Herbert Hönigsberger

 

Demokratie und Volkszorn

 

 

 

Plötzlich scheint ein anderer politischer Wind aus der zornig werdenden Bevölkerung zu wehen. Unterschiedlich die Anlässe und uneindeutig noch seine Richtung ? zwischen demokratischer Selbstbehauptung und lebensweltlichem Konservatismus. Doch das Feld bleibt die Demokratie. Oder doch das einer neuen Partei? Über die Dilemmata zeitgenössischer Politik.

 

In Stuttgart brandet einem größenwahnsinnigen Projekt aus dem Dinosaurierzeitalter öffentlicher Infrastrukturplanung der Volkszorn der Mitte entgegen. In Heidelberg haben die Bürger ein Exempel provinzieller Gigantomanie, die Erweiterung der Stadthalle, mit ihrem Entscheid krachend in die Amtsstuben zurückverwiesen. In Hamburg haben bürgerliche Kreise ihre vorgebliche Wunschkoalition blamiert und ein Projekt zum längeren gemeinsamen Lernen abgeschmettert. Von rechts dräut eine Sarrazinpartei. In NRW haben derweil die Wähler die konservativ-liberale Regierung schon nach einer Wahlperiode nach Haus geschickt und eine satte Mehrheit diesseits der Union installiert. Und am Horizont zeichnet sich ab, dass Union und FDP leichtfertig den von Rot-Grün befriedeten Atomkonflikt wieder anzetteln. Irgendwie geht es drunter und drüber in Deutschland.

Mit Politikverdrossenheit ist da kaum etwas erklärt. Denn wohin man schaut, machen die Bürger fröhlich Politik. Tatsächlich macht sich Parteien- und Politikerverdrossenheit breit, die allerdings auch nur Teilen der etablierten Kräfte gilt. Das Spiel, dass die parlamentarische Opposition von den Fehlern der Regierung profitiert, funktioniert immer noch. Doch ist die politische Großwetterlage turbulent und das politische Klima instabil. Das rot-grüne Zwischenhoch könnte in NRW genauso schnell weggeblasen werden wie in den bundesweiten Umfragen, die Rot-Grün weit vor Merkels seltsamer Regierung sehen. In Hamburg und Heidelberg haben die Bürgerentscheide zwar jeweils die federführenden Parteien CDU und Grüne rasiert. Aber der Bürgerwille wurde nach den Regularien der Landesverfassungen Baden-Württembergs und der Hansestadt ermittelt. Die um plebiszitäre Elemente ergänzte parlamentarische Demokratie erlaubt dort dem Souverän, Repräsentanten zu wählen und ihnen zwischenzeitlich eins auszuwischen. Es geht was, wenn man hingeht. Und es ändert was, obwohl es erlaubt ist. Das ist der Kern der Legitimation stiftenden Erfahrung, die die Bürger machen konnten.

In Stuttgart wird die Empörung zusätzlich angestachelt und dem Projekt S 21 die Legitimität abgesprochen, weil ein Bürgerentscheid aus formalen Gründen verweigert wurde. So manche der gläubigen Sarrazinisten andererseits ? ansonsten oft keine Ausbünde demokratischer Gesinnung, wie ihren Äußerungen im Internet zu entnehmen ist ? hoffen auf die Gründung einer Partei, mit der sie ihre miese Stimmung endlich in Stimmen übersetzen können, und auf Personal, das ihnen im Parlament eine Stimme verleiht. Selbst wildeste Fremdenfeinde und Parteienverächter steuern zunächst auf nichts weiter los als den demokratischen Normalfall. Werden die Modalitäten der repräsentativen Demokratie um wohlüberlegte plebiszitäre Verfahren ergänzt, werden das Interesse an einer halbwegs stabilen und konsistenten Entscheidungsfindung sowie der Bedarf des Souveräns an unmittelbarer Einflussnahme sachgerecht austariert, muss sich der aktuelle politische Tumult mitnichten zur Krise des politischen Systems auswachsen. Und Möchtegern-Parteigründer, die auf parlamentarische Präsenz abzielen und sich trotz aller Rechtslastigkeit nicht bei NPD und DVU aufgehoben wissen wollen, sind nicht die ultimate Bedrohung der Demokratie.

 

Brauchen wir eine neue konservative Partei? Die Frage wird ausgerechnet von den Medien gestellt, die den Hype um den Spießer Sarrazin erst erzeugt haben. Die Erwartung, der verdruckste Exbanker, prototypisches Gegenbild zum Volkstribun, und die Kleingeister, die er hat laut werden lassen, aber nicht rufen musste, weil sie schon da waren, seien zur Parteibildung imstande, lässt alle abwinken, die das schon mal durchgemacht haben. Dass ? so die Hoffnung in Umfragen ? ausgerechnet der ehrenwerte Herr Gauck und die republikflüchtigen Merz und Koch dabei mitspielen könnten, ist auszuschließen. Selbst die abgehalfterte schrille Frau Steinbach ist schlau genug, zu dieser Gründungsambition Abstand zu halten. Die Hoffnungen ruhen zudem komischerweise ausgerechnet auf Emeriti der etablierten Politik, auf lauter Ex, einem Bundesbanker, einem Ministerpräsidenten, einem Fraktionsvorsitzenden, einem Parteivorstandsmitglied. Neue Leute, ein deutscher Pim Fortuyn, ein Geert Wilders oder ein fähiger Haider-Imitator sind nicht in Sicht. Einer Sarrazinpartei fehlt das charismatische Personal, das mit den Medien vertraut ist. Aber es ist nicht nur das Personalproblem. Haiders FPÖ, sein nachmaliges BZÖ und die rechts-populistischen Parteien in Europa leben von einem Amalgam aus Xenophopie und Sozialpopulismus. Der allerdings wird im Sonderfall Deutschland hinlänglich von links vorgetragen. Bliebe den Sarrazinisten so recht nur das Xenophobische, das beim Spiritus Rector auch noch elitär daherkommt. Das wird trotz allen aufgeregten Zuspruchs für eine Partei kaum reichen. Dass ausgerechnet Sarrazins Umtriebe und Steinbachs Geschichtsklitterung die Frage nach dem Bedarf an einer neuen k=onservativen Partei aufwerfen, lässt auf eine gewisse begriffliche Unschärfe in manchen Redakteurshirnen schließen. Man muss sie nicht mögen, aber hierzulande gibt es bereits zwei, im europäischen Vergleich sogar respektable konservative Parteien. Wer die Mehrheitsfähigkeit des konservativen Lagers schwinden sieht, hätte mit der bundesweiten Ausdehnung der CSU eine adäquate Antwort sowohl auf die Frage, wie die Wählerstimmen, die den Konservativen zugänglich sind, maximiert werden können, als auch auf eine mögliche Partei rechts von der Union. Eine sarrazinistisch inspirierte Gründung dagegen würde es wohl nicht einmal zu einer schmuddeligen Variante der rechts-populistischen FPÖ bringen. Sollte sie wieder Erwarten doch Wirklichkeit werden, hätte die Union ein Problem mit der Koalitionsbildung, das jenes der SPD mit der Linken weit überstiege. Herr S. bringt die Union in noch größere Kalamitäten als die eigene Partei, weshalb CDU-Protagonisten die fatale Formel, der Mann habe hier und da und irgendwie doch recht, noch geflissentlicher über die Lippen kommt als manchem SPD-Mitglied. Doch wer ein Buch aus so inhumanem und antiaufklärerischem Geist schreibt, hat nirgends recht, selbst wenn er richtige Statistiken zitiert!

Beunruhigend ist, dass dieser »Krawallschani« die Sozialdemokratie doch vor größere Schwierigkeiten stellt. Ob das Mitglied S. gegen das Statut der Partei verstoßen hat, kann gelassen im vorgesehenen Verfahren geklärt werden. Die letzten Wochen haben jedoch offenbart, dass die Positionen, die dieses Irrlicht vorträgt, in der SPD, bei ihren Wählern, weit darüber hinaus und vielleicht sogar bei einer Mehrheit auf Resonanz stoßen. Dieser Situation muss sich die Leitpartei SPD stellen. Sie kann nicht ignorieren, was viele Menschen umtreibt. Sie muss vielmehr die Auseinandersetzung offensiv aufnehmen. Dazu eignet sich am besten die öffentliche Konfrontation mit dem Urheber der aktuellen politischen Erregung, dem SPD-Mitglied S. selbst. Ein unvermittelter Parteiausschluss ist dafür nicht hilfreich. Er eilt auch nicht. Und das Thema wird die Partei auch mit einem Ausschluss nicht los. Wo bleiben also die Großveranstaltungen, auf denen eloquente SPD-Mitglieder und kompetente Gäste mit Herrn S. diskutieren, vor einem Massenpublikum Irrtum und Irrweg seiner Suada vorführen und sie öffentlich zurückweisen. Auf diesen Veranstaltungen könnte die SPD demonstrieren, wie ein demokratisch-republikanischer, ein zivilisierter, humaner und aufgeklärter Umgang mit Migration und Integration aussieht. Wenn der Wortführer entzaubert wird, könnte das die Gesinnungen erschüttern, an die er appelliert. Die Besorgnis dagegen, die SPD biete Herrn S. damit eine Plattform, ist schon deshalb unbegründet, da er sie als Autor mit hoher Auflage und Objekt eines Medien-Hypes ohnehin hat. Die SPD könnte vielmehr die öffentliche Aufmerksamkeit zur eigenen Positionierung nutzen. Ansonsten gilt dieses Diskussionsangebot vorrangig ratlosen Bürgern, zu deren Sprachrohr sich der notorische Provokateur Sarrazin gemacht hat. Es ist kein Kniefall, sondern ein Zeichen von Stärke.

 

Stuttgart 21 ebenso wie die Stadthalle in Heidelberg und seit jeher die Atomkraftwerke sind Exempel, wogegen sich der Bürgerzorn richtet: Gegen teure, Geld, das anderweitig fehlt, verschwendende, oft widersinnige infrastrukturelle Großprojekte, die frühzeitig klandestin, unterkomplex und oft korrupt an den Bürgern vorbeigeplant wurden, öffentliche Finanzmittel in ausgesuchte private Taschen lenken, einseitig wenige Interessen bevorzugen und vielfältige andere Interessen ausblenden, schließlich vertraute Lebensverhältnisse zerstören. Das »Argument«, auf das die Politik ihre Begründungen schlussendlich reduziert, es würden Arbeitsplätze geschaffen und Wachstum stimuliert, beeindruckt immer weniger. In Hamburg richtete sich der Widerstand der besseren Kreise gegen eine antielitäre Bildungspolitik. Vorwiegend die unteren Schichten lassen ihren von Sarrazin artikulierten und missbrauchten Ängsten vor Immigration und Ausländerkriminalität freien Lauf. Gleichermaßen beflügeln befürchtete oder tatsächliche Folgen der Globalisierung den Widerstand. Die Angst vor dem Verlust des eigenen gehobenen sozialen Status in der internationalen Konkurrenz um die Arbeitsplätze mit hohen Qualifikationsanforderungen treibt an, ebenso die Angst, selbst einen geringen Status noch an aggressive zugewanderte Arbeitskräfte mit niedrigen Lohnerwartungen oder gar nicht arbeitende Einwanderer in die sozialen Sicherungssysteme zu verlieren. Auch mit diesen Widerstandshandlungen werden vertraute Lebensverhältnisse verteidigt, schlägt ein lebensweltlicher Konservatismus durch. Die ausgeprägte Single-issue-Lagerbildung polarisiert ungemein und liegt oft quer zur parteipolitischen Lagerbildung. In Hamburg sind die Grünen damit gescheitert, ein eher rot-grünes Projekt mithilfe der CDU-Führung gegen deren gesellschaftliches Lager durchzusetzen. In Heidelberg sind die Grünen am eigenen Lager gescheitert, dem sie glaubten, einen CDU-Plan aufdrängen zu können. Die Union in Hamburg ist mit ihren Versuchen, durch Adaption grüner Positionen noch weiter in die Mitte vorzustoßen, vom eigenen Lager zurechtgewiesen worden. Und in Heidelberg hat der CDU auch die Unterstützung der Grünen nicht geholfen, ihr Vorhaben durchzusetzen. Der Vorrat an schwarz-grünen Projekten, die auch die eigenen disparaten gesellschaftlichen Lager mobilisieren und deren Milieus zusammenzuführen, scheint gering. Und auf ein eigenes relativ gut integriertes gesellschaftliches Lager wie Rot-Grün kann Schwarz-Grün nicht bauen. Insofern kann die SPD gelassen auf schwarz-grüne Träumereien reagieren. Aus denen sind die Grünen schon unsanft geweckt worden, bevor die Atompolitik der Union sie regelrecht hochgeschreckt hat.

Letztlich verweisen die aktuellen Konfliktlinien auf ein Dilemma zeitgenössischer Politik, das einen immensen kommunikativen Aufwand verlangt, soll es auch nur halbwegs bearbeitet werden. Die politische Klasse ist Teil der gesellschaftlichen Eliten. Sie ist in die Diskurse eingebunden, die die global operierenden ökonomischen Eliten führen. Es ist ihre Aufgabe, die Position der heimischen Ökonomie auf den Weltmärkten zu stärken, gerade wenn sie gemeinwohlorientiert operieren will. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dagegen denkt nicht global, und sie operiert lokal. Sie setzt der politischen Klasse, die vertraute Verhältnisse aufsprengt, um die Gesellschaft auf die Dynamik der globalen Ökonomie einzustellen, ihren lebensweltlichen Konservatismus entgegen, der sich von unmittelbaren Eigeninteressen leiten lässt. Der alltägliche Strukturkonservatismus will haben, dass Stadtviertel ebenso wie das Rentensystem bleiben, wie sie waren. Dieser Widerstand trifft alle Parteien, selbst wenn sie sich mehr oder weniger nur aus dem Motiv, die nationale Ökonomie gemeinwohlorientiert zu stärken, zum verlängerten Arm globalisierter Unternehmen machen. Augenscheinlich ist das insbesondere ein Problem der Konservativen. Deren Impetus, die Gesellschaft an die Anforderungen einer als schicksalhafter Naturprozess gefassten Globalisierung anzupassen, wird vom lebensweltlichen Terrain aus der Verrat an konservativen Werten vorgeworfen. Die Beharrungskräfte der Lebenswelt mit der Dynamik der turbulenten kapitalistischen Ökonomie abzugleichen, ohne Erstere unterzupflügen und Letztere zum Nachteil aller auszubremsen, dazu muss nicht nur die Demokratie stark und die ganze politische Klasse ungeheuer kompetent sein. Wir alle müssen wissen, dass wir einen Stein nach oben wuchten, der uns jederzeit wieder nach unten davonrollen kann.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010