Xaver Brenner

 

Produktivität und Selbstbewusstsein

 

Produktivitätsformeln ? von der Industriearbeit zum tertiären Dienstleistungssektor

 

 

 

Umbrüche verunsichern Gesellschaften, weil alte Lebensweisen und -perspektiven erodieren und neue sich erst herausbilden müssen. Mit der Transformation von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ändert sich im »produktiven Herz« Wesentliches. Der alte Arbeits- und Produktivitätsbegriff verliert seine Bedeutung, eine neue Formel der Produktivität beginnt sich herauszubilden. Unser Autor versucht sich an einer Skizze dieses Umschlags und seiner Auswirkungen im menschlichen Bewusstsein - sowohl der Verunsicherungen als auch der Möglichkeiten eines neuen Selbstbewusstseins.

 

An der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft dieser Gesellschaft sind die Selbstzweifel und Untergangsvisionen bemerkenswert, die besonders die Mittelschicht umtreiben.(1) Einst stolz und im Zentrum der »Bonner Republik« fühlt sie sich in der »Berliner Republik« an den Rand gedrängt. Vom produktiven Herz des Exportweltmeisters redet nur die Politik. Man selbst fühlt sich nicht mehr so. Als Teil der weltweiten Dienstleistungsgesellschaft ist man zwar gefragt und wird rund um den Globus gehetzt, ohne zu verstehen, was dieses Räderwerk treibt. In dieser Lage greift die Mittelschicht wie süchtig nach Artikeln und Büchern über den eigenen Untergang. Was verbirgt sich hinter der Rede vom Untergang? Denn jedes Ende ist ein Anfang und jeder Neu-Anfang ging in unserer Historie aus dem Verfall einer alten Zeit hervor.

Gerade das historische Bewusstsein fehlt in der Untergangsdebatte. Sie bleibt den Tageseindrücken verhaftet. Der Augenschein und einige Statistiken genügen, um unter nicht geringem Beifall zu erklären, diese »Gesellschaft schaffe sich selbst ab« (Thilo Sarrazin). Auf ökonomischem Gebiet schrieb der Wirtschaftsforscher Prof. Hans-Werner Sinn mit seiner Analyse der Finanzkrise mit Kasino-Kapitalismus (Econ-Verlag, 2009) ein Untergangsbuch über die deutsche »Basarökonomie«. Und heute, nachdem die deutsche Wirtschaft wieder boomt, ist das alles vergessen. Und selbst in der Finanzkrise wich die Mittelschicht nur unwesentlich von diesem Muster ab. Zwar erkannte sie die gigantische Umverteilung der Einkommen und Vermögen, die der Finanzkrise vorausging: »Unser Geld und damit unsere Zukunft hat man an den Börsenplätzen der Welt wie im Kasino verspielt!« Doch als Reaktion auf diese Einsicht hat die betrogene Mitte die FDP mit 14,8 Prozent in die Regierung gewählt und belohnte damit gerade jene Partei, die seit Jahren die Deregulierung in Wirtschaft und Gesellschaft fordert. Eine ganze Bevölkerungsschicht fantasiert den eigenen Untergang und verwandelt die eigenen Erfolge auf der Ebene der Realität in Misserfolge auf der Ebene des Bewussteins. Was kann dafür die Ursache sein?

 

Die Reichtums- und Armutskrise

Zu einer Antwort können uns die geschichtliche Erinnerung und die anthropologische Forschung helfen. Reiche Gesellschaften neigten immer dazu, ihren Status zu bewahren, den inneren Wandel zu ignorieren oder zu unterdrücken und stabile Ordnungen aufzubauen. Doch alle statischen Systeme von Ägypten bis Rom konnten weder die inneren Umbrüche verhindern noch die Dynamik der Außenwelt beherrschen. Um den Wandel zu verdrängen, inszenierte man die eigene Großartigkeit. Doch die stand immer im direkten Verhältnis zu den tief sitzenden Selbstzweifeln. Was reiche und erfolgreiche Gesellschaften mit ihren Spielen und Bauten verbergen wollten, das hat Rousseau so formuliert: »Wo einige reich sind, müssen viele arm sein.« Erfolgreiche Gesellschaften wurden reich, weil sie die Gerechtigkeit vergessen haben. Sie haben andere Völker wie die sie umgebende Natur ausgebeutet. Das war auch vor der französischen Revolution im Ancien Régime der Fall. Die Bauern wurden ausgeplündert, das Bürgertum möglichst von der Macht ferngehalten. Als der König mehr Geld brauchte, weil die Staatsfinanzen zerrüttet waren, wurden die Generalstände einberufen. Auch damals befand sich das Bürgertum zwischen einer Reichtums- und einer Armutskrise. Der reiche Adel war so reich, dass er alles verspielte. Die armen Bauern und Tagelöhner waren so arm, dass ihr Schicksal zumindest die denkenden Teile des Mittelstands erbarmte und politisierte. Intellektuelle forderten vorsichtige Reformen am System und brachten es zum Einsturz. Zu viel rückgestaute Dynamik hatte den Weg in die Freiheit gefunden. Dieses Ende war ein Anfang, kein Untergang. Die »Französische Revolution« verhalf der Demokratie, aber auch dem Kapitalismus in Frankreich zum Durchbruch.

Übertragen wir die damalige Situation mit einem kühnen Vergleich auf unsere Lage. Auf der makroökonomischen Ebene der globalen Vernetzung dieser Welt hat die Mittelschicht eine Gefahrenwahrnehmung für den eigenen Wohlstand. Die Reichtums- und Armutskrise ist eine weltweite Erscheinung. Der weit gereiste Bürger weiß vom Elend »jenseits des Kaukasus« (Goethe). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung fragt er sich, ob die Dynamik der neuen Armutsvölkerwanderung mit technischen Mitteln und mildtätigen Spenden vom reichen Zentrum fernzuhalten ist.

Neben der Armuts- und Reichtumsspaltung der Erde verläuft eine zweite Spaltung quer durch alle globalisierten Gesellschaften. Es sind die Globalisierung des Warenhandels und die sie begleitende Globalisierung der Dienstleistungen, von der die umwälzende Dynamik ausgeht. Von den USA über China und Russland bis zur EU reicht ein innerer Reichtumsgürtel von Milliardären. Die Einkommen driften auseinander und es entsteht eine relative Armut der Mittelschichten. Durch genau diese weltweiten Prozesse fühlt sich die deutsche/europäische Mittelschicht bedroht und entwickelt eine Wagenburgmentalität.

Ihr Bewusstsein ist in erster Hinsicht einkommensbezogen. Sie fürchtet in prekäre Einkommensverhältnisse abzusinken. So definiert die letzte Untersuchung des DIW(2) sowohl einen leichten zahlenmäßigen Rückgang der Mittelschicht als auch einen Einkommensrückgang.(3) Der Untersuchung über den Einkommensrahmen steht die Betrachtung über den Tätigkeitsrahmen gegenüber. In der Diskussion um die Dienstleistungsgesellschaft(4) wird von Tätigkeitsmerkmalen ausgegangen, die Arbeit (Service) im Rahmen der Produktion definiert. Es bleibt ein Unschärfeproblem, denn die Furcht vor dem Absturz kann sowohl durch Verluste an Einkommen als auch durch Abqualifizierung der Tätigkeiten ausgelöst werden.

 

Die neue Industrialisierung der Dienstleistungen

Teils nimmt die Mittelschicht die neue Armuts- und Reichtumsspaltung zur Kenntnis, teils möchte sie diese Teilung verdrängen. Hier stoßen wir auf die mikroökonomische Ebene des Betriebs. Einerseits fühlt sich die Mittelschicht noch als der alte »Produktionsoffizier der Industrie« (Max Weber). Dort sah sich der Einzelne als Angestellter zwischen Kapital und Arbeit mit eigener Gewerkschaft (DAG) und Versicherung (DAK). Doch die alte Industriegesellschaft ist längst passé. In der »Netzwerkgesellschaft« (Manuel Castells) nimmt die Mittelschicht eine wichtige, aber in sich geteilte Rolle ein. Ein Teil befiehlt als Manager in internationalen Konzernen. Dieser kauft und verkauft seine Dienste im Bewusstsein von Macht und Unersetzlichkeit. Der mittlere und untere Teil, die Masse der Angestellten, ist zu Befehlsempfängern abgesunken. Jene dienen und verkaufen ihre Dienste im Bewusstsein der abgestiegenen Rolle. Das Auseinanderdriften der Mittelschicht ist dem inneren Transformationsprozess in der Dienstleistungsgesellschaft geschuldet. So privilegiert wie in der alten Industriegesellschaft ist sie nicht mehr. Der Traum ist ausgeträumt, dass mit der Wissensgesellschaft der unaufhaltsame Aufstieg der alten »Angestellten« weiterläuft. Er ist sogar dem Albtraum des Abstiegs und einer drohenden »Proletarisierung« gewichen.

Was aber ist der eigentliche Kern des Problems? Auf ihn stoßen wir in der Rede von der »Industrialisierung von Dienstleistungen«.(5) Die »Industrialisierung der Finanzbranche und der Banken«,(6) genauso wie die »Industrialisierung der IT«,(7) werden von der Beraterbranche als der neue Trend verkauft. Man wundert sich: Kann es wahr sein, dass nach dem Niedergang der alten Industriegesellschaft die eben verstorbenen Geister in einer neuen Formation wiedergeboren werden? Es ist doch eine unwidersprochene Tatsache, dass heute in der Landwirtschaft 2,2 Prozent der beschäftigten Bevölkerung, in der Industrie 25,8 und 71,9 Prozent in Dienstleistungsverhältnissen arbeiten.(8)

 

Die Transformation der Dienstleistungsgesellschaft in der 3. Moderne

Doch diese Zahlen spiegeln nur die Oberfläche der inneren Transformation der Dienstleistungsgesellschaft wider. Wir scheinen am Beginn der 3. Moderne zu stehen. Sie ist ihrem Wesen nach eine globale Gesellschaftsform. In ihrem Untergrund scheint der produktive Teil (die Industrie) im Rückwärtsgang begriffen. Im Bewusstsein der Bürger nimmt der »unproduktive Teil« (die Dienstleistungen) zu. Das wirkt wie Gift auf das eigene Selbstbewusstsein, da diese Dienste der eigenen Arbeit entspringen. Für die Vertretung der ökonomischen und politischen Interessen ist diese Haltung katastrophal.

Jede Gesellschaftsform der Vergangenheit war auf der Suche nach ihrer Produktivitätsformel, dem Elixier des eigenen Selbstbewusstseins. In ihr spiegelt sich die Berechtigung, am Reichtum der Gesellschaft beteiligt zu werden. Die Teilhabe an der Macht setzt voraus, dass man sich über die Teilnahme am produktiven Prozess im Klaren ist. Das war in der Feudalzeit schon so. Im Bauernkrieg (1525) hat man gereimt: »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« Hier wird eine Verbindung hergestellt zwischen der Produktivität der Erde und der eigenen landwirtschaftlichen Arbeit. In diesem unmittelbaren Verhältnis braucht es keine externe Fürstenmacht. Sie muss sich legitimieren und wird bekämpft, wenn sie überflüssig ist. Die Ökonomen Frankreichs haben diese Einsicht auf den Punkt gebracht, indem sie allein der Erde Produktivität zuwiesen (Physiokraten(9)). Als die Industrie entstand, musste sie sich gegen das hartnäckige Vorurteil durchsetzen, sie sei unproduktiv, weil in der Fabrik ja nichts wachse. Deren Zuwachs an Werten konnte man nicht wie auf dem Acker wachsen sehen. Adam Smith und David Ricardo wiesen nach, dass die industrielle Arbeit Werte schafft. Naturstoffe verwandeln sich unter Hinzufügung fossiler Energie und menschlicher Arbeit in nützliche und brauchbare Dinge, eben Industriegüter. Die heftige Debatte um die neue Produktivitätsformel entwickelte eine ökonomische und eine moralische Seite.

Ökonomisch war der Ort der industriellen Produktion die Fabrik und die Kraft der Arbeiter. Die Wertschöpfung geschah in einem Prozess der Warenproduktion. Das sind bis heute meist die industriellen Güter (Dinge), die man anfassen (Tangibilität) und in Stückzahlen messen kann. Der Produktionsprozess kannte dabei nur eine Richtung: einfacher, schneller, kostengünstiger immer mehr Waren zu produzieren, die man brauchte (Nutzen) und deshalb tauschte (Geld). In seiner Mehrwerttheorie ging Karl Marx einen Schritt weiter. Für ihn waren ausschließlich die Arbeiter produktiv, die an der »Waren- oder Produktbildung teilnehmen, der eine mehr mit der Hand, der andre mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als manager, engineer, Technologe etc. - der dritte als direkter Handarbeiter.«(10) Marx wie später Joseph Schumpeter argumentieren, dass der Kapitalist allein an der Geldvermehrung (Kapitalbildung) interessiert sei. Der »nützliche Charakter (interessiert) so wenig wie die besonderen nützlichen Eigenschaften des Produkts«.(11) Es wird alles verkauft und in den Produktionsprozess gezogen, wenn es nur Geld, sprich Kapital erzeugt. Auch »Dienste«(12) sind in diesem Prozess enthalten, wenn sie unter Gewinngesichtspunkten (Mehrwert) genutzt werden können.

Neben dieser streng ökonomischen Betrachtungsweise der Waren als Tauschwerte taucht die moralische auf. Hier ging es um die politische Macht, um die Emanzipation der Arbeiterklasse. Der dazugehörige Reim lautete: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!« Die Räder sind sichtbare Dinge. Doch nun steht der Wille zur Produktion im Zentrum. Mit der Befreiung der Arbeit war auch die Befreiung der nützlichen, qualitativ hochwertigen Produkte von ihrem Missbrauch zur reinen Gelderwirtschaftung gemeint. Die neue Gesellschaftsform, der Sozialismus, sollte an die Stelle der sinnlosen Produktion von Massenwaren zur Kapitalakkumulation (Rosa Luxemburg) sinnvolle und qualitativ hochstehende Gebrauchsgüter setzen. Mit der Befreiung des Menschen sollte die Befreiung der Gebrauchswerte einhergehen (Humanisierung der Natur).

Hier stoßen wir auf die Naturfalle der industriellen Moderne.(13) Von Rousseau stammt der Gedanke, dass die reine Natur des Menschen gut ist, er aber als Kulturwesen alles verdirbt. Diese romantische Idee hat beeindruckt und lange vergessen gemacht, dass der Mensch mit seinen angeborenen Mängeln (Naturverlassenheit) nur als Kulturwesen leben kann. Als Idee der guten Naturdinge fand sie in der marxschen Entfremdungstheorie ihre Fortsetzung.(14) Der Mensch ist nur gut, wenn er frei von der Produktion spielerisch lebt, »heute dieses, morgen jenes zu tun -, wie ich gerade Lust habe«.(15) Solange er sich im »Akt der Produktion« an die Dinge »entäußert«, lebt er in der schlechten Herstellungswelt von Industrieprodukten. Dort verliert er sein Selbst an die Dinge, die ihm als fremde Warenwelt gegenübertreten und die ihm nicht gehören.(16)

Die guten Naturdinge und ihre sichtbare und greifbare Qualität wurden zur Idee des entfremdungsfreien Lebens stilisiert. »Zurück zur Natur« war die Qualitätsformel, mit der sich die wahren nützlichen und brauchbaren Produkte von hoher Qualität von den unnützen Industriegütern abgrenzen ließen.

Auf der anderen Seite stand die industrielle Facharbeiterschaft mit ihrem Stolz auf eben diese Premiumprodukte. In einem langen gewerkschaftlichen Kampf hatte sie sich aus der Herstellung von industriellen Qualitätsprodukten (Made in Germany) einen hohen Grad an Selbstbewusstsein erkämpft.

 

Die neue Produktivitätsformel im tertiären Dienstleistungssektor

Im Prinzip existieren also zwei »Rationalitäten«. Eine mengenorientierte Tausch-Werte-Rationalität, die an der Geldanhäufung interessiert ist, und eine Gebrauchs-Werte-Rationalität, die sich an nützlichen Dingen orientiert. Beide sind Teil unserer ökonomischen Wirklichkeit. Doch im Hinblick auf die Produktivitätsformel und die Frage nach der Hervorbringung von Selbstbewusstsein führen beide in eine Sackgasse. Die erste lautet: »Hast Du was (nämlich Geld), so bist Du was!« Die zweite lautet: »Produzierst Du gute, sinnlich greifbare Dinge (goods), so bist Du ein wertvoller Mensch!«

Beide Produktivitätsformeln verfehlen die Qualitätsanforderungen der neuen Dienstleistungsgesellschaft, die zuerst in den USA entstand. Dort steht der Kunde als Käufer von Serviceleistungen im Zentrum. An die Stelle der »alten Methoden der dahinschwindenden Industriegesellschaft: Kostensenken, Ergebnisverbesserung durch - Economies of Scale - « sind in den USA die »Economies of Service« getreten (Grönroos(17)), weil der Kunde nicht mehr allein durch Sachleistungen gehalten oder gewonnen werden konnte. Man entdeckt, dass es eine geschlossene Beziehungskette aus »Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität« (Donabedian(18)) gibt. Dieses Prozessdenken wurde in den USA auf das Krankenhaus und andere Dienstleistungsbereiche übertragen. Selling, nicht producing steht im Zentrum dieses Prozessdenkens. Das amerikanische Dienstleistungsdenken will durch Effektivität und Effizienz eine Leistungs-, Kosten- und Erfolgskette aufbauen. Der Kunde soll mit einer Ergebnisqualität gewonnen werden. Man produziert dabei konsequent, was der Kunde will, auch wenn man dabei ins Abseits gerät (z. B. zu große und zu viel Sprit schluckende Autos). Das deutsche industrielle Denken hingegen produziert nicht, was der Kunde will, sondern das, was gut für den Kunden ist.

Mit diesem Produktivitätsgedanken wurden erstmals der Kunde und seine Leistung einbezogen. Produktiv war allein der Gesamtprozess. Die Leistungen auf der Produzentenseite (Inputs) wurden im System der Dienstleistung mit den Leistungen der Kundenseite in eine gesamte Dienstleistung (Outputs(19)) transformiert. Man war von den »Beziehungskosten« (Grönroos) ausgegangen und hatte über den Verkauf und den Service einen Qualitätsbegriff entwickelt. In seinem Zentrum steht die »Beziehungsqualität«.

Dieser Prozess lässt sich nun in eine firmeninterne »Vorkombination« und eine externe »Endkombination« (Corsten) aufteilen, in der dann erst das Produkt oder die Serviceleistung auf den Kunden trifft. Für Grönroos entsteht die Dienstleistungsproduktivität in drei Teilprozessen:

1. Das Backoffice, hier kann der Anbieter ohne den Kunden produzieren.

2. Der Service Encounter. Hier findet die direkte Interaktion von Anbieter und Kunde statt.

3. Die Selfservices. Hier wird dem Kunden eine automatisierte Infrastruktur zur Verfügung gestellt, die er selbst bedienen muss (z. B. Selbsttanken, Bankautomat).(20)

Herausgestellt hat sich, dass die Produktivität und Qualität durch die Einbeziehung des Kunden und durch die neuen Techniken der Informationsverarbeitung enorm steigen. Das führt zum Teil kurzfristig zu Gewinnsprüngen (25 % bei der Deutschen Bank). Trotzdem gibt es Grenzen bei der Übertragung der industriell geprägten Methoden zur Messung, Steuerung und Erhöhung von Dienstleistungsqualität.

Hier beginnt das Problem der Beraterbranche. Sie fragt, ob »die (industriellen) Methoden der Produktionsoptimierung - eingesetzt werden können, ohne dass die Beziehung zum Kunden schaden« nimmt. Das will man verhindern durch die Teilung in den »internen« (Mitarbeiter) und den »externen Faktor« (Kunde) bei der Leistungserbringung. Der Kunde sei zwar »in den Dienstleistungsprozess - immer einbezogen«. Doch bei »näherem Hinsehen (komme man doch zu) der Feststellung, dass in vielen Dienstleistungsbranchen der Kunde tatsächlich nur in einen Teil des Prozesses einbezogen ist.« Hier wird nun feinsinnig zwischen einem Vordergrund unterschieden, in dem »die Beratung der Kunden« zum Beispiel in der Bank stattfindet, und einem »Hintergrund (wo) zahlreiche Arbeitsschritte stattfinden, bei denen kein direkter Kontakt zum Kunden besteht.«(21)

Beim »heutigen Stand der Informations- und Kommunikationstechnik (sei) eine Rationalisierung dieser Tätigkeiten (möglich), durch die bedeutende Kosten-, Geschwindigkeits- und damit Wettbewerbsvorteile realisiert werden können.« Beworben wird dieses Projekt durch die Beraterbranche mit der Idee, das »Dienstleistungsunternehmen nicht mehr als monolithischen Block zu sehen, sondern als eine Kombination kundennaher und kundenferner Tätigkeiten, dann öffnen sich weit reichende Industrialisierungsmöglichkeiten.« Kundenferne Bereiche sollen »konsequent industrialisiert« werden durch eine »konsequentere innerbetriebliche Aufgabenteilung (und) Aufgabenverlagerung an externe Spezialisten (Outsourcing)«. Nach den Banken ist jetzt die Versicherungswirtschaft im Visier, denn es nehmen die »Vorteile der Industrialisierung mit steigender Betriebsgröße« zu. Immer gehe es um eine »vernünftige Balance zwischen »Rationalisierung und Kundenorientierung«. Eine »vorurteilsfreie Betrachtung« der »Industrialisierung« werde dazu führen, dem »Kunden eine individuelle und zugleich kostengünstige Dienstleistung zu bieten«.(22)

 

Die Bildung von Selbstbewusstsein

Es ist auffällig, dass diese geballte Umstrukturierung des Dienstleistungssektors so wenig Aufmerksamkeit vonseiten der Gewerkschaften erfährt. Zwar wurde ein Projekt »gute Arbeit« gestartet. Das sucht unter dem Titel: »Produzentenstolz als Innovationsressource im Dienstleistungsbereich« nach einem »aktiven Leitbild«. Gefragt wird: »Wie lässt sich bei Dienstleistungstätigkeiten eine bessere Übereinkunft von Wertschöpfung und Wertschätzung erzielen.«(23) Die Formulierung deutet auf die »industriell handwerkliche Facharbeit« und ihren Stolz auf die Herstellung von Dingen. Sie geht in die falsche Richtung.

Die Dienstleister müssen mit dieser Tradition brechen, denn sie kettet das Selbstbewusstsein weiterhin an die Produktion von Dingen. Der gewaltige Schritt über diese Begrenzung hinaus war ja gerade die Erkenntnis, dass die Ergebnisqualität der neuen Dienstleistung aus der Interaktion zwischen Produzent und Kunde hervorgeht. Ihre Produktivität ist gewaltig, gemessen an der Nützlichkeit und Brauchbarkeit für die Gesellschaft. Sie wird aber nur verständlich durch den Bruch mit der alten industriellen Produktivitätsformel. Die Produktion von Dienstleistungsgütern erzeugt den neuen Wertzuwachs und ökonomisches Wachstum. Ihre Qualität entsteht im unmittelbaren Austausch von nützlichen und brauchbaren Diensten, die wertgeschätzt werden, wenn man ihren spezifischen Dienstleistungswert erkennt.

Folglich müssen die Dienstleister einen Streit um den Wert von »Beziehungsqualitäten« beginnen. Produktiv ist dabei, was qualitativ gute Beziehungen erzeugt. Das fängt an bei den einfachsten Diensten in der Pflege von Alten und Kranken. Es setzt sich fort in Schule und Hochschule und den industriellen oder handwerklichen Dienstleistungen. Der besondere Wert oder die Qualität dieser Arbeit besteht gerade darin, dass sie gute Zwecke bewirkt, bei denen der direkte Kontakt zwischen Anbieter und Kunde ein gemeinsames Interesse erzeugt. Über diese Erfahrung verliert das Abhängigkeitsverhältnis von Dienst-leister und Dienst-nehmer an Bedeutung. Stattdessen wird die Dienstleistung zu einem gemeinsamen Projekt, bei dem die Einseitigkeit des Anbieters durch die Vielseitigkeit der beiderseitigen Dienstleistung abgelöst wird.

Tauschwertberechnungen wird es weiterhin geben. Die Industrialisierung der Dienstleistungen wird der zentrale Konfliktpunkt sein. Den Streit können die Beschäftigten und Kunden aber nur gewinnen, wenn sie selbstbewusst auf dem Recht bestehen, im direkten Austausch die neue geistige produktive Qualität zu nutzen. Das Selbstbewusstsein der Dienstleister wird, gegen die neue Industrialisierung, aus der Qualität von Beziehung entstehen.

Eine neue Produktivitätsformel für Dienstleistungen hat sich noch nicht herausgebildet. Sollte sie entstehen, so wird sie sich von der industriellen wesentlich unterscheiden. Denn sicher ist, dass sich die aus Gebrauchswerten aufgebaute Beziehungsqualität nicht mit den heute bekannten Methoden messen lässt, weil sie an persönliche Qualitäten gebunden ist. Klar ist aber jetzt schon, dass wir nicht am Ende der Geschichte oder im Untergang dieser Gesellschaft stehen. Ganz im Gegenteil zeichnet sich in der Dienstleistungsgesellschaft ein neuer Anfang ab. Das gibt zu Hoffnung Anlass.

 

1

Jens Bisky: »Die Grade unserer Unsicherheit.«, in: SZ, 10.8.10.

2

Harald Rossa: »Eine Spaltung der Gesellschaft droht«, in: DIW-Wochenbericht, 15.6.10.

3

DIW-Wochenbericht 10/08. Demnach betrug der Anteil an der gesamten Bevölkerung 62  % im Jahr 2000. Er sank 2006 auf 54  %. Die Einkommen der sogenannten Durchschnittsverdiener sind in diesem Zeitraum um 5 % gesunken. In den USA wird dieser Prozess - »shrinking middle class« vom US Census Bureau genannt ? in der Einkommensstatistik 2007 als ein Rückgang in den letzten zwei Jahrzehnten von 3,9 % von 48,2 % auf 44,3 % angegeben.

4

Der Strukturwandel wird als Tertiarisierung auf der Grundlage der »Drei-Sektoren- Hypothese« von J. Fourastié verstanden. Er zeigt die Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft entlang der Tätigkeitsmerkmale. Auch hier gibt es ein Unschärfeproblem, weil viele Dienste im Rahmen der Industrie oder an Industrieleistungen erbracht werden oder in sie eingebunden sind.

5

Michael Kobbe: »Industrialisierung von Dienstleistungen ? Plädoyer für die Befreiung von einem Vorurteil«, EVOLOG ? Beratungsgesellschaft (Köln 2009).

6

Bauer/Engstler: »Wege zur Bankenindustrialisierung« (2006) [White Paper »Der Weg zur Bankenindustrialisierung: Industrialisierungs-Quick-Check«], Stuttgart: Fraunhofer IAO 2006.

7

Sven Markus Walter, Tilo Böhmann, Helmut Krcmar: »Industrialisierung der IT ? Grundlagen, Merkmale und Ausprägungen eines Trends«, in: HMD ? Praxis Wirtschaftsinform 256 (2007)

8

Statistisches Bundesamt, The Economist.

9

Quesnay (1758).

10

Marx, Karl: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt am Main 1970, S. 64-65.

11

Ebd., S. 69.

12

Ebd., S. 70. Und: »Dienst ist überhaupt nur Ausdruck für den besonderen Gebrauchswert der Arbeit«, durch die einmal Kapital gebildet, das andere Mal »ein individueller Konsum« befriedigt wird.

13

Entsprechend der Sektorentheorie von Fourastié verstehe ich die Feudalgesellschaft mit dem Schwergewicht der Landwirtschaft (Primärer Sektor) als 1. Moderne. Moderne wegen Entwicklung der Philosophie in Athen. Die 2. Moderne beginnt mit der Entwicklung der Industrie (sekundärer Sektor) in der Renaissance bis zum Imperialismus. Die 3. Moderne beginnt mit der weltweiten Ausdehnung der Dienstleistungsgesellschaft (tertiärer Sektor) und der Ablösung der Industrie als dominierendem Beschäftigungsfeld.

14

Von Marxens Dissertation über die »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« (MEW - Ergänzungsband I, S. 261 ff., S. 514).

15

Karl Marx: »Deutsche Ideologie«, in: MEW 3, S. 33.

16

Marx, Karl: »Ökonomisch Philosophische Manuskripte« (MEW - Ergänzungsband I, S. 514-515).

17

Christian Grönroos: »Die Herausforderung im Dienstleistungswettbewerb - Wirtschaftlichkeitsvorteile durch guten Service«, in: Manfred Bruhn, Bernd Stauss (Hrsg.): Dienstleistungsqualität, Wiesbaden 1995, S. 83.

18

Stefan Görres: Qualitätssicherung in Pflege und Medizin, Bern 1999, S. 179.

19

In der klassischen Produktivitätsformel werden im Zähler z.  B. die Stückzahlen der produzierten Erzeugnisse als Output erfasst und in Relation zu den eingesetzten Mitteln, zum Input gestellt. Siehe: Maria Baumgärtner, Maria Bienzeisler: Dienstleistungsproduktivität, Stuttgart (Fraunhofer-Gesellschaft) 2006, S. 19.

20

Christian Grönroos, Katri Ojasalo: »Service productivity«, in: Journal of Business Research, Nr. 4/2004, S. 417.

21

Michael Kobbe: »Industrialisierung von Dienstleistungen? Plädoyer für die Befreiung von einem Vorurteil«, EVOLOG - Beratungsgesellschaft, Köln 2009, S. 2.

22

Ebd., S. 3-5.

23

Bernd Bienzeisler: »Wertschöpfung und Wertschätzung«, in: Mitbestimmung 11/06 (Hans Böckler Stiftungs-Magazin).

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010