Balduin Winter

 

Deutschland verdummt

 

Es beginnt schon mit Sarrazins Buch und der Debatte

 

  

Schon vor seinem Erscheinen war Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen ein Bestseller. Bild veröffentlichte Auszüge aus dem bei DVA (Bertelsmann-Gruppe) verlegten Buch, der Spiegel einen fünfseitigen Vorabdruck, Focus trommelte fleißig mit. Ein lautstarker Chor fiel mit dem Tenor ein: »Man wird doch wohl mal sagen dürfen«. Hier sollte zwischen medialen Wortführern und »Volkes Stimme« unterschieden werden, denn wie andere politische Brennpunkte zeigen (AKW und Energiefragen, Stuttgart 21, Bildungspolitik etc.) köchelt es im Polittopf.

Bei den Sarrazin-Anhängern waren dessen biologistische Entgleisungen nur selten Thema, wohl aber sein Geschichtsbild und sein Sozialdarwinismus. Sarrazin wurde in der Debatte schnell zum Opfer der Meinungsfreiheit aufgebaut, man selbst stöhnte unter der »Bleidecke der Political Correctness« der »Gutmenschen« (Welt, 8.9.) ? Letzteres übrigens ein goebbelssches Propaganda-Idiom. Der Verdacht einer koordinierten Kampagne stellte sich ein, nicht nur bei Linken (taz, 23.8.) sondern weit in die Mitte hinein (etwa im carta-Blog), dass Bertelsmann sich mit anderen abgesprochen habe. Was Berthold Kohler in der FAZ (10.9.) nicht hinderte, altbekannte Vernebelungen in Haltet-den-Dieb-Manier zu publizieren: »Die Linke in Politik und Publizistik zog die roten Linien ...«. Drei Wochen lang mühten sich zahlreiche Medien, eine große Diskussion aufzuziehen. In Blogs sprach man von einer »nie da gewesenen Buchpromotion«.

Der Spiegel (37/10) legte mit »Staatsversagen« noch eins drauf. Neun AutorInnen recherchierten: »Ausgerechnet in der Ausländerpolitik hat eine große Koalition aus links und rechts jahrzehntelang die Wirklichkeit ignoriert.« Ausländerpolitik ... Gibt es bald wieder Ausländergesetze? Ausländer raus ... Da passt Sarrazins »Zuchtwahl«-Zitat gut dazu. Der Artikel ist auf die Art gestrickt: Was Sie schon immer bei Bild und Focus und sonstigen Qualitätsblättern über Integration gelesen haben, hier nun konzentriert wiedergekäut.

Schlampige Umfragen zirkulierten - 80 Prozent der Bevölkerung fänden, Sarrazins Kritik an der Integrationspolitik ginge nicht zu weit (n-tv, 1.9.). Offensichtlich war die tiefe Kluft zwischen Parteien und Bevölkerung. Immerhin ließ sich nun ein Potenzial von 18 bis 20 Prozent für eine Partei »rechts« von der CDU dingfest machen. Inzwischen hat die SPD-Führung bemerkt, dass das Pamphlet des Parteigenossen eine »Rechtfertigungsschrift für eine Politik (ist), die zwischen (sozioökonomisch) wertvollem und weniger wertvollem Leben unterscheidet« (Sigmar Gabriel in der Zeit, 16.9.). Denn die Debatte über die »Verdummung der Deutschen« (SZ, 10.9.) ist weit mehr als nur eine um Integration, sie stellt eine Fortsetzung jenes »Klassenkampfes von oben« dar, der zuletzt mit Peter Sloterdijks elitären Forderungen nach Änderung des Gesellschaftsvertrags kulminierte.

 

Die Selbstabschaffungs-Thesen wurden »pawlowmäßig« durchdekliniert. Nur zu Sarrazins biogenetischen Äußerungen gab es, egal ob man Bescheid weiß oder nicht, verbreitete Ablehnung. Die Eugenik ist nicht nur angesichts der deutschen Geschichte ein heißes Thema. Was sich jedoch gezeigt hat: Es existiert eine große Unsicherheit über Begriffe wie »Intelligenz«, »Vererbung«, aber auch über wissenschaftliche Vorgehensweisen. Sarrazin selbst setzt mit der Schwammigkeit des Verfassers von Ratgeberleitfäden in seinem Buch Begriffe, aber er definiert sie nie. Bei der »Biologie« stellt er sich selbst die Falle, weil er über Darwin und Mendel plaudert: »Die darwinsche Evolutionstheorie, die mendelschen Gesetze und die empirischen Befunde zur Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften, darunter auch der menschlichen Intelligenz, ergeben zusammen ein empirisch-logisches Gedankengebäude, gegen das man mit Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität kaum etwas vorbringen kann.« Das ist sein theoretisches Kellergebäude für seine weiteren Gedankenpaläste zur genetischen Vererbung von hohen (und unterschiedlichen) Prozentsätzen der Intelligenz, die bei bildungsfernen und integrationsunwilligen Menschen aus islamischen Ländern eben geringer sei, sodass aufgrund ihrer höheren Fertilität die Dummheit in Deutschland zunähme. Elsbeth Stein, deren Forschung Sarrazin »interpretiert« und auf diesen simplen Dreisatz heruntergebracht hatte, widersprach vehement (Zeit, 2.9.). Frank Schirrmacher meinte die Einflüsse von Charles Murray und Richard Herrnstein zu erkennen. Es ginge Sarrazin jedenfalls nicht um die Verteidigung der Kultur, weil dieser »in Wahrheit selbst nicht mehr an ihre bindende und verbindliche Kraft glaubt«, sondern um die »Etablierung eines völlig anderen Kulturbegriffs. Es geht um die Verbindung von Erbbiologie und Kultur.« (FAS, 30.8.) Stimmt: das autochthone Deutsche.

Am deutlichsten brachte es der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) in einer Pressemitteilung vom 2.9. auf den genetischen Nenner: »Herr Sarrazin hat die grundlegenden genetischen Zusammenhänge falsch verstanden ? seine Aussagen beruhen auf einem Halbwissen, das nicht dem Stand der Evolutionsforschung entspricht.« Diesem Fazit geht eine wissenschaftliche Argumentation voraus, die über Intelligenz erklärt: »Dass es bei Volksgruppen genetische Unterschiede in Bezug auf Intelligenzleistungen geben könnte, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht zu erwarten. Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer. Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei Weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z. B. durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potenzial für Intelligenzleistungen hat.«

Durch das ganze Buch weht einen der eiskalte Atem eines tiefen Kulturpessimismus an. Mit einem Geschichtsbild, das hoffentlich an deutschen Schulen selten geworden ist. Es ist ein Bild wie bei Sarrazins Biologie: 19. Jahrhundert. Klar abgegrenzte »Völker« und Räume, Ursachen und Wirkungen, 3000 Jahre gesicherte Pharaonenherrschaft dank der schützenden Wüste, 400 Jahre stabiles Römerreich dank Militär, dann, rums!, die Völkerwanderung. Es passiert einfach. Europa ist aufgestiegen, hat einen folgenschweren Schub ausgelöst ? kann nun die Erde noch physisch überleben, kann der Wohlstand bewahrt bleiben ohne Überforderung der Ressourcen? Lästige Fragen, die mag er gar nicht. Also hin zur »belanglosen Frage«, ob es gelingt, »in Deutschland dauerhaft genügend Intelligenz, Fleiß und Einsatzfreude ... zu mobilisieren, um das erreichte Niveau zu halten, im weltweiten Wettbewerb zu verteidigen und fortzuentwickeln?«

Die Welt, das feindliche Draußen, interessiert ihn nur als Illustration, um dagegenzuhalten, gegen sie zu konkurrieren und »Deutschland« gegen alles zu verteidigen, was dem »weltweiten Wettbewerb« bei der Wohlstandswahrung nichts nutzt. Auf Seite 32 ist die Absicht dargelegt für weitere 430 Seiten. Wie in einem Krimi, in dem der Täter von Anfang an bekannt ist. Wirft er dann Fragen der Integration auf, kommen sie aus dieser Wagenburgmentalität. Sekundanten hat er jede Menge. Wenn er seine mit Statistiken gesättigte These der »Integrationsunwilligkeit« schildert, beschreibt er vor allem seinen eigenen Weltekel.

Sein »Traum« ist, dass es keinen »stillen Tod des Volkes« gibt, worauf er mit alarmierenden Zahlen hinweist, sondern dass Deutschland noch in hundert Jahren in deutlicher Mehrheit von einem »deutschen Volk« bewohnt wird, das Deutsch spricht. Er zeichnet ein »Alptraum«-Szenario der Muslimisierung und eines, das durch rigide Abschottung das Land wieder deutscher macht. Aber weder in dem einen noch in dem anderen, daher auch nicht in der Mitte liegt eine Wahrheit, da nützen auch keine Goethe- und Schiller-Motti. Denn mit einer biologistischen Politik des Sozialneides, der Angst und der Abschottung bringt man das Land nicht weiter. Da kann einer noch so viel sagen dürfen.

 

Feridun Zaimoglu nannte Sarrazin einen »lupenreinen Rassisten«, der »einer verunsicherten Mittelschicht den Moslem als Vogelscheuche« hinhält. Der Schriftsteller Hamed Abdel-Samad wiederum findet, dass Sarrazins Thesen »uns aus der Integrationssackgasse nicht heraushelfen« und »dass Sarrazin harmloser ist, als was die Medienlandschaft aus ihm machen will. Er kann das Land weder spalten noch heilen.« (Tagesspiegel, 3.9.) Necla Kelek, die oft mit Sarrazin auftritt, unterstützt dagegen seine Auffassungen und beklagt, dass sie »als biologistisch diffamiert« werden; »die Muslime in Deutschland müssen sich entscheiden, ob sie mit aller Konsequenz Teil dieser Gesellschaft werden wollen oder als erste Gruppe von Migranten in die Geschichte eingehen wollen, die das Land, das sie aufgenommen hat, verachtet« (FAZ, 30.8.).

Die Politologin Naika Foroutan spießt die Verallgemeinerung »die Muslime« auf, welche die Diskussion beherrscht, und sieht hier am Werk »das wirkmächtige Bauchgefühl, gegen das keine wissenschaftliche Analyse antreten kann«. Sie widerlegt falsche Zahlen und schließt mit dem Hinweis, »dass der größte messbare volkswirtschaftliche Schaden, der Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg getroffen hat, nicht von der Gruppe - der Muslime- ausgeht - sondern vom Finanzsektor, dem seltsamerweise bislang niemand die Intelligenz abspricht« (FAZ, 15.9.). Hilal Sezgin, deutsche Bäurin mit Doktorhut, »als türkischstämmige Intellektuelle muslimifiziert«, kontert in der Zeit (2.9.): »Deutschland schafft mich ab«, wobei der Tenor ihres Artikel nichts anderes ist als Artikel 3 des Grundgesetzes, das Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot.

Zafer Senocak sieht eine »Angstdebatte«: »Seit 9/11 hat sich diese Angst globalisiert und sich auf das Bild des Islam konzentriert.« Doch an einen »spezifisch deutschen Rassismus« glaubt er nicht, die »deutsche Kulturgeschichte kennt auch offene Formen des Umgangs mit dem Fremden«. Der Publizist Mark Terkessidis »war schon mit dem Verlauf der ersten Sarrazin-Debatte nicht unzufrieden«, denn es werden, trotz »streckenweise hanebüchenen Unsinns« auch Klarheiten um Deutschland als Einwanderungsland geschaffen (Tagesspiegel, 3.9.).

Auch die Geschichte Deutschlands ist die Geschichte seiner Migrationen. Helmut Runge im Blog Ruhrbarone.de (7.9.) wies auf enorme Wanderungen hin: »So hatte zum Beispiel Marxloh im Jahr 1843 nur 321 Einwohner. Im Jahre 1925 waren es dann infolge der Industrialisierung bereits 35872 Einwohner ... Im Ruhrgebiet hat sich die Zahl der Einwohner wegen des Bergbaus in kurzer Zeit verhundertfacht.« Das waren bekanntlich keine »autochthonen Deutschen«. Ein Fingerzeig auf ein in der Debatte wenig genanntes Problem, nämlich die Migrationsbewegungen von Populationen, bevor sie »Deutsche« wurden.

Der Integrationsansatz des Kölner Professors Erol Yildiz ist ein ganz anderer. In seinem Aufsatz »Ein neuer Blick auf die Migrationsgesellschaft« (dérive 37/09) schreibt er: »Gerade Urbanisierungsprozesse sind ohne Migration kaum denkbar; Stadtgeschichten sind immer auch Migrationsgeschichten. Dennoch wird Migration im öffentlichen Diskurs ... bis heute nicht als eine gesellschaftsbewegende Kraft betrachtet, sondern als ?riskante Angelegenheit?, als Abweichung von der hiesigen Normalität. ... Historisch und global betrachtet ist nicht Sesshaftigkeit, sondern Mobilität der Normalfall. Die meisten Städte sind ohne geografische Mobilität von Menschen kaum vorstellbar.«

Er argumentiert jenseits des mythenbildenden »hegemonialen Blicks« auf die nicht zu beschönigende Wirklichkeit der Migranten und räumt mit einer Reihe von Missverständnissen auf: »Soziale oder kulturelle Phänomene, die wir heute als einheitlich oder homogen wahrnehmen, waren schon immer durch Hybridität geprägt. Nur scheint diese historische Tatsache im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert zu sein. Dass man sich heute nach wie vor an ethnischer Homogenität orientiert, hat mit den hegemonialen Machtverhältnissen zu tun und scheint mit den damit verbundenen Privilegien zusammenzuhängen. ... Wir sollten uns endlich von der hegemonialen Perspektive, in der MigrantInnen als defizitär und als homogene Masse wahrgenommen werden, verabschieden und die Betroffenen in ihrer Individualität als kompetente ExpertInnen ihres Lebens in den Mittelpunkt rücken.«

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010