsentieren da ist (und der nur in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik ausdrücklich das letzte Wort hat) einen Premierminister, der »die Politik der Nation bestimmt und führt« (Art. 20). Da er zwar vom Präsidenten ernannt, aber von der Assemblée Nationale bestätigt werden muss, waren bei einem Mehrheitswechsel im Parlament stets jene »Kohabitationen« erforderlich, die einst Mitterrand einen Premierminister Chirac und später dem Präsidenten Chirac einen Premierminister Jospin aufzwangen – Machtverschiebungen zugunsten des Parlaments gegenüber dem Präsidenten, dem in diesen Fällen tatsächlich nicht viel mehr zu tun blieb als eben: zu präsidieren. Solche »großen Koalitionen à la française« mindern zwar den Einfluss des Präsidenten; dafür entsprechen sie umso besser der doppelten Legitimation der Staatsspitze durch direkte Wahl und parlamentarischen Auftrag: Nur wenn der Premierminister nicht dem Lager des Präsidenten angehört, kann er, wie die Erfahrung zeigt, die Politik des Landes tatsächlich »bestimmen und führen«. Bei der Bevölkerung war eine solche Aufsplittung der Exekutivgewalt im Übrigen gut gelitten, bei führenden oder führenwollenden Politikern aber umso unbeliebter, und so reduzierten sie per Referendum – das Volk, erfreut von der Aussicht, Chirac früher als erwartet los zu sein, stimmte mit großer Mehrheit zu – die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre, um seine Wahl mit der des ebenfalls auf fünf Jahre zu wählenden Parlaments synchronisieren zu können. Denn dass es mehrheitlich anderer politischer Couleur ist als der fast im selben Atemzug gewählte Präsident, ist einigermaßen auszuschließen.

Nichts zwingt den Präsidenten jetzt mehr, im Verlauf seiner Amtszeit mit dem ungewissen Ausgang einer Parlamentsneuwahl rechnen zu müssen und sich die Regierungsmitglieder gegebenenfalls von seiner Opposition vorschreiben zu lassen. Der nun zwangsläufig unter den Getreuen des Staatschefs auserwählte Premierminister aber sinkt faktisch zu dem bloßen »Mitarbeiter« herab, als den Sarkozy seinen Fillon tatsächlich schon öffentlich titulierte. Die Fachminister aber tun gut daran, sich weniger an ihren Premierminister zu halten als an die zuständigen Berater Sarkozys im Präsidialamt, wo inzwischen eine veritable Schattenregierung ministerielle Vorlagen darauf prüft, wie weit sie den präsidentiellen Wünschen entsprechen – eine Verlagerung der Kompetenzen, die natürlich voraussetzt, dass die Betroffenen mitspielen und weiter so tun, als seien sie noch immer Minister (oder gar der erste unter ihnen) und nicht bloß ausführende Organe allerhöchster Order. Sollten sie etwas gegen diese Spielregel einzuwenden haben, können sie ja immer noch ihren Abschied nehmen.

Mit der von der Verfassung postulierten parteipolitischen Neutralität des Staatschefs ist es auch nicht mehr weit her, seit Sarkozy nach der Wahl zwar notgedrungen den Vorsitz seiner Partei niederlegte, sich dort aber von einer »kollegialen Führung« ablösen ließ, aus deren Reihen ihm niemand gefährlich werden kann; darüber hinaus nahm er sich die Freiheit, weiterhin an den Sitzungen ihres Politbüros teilzunehmen und damit den Apparat im Griff zu behalten, der den Kandidaten für seine Nachfolge nominiert – eine Rolle, in der Sarkozy sich niemand anderen vorstellen kann als sich selbst.


Diesen Umbau der politischen Führungsstruktur nach dem Leitbild französischer Unternehmen, in denen alle Entscheidungskompetenzen letztlich in den Händen eines allmächtigen Président Directeur Général zusammenlaufen – die Bezeichnung ist praktisch unübersetzbar, denn der »PDG« vereint die Zuständigkeiten von Vorstandsvorsitzendem und Generaldirektor in deutschen Unternehmen –, vernebelt ein Rauchvorhang von verfassungsändernden Maßnahmen untergeordneter Art, der Konstitutionalisten und Publizisten Gelegenheit gibt, ihren Scharfsinn an expliziten und breit diskutierten, aber weniger relevanten Neuerungen zu wetzen. So etwa daran, dass die Regierungserklärung des Premierministers vor dem Abgeordnetenhaus, bisher der entscheidende Moment der Bekanntgabe strategischer Orientierungen, inzwischen durch eine Ansprache des Präsidenten an die Mitglieder beider Häuser des Parlaments überwölbt wird, nach der der Redner sich vornehm zurückzieht. Eine Aussprache findet nicht statt, geschweige denn ein Votum der Volksvertreter. Wozu auch, nachdem sie ihre Instruktionen erhalten haben? Vergleicht man die in Versailles zelebrierte neofeudale Inszenierung mit dem Zeremoniell, mit dem Louis XVI. die Volksvertretung empfing, dann verblasst die historische Monarchie hinter dem, was der ehemalige Justizminister Badinter die monocratie Sarkozys getauft hat: ein Einpersonenstück, dessen Protagonist nur Statisten neben sich duldet.

Der Wechsel in der Organisationslogik der 5. Republik von der plebiszitär begründeten und parlamentarisch abgesegneten Doppelspitze zur monocratie macht die Exekutive zum Anhängsel der Elyséebürokratie, die Legislative zur Registrierkammer ihrer Beschlüsse. Den Medien aber ist die Rolle des Büttels zugedacht. Das Präsidialamt ist nämlich inzwischen dazu übergegangen, bei ausgewählten Agenturen Umfragen nach Maß in Auftrag zu geben und die Ergebnisse, soweit opportun, an die Zeitungen verkaufen zu lassen – was ihm der Rechnungshof übel nimmt, der dieses Verfahren ans Tageslicht brachte und mit vorsichtigen Fragezeichen versah. Diese Erbsenzähler haben den Fortschritt in der Kommunikationsstrategie anscheinend nicht erfasst. Dabei ist es doch ganz einfach: Passend zur Regierungsshow lässt der Präsident die Claque aufmarschieren und schafft sich so – quasi per Autopoiesis – die Meinungen, als deren Sachwalter er in Szene tritt. Das spart Umwege und am Ende gar Finanzmittel. Mangels Volksbefragung sollen also Umfragen die erwünschte Zustimmung signalisieren. Das neue Rundfunkgesetz, das den Staatschef ermächtigt, die Vorsitzenden der staatlichen Medien gleich selbst zu ernennen, wird sich dabei gewiss als hilfreich erweisen.

Auch von der Unabhängigkeit der Justiz ist im Lande Montesquieus nicht mehr viel übrig. Das hat in der 5. Republik zwar schon Tradition; auch unter Giscard d’Estaing konnte es vorkommen, dass Richter, die sich politisch unliebsam machten, strafversetzt wurden. Aber die (inzwischen entlassene) Justizministerin Dati brachte mit ihrer Erklärung: »Die Unabhängigkeit der Justiz ist kein Dogma mehr« die Dinge erst wirklich auf den Punkt. Ein Dogma ist sie für die Politiker mit Sicherheit nicht – allerdings immer noch ein Verfassungsgrundsatz, und wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht bis zum Jahresende ein in erster Instanz ergangenes Urteil revidiert, wird die Verletzung europäischer Normen (namentlich der Unabhängigkeit der Rechtsprechung) durch den französischen Staat auch international aktenkundig.

Die angestrebte Abschaffung des unabhängigen Untersuchungsrichters durch den weisungsgebundenen Staatsanwalt passt zur Tendenz der politischen Machtinhaber, die Jurisdiktion in eigene Regie zu übernehmen. Schon jetzt dürfen die für den sensiblen Bereich der Finanzstrafsachen zuständigen Pariser Untersuchungsrichter, die im Verlauf der Neunzigerjahre einige böse Skandale ans Tageslicht brachten, in ihrer Arbeitszeit Däumchen drehen: die 13 zuständigen Richter, die 2007 noch 88 Fälle bearbeiteten, sind 2008 nur noch für 21 herangezogen worden; seit Beginn dieses Jahres wurden sie gerade einmal mit 9 neuen Fällen betraut. Mit den anderen beschäftigt sich die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft. Ihr obliegt es auch, auf die Einhaltung von Mindeststrafen für Rückfalltäter zu achten und damit das Fassungsvermögen der Gefängnisse weiter zu testen: auf 51.000 offiziell vorhandene Plätze entfallen derzeit schon 63.000 Häftlinge; einem vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Gutachten zufolge leiden 25 Prozent von ihnen unter schweren seelischen Störungen, 115 Gefangene nahmen sich 2008 das Leben, in diesem Jahr sind es schon über 90 – eine »Schande für die Republik«, wie selbst Sarkozy gesteht, aber noch lange kein Grund für ihn, seine Repressionspolitik infrage zu stellen.


Nach welchen Prinzipien in Sarkozys monocratie regiert wird, zeigt der Schul- und Hochschulbereich vielleicht am deutlichsten. Seit Beginn seiner Amtszeit lassen die Pläne zur Verschärfung sozialer Selektion diesen Bereich nicht zur Ruhe kommen. Ist es auf der Ebene des Schulwesens die Aufhebung der carte scolaire (die das Recht der Eltern auf freie Schulwahl bisher einschränkte und damit an staatlichen Schulen für eine gewisse soziale Durchmischung sorgte), so soll nun unter den Studenten die Einrichtung von pôles d’élite (»Exzellenzzentren«) die Spreu vom Weizen trennen. Die Auswahl ihrer akademischen Lehrer aber soll sich verschärft am Prinzip des Publish or perish ausrichten. Seit Sarkozy nämlich erfahren haben will, dass englische Wissenschaftler weniger Geld vom Staat erhalten als französische, aber 30 bis 50 Prozent mehr publizieren, findet er, in Zukunft sollten die Universitätspräsidenten darüber befinden, wer aufgrund mangelnder Publikationsfreudigkeit zur Strafe mehr unterrichten muss, und überhaupt in Personalfragen das entscheidende Wort erhalten. Sein Schlagwort lautet Evaluation: ihr sollen sich die französischen Wissenschaftler endlich einmal stellen – als baue ihr Berufsleben nicht ohnehin (wie die Angegriffenen zu Recht geltend machen) auf ständiger Bewertung durch Experten auf, vor denen sie sich legitimieren müssen, sobald sie sich um eine Stelle bewerben, einen Vortrag halten, einen Beitrag veröffentlichen wollen.

Mit seinen Zumutungen an die Hochschullehrer löste Sarkozy Anfang des Jahres einen fünfmonatigen Proteststreik aus, der, solidarisch begleitet von dem ihrer Studenten, die französischen Universitäten im letzten Semester restlos lahmlegte. Sollte dieser Protest sich nicht letztlich doch noch erfolgreich zeigen (im Moment ist die Durchführung der Reform erst einmal suspendiert), sieht die unabhängige Forschung bösen Zeiten entgegen. Denn auch das berühmte Centre National de la Recherche Scientifique (den Max Planck-Instituten vergleichbar) wird zunehmend an die Kandare genommen: Global gehen die Mittelzuweisungen zurück (2008 um 6,6 %), und zugleich lassen »von oben« zugewiesene Aufträge den Forschern immer weniger Spielraum zur Entwicklung eigener Vorhaben; Zuwachsraten sind allenfalls noch bei projektgebundenem Zeitverträgen zu verzeichnen.

Dem Umbau des Staats nach dem betrieblichen Muster monokratischer Herrschaft und permanenter Leistungskontrolle entspricht die Evaluierung von allem und jedem, von Polizisten und Lehrern, Ärzten und Kindern. Sinn dieser Verfahren ist es offenbar, Differenzen zwischen Menschen zu erfassen, nicht den Grund von Problemen, dient doch die Gleichsetzung von output und Ertrag, von Quantität und Qualität als zureichende Basis der Ermittlung individueller Rentabilität. Wenn aber der Wettbewerb die Grundlage des Zusammenlebens ist und die Exklusion der Minderleister sein Ziel, dann ist – sehr in Gegensatz zu den Sprüchen von der Krise der kapitalistischen Moral, die Sarkozy sonst so leicht von den Lippen gehen – an die Stelle der Idee einer gerechten Gesellschaft die Ideologie einer profitgerechten getreten.

Was immer Sarkozy in internationalen Gremien vorbringen mag: sein Denken kreist nicht darum, wie der kapitalistische Tiger zu reiten, sondern darum, wie mit ihm gleichzuziehen ist. Darum wird in Frankreichs öffentlichem Dienst von zwei ausscheidenden Beschäftigten nur noch einer ersetzt (im Herbst dieses Jahres fallen dort 36.000 Arbeitsplätze weg) und die Arbeit der verbleibenden derart reorganisiert, dass sie einer Privatisierung, die ohnehin kaum mehr eine Verschlechterung bedeuten kann, nicht lange widerstreben werden – und so soll nach Wasser- und Energieversorgern, nach Verkehrsunternehmen und Krankenhäusern in diesem Herbst auch die französische Post, eine rentable, also privatisierbare Einrichtung, »ihr Kapital öffnen« und zur AG werden. Leicht wird es nicht sein zu erklären, warum in einer Zeit, in der die Sozialisierung von Banken (und nicht bloß ihrer Verluste) anstünde, stattdessen die Post privatisiert werden muss, eine (in Frankreich) immer noch gut funktionierende, allseits beliebte Institution. Französische Touristen, die einmal versucht haben, in einer deutschen Stadt eine Briefmarke zu erwerben, schätzen die staatliche Post danach umso mehr, und auch die Unternehmen in Frankreich freuen sich nicht gerade darauf, für eine Leistung, die sich bisher von selbst verstand, nämlich die Zustellung der Sendungen am frühen Vormittag, in Zukunft extra zahlen zu sollen, um Postaktionären Laune zu machen.

Aber nach all seinen bösen Worten gegen die Exzesse des Liberalismus will Sarkozy in dieser Frage offenbar Flagge zeigen und, gestützt auf die Europäische Kommission, dem Kapital neuen Verwertungsspielraum schaffen. Der Moment wäre insofern nicht schlecht gewählt, als die politischen Gegenkräfte daniederliegen und der zuständige soziale Gegenspieler – acht untereinander zerstrittene Gewerkschaftszentralen, die alle zusammen nicht einmal acht Prozent der Arbeitnehmer organisieren – ist auch nicht gerade ein furchterregender Gegner. Sollte der angekündigte gewerkschaftliche Widerstand sich wie bisher in ein paar folgenlosen Demonstrationen erschöpfen, die von den Veranstaltern vornehmlich als Leistungsschau ihrer Mobilisierungskraft betrieben werden, hätte Sarkozy leichtes Spiel. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Funke überspringt und Unzufriedene aus anderen Bereichen aus der Reserve lockt. Dafür käme in erster Linie das moderne Kleinbürgertum in Frage, in dem der Widerstand gegen Sarkozys Alleinherrschaft am sichtbarsten Wurzeln geschlagen hat: die Juristen und Ärzte, Psychologen und Lehrer, Forscher und Künstler, die Studierenden aller Hochschulen und Fächer, die, allesamt mit irgendwelchen Reformen überzogen, von denen sie sich nichts Gutes versprechen, ihre Interessen bisher weitgehend isoliert geltend machten.


Auf politische Gegenkräfte ist bei all dem wohl nur am Rande zu rechnen. Die Nouveau Parti Anticapitaliste Olivier Besancenots, ein Versuch der größeren unter den beiden trotzkistischen Parteien, sich zu einer Art linksradikaler Massenorganisation mit libertärem Einschlag zu erweitern, hat bisher kaum verfangen, die französischen Grünen, von ihrem Erfolg bei den Europawahlen euphorisiert, sind mit bündnistaktischen Fragen ausgelastet, und die Parti Socialiste, der seit 40 Jahren erfolgreichste Widerpart rechter Regierungen, scheint der Selbstauflösung näher als der Wiedereroberung der Macht. Ihre Situation ist tragisch: kaum hat sie sich programmatisch selbst entleibt und ihr Mäntelchen in den liberalen Wind gehängt – wofür sie bei ihren Wählern einen hohen Preis zahlte –, da ist Liberalismus auch schon wieder out. Was nun? Den Begriff Reform hat Sarkozy besetzt, die Revolution Besancenot. Vielleicht sollten sich die Hinterbliebenen der Sozialistischen Partei bei Dürrenmatt die Bezeichnung »Partei der konservativen liberalsozialistischen Sammlung der Unabhängigen« ausborgen, das trüge wenigstens der inneren Meinungsvielfalt annähernd Rechnung.

Der vor sich hindümpelnden Linken gegenüber wirkt Sarkozy wie ein Ausbund von Tatkraft. Seine Sprunghaftigkeit ist ein nahezu ideales subjektives Korrelat der Rastlosigkeit, die Pierre Bourdieu und Luc Boltanski als Charakteristikum des zeitgemäßen Staatsmanns ausmachten, der durch permanente Reformen dafür sorgt, dass der Kern der sozialen Strukturen unangetastet bleibt. Moderne Konservative stemmen sich ja nicht mehr gegen Veränderungen; vielmehr stützen sie sich auf »die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung«, als hätten sie das Kommunistische Manifest verinnerlicht. Voluntaristisch geben sie sich vorab im Durchpeitschen angeblicher Sachzwänge, die der Bevölkerung die Unterwerfung unter das Unvermeidliche abverlangen, wofür ihr dann auch die Hoffnung winkt, vorläufig vor dem Schlimmsten verschont zu werden. So beschied Sarkozy jüngst eine Fronde konservativer Parlamentarier, die sich gegen eine Gesetzesvorlage zur Verallgemeinerung der Sonntagsarbeit wandten, mit dem schlichten Argument: »Nun, wenn Ihr Gewissen dagegen spricht, dass sonntags gearbeitet wird, dann schließen wir eben alle touristischen Einrichtungen im Land!« Wer könnte das verantworten? Zumal die Sonntagsarbeit ohnehin »nur in touristischen Zonen« zur Regel werden soll (aber wo gibt es im meistbesuchten Land der Welt keine Touristen?), und das auch bloß auf freiwilliger Basis (aber wie freiwillig ist die Entscheidung einer Kassiererin, ihren schmalen Lohn durch Sonderschichten aufzubessern?). Mit sechs Stimmen Mehrheit hat der französische Senat am Ende das sakrosankte Prinzip der Sonntagsruhe abgeschafft und damit ein weiteres Steinchen aus dem Weg zur Universalisierung des Profitprinzips geräumt – wenn sich keine Schule und kein Krankenhaus mehr dem Markt zu entziehen hat, warum dann auch ausgerechnet ein Einkaufszentrum am Sonntag?

An die Stelle des Austauschs von Standpunkten und der Suche nach gemeinsamen Lösungen, worin bürgerliche Demokratie seit dem 18. Jahrhundert ihren point d’honneur fand, setzt die Politik des autoritären Staates sarkozyscher Prägung – darin dem Ex-Kommunismus nicht unähnlich – die Exekution unhinterfragbarer historischer Gesetze: Expansion der Märkte, Effizienzsteigerung, Rentabilisierung. So gesehen ist Sarkozys Alleinherrschaft selber im Grunde Schein, ein PR-Produkt. Er herrscht so unumschränkt nur, weil er unumschränkt die Herrschaft von Kapitalinteressen betreibt, die ohne ihn vermutlich zäher und zögerlicher zum Zuge kämen. Dass er selbst jene Gesetze für soziale Naturgesetze hält, erleichtert die Sache und die Bekämpfung ihrer Gegner. Denn da es um die Einsicht ins Unabänderliche geht, dem sich bei Strafe des Untergangs niemand entziehen kann, gibt es nur Einverstandene und Uneinsichtige, Verantwortungsbewusste und Verantwortungslose. Ich oder das Chaos.

Dabei verbreitet Sarkozy selbst Chaos, was immer er betreibt, und provoziert eben da Widerstand, wo er sich zum Stifter einer neuen Ordnung aufwirft – wie schon 2005, als er als Innenminister den bisher eindruckvollsten Aufstand der Banlieue provozierte. Befriedet ist sie noch immer nicht. Die inzwischen auch mit Feuerwaffen ausgetragenen Scharmützel, die sich die berüchtigte Brigade Anticriminalité dort nahezu wöchentlich mit Jugendlichen liefert, sind zwar aus den Schlagzeilen verschwunden; Angaben über die Anzahl in Brand gesteckter Fahrzeuge dürfen amtliche Stellen nicht mehr veröffentlichen. Dass aber die Delinquenzquote steigt, zumal die Gewalt gegen Personen (um 4 % im letzten Jahr), wird Thema öffentlichkeitswirksam herausposaunter interministerieller Meetings. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der nächste Wahlkampf begonnen hat.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009