»Ich oder das Chaos« – der Umbau der politischen Führungsstruktur
nach Unternehmensleitbildern Der tatkräftige Präsident, der mutig gegen die
Windmühlenflügel des Finanzkapitals ankämpft? Der Schein trügt. Nicolas Sarkozy
ist auf ganz anderen Feldern kämpferisch. Er hat nicht nur die starke Position
des Präsidenten in der 5. Republik ausgebaut, sondern mittlerweile nahezu allen
wesentlichen Kontrollinstanzen, von der Regierung bis hin zur Justiz, die Flügel
gestutzt. Er ist dabei, die französische Demokratie in eine Monokratie
umzuwandeln, in die Richtung eines autoritären Staates. Mit politischen
Gegenkräften muss er kaum rechnen. Öffentlich lässt der
französische Staatspräsident keine
Gelegenheit aus, dem Finanzkapital die Leviten zu lesen. Ob es um erneut
explodierende Bonuszahlungen an Finanzjongleure geht oder um die Weigerung
französischer Banken, der produzierenden Wirtschaft mit Krediten auf die Beine
zu helfen: Niemand wettert vollmundiger gegen Spekulanten und Profiteure
staatlicher Subventionen, droht unmissverständlicher mit Konsequenzen und der
Abstrafung Schuldiger. Diese deutliche Sprache und seine Appelle an den nicht
vorhandenen europäischen Gemeinschaftsgeist haben Sarkozy in Deutschland seit
dem vergangenen Herbst Anerkennung verschafft. In Frankreich, wo man die
großen Sprüche des Präsidenten gewohnt ist, lasen sich seine antiliberalen
Diatriben von vornherein etwas anders. Sie wirken hier mehr als rhetorisches
Ablenkungsmanöver von wirtschaftspolitischem Ungeschick und sozialpolitischem
Versagen, das ihn, der sich vor seiner Wahl noch für Hypothekenkredite nach
amerikanischem Muster ins Zeug legte, seither nicht verlassen hat. Der Öffentlichkeit
eingeprägt hat sich vor allem die misslungene Initiative zur Kaufkrafterhöhung:
der Slogan Travailler plus pour gagner plus (»mehr arbeiten, um mehr zu
verdienen«) wurde bald zur Lachnummer, Sarkozys Selbsternennung zum président
du pouvoir d’achat (»Kaufkraftpräsident«) zum Markenzeichen für haltlose
Ankündigungen. Im Windschatten der
Auseinandersetzungen um seine ökonomischen Fehlleistungen und privaten Affären
brachte Sarkozy in der Zwischenzeit jedoch einen Umbau des Staates in Gang,
der, anders als seine antikapitalistische Rhetorik, Folgen hatte. Als Kern
dieses Projekts lässt sich die Ausweitung der Machtfülle des Staatschefs
ausmachen – die umgehend veranlasste Aufbesserung seiner persönlichen Bezüge um
172 Prozent (der französische Präsident genießt unter anderem das Privileg,
über die Höhe seines Einkommens selbst zu entscheiden) gab davon bereits einen
gewissen Vorgeschmack. Um jedoch Umfang und Tragweite der Veränderungen
einschätzen zu können, die sich in der Organisationslogik der 5. Republik
seither vollzogen haben, müssen wir etwas weiter ausholen. Die 1958 verabschiedete
Verfassung der 5. Republik machte
dem »Parteienregime« der 4. bekanntlich durch die Dominanz des
Staatspräsidenten ein Ende, der, gewählt als Kandidat einer Partei, durch seine
Wahl wunderbarerweise mit einem Schlag von allen Parteien unabhängig wird. Über
ihnen wie überhaupt über allem schwebend, von der Justiz ohnehin nicht
belangbar, aber auch keinem Parlament verantwortlich, Regierungen nach
Gutdünken einsetzend und entlassend, war und blieb er niemandem sonst
Rechenschaft schuldig als dem Volk, das er während seiner Amtszeit in wichtigen
Fragen konsultieren sollte. So hielt es de Gaulle, und als er 1969 ein Referendum
verlor, trat er konsequenterweise zurück – ein Beispiel, dem allerdings keiner
seiner Nachfolger sich anschloss, so deutlich die Ablehnung der vom jeweiligen
Präsidenten vorgeschlagenen Politik auch ausfallen mochte. Die »Begegnung zwischen
einem Mann und einem Volk« (de Gaulle), dieser Ursprungsmythos der 5. Republik
und Legitimationsgrund für die Machtfülle des Staatschefs, war damit im Grunde
schon passé. Sarkozy hat durch seine Erklärung, auf das Instrument des Volksentscheids
gar nicht erst zurückgreifen zu wollen, und durch seine Entscheidung, das
störende Ergebnis des letzten Referendums (die Ablehnung des Europavertrags)
auf parlamentarischem Weg auszuhebeln, damit inzwischen auch offiziell
gebrochen. Mit dem Wegfall der
Institution des Referendums steht der Alleinherrschaft des französischen
Staatschefs während seiner Amtszeit nicht mehr viel im Wege. Zwar sieht die Mischung
aus plebiszitärer Führerdemokratie und parlamentarischer Republik, als die der
Verfassungstext sich liest, eine exekutive Doppelspitze vor: neben dem
Präsidenten, der bei aller Machtfülle mehr fürs Repräsentieren da ist (und der
nur in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik ausdrücklich das letzte Wort
hat) einen Premierminister, der »die Politik der Nation bestimmt und führt«
(Art. 20). Da er zwar vom Präsidenten ernannt, aber von der Assemblée
Nationale bestätigt werden muss, waren bei einem Mehrheitswechsel im
Parlament stets jene »Kohabitationen« erforderlich, die einst Mitterrand einen
Premierminister Chirac und später dem Präsidenten Chirac einen Premierminister
Jospin aufzwangen – Machtverschiebungen zugunsten des Parlaments gegenüber dem
Präsidenten, dem in diesen Fällen tatsächlich nicht viel mehr zu tun blieb als eben:
zu präsidieren. Solche »großen Koalitionen à la française« mindern zwar
den Einfluss des Präsidenten; dafür entsprechen sie umso besser der doppelten
Legitimation der Staatsspitze durch direkte Wahl und parlamentarischen
Auftrag: Nur wenn der Premierminister nicht dem Lager des Präsidenten angehört,
kann er, wie die Erfahrung zeigt, die Politik des Landes tatsächlich »bestimmen
und führen«. Bei der Bevölkerung war eine solche Aufsplittung der
Exekutivgewalt im Übrigen gut gelitten, bei führenden oder führenwollenden
Politikern aber umso unbeliebter, und so reduzierten sie per Referendum – das
Volk, erfreut von der Aussicht, Chirac früher als erwartet los zu sein, stimmte
mit großer Mehrheit zu – die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf
Jahre, um seine Wahl mit der des ebenfalls auf fünf Jahre zu wählenden
Parlaments synchronisieren zu können. Denn dass es mehrheitlich anderer
politischer Couleur ist als der fast im selben Atemzug gewählte Präsident, ist
einigermaßen auszuschließen. Nichts zwingt den
Präsidenten jetzt mehr, im Verlauf seiner Amtszeit mit dem ungewissen Ausgang
einer Parlamentsneuwahl rechnen zu müssen und sich die Regierungsmitglieder
gegebenenfalls von seiner Opposition vorschreiben zu lassen. Der nun
zwangsläufig unter den Getreuen des Staatschefs auserwählte Premierminister aber
sinkt faktisch zu dem bloßen »Mitarbeiter« herab, als den Sarkozy seinen Fillon
tatsächlich schon öffentlich titulierte. Die Fachminister aber tun gut daran,
sich weniger an ihren Premierminister zu halten als an die zuständigen Berater
Sarkozys im Präsidialamt, wo inzwischen eine veritable Schattenregierung ministerielle
Vorlagen darauf prüft, wie weit sie den präsidentiellen Wünschen entsprechen –
eine Verlagerung der Kompetenzen, die natürlich voraussetzt, dass die
Betroffenen mitspielen und weiter so tun, als seien sie noch immer Minister
(oder gar der erste unter ihnen) und nicht bloß ausführende Organe allerhöchster
Order. Sollten sie etwas gegen diese Spielregel einzuwenden haben, können sie
ja immer noch ihren Abschied nehmen. Mit der von der Verfassung
postulierten parteipolitischen Neutralität des Staatschefs ist es auch nicht
mehr weit her, seit Sarkozy nach der Wahl zwar notgedrungen den Vorsitz seiner
Partei niederlegte, sich dort aber von einer »kollegialen Führung« ablösen
ließ, aus deren Reihen ihm niemand gefährlich werden kann; darüber hinaus nahm
er sich die Freiheit, weiterhin an den Sitzungen ihres Politbüros teilzunehmen
und damit den Apparat im Griff zu behalten, der den Kandidaten für seine Nachfolge
nominiert – eine Rolle, in der Sarkozy sich niemand anderen vorstellen kann als
sich selbst. Diesen Umbau der
politischen Führungsstruktur nach dem
Leitbild französischer Unternehmen, in denen alle Entscheidungskompetenzen
letztlich in den Händen eines allmächtigen Président Directeur Général
zusammenlaufen – die Bezeichnung ist praktisch unübersetzbar, denn der »PDG«
vereint die Zuständigkeiten von Vorstandsvorsitzendem und Generaldirektor in
deutschen Unternehmen –, vernebelt ein Rauchvorhang von verfassungsändernden
Maßnahmen untergeordneter Art, der Konstitutionalisten und Publizisten
Gelegenheit gibt, ihren Scharfsinn an expliziten und breit diskutierten, aber
weniger relevanten Neuerungen zu wetzen. So etwa daran, dass die
Regierungserklärung des Premierministers vor dem Abgeordnetenhaus, bisher der
entscheidende Moment der Bekanntgabe strategischer Orientierungen, inzwischen
durch eine Ansprache des Präsidenten an die Mitglieder beider Häuser des
Parlaments überwölbt wird, nach der der Redner sich vornehm zurückzieht. Eine
Aussprache findet nicht statt, geschweige denn ein Votum der Volksvertreter.
Wozu auch, nachdem sie ihre Instruktionen erhalten haben? Vergleicht man die in
Versailles zelebrierte neofeudale Inszenierung mit dem Zeremoniell, mit dem
Louis XVI. die Volksvertretung empfing, dann verblasst die historische Monarchie
hinter dem, was der ehemalige Justizminister Badinter die monocratie
Sarkozys getauft hat: ein Einpersonenstück, dessen Protagonist nur Statisten
neben sich duldet. Der Wechsel in der
Organisationslogik der 5. Republik von der plebiszitär begründeten und
parlamentarisch abgesegneten Doppelspitze zur monocratie macht die
Exekutive zum Anhängsel der Elyséebürokratie, die Legislative zur
Registrierkammer ihrer Beschlüsse. Den Medien aber ist die Rolle des Büttels
zugedacht. Das Präsidialamt ist nämlich inzwischen dazu übergegangen, bei
ausgewählten Agenturen Umfragen nach Maß in Auftrag zu geben und die
Ergebnisse, soweit opportun, an die Zeitungen verkaufen zu lassen – was ihm der
Rechnungshof übel nimmt, der dieses Verfahren ans Tageslicht brachte und mit
vorsichtigen Fragezeichen versah. Diese Erbsenzähler haben den Fortschritt in
der Kommunikationsstrategie anscheinend nicht erfasst. Dabei ist es doch ganz
einfach: Passend zur Regierungsshow lässt der Präsident die Claque
aufmarschieren und schafft sich so – quasi per Autopoiesis – die Meinungen, als
deren Sachwalter er in Szene tritt. Das spart Umwege und am Ende gar
Finanzmittel. Mangels Volksbefragung sollen also Umfragen die erwünschte
Zustimmung signalisieren. Das neue Rundfunkgesetz, das den Staatschef
ermächtigt, die Vorsitzenden der staatlichen Medien gleich selbst zu ernennen,
wird sich dabei gewiss als hilfreich erweisen. Auch von der Unabhängigkeit
der Justiz ist im Lande Montesquieus nicht mehr viel übrig. Das hat in der 5.
Republik zwar schon Tradition; auch unter Giscard d’Estaing konnte es
vorkommen, dass Richter, die sich politisch unliebsam machten, strafversetzt
wurden. Aber die (inzwischen entlassene) Justizministerin Dati brachte mit
ihrer Erklärung: »Die Unabhängigkeit der Justiz ist kein Dogma mehr« die Dinge
erst wirklich auf den Punkt. Ein Dogma ist sie für die Politiker mit Sicherheit
nicht – allerdings immer noch ein Verfassungsgrundsatz, und wenn der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht bis zum Jahresende ein in
erster Instanz ergangenes Urteil revidiert, wird die Verletzung europäischer
Normen (namentlich der Unabhängigkeit der Rechtsprechung) durch den
französischen Staat auch international aktenkundig. Die angestrebte Abschaffung
des unabhängigen Untersuchungsrichters durch den weisungsgebundenen
Staatsanwalt passt zur Tendenz der politischen Machtinhaber, die Jurisdiktion
in eigene Regie zu übernehmen. Schon jetzt dürfen die für den sensiblen Bereich
der Finanzstrafsachen zuständigen Pariser Untersuchungsrichter, die im Verlauf
der Neunzigerjahre einige böse Skandale ans Tageslicht brachten, in ihrer
Arbeitszeit Däumchen drehen: die 13 zuständigen Richter, die 2007 noch 88 Fälle
bearbeiteten, sind 2008 nur noch für 21 herangezogen worden; seit Beginn dieses
Jahres wurden sie gerade einmal mit 9 neuen Fällen betraut. Mit den anderen
beschäftigt sich die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft. Ihr obliegt es auch,
auf die Einhaltung von Mindeststrafen für Rückfalltäter zu achten und damit das
Fassungsvermögen der Gefängnisse weiter zu testen: auf 51.000 offiziell
vorhandene Plätze entfallen derzeit schon 63.000 Häftlinge; einem vom
Justizministerium in Auftrag gegebenen Gutachten zufolge leiden 25 Prozent von
ihnen unter schweren seelischen Störungen, 115 Gefangene nahmen sich 2008 das
Leben, in diesem Jahr sind es schon über 90 – eine »Schande für die Republik«,
wie selbst Sarkozy gesteht, aber noch lange kein Grund für ihn, seine
Repressionspolitik infrage zu stellen. Nach welchen Prinzipien
in Sarkozys monocratie regiert wird, zeigt der Schul- und Hochschulbereich vielleicht am deutlichsten. Seit
Beginn seiner Amtszeit lassen die Pläne zur Verschärfung sozialer Selektion
diesen Bereich nicht zur Ruhe kommen. Ist es auf der Ebene des Schulwesens die
Aufhebung der carte scolaire (die das Recht der Eltern auf freie
Schulwahl bisher einschränkte und damit an staatlichen Schulen für eine gewisse
soziale Durchmischung sorgte), so soll nun unter den Studenten die Einrichtung
von pôles d’élite (»Exzellenzzentren«) die Spreu vom Weizen trennen. Die
Auswahl ihrer akademischen Lehrer aber soll sich verschärft am Prinzip des Publish
or perish ausrichten. Seit Sarkozy nämlich erfahren haben will, dass
englische Wissenschaftler weniger Geld vom Staat erhalten als französische,
aber 30 bis 50 Prozent mehr publizieren, findet er, in Zukunft sollten die
Universitätspräsidenten darüber befinden, wer aufgrund mangelnder
Publikationsfreudigkeit zur Strafe mehr unterrichten muss, und überhaupt in
Personalfragen das entscheidende Wort erhalten. Sein Schlagwort lautet
Evaluation: ihr sollen sich die französischen Wissenschaftler endlich einmal
stellen – als baue ihr Berufsleben nicht ohnehin (wie die Angegriffenen zu
Recht geltend machen) auf ständiger Bewertung durch Experten auf, vor denen sie
sich legitimieren müssen, sobald sie sich um eine Stelle bewerben, einen
Vortrag halten, einen Beitrag veröffentlichen wollen. Mit seinen Zumutungen an die
Hochschullehrer löste Sarkozy Anfang des Jahres einen fünfmonatigen
Proteststreik aus, der, solidarisch begleitet von dem ihrer Studenten, die
französischen Universitäten im letzten Semester restlos lahmlegte. Sollte
dieser Protest sich nicht letztlich doch noch erfolgreich zeigen (im Moment ist
die Durchführung der Reform erst einmal suspendiert), sieht die unabhängige
Forschung bösen Zeiten entgegen. Denn auch das berühmte Centre National de
la Recherche Scientifique (den Max Planck-Instituten vergleichbar) wird zunehmend
an die Kandare genommen: Global gehen die Mittelzuweisungen zurück (2008 um 6,6
%), und zugleich lassen »von oben« zugewiesene Aufträge den Forschern immer
weniger Spielraum zur Entwicklung eigener Vorhaben; Zuwachsraten sind
allenfalls noch bei projektgebundenem Zeitverträgen zu verzeichnen. Dem Umbau des Staats nach
dem betrieblichen Muster monokratischer Herrschaft und permanenter
Leistungskontrolle entspricht die Evaluierung von allem und jedem, von
Polizisten und Lehrern, Ärzten und Kindern. Sinn dieser Verfahren ist es offenbar,
Differenzen zwischen Menschen zu erfassen, nicht den Grund von Problemen, dient
doch die Gleichsetzung von output und Ertrag, von Quantität und Qualität
als zureichende Basis der Ermittlung individueller Rentabilität. Wenn aber der
Wettbewerb die Grundlage des Zusammenlebens ist und die Exklusion der
Minderleister sein Ziel, dann ist – sehr in Gegensatz zu den Sprüchen von der Krise
der kapitalistischen Moral, die Sarkozy sonst so leicht von den Lippen gehen –
an die Stelle der Idee einer gerechten Gesellschaft die Ideologie einer
profitgerechten getreten. Was immer Sarkozy in
internationalen Gremien vorbringen mag: sein Denken kreist nicht darum, wie der
kapitalistische Tiger zu reiten, sondern darum, wie mit ihm gleichzuziehen ist.
Darum wird in Frankreichs öffentlichem Dienst von zwei ausscheidenden Beschäftigten
nur noch einer ersetzt (im Herbst dieses Jahres fallen dort 36.000
Arbeitsplätze weg) und die Arbeit der verbleibenden derart reorganisiert, dass
sie einer Privatisierung, die ohnehin kaum mehr eine Verschlechterung bedeuten
kann, nicht lange widerstreben werden – und so soll nach Wasser- und
Energieversorgern, nach Verkehrsunternehmen und Krankenhäusern in diesem Herbst
auch die französische Post, eine rentable, also privatisierbare Einrichtung,
»ihr Kapital öffnen« und zur AG werden. Leicht wird es nicht sein zu erklären,
warum in einer Zeit, in der die Sozialisierung von Banken (und nicht bloß ihrer
Verluste) anstünde, stattdessen die Post privatisiert werden muss, eine (in
Frankreich) immer noch gut funktionierende, allseits beliebte Institution.
Französische Touristen, die einmal versucht haben, in einer deutschen Stadt
eine Briefmarke zu erwerben, schätzen die staatliche Post danach umso mehr, und
auch die Unternehmen in Frankreich freuen sich nicht gerade darauf, für eine
Leistung, die sich bisher von selbst verstand, nämlich die Zustellung der
Sendungen am frühen Vormittag, in Zukunft extra zahlen zu sollen, um
Postaktionären Laune zu machen. Aber nach all seinen bösen
Worten gegen die Exzesse des Liberalismus will Sarkozy in dieser Frage offenbar
Flagge zeigen und, gestützt auf die Europäische Kommission, dem Kapital neuen
Verwertungsspielraum schaffen. Der Moment wäre insofern nicht schlecht gewählt,
als die politischen Gegenkräfte daniederliegen und der zuständige soziale
Gegenspieler – acht untereinander zerstrittene Gewerkschaftszentralen, die alle
zusammen nicht einmal acht Prozent der Arbeitnehmer organisieren – ist auch
nicht gerade ein furchterregender Gegner. Sollte der angekündigte gewerkschaftliche
Widerstand sich wie bisher in ein paar folgenlosen Demonstrationen erschöpfen,
die von den Veranstaltern vornehmlich als Leistungsschau ihrer
Mobilisierungskraft betrieben werden, hätte Sarkozy leichtes Spiel. Es ist aber
nicht auszuschließen, dass der Funke überspringt und Unzufriedene aus anderen
Bereichen aus der Reserve lockt. Dafür käme in erster Linie das moderne
Kleinbürgertum in Frage, in dem der Widerstand gegen Sarkozys Alleinherrschaft
am sichtbarsten Wurzeln geschlagen hat: die Juristen und Ärzte, Psychologen und
Lehrer, Forscher und Künstler, die Studierenden aller Hochschulen und Fächer,
die, allesamt mit irgendwelchen Reformen überzogen, von denen sie sich nichts
Gutes versprechen, ihre Interessen bisher weitgehend isoliert geltend machten. Auf politische
Gegenkräfte ist bei all dem wohl nur
am Rande zu rechnen. Die Nouveau Parti Anticapitaliste Olivier
Besancenots, ein Versuch der größeren unter den beiden trotzkistischen
Parteien, sich zu einer Art linksradikaler Massenorganisation mit libertärem Einschlag
zu erweitern, hat bisher kaum verfangen, die französischen Grünen, von
ihrem Erfolg bei den Europawahlen euphorisiert, sind mit bündnistaktischen
Fragen ausgelastet, und die Parti Socialiste, der seit 40 Jahren
erfolgreichste Widerpart rechter Regierungen, scheint der Selbstauflösung näher
als der Wiedereroberung der Macht. Ihre Situation ist tragisch: kaum hat sie
sich programmatisch selbst entleibt und ihr Mäntelchen in den liberalen Wind
gehängt – wofür sie bei ihren Wählern einen hohen Preis zahlte –, da ist
Liberalismus auch schon wieder out. Was nun? Den Begriff Reform hat
Sarkozy besetzt, die Revolution Besancenot. Vielleicht sollten sich die
Hinterbliebenen der Sozialistischen Partei bei Dürrenmatt die Bezeichnung
»Partei der konservativen liberalsozialistischen Sammlung der Unabhängigen«
ausborgen, das trüge wenigstens der inneren Meinungsvielfalt annähernd
Rechnung. Der vor sich hindümpelnden
Linken gegenüber wirkt Sarkozy wie ein Ausbund von Tatkraft. Seine
Sprunghaftigkeit ist ein nahezu ideales subjektives Korrelat der Rastlosigkeit,
die Pierre Bourdieu und Luc Boltanski als Charakteristikum des zeitgemäßen
Staatsmanns ausmachten, der durch permanente Reformen dafür sorgt, dass der
Kern der sozialen Strukturen unangetastet bleibt. Moderne Konservative stemmen
sich ja nicht mehr gegen Veränderungen; vielmehr stützen sie sich auf »die
ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige
Unsicherheit und Bewegung«, als hätten sie das Kommunistische Manifest
verinnerlicht. Voluntaristisch geben sie sich vorab im Durchpeitschen
angeblicher Sachzwänge, die der Bevölkerung die Unterwerfung unter das
Unvermeidliche abverlangen, wofür ihr dann auch die Hoffnung winkt, vorläufig
vor dem Schlimmsten verschont zu werden. So beschied Sarkozy jüngst eine Fronde
konservativer Parlamentarier, die sich gegen eine Gesetzesvorlage zur Verallgemeinerung
der Sonntagsarbeit wandten, mit dem schlichten Argument: »Nun, wenn Ihr Gewissen
dagegen spricht, dass sonntags gearbeitet wird, dann schließen wir eben alle
touristischen Einrichtungen im Land!« Wer könnte das verantworten? Zumal die
Sonntagsarbeit ohnehin »nur in touristischen Zonen« zur Regel werden soll (aber
wo gibt es im meistbesuchten Land der Welt keine Touristen?), und das auch bloß
auf freiwilliger Basis (aber wie freiwillig ist die Entscheidung einer
Kassiererin, ihren schmalen Lohn durch Sonderschichten aufzubessern?). Mit
sechs Stimmen Mehrheit hat der französische Senat am Ende das sakrosankte
Prinzip der Sonntagsruhe abgeschafft und damit ein weiteres Steinchen aus dem
Weg zur Universalisierung des Profitprinzips geräumt – wenn sich keine Schule
und kein Krankenhaus mehr dem Markt zu entziehen hat, warum dann auch
ausgerechnet ein Einkaufszentrum am Sonntag? An die Stelle des Austauschs
von Standpunkten und der Suche nach gemeinsamen Lösungen, worin bürgerliche
Demokratie seit dem 18. Jahrhundert ihren point d’honneur fand, setzt
die Politik des autoritären Staates sarkozyscher Prägung – darin dem
Ex-Kommunismus nicht unähnlich – die Exekution unhinterfragbarer historischer
Gesetze: Expansion der Märkte, Effizienzsteigerung, Rentabilisierung. So gesehen
ist Sarkozys Alleinherrschaft selber im Grunde Schein, ein PR-Produkt. Er
herrscht so unumschränkt nur, weil er unumschränkt die Herrschaft von
Kapitalinteressen betreibt, die ohne ihn vermutlich zäher und zögerlicher zum
Zuge kämen. Dass er selbst jene Gesetze für soziale Naturgesetze hält,
erleichtert die Sache und die Bekämpfung ihrer Gegner. Denn da es um die
Einsicht ins Unabänderliche geht, dem sich bei Strafe des Untergangs niemand
entziehen kann, gibt es nur Einverstandene und Uneinsichtige,
Verantwortungsbewusste und Verantwortungslose. Ich oder das Chaos. Dabei verbreitet Sarkozy
selbst Chaos, was immer er betreibt, und provoziert eben da Widerstand, wo er
sich zum Stifter einer neuen Ordnung aufwirft – wie schon 2005, als er als
Innenminister den bisher eindruckvollsten Aufstand der Banlieue provozierte.
Befriedet ist sie noch immer nicht. Die inzwischen auch mit Feuerwaffen
ausgetragenen Scharmützel, die sich die berüchtigte Brigade Anticriminalité
dort nahezu wöchentlich mit Jugendlichen liefert, sind zwar aus den
Schlagzeilen verschwunden; Angaben über die Anzahl in Brand gesteckter
Fahrzeuge dürfen amtliche Stellen nicht mehr veröffentlichen. Dass aber die
Delinquenzquote steigt, zumal die Gewalt gegen Personen (um 4 % im letzten
Jahr), wird Thema öffentlichkeitswirksam herausposaunter interministerieller
Meetings. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der nächste Wahlkampf begonnen
hat.
Sarkozys Alleinherrschaft
In: Kommune,
Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009