Michael Ackermann


Editorial




Das herrschende System ist ökologisch, ökonomisch und durch die Finanzkrise an die Wand gefahren. Es steht nicht mehr einfach die Reform des Systems zur Debatte, sondern die Transformation.« So brachte es Dany Cohn-Bendit in einem taz-Interview (19.9.) auf den Punkt. Ganz ähnlich sehen es Claus Leggewie und Harald Welzer. In ihrem Buch Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie (S. Fischer Verlag) bündeln sie die Komponenten einer Metakrise: Bisher beruhten »80 Prozent unseres komfortablen Lebensstils … auf fossilen Energien«. Dieses Modell sei zum Scheitern verurteilt, es brauche einen »neuen Referenzrahmen« – ein neues kulturelles Modell. In seinem Kern müsse der Bruch mit dem gegenwärtigen Zeitbewusstsein stehen. »Es ist das politische Zeitmaß, das dem Gegenwartskult der Markt- anbeter ebenso abhanden gekommen ist wie der Gegenwartsverleugnung politisch-religiöser Sektierer.« Beide verkennen die Bedeutung der mittleren Frist. Mindestens diese aber sehen die Autoren als den Zeithorizont des nötigen Wandels.

Nun fallen Jetztzeit und Vorausdenken, Umweltbewusstsein und -handeln nicht in eins. Kulturelle Verpflichtung und Habitus werden eher wenig reflektiert und sind auch der persönlichen Entscheidung nicht leicht zugänglich. Ein neuer Verzichtsdiskurs müsste den Autoren zufolge raus aus der Quäl-Ecke und hin zu einer »coolen« Haltung für eine »dritte Industrielle Revolution«. Ein »so radikaler Umbau der Industriegesellschaft … funktioniert nur, wenn er als Projekt angelegt wird, in das sich die Gesellschaftsmitglieder identitär einschreiben können, wenn sie ihn als ihr Projekt begreifen.« Dieses Projekt des radikalen Umbaus soll die Trägheit der Politik überwinden und die »erstarrte Parteiendemokratie« aufmischen. Dazu setzen die Autoren auf die »Selbstermächtigung« in Form einer neuen Bewegung – der »APO 2.0«.

Wie aber kann ein solches »Projekt« im nationalstaatlichen Rahmen erfolgreich sein? Und ist nicht die Projekte-Macherei selbst zu einem eminenten Problem geworden? Projekte sind ihrem Wesen nach kurzfristig angelegt, und längst hat auf breiter Fläche schon eine nur mittelfristige Verbindlichkeit abgenommen. Darunter leidet auch die Politik. Gerade bei den Jüngeren erkennen etliche Studien die Neigung zum kurzfristigen, punktuellen Engagement. Zu dieser Entwicklung haben auch die Umwälzungen in den medialen Öffentlichkeiten beigetragen, denn die alte Sender-Empfänger-Struktur mit ihren wenigen Zentren befindet sich in Auflösung. Mit den interaktiven Medien senden die einstigen Empfänger nun millionenfach selbst. Gewiss erweitern sich damit die Möglichkeiten der Beteiligung an Meinungs- und Willensbildungsprozessen – doch folgt daraus nicht automatisch eine bessere Verständigung über zentrale gesellschaftliche Probleme. Denn je schneller sich die Aufmerksamkeitsspirale dreht, umso schwerer wird es, Aufmerksamkeit relevant zu bündeln. Von der Zerstreuung der Aufmerksamkeiten sind daher nicht nur die »alten Medien« betroffen, sondern wesentlich auch das Politische.

Vor diesem Hintergrund verliert das World Wide Web einiges von seiner emanzipatorischen Aura. Die neue Blog-Kultur zeigt sich vornehmlich als eine Ausweitung des Momentum. Die Web-Kultur bestätigt vorderhand Quote, Klickrate und Ad-hoc-Meinungsbildung. Senkt sie nicht auch Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen? Werden Erscheinungsformen hier nicht noch mehr zum Wesentlichen gemacht? Wird Politik hier nicht auch vulgarisiert?

Ein Paradestück der Vulgarisierung lieferten jüngst allerdings die »alten Medien« mit ihrem als »Duell« bezeichneten Fernsehtribunal. Dort zeigte sich mit den Kanzlerkandidaten weniger das Elend der Politik als das der »Mediendemokratie«. Selbst ermächtigte Moderatoren erreichten einen neuen Tiefpunkt der Performance-Sucht. Damit wurde eine gemeinsame Tendenz der offiziellen wie der neuen Medien sichtbar: Ein medialer Zirkus untergräbt das Wesen von Öffentlichkeit und Politik, indem er Botschaften aussendet, die er selbst nicht verantworten muss. Die politische Verblödung durch die Simplifizierungen in den Leitmedien wirkt weitaus dreister als jene, die der Politik zugeschrieben wird. Selbst das neue Fünf-Parteien-System und seine politischen Herausforderungen für jede Regierungskoalition werden medial auf den Skandal heruntergebracht. Auch eine »APO 2.0« müsste sich also diesen Formen pervertierter Öffentlichkeit stellen. Und käme dabei wohl kaum um die Erkenntnis herum, dass eine ökologische Wende mit knappen Mehrheiten so wenig zu machen ist wie ein Paradigmenwechsel per Willensbekundung.

Einen realen Paradigmenwechsel analysiert Evelyn Hanzig-Bätzing in diesem Heft am Beispiel der Biologie. Die bisherigen Annahmen über die »Bausteine des Lebens« sind demnach hinfällig. Das Gen ist kein Schlüssel, sondern Teil eines komplexen Systems von Interaktivität: nicht determiniert, offen für Einflüsse aller Art. Ein solcher Erkenntnissprung täte auch anderen Feldern gut. Etwa dem Verständnis von Wachstum und Entwicklung (ein impliziter Streit über Wachstum und Wachstumsbegriff wird im »Thema« ausgefochten). Wenn das cartesianische Weltmodell falsifiziert ist, könnte auch ein monokausales Fortschrittsdenken ins Wanken kommen.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2009