Plötzlich scheint ein anderer politischer Wind aus der zornig werdenden Bevölkerung zu wehen. Unterschiedlich die Anlässe und uneindeutig noch seine Richtung ? zwischen demokratischer Selbstbehauptung und lebensweltlichem Konservatismus. Doch das Feld bleibt die Demokratie. Oder doch das einer neuen Partei? Über die Dilemmata zeitgenössischer Politik.
In Stuttgart brandet
einem größenwahnsinnigen Projekt aus dem Dinosaurierzeitalter öffentlicher Infrastrukturplanung der Volkszorn der
Mitte entgegen. In Heidelberg haben die Bürger ein Exempel provinzieller
Gigantomanie, die Erweiterung der Stadthalle, mit ihrem Entscheid krachend in
die Amtsstuben zurückverwiesen. In Hamburg haben bürgerliche Kreise ihre vorgebliche
Wunschkoalition blamiert und ein Projekt zum längeren gemeinsamen Lernen
abgeschmettert. Von rechts dräut eine Sarrazinpartei. In NRW haben derweil die
Wähler die konservativ-liberale Regierung schon nach einer Wahlperiode nach
Haus geschickt und eine satte Mehrheit diesseits der Union installiert. Und am
Horizont zeichnet sich ab, dass Union und FDP leichtfertig den von Rot-Grün
befriedeten Atomkonflikt wieder anzetteln. Irgendwie geht es drunter und drüber
in Deutschland.
Mit Politikverdrossenheit
ist da kaum etwas erklärt. Denn wohin man schaut, machen die Bürger fröhlich
Politik. Tatsächlich macht sich Parteien- und Politikerverdrossenheit breit,
die allerdings auch nur Teilen der etablierten Kräfte gilt. Das Spiel, dass die
parlamentarische Opposition von den Fehlern der Regierung profitiert,
funktioniert immer noch. Doch ist die politische Großwetterlage turbulent und
das politische Klima instabil. Das rot-grüne Zwischenhoch könnte in NRW genauso
schnell weggeblasen werden wie in den bundesweiten Umfragen, die Rot-Grün weit
vor Merkels seltsamer Regierung sehen. In Hamburg und Heidelberg haben die
Bürgerentscheide zwar jeweils die federführenden Parteien CDU und Grüne
rasiert. Aber der Bürgerwille wurde nach den Regularien der Landesverfassungen Baden-Württembergs
und der Hansestadt ermittelt. Die um plebiszitäre Elemente ergänzte
parlamentarische Demokratie erlaubt dort dem Souverän, Repräsentanten zu wählen
und ihnen zwischenzeitlich eins auszuwischen. Es geht was, wenn man hingeht.
Und es ändert was, obwohl es erlaubt ist. Das ist der Kern der
Legitimation stiftenden Erfahrung, die die Bürger machen konnten.
In Stuttgart wird die
Empörung zusätzlich angestachelt und dem Projekt S 21 die Legitimität
abgesprochen, weil ein Bürgerentscheid aus formalen Gründen verweigert wurde.
So manche der gläubigen Sarrazinisten andererseits ? ansonsten oft keine
Ausbünde demokratischer Gesinnung, wie ihren Äußerungen im Internet zu
entnehmen ist ? hoffen auf die Gründung einer Partei, mit der sie ihre miese Stimmung
endlich in Stimmen übersetzen können, und auf Personal, das ihnen im Parlament
eine Stimme verleiht. Selbst wildeste Fremdenfeinde und Parteienverächter
steuern zunächst auf nichts weiter los als den demokratischen Normalfall.
Werden die Modalitäten der repräsentativen Demokratie um wohlüberlegte
plebiszitäre Verfahren ergänzt, werden das Interesse an einer halbwegs stabilen
und konsistenten Entscheidungsfindung sowie der Bedarf des Souveräns an
unmittelbarer Einflussnahme sachgerecht austariert, muss sich der aktuelle
politische Tumult mitnichten zur Krise des politischen Systems auswachsen. Und
Möchtegern-Parteigründer, die auf parlamentarische Präsenz abzielen und sich
trotz aller Rechtslastigkeit nicht bei NPD und DVU aufgehoben wissen wollen,
sind nicht die ultimate Bedrohung der Demokratie.
Brauchen wir eine neue
konservative Partei? Die Frage wird
ausgerechnet von den Medien gestellt, die den Hype um den Spießer Sarrazin erst
erzeugt haben. Die Erwartung, der verdruckste Exbanker, prototypisches Gegenbild
zum Volkstribun, und die Kleingeister, die er hat laut werden lassen, aber
nicht rufen musste, weil sie schon da waren, seien zur Parteibildung imstande,
lässt alle abwinken, die das schon mal durchgemacht haben. Dass ? so die
Hoffnung in Umfragen ? ausgerechnet der ehrenwerte Herr Gauck und die
republikflüchtigen Merz und Koch dabei mitspielen könnten, ist auszuschließen.
Selbst die abgehalfterte schrille Frau Steinbach ist schlau genug, zu dieser
Gründungsambition Abstand zu halten. Die Hoffnungen ruhen zudem komischerweise
ausgerechnet auf Emeriti der etablierten Politik, auf lauter Ex, einem
Bundesbanker, einem Ministerpräsidenten, einem Fraktionsvorsitzenden, einem
Parteivorstandsmitglied. Neue Leute, ein deutscher Pim Fortuyn, ein Geert Wilders
oder ein fähiger Haider-Imitator sind nicht in Sicht. Einer Sarrazinpartei
fehlt das charismatische Personal, das mit den Medien vertraut ist. Aber es ist
nicht nur das Personalproblem. Haiders FPÖ, sein nachmaliges BZÖ und die
rechts-populistischen Parteien in Europa leben von einem Amalgam aus Xenophopie
und Sozialpopulismus. Der allerdings wird im Sonderfall Deutschland
hinlänglich von links vorgetragen. Bliebe den Sarrazinisten so recht nur das
Xenophobische, das beim Spiritus Rector auch noch elitär daherkommt. Das wird
trotz allen aufgeregten Zuspruchs für eine Partei kaum reichen. Dass
ausgerechnet Sarrazins Umtriebe und Steinbachs Geschichtsklitterung die Frage
nach dem Bedarf an einer neuen k=onservativen Partei aufwerfen, lässt
auf eine gewisse begriffliche Unschärfe in manchen Redakteurshirnen schließen.
Man muss sie nicht mögen, aber hierzulande gibt es bereits zwei, im
europäischen Vergleich sogar respektable konservative Parteien. Wer die
Mehrheitsfähigkeit des konservativen Lagers schwinden sieht, hätte mit der
bundesweiten Ausdehnung der CSU eine adäquate Antwort sowohl auf die Frage, wie
die Wählerstimmen, die den Konservativen zugänglich sind, maximiert werden
können, als auch auf eine mögliche Partei rechts von der Union. Eine sarrazinistisch
inspirierte Gründung dagegen würde es wohl nicht einmal zu einer schmuddeligen
Variante der rechts-populistischen FPÖ bringen. Sollte sie wieder Erwarten doch
Wirklichkeit werden, hätte die Union ein Problem mit der Koalitionsbildung, das
jenes der SPD mit der Linken weit überstiege. Herr S. bringt die Union in noch
größere Kalamitäten als die eigene Partei, weshalb CDU-Protagonisten die fatale
Formel, der Mann habe hier und da und irgendwie doch recht, noch
geflissentlicher über die Lippen kommt als manchem SPD-Mitglied. Doch wer ein
Buch aus so inhumanem und antiaufklärerischem Geist schreibt, hat nirgends
recht, selbst wenn er richtige Statistiken zitiert!
Beunruhigend ist, dass
dieser »Krawallschani« die Sozialdemokratie doch vor größere Schwierigkeiten
stellt. Ob das Mitglied S. gegen das Statut der Partei verstoßen hat, kann
gelassen im vorgesehenen Verfahren geklärt werden. Die letzten Wochen haben
jedoch offenbart, dass die Positionen, die dieses Irrlicht vorträgt, in der
SPD, bei ihren Wählern, weit darüber hinaus und vielleicht sogar bei einer
Mehrheit auf Resonanz stoßen. Dieser Situation muss sich die Leitpartei SPD
stellen. Sie kann nicht ignorieren, was viele Menschen umtreibt. Sie muss
vielmehr die Auseinandersetzung offensiv aufnehmen. Dazu eignet sich am besten
die öffentliche Konfrontation mit dem Urheber der aktuellen politischen
Erregung, dem SPD-Mitglied S. selbst. Ein unvermittelter Parteiausschluss ist
dafür nicht hilfreich. Er eilt auch nicht. Und das Thema wird die Partei auch
mit einem Ausschluss nicht los. Wo bleiben also die Großveranstaltungen, auf
denen eloquente SPD-Mitglieder und kompetente Gäste mit Herrn S. diskutieren,
vor einem Massenpublikum Irrtum und Irrweg seiner Suada vorführen und sie
öffentlich zurückweisen. Auf diesen Veranstaltungen könnte die SPD
demonstrieren, wie ein demokratisch-republikanischer, ein zivilisierter,
humaner und aufgeklärter Umgang mit Migration und Integration aussieht. Wenn
der Wortführer entzaubert wird, könnte das die Gesinnungen erschüttern, an die
er appelliert. Die Besorgnis dagegen, die SPD biete Herrn S. damit eine
Plattform, ist schon deshalb unbegründet, da er sie als Autor mit hoher Auflage
und Objekt eines Medien-Hypes ohnehin hat. Die SPD könnte vielmehr die
öffentliche Aufmerksamkeit zur eigenen Positionierung nutzen. Ansonsten gilt
dieses Diskussionsangebot vorrangig ratlosen Bürgern, zu deren Sprachrohr sich
der notorische Provokateur Sarrazin gemacht hat. Es ist kein Kniefall, sondern
ein Zeichen von Stärke.
Stuttgart 21 ebenso wie
die Stadthalle in Heidelberg und seit jeher die Atomkraftwerke sind Exempel, wogegen sich der Bürgerzorn
richtet: Gegen teure, Geld, das anderweitig fehlt, verschwendende, oft
widersinnige infrastrukturelle Großprojekte, die frühzeitig klandestin, unterkomplex
und oft korrupt an den Bürgern vorbeigeplant wurden, öffentliche Finanzmittel
in ausgesuchte private Taschen lenken, einseitig wenige Interessen bevorzugen
und vielfältige andere Interessen ausblenden, schließlich vertraute
Lebensverhältnisse zerstören. Das »Argument«, auf das die Politik ihre
Begründungen schlussendlich reduziert, es würden Arbeitsplätze geschaffen und
Wachstum stimuliert, beeindruckt immer weniger. In Hamburg richtete sich der
Widerstand der besseren Kreise gegen eine antielitäre Bildungspolitik.
Vorwiegend die unteren Schichten lassen ihren von Sarrazin artikulierten und
missbrauchten Ängsten vor Immigration und Ausländerkriminalität freien Lauf.
Gleichermaßen beflügeln befürchtete oder tatsächliche Folgen der Globalisierung
den Widerstand. Die Angst vor dem Verlust des eigenen gehobenen sozialen Status
in der internationalen Konkurrenz um die Arbeitsplätze mit hohen
Qualifikationsanforderungen treibt an, ebenso die Angst, selbst einen geringen
Status noch an aggressive zugewanderte Arbeitskräfte mit niedrigen
Lohnerwartungen oder gar nicht arbeitende Einwanderer in die sozialen
Sicherungssysteme zu verlieren. Auch mit diesen Widerstandshandlungen werden
vertraute Lebensverhältnisse verteidigt, schlägt ein lebensweltlicher Konservatismus
durch. Die ausgeprägte Single-issue-Lagerbildung polarisiert ungemein und liegt
oft quer zur parteipolitischen Lagerbildung. In Hamburg sind die Grünen damit
gescheitert, ein eher rot-grünes Projekt mithilfe der CDU-Führung gegen deren
gesellschaftliches Lager durchzusetzen. In Heidelberg sind die Grünen am
eigenen Lager gescheitert, dem sie glaubten, einen CDU-Plan aufdrängen zu
können. Die Union in Hamburg ist mit ihren Versuchen, durch Adaption grüner
Positionen noch weiter in die Mitte vorzustoßen, vom eigenen Lager
zurechtgewiesen worden. Und in Heidelberg hat der CDU auch die Unterstützung
der Grünen nicht geholfen, ihr Vorhaben durchzusetzen. Der Vorrat an
schwarz-grünen Projekten, die auch die eigenen disparaten gesellschaftlichen
Lager mobilisieren und deren Milieus zusammenzuführen, scheint gering. Und auf
ein eigenes relativ gut integriertes gesellschaftliches Lager wie Rot-Grün kann
Schwarz-Grün nicht bauen. Insofern kann die SPD gelassen auf schwarz-grüne
Träumereien reagieren. Aus denen sind die Grünen schon unsanft geweckt worden,
bevor die Atompolitik der Union sie regelrecht hochgeschreckt hat.
Letztlich verweisen die
aktuellen Konfliktlinien auf ein Dilemma zeitgenössischer Politik, das einen
immensen kommunikativen Aufwand verlangt, soll es auch nur halbwegs bearbeitet
werden. Die politische Klasse ist Teil der gesellschaftlichen Eliten. Sie ist
in die Diskurse eingebunden, die die global operierenden ökonomischen Eliten
führen. Es ist ihre Aufgabe, die Position der heimischen Ökonomie auf den
Weltmärkten zu stärken, gerade wenn sie gemeinwohlorientiert operieren will.
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dagegen denkt nicht global, und sie
operiert lokal. Sie setzt der politischen Klasse, die vertraute Verhältnisse
aufsprengt, um die Gesellschaft auf die Dynamik der globalen Ökonomie
einzustellen, ihren lebensweltlichen Konservatismus entgegen, der sich von
unmittelbaren Eigeninteressen leiten lässt. Der alltägliche
Strukturkonservatismus will haben, dass Stadtviertel ebenso wie das Rentensystem
bleiben, wie sie waren. Dieser Widerstand trifft alle Parteien, selbst wenn sie
sich mehr oder weniger nur aus dem Motiv, die nationale Ökonomie
gemeinwohlorientiert zu stärken, zum verlängerten Arm globalisierter
Unternehmen machen. Augenscheinlich ist das insbesondere ein Problem der
Konservativen. Deren Impetus, die Gesellschaft an die Anforderungen einer als
schicksalhafter Naturprozess gefassten Globalisierung anzupassen, wird vom
lebensweltlichen Terrain aus der Verrat an konservativen Werten vorgeworfen.
Die Beharrungskräfte der Lebenswelt mit der Dynamik der turbulenten
kapitalistischen Ökonomie abzugleichen, ohne Erstere unterzupflügen und
Letztere zum Nachteil aller auszubremsen, dazu muss nicht nur die Demokratie
stark und die ganze politische Klasse ungeheuer kompetent sein. Wir alle müssen
wissen, dass wir einen Stein nach oben wuchten, der uns jederzeit wieder nach
unten davonrollen kann.