Willfried Maier

 

Ist direkte Demokratie nur ein Mittel für die Reichen?

 

Nach der Niederlage für die Hamburger Schulreform in der Volksabstimmung

 

 

 

Die Niederlage des schwarz-grünen Hamburger Senats in der Volksabstimmung über die Einführung der 6-jährigen Primarschule war deutlich. Die Gegner der Reform siegten mit 56 gegen 44 Prozent, 276.334 gegen 218.065 Stimmen. Und das, obwohl am Ende alle in der Hamburgischen Bürgerschaft vertretenen Parteien die Reform unterstützt hatten: Neben CDU und GAL auch SPD und Linke. ? Im Folgenden diskutieren unsere Autoren die Gründe, die von einer falsch veranschlagten Schulreform-Politik bis zum Problem, minoritären Projekten durch Koalitionsbildungen zu einer politischen Mehrheit zu verhelfen, reichen. Ist die direkte Demokratie dabei auch ein Problem?

 

Von Napoleon gibt es den Spruch: »Geschlagene Armeen lernen gut!« ? Dieser Lernprozess hat in Hamburg gerade erst begonnen. Nach wie vor sind die Reformgegner in der Offensive. Mit der Androhung einer Verfassungsklage gegen die schon eingerichteten 6-jährigen Starterschulen für 850 Kinder halten sie das Thema am Kochen. Die Absicht geht inzwischen erkennbar dahin, über die Fortsetzung des Konflikts eine Parteigründung zur nächsten Bürgerschaftswahl im Februar 2012 zu betreiben. Falls ihnen das gelingt, droht der GAL die Höchststrafe: Verlust der strategischen Position, über die Regierungsbildung mit zu entscheiden und Etablierung einer neuen Regierungsmehrheit zwischen einer gerupften CDU, der geplanten Neugründung und einer FDP, die beim letzten Mal den Einzug in die Bürgerschaft nur knapp verpasst hatte.

Die GAL hat nach der Niederlage in der Volksabstimmung und dem Abgang des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust an der Fortsetzung der Koalition festgehalten, weil sie mit großer Mehrheit der Meinung ist, dass sie gegenwärtig einen Wahlkampf nicht plausibel führen könnte. Ihre einzige Botschaft im Moment könnte nur sein: »Die CDU hat den Bürgermeister verloren, der ihr die Mehrheit gebracht hat. Wir haben die Volksabstimmung in einer für uns zentralen Frage verloren. Beides kratzt stark an der Legitimation der Regierung. Wir legen deshalb den Wählern die Entscheidung vor, ob die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Projekte weiterhin verfolgt werden sollen.«

Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in der Stadt und insbesondere im Umfeld der Grünen hätten einen solchen Schritt vermutlich begrüßt. Ob das für einen Wahlkampf gereicht hätte, ist jedoch fraglich. Auf jeden Fall ist der Moment für diesen Schritt vorbei, der nur schnell möglich gewesen wäre. Die siegreichen Reformgegner haben jetzt Zeit, sich auf der Welle ihres Erfolges neu zu organisieren. Währenddessen muss der schwarz-grüne Senat mit schwacher personeller Neubesetzung auf der CDU-Seite das mit Abstand größte Sparprogramm in der Hamburger Nachkriegsgeschichte für den Haushalt 2011/12 beschließen und anschließend drastische Kürzungen in der Stadt vertreten und durchsetzen.

Soweit die aktuelle Lage, die für die GAL und den Senat nicht erfreulich ist. ? Die oppositionelle SPD, die sich als Regierungsalternative anbietet, hat allerdings ihre selbstzerstörerischen inneren Konflikte nach wie vor nicht beendet. Bei der Neuwahl des Bürgermeisters Ahlhaus fehlten ihr zur Ablehnung des Regierungsvorschlags drei Stimmen aus der eigenen Fraktion: Ahlhaus bekam zwei Oppositionsstimmen und es gab eine Enthaltung.

 

Über die aktuelle Konstellation hinaus ist aber auch die Gesamtsituation des politischen Handelns in Hamburg grundsätzlich verändert. Seit der erfolgreichen Volksabstimmung der Schulreformgegner gegen das Votum aller Bürgerschaftsparteien liegt auf der Hand, dass Wahlen, Koalitionsbildungen und Parlamentsmehrheiten nicht mehr ausreichen, um größere, umstrittene Vorhaben zu verwirklichen. Das Recht auf verbindliche Volksabstimmungen mit niedrigen Quoren bringt es mit sich, dass für jedes einzelne Vorhaben eine Wählermehrheit gewonnen werden muss.

Es ist nicht länger möglich, minoritären Projekten durch Koalitionsbildungen zu einer politischen Mehrheit zu verhelfen. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass solche Projekte öffentlich gekippt werden, wenn sie nicht von einer aktiven beziehungsweise aktivierbaren Mehrheit getragen werden. Das verändert vor allem für kleinere Parteien wie die Grünen die Situation grundlegend: Sie müssen künftig in jedem Schritt und bei jedem Projekt die Mehrheitsfähigkeit im Auge behalten. Das Auftreten mit weitreichenden Wahlversprechen wird deutlich riskanter.

Unter dem Eindruck dieser Erfahrung wächst derzeit in der GAL die Skepsis gegen direktdemokratische Verfahren, zumindest aber gegen die aktuelle Ausgestaltung von Bürgerentscheiden in den Bezirken und von Volksabstimmungen für die gesamte Stadt. Immer häufiger taucht die Floskel auf, die Gesetzgebung zu Volksabstimmungen müsse überarbeitet, sprich: restriktiver gestaltet werden.

Eine Erfolg versprechende Denkrichtung ist das nicht. Denn jeder Versuch zur Einschränkung des Rechts auf Volksgesetzgebung wird selbstverständlich sofort mit einem Volksbegehren und einer Volksabstimmung gekontert werden, und nach den bisherigen Erfahrungen dürften diese Konter erfolgreich sein. Die Leute lassen sich nicht gerne Rechte wegnehmen, die sie einmal haben.

Also muss auf Basis der eingeführten Regelungen zur Volksgesetzgebung nachgedacht werden. Dabei muss man sich zunächst frei machen von der Begründung, mit der auch die Grünen zumeist für direkte Demokratie eingetreten sind: Volksentscheide seien authentischer demokratisch, weniger von Sonderinteressen geleitet und darum irgendwie besser als parlamentarische Entscheidungen.

Dass diese Behauptung nicht zutrifft, dafür gibt es insbesondere in der kurzen Geschichte Hamburger Bürgerentscheide in den Bezirken groteske Gegenbeispiele. So wurde zum Beispiel der Plan der Eimsbütteler Bezirksversammlung per Bürgerentscheid zu Fall gebracht, eine McDonald?s-Filiale in einem hässlichen flachen Barackenbau an einer innerstädtischen Durchgangsstraße durch ein fünfstöckiges Gebäude zu ersetzen. Die Bürgerinitiative dagegen beklagte Zerstörung ökologischer Zusammenhänge und den Bau eines »Kolosses«. Besonders viele Leute beteiligten sich nicht an dem Entscheid, aber die Initiative bekam die Mehrheit gegen »die da oben«. ? Bürgerentscheide sind nicht von sich aus vernünftiger als Bürokratieentscheide.

Das war aber auch nie das Versprechen der demokratischen Theorie. John Dewey etwa betont, dass bedeutsamer als das Auszählen von Stimmen der Umstand ist, dass Wahlen und Abstimmungen »den vorausgehenden Rückgriff auf Methoden der Diskussion, Beratung und Überzeugung erzwingt«. Wesentlich an demokratischen Verfahren sei das Erfordernis, die »Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens« zu verbessern (Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, S. 172 f.).

Wenn also Bürger- oder Volksentscheide unvernünftige oder auch nur unerwünschte Ergebnisse zeitigen, muss die erste Frage lauten, ob es denn gelungen ist, in der Vorbereitung auf die Entscheidung, die Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens zu verbessern.

Gerade daran hat es häufig gemangelt. Die eben erwähnte Eimsbütteler Bezirksversammlung hat es nicht einmal hinbekommen, eine durchsichtige Entscheidungsalternative zu formulieren.

 

Auch beim Volksentscheid zur Hamburger Schulreform war die Abstimmungsalternative so formuliert, dass man sowohl dem Votum der Schulreformgegner als auch dem Bürgerschaftsvotum der Befürworter gleichzeitig zustimmen konnte und erst die folgende Frage nach der Priorität der gleichzeitigen Voten die Entscheidung brachte. Vermutlich wird es auch darüber zu einem Verfassungsgerichtsstreit kommen.

Entscheidend aber war, dass in der Volksabstimmung über die Primarschule nur die Gegner der Reform eine Kampagne aus dem Volk heraus organisieren konnten, während die Befürworter im Wesentlichen auf die Meinungen von Parteien, Verbänden und der Schulbürokratie zurückgeworfen waren. Dieser Sachverhalt blieb den Befürwortern lange verborgen, weil der Ausgangspunkt der Gegner nicht ? wie früher meistens üblich ? aus dem Volk »unten« startete, sondern in den wohlbetuchten Elbvororten, das heißt »oben«, und damit nach alter linker Überzeugung eigentlich außerhalb des Volkes. Entsprechend wurden die Gegner zu Anfang auch gerne als »Gucci-Fraktion« tituliert. Überraschenderweise gelang es aber dieser Gucci-Fraktion, eine Mehrheit der Wahlbürger zu gewinnen.

Dafür gibt es eine Reihe sozialer Gründe: Eine Beeinträchtigung der Gymnasien ist politisch nicht länger mehrheitsfähig, seitdem in großen Städten 40 bis 50 Prozent der Kinder dort angemeldet werden. Die Eltern dieser Kinder sind für Gemeinwohlfragen in der Gesellschaftsentwicklung kaum noch zugänglich, seitdem auch die gehobene Mittelschicht die Zukunftsangst schüttelt. Da wird zwar noch ehrlichen Herzens für Flutopfer in Pakistan gespendet, aber die besonderen Startbedingungen der eigenen Kinder werden zugleich heftig verteidigt. Längeres gemeinsames Lernen der Kinder wird von diesen Eltern als Zumutung erfahren, ihre Kinder zur Rettung der Unterschichten einsetzen zu lassen. Dieses Problem reichte bis tief hinein in die GAL-Wählerschaft.

Und zu den sozialen Gründen des Scheiterns der Schulreformer gehört natürlich zugleich, dass die Unterschichten selbst in nahezu vollständige politische Passivität verfallen sind. Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV fanden noch ein schwaches Echo, Schulpolitik zugunsten ihrer Kinder so gut wie keines mehr. In den Hamburger Stadtteilen mit unterdurchschnittlichem Einkommen lag die Beteiligung an der Volksabstimmung zum Teil nur bei einem Drittel der Beteiligung etwa im wohlhabenden Blankenese. Die Botschaft: »Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!« findet schon lange kein Echo mehr.

Soziale Gründe sind politisch gesehen Entschuldigungsgründe: Die Umstände waren halt so. Politisch gesprochen ist es ein Fehler, beim Handeln die sozialen Umstände nicht richtig gesehen beziehungsweise die Initiative zur Auslösung einer Volksbewegung zugunsten der Reform nicht gefunden zu haben.

Tatsächlich lag das Element der politischen Bewegung aus dem Volk fast vollständig auf der Seite der Reformgegner. GAL und Senat haben sich vor allem zu Anfang weitgehend auf die parlamentarische Willensbildung und das Handeln der Schulbürokratie verlassen. Zwar hat die Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL) enorme persönliche Anstrengungen unternommen, um auf den neu eingerichteten Regionalkonferenzen die eingeladenen Eltern für die Reform zu gewinnen. Aber von den meisten Eltern wurde sie wahrgenommen als Sprecherin der Behörde, die eine beschlossene Veränderung erklären und sie unter den lokalen Bedingungen organisatorisch gängig machen will. Eine Rolle, die sie auch gar nicht verlassen konnte.

Währenddessen gingen die Gegner der Reform auf die Straße und sammelten Unterschriften für das Volksbegehren. Sie verwickelten dabei die Leute zwangsläufig in Debatten um das Für und Wider der Reform. Das geschah natürlich nicht vornehm argumentativ, sondern polemisch, populistisch, auch mit falschen Behauptungen. Aber das ist für öffentliche Auseinandersetzungen bei Wahlen und Abstimmungen typisch und keineswegs der besonderen Bösartigkeit der Reformgegner geschuldet. Normalerweise, im Wahlkampf etwa, wird dieser polemisch-populistische Gestus neutralisiert durch den Wahlkampf der Gegenpartei(en).

In der Vorbereitungsphase auf den Volksentscheid, während des Volksbegehrens, hatten die Gegner der Reform indes die öffentliche Bühne weitgehend für sich. Das wurde verstärkt durch den Umstand, dass die lokale Presse weit überwiegend die Reformgegner unterstützte, allen voran die Bild-Zeitung, die vor allem die Unterschichtleser adressiert, aber zuletzt auch die vornehme Zeit, die sich angesichts des abzusehenden Desasters zugunsten ihrer Abonnenten und gegen ihre früheren Argumente entschied.

Und es hat sicher auch eine Rolle gespielt, dass die bürgerlichen Reformgegner auf Geld und organisatorische Fähigkeiten zurückgreifen konnten. Auch der Senat hat natürlich Geld eingesetzt, um für seine Reform zu werben. Aber das kam als Regierungspropaganda daher, die zudem ständig als unzulässiger Einsatz von Steuermitteln skandalisiert wurde.

So haben die Gegner der Reform gerade den Prozess beherrscht, der für demokratische Abstimmungen wesentlich ist: »die vorangehenden Debatten, die Veränderung von Ansichten«. Als die Sammlung für das Volksbegehren gegen die Reform abgeschlossen war, hatten die Gegner 184.500 Unterschriften gesammelt und damit fast schon das erforderliche Quorum für einen gültigen Volksentscheid erreicht. Diese Dynamik war in der Folge von den Reformbefürwortern nicht mehr aufzuholen, trotz des bewundernswerten Einsatzes einer starken Gruppe von Reformbefürwortern.

 

Die Schlussfolgerung aus den Ereignissen für das politische Handeln: Die Kräfte- und Mehrheitsverhältnisse müssen genauer als bisher eingeschätzt werden. Dabei geht es darum, über die Abgeordneten in den Parlamenten hinaus die Meinungen im aktivierbaren Teil der Bevölkerung zu beurteilen.

Das ist nicht in erster Linie eine Sache der Meinungsforschung. Diese Kräfte werden nur wirklich kalkulierbar, wenn die Befürworter einer wichtigen Reform selber eine Kampagne starten für ihr Vorhaben und deren Erfolg beurteilen. Das große Beispiel aus der Geschichte der Grünen ist die Bewegung gegen die Atomenergie, die eine gesellschaftliche Mehrheit gewonnen hatte, bevor es unter Rot-Grün im Bund gelang, daraus auch eine parlamentarische Mehrheit zu machen.

Ein solcher Vorlauf ist in Fragen der Schulpolitik nicht entfernt gelungen. Zwar war die Schulreform ein zentrales Thema im vorhergegangenen Wahlkampf der GAL. Aber dafür gab es nur knapp 10 Prozent der Wählerstimmen. Erst die Koalitionsverhandlungen mit der CDU brachten die Zusage für eine parlamentarische Mehrheit für eine geschrumpfte Reform von sechs statt neun Jahren gemeinsamen Lernens. Und erst während des Volksbegehrens der Reformgegner kam es zur parlamentarischen Absprache mit der Opposition.

Das reicht aber nicht, eine parlamentarische Mehrheit für ein großes, kontroverses Vorhaben zu organisieren. Vorlaufend, mindestens aber gleichzeitig, muss versucht werden, eine Bürgerkampagne zu initiieren, die den parlamentarischen Vorgang begleitet, auch nach den Wahlen und über den Wahlkampf hinaus.

Das dürfte für alle Parteien nicht leicht sein, weil sie alle an Mobilisierungsfähigkeit verloren haben. Besonders schwierig wird es für die Grünen, die sich weitgehend zu einer Parlaments- und Funktionsträgerpartei entwickelt haben mit wenigen (aktiven) Mitgliedern. Ohne Zusammenarbeit mit selbstständigen Bürgerbewegungen wird die Aufgabe kaum zu bewältigen sein.

Für Klagen über die Schwächung der parlamentarischen Demokratie besteht gleichwohl kein Anlass. Im Gegenteil: Richtig gehandhabt können die Regelungen der Volksgesetzgebung ein Anlass sein, um die Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens zu verbessern und aus politisch passiven Städtebewohnern wieder aktive Bürger zu machen. Es gibt kein Naturgesetz, dass dieser Vorgang nur auf der politischen Rechten gelingt wie in Hamburg bei der verlorenen Volksabstimmung über die Schulreform. Wenn er breiter und länger stattfindet, wird Demokratie wieder, was sie zu sein beansprucht: »Government by Discussion« statt Mediengefuchtel mit Demoskopiebegleitung.

 

Der Artikel ist im distanzierten Berichtstil geschrieben, wie es sich gehört. Tatsächlich war der Autor an dem Vorgang und an den gemachten Fehlern beteiligt. ? W. M.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010