Ein Präsident steht für sein Land. Jedenfalls in Frankreichs zentralistisch-präsidentialer Politik-Konstruktion. Wenn Sarkozy inzwischen bei der französischen Bevölkerung einen Tiefpunkt an Zustimmung erreicht hat, kann darin zugleich eine wesentliche Ursache für den derzeitigen politischen Niedergang des Landes gesehen werden. Unser Autor wirft die Hauptprobleme dieser Politik auf, mit der Frankreich freilich nicht allein in der EU dasteht ? ob soziale Reformen oder Minderheitenhetze.
Wenn Joschka Fischer mit
seiner (in Kommune 4/10 vertretenen) Auffassung Recht haben sollte, nur ein Wiedererstarken der deutsch-französischen
Zusammenarbeit könne der Europäischen Union auf die Beine helfen, dann hat sie
vorderhand schlechte Karten. Denn selbst wenn die deutsche Europapolitik sich
weniger deprimierend ausnehmen würde als gegenwärtig: In der Gestalt des
französischen Präsidenten verfügt sieüber einen Partner, für den einstweilen
ganz andere Dinge Vorrang haben. Mit gerade noch 26 Prozent Zustimmung bei der
Bevölkerung hat er im Sommer einen Tiefpunkt erreicht, wie ihn noch kein
anderer Präsident der 5. Republik verbuchen musste; daran konnten auch seine
jüngsten populistischen Eskapaden nicht viel ändern. Und in anderthalb Jahren
will er wiedergewählt werden.
Seit Jahr und Tag bietet
Sarkozy den deprimierenden Anblick eines Mannes, dem nichts gelingt, was immer
er anpackt. Die groß aufgezogene Debatte über die »nationale Identität«, die
das rechte Lager hätte sammeln und die Regionalwahlen zu seinen Gunsten entscheiden
sollen, wurde zum Rohrkrepierer und trug dazu bei, dass die bis dahin als
moribund geltende Sozialistische Partei heute 20 von 21 Regionen regiert (davon
18 zusammen mit den Grünen); die als ökologische Wende propagierte
Emissionsabgabe für umweltbelastende Industrien musste dem Arbeitgeberverband
zuliebe auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben werden, um »die Wettbewerbsfähigkeit
der französischen Unternehmen nicht zu gefährden«; die Justizreform wurde
angesichts des Widerstands der Juristenzunft zurückgefahren, die Gebietsreform
kam gar nicht erst in Gang; und schließlich wurde sogar die Erstattung von Kreditzinsen
für Immobilienkäufe auf dem Wege der Steuerminderung ? eine der allerersten
Maßnahmen Sarkozys, mit der er aus den Franzosen, »ein Volk von Eigentümern«
hatte machen wollen ? als unzweckmäßig eingestellt (sie kostete den Staat eine
Menge Geld, ohne den Markt spürbar zu beeinflussen).
Zu allem Überfluss bietet
die Bettencourt-Affäre dem französischen Publikum immer peinlichere Einblicke
in Sitten und Bräuche seiner feinsten Kreise. Die Protagonisten dieser Komödie
um Geld und Macht ? eine Milliardärin und ihr Gigolo, eine eifersüchtige
Tochter und ein ungetreuer Butler, ein ehrgeiziger Staatsanwalt und ein zwielichtiger
Minister, den Sarkozy allen Ernstes als »die menschgewordene Ehrlichkeit« anpreist
? setzen passend zur wirtschaftlichen Krise des Landes seine moralische Krise
in Szene, komplementär zum Desaster seiner Fußballerelite die Korrumpierbarkeit
seiner herrschenden Clique. In Anspielung auf die Leistungen des gescheiterten
Nationaltrainers soll ein Abgeordneter der Regierungspartei für Sarkozy die
Bezeichnung eines »Domenech der Politik« geprägt haben. Die Parallele ist nicht
ganz unplausibel, das Problem ist nur, dass der Präsident (anders als der
Trainer) erst in anderthalb Jahren gefeuert werden kann. Wie viel Unheil kann
er bis dahin noch anrichten?
Einen Vorgeschmack davon
bot die Ankündigung eines »mehrjährigen
nationalen Kriegs gegen das Verbrechen«, wozu Sarkozy aber nicht die
Erschießung eines jungen Mannes bewog, der sich seiner Festnahme entziehen
wollte, sondern die Unruhen, die dieser Vorfall in der Banlieue von Grenoble
auslöste. Sie trafen den ehemaligen Innenminister an seinem wundesten Punkt:
Gerade in seiner ureigenen Domäne, der Sicherheitspolitik, hat er, der einst
die Vorstädte von der racaille, dem »Gesocks«, zu säubern versprochen
hatte, als Präsident gänzlich versagt. Diesen Eindruck teilen jedenfalls gut
zwei Drittel der Fanzosen; 80 Prozent von ihnen meinen sogar, gerade in den
Städten sei er gescheitert. Tatsächlich ist die Banlieue nach drei Jahren
sarkozyscher Präsidentschaft so wenig befriedet wie zuvor; darüber hinaus ist
sie inzwischen besser bewaffnet, und wenn die Polizei, wie in Grenoble
geschehen, einen Jugendlichen über den Haufen schießt, wird immer häufiger zurückgeschossen.
Die Gewalttaten gegen Personen nehmen mit fast derselben Regelmäßigkeit zu wie
die Abschiebungen von Ausländern, die den Gewalttaten eigentlich ein Ende bereiten
sollten.
Das ist auch nicht weiter
verwunderlich, denn im Zusammenhang mit der betriebswirtschaftlichen
Rationalisierung des Öffentlichen Dienstes, die allein im vorletzten Jahr
86.000 Stellen kostete, wurden auch bei der Polizei inzwischen nahezu 10.000
Posten gestrichen; der Bürgermeister von Grenoble klagt etwa darüber, dass ihm
2002 noch 720 Polizisten zur Verfügung standen, heute nur noch 600. Er darf
sich damit trösten, dass nach den Unruhen in seiner Stadt eine Eliteeinheit
samt Hubschrauber anreiste (freilich stellte sie nur vier Verdächtige, gegen
die dann nicht einmal Anklage erhoben werden konnte).
Vermutlich kann eine
Politik, die davon ausgeht, dass die größten Vermögen am meisten geschont
werden müssen, eine konsequentere Verhinderung von Straftaten am Ende gar nicht
wollen. Erst die Gefährlichkeit der Lage legitimiert ja die Aufrüstung des
Repressionsapparats (z. B. die geplante Verdreifachung der Überwachungskameras
auf 60.000), den die Verschärfung der sozialen Gegensätze unvermeidlich macht.
Allerdings entlegitimiert sie zugleich den starken Mann, der es zu der
gewünschten Machtstellung gebracht hat und mit den Bösen nun doch nicht fertig
wird. Daher die Logik ständiger Selbstüberbietung, die Sarkozy dazu gebracht
haben mag, in jener Kriegserklärung vom »Scheitern von fünfzig Jahren
ungeregelter Einwanderung« zu sprechen, in seine Kritik an diesem Versagen also
einen Zeitraum einzubeziehen, in dem er selbst fünf Jahre als Minister und drei
Jahre als Präsident über vielerlei Möglichkeiten verfügt hatte, für geregelte
Verhältnisse zu sorgen.
Die bei seiner
Kriegserklärung in Aussicht gestellten Maßnahmen bewegen sich auf der Höhe der
mit solchen Parolen geweckten Erwartungen. Während der Griff in die Mottenkiste
der Forderungen des »Front National« (der schon vor Jahren den Entzug
der Staatsbürgerschaft bei Anschlägen auf die Polizei im Angebot hatte) auch
Franzosen in Zukunft mit Ausweisung bedroht, wird mit Roma und sonstigem
fahrendem Volk jetzt schon nicht länger gefackelt, sondern ihre Unterkünfte
werden (wie bisher auch, nur noch zügiger und mit mehr medialem Getöse) polizeilich
geräumt, wenn keine behördliche Genehmigung vorliegt ? sei es auch nur
deswegen, weil die Kommunen, die ihnen im Prinzip Stellplätze für ihre
Wohnwagen zuzuweisen haben, sich dieser Verpflichtung entziehen.
In der zwischen Immigration
und Verbrechen hergestellten Kausalität hat der »transzendentale Pétainismus«,
den der Philosoph Alain Badiou Frankreichs Regierenden schon vor Jahren
attestierte, zu seinem rassistischen Kern zurückgefunden. Zwar rechtfertigt der
»für Immigration, Integration und nationale Identität« zuständige Minister die
Zurückweisung des bescheidenen Zuwandererstroms ? die höchsten Schätzungen
liegen bei 15.000 pro Jahr, etwa einem Promille der europäischen Roma ? mit
einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2004, derzufolge Unionsbürger nicht länger als
drei Monate in einem anderen Land bleiben dürfen, wenn sie weder vermögend sind
noch einer regulären Arbeit nachgehen. Aber gerade dies wird ihnen praktisch
unmöglich gemacht. Die Arbeitserlaubnis (die Rumänen und Bulgaren bis zum Jahr
2014 noch brauchen) erhalten sie nur bei Vorlage eines Arbeitsvertrags, den zu
ergattern um so ausichtsloser ist, als der Arbeitgeber dafür eine happige
Sonderabgabe zu entrichten hat (Le Pens Parole Les Français d?abord ist
in dieser Hinsicht längst Verwaltungspraxis geworden). Haben sie es unter
derart kafkaesken Umständen nach drei Monaten immer noch nicht zu einer festen
Anstellung gebracht, dann gilt als erwiesen, dass sie es an der erforderlichen
Integrationsbereitschaft fehlen lassen. Noch dass sie mangels sonstiger
Einkünfte in der Metro musizieren oder auf andere Weise an die Mildtätigkeit
von Passanten appellieren, verdenkt ihnen der Immigrationsminister, der eine
Gesetzesvorlage zum Verbot »aggressiver Bettelei« ankündigt. Er hat jedes Jahr
ein präsidial festgelegtes Quantum an abgeschobenen »illegalen Ausländern« zu
erfüllen, zu dessen Erreichen diese Population erheblich beiträgt: Im letzten
Jahr stammten allein 11.000 von 30.000 Abgeschobenen aus Rumänien und
Bulgarien, Tendenz steigend.
Allerdings hat die
Mehrheit der Franzosen zurzeit andere Sorgen als die Zigeunerjagd: Die erhebliche Arbeitslosigkeit (mit annähernd 10
% liegt sie auf einem seit zehn Jahren nicht erreichten Höchststand), die
zunehmende soziale Ungleichheit, die Altersversorgung. Für die Rentenreform,
gegen die im September Millionen Menschen auf die Straße gingen, zeichnet
ausgerechnet Minister Woerth verantwortlich ? die Schlüsselfigur der erwähnten
Bettencourt-Affäre, die als Haushaltsminister die Steuerschulden derselben
Personengruppe unter Kontrolle hatte, bei denen sie als Schatzmeister der Regierungspartei
Wahlkampfspenden eintrieb ?, was die symbolische Dimension des Konflikts noch
steigert. Dabei geht es bekanntlich ohnehin um eine emblematische
Errungenschaft der Mitterrand-Ära, nämlich das Recht, sich mit 60 Jahren (unter
Verzicht auf die auch hier erst mit 65 fällige Höchstrente) zur Ruhe zu setzen.
In den Begründungen für den Gesetzentwurf fehlt selten der Verweis auf die
vorbildlichen Deutschen, die sich demnächst bis an die Grenze ihres 67. Lebensjahrs
krummlegen müssen; seltener liest man hier, dass zwei Drittel von ihnen nicht
einmal 65 werden, bevor sie ihren Rentenantrag stellen müssen, da ihnen ihre Gesundheit
keine andere Wahl lässt, als sich mit vorzeitiger Verrentung und entsprechend
verminderten Bezügen (nach Angaben der deutschen Rentenversicherung
durchschnittlich 115 Euro weniger) abzufinden.
Für die Beschäftigung
sogenannter Senioren gibt es natürlich auch in Frankreich kein Konzept. Die
Vermittlung älterer Arbeitskräfte gilt hier als derart aussichtslos, dass die
Arbeitsämter bislang schon 57-Jährige von der Stellensuche dispensierten und
mit einer Art Frührente nach Hause schickten. Im Vorgriff auf die erwartete
Gesetzesänderung wurde diese Befreiung von der Verpflichtung zur Arbeitssuche
jetzt um ein Jahr hinausgeschoben; seither erhält ein Drittel der Betroffenen
weniger als 450 Euro im Monat. Soll denn (so kommentierte das Wirtschaftsblatt La
Tribune diese Zahlen) ausgerechnet die Pauperisierung bejahrter Arbeitsloser
den Staatshaushalt retten? Auch der Wirtschaft kommt dieser Kurs nicht wirklich
gelegen, da die Möglichkeit großzügiger Frühverrentung ihr schon so manchen
sozialen Konflikt erspart hat: Der Pharmakonzern Sanofi-Aventis beispielsweise
stellte 2009 in Erwartung rückläufiger Geschäfte seinen Beschäftigten vom 55.
Lebensjahr an frei, unter Weiterzahlung von 70 Prozent ihrer Bezüge bis zum
Rentenalter umgehend auszuscheiden (mehr als tausend von ihnen nahmen das
Angebot an). Das Hinausschieben dieser Altersgrenze droht derartige
betriebsinterne Regelungen bald erheblich zu erschweren.
Auch in Frankreich hat sich
herumgesprochen, dass es bei der sogenannten Rentenreform nicht um die
angeblich unersetzlichen Erfahrungen alter Menschen geht; wäre es anders, dann
müsste der Unternehmerverband MEDEF nicht Bildungsprogramme aus dem Boden
stampfen, bei denen Jüngere Älteren beibringen sollen, sich in veränderten
Arbeitsprozessen zurechtzufinden und ihre employability wiederherzustellen.
Worum es geht, ist die Reduzierung ihrer Ansprüche: Der Gewerkschaft CFDT
zufolge sind schon jetzt 60 Prozent der Beschäftigten mit 60 Jahren arbeitslos
oder arbeitsunfähig. Sie nunmehr zwei Jahr länger warten lassen heißt, sie in
der Zwischenzeit mit Unterstützungsbeträgen abspeisen, die meist erheblich
unter ihrem Rentenanspruch liegen. Die damit ermöglichte Senkung des
Sozialhaushalts ist für Sarkozy anscheinend eine Prestigesache, und so wird der
Bevölkerung die wohl letzte »Reform« seiner Amtszeit nicht erspart bleiben ? anschließend,
so drohte er an, werde er endlich nicht mehr Reformen, sondern »Politik
machen«.
Seine bevorstehende G-8-
und G-20-Präsidentschaft hat er dabei
wahrscheinlich weniger im Sinn als den Kampf um die Wiederwahl. Mit ihr ist es
bisher nicht zum Besten bestellt: Zurzeit würde ihn ? Umfragen zufolge ? jeder
beliebige sozialistische Kandidat schlagen. Was allerdings nur zeigt, dass die
Franzosen ihren gegenwärtigen Präsidenten um jeden Preis loswerden möchten,
komme was da wolle. Denn noch hat keiner der sozialistischen Prätendenten (am
wenigsten der in den Umfragen führende IWF-Präsident Dominique Strauss-Kahn)
der Bevölkerung auch nur angedeutet, wie seine Politik aussehen würde. Dass die
Führung der Sozialistischen Partei den regierenden Rassismus weniger vernehmbar
kritisierte als selbst das katholische Episkopat, verheißt nicht viel Gutes von
ihrer Seite; und die linken Kandidaten, als Kritiker unübertroffen, haben es
wie üblich schwer, sich Gehör zu verschaffen.
So wäre denn der stärkste
Gegenspieler Sarkozys im Augenblick immer noch er selbst. Könnten ihn aber nicht
gerade seine xenophoben Anwandlungen, die ihm bis in seine eigene Partei hinein
Ärger bereiten, am Ende für eine deutsch-französische Initiative qualifizieren?
Die ohnehin bestehenden Gemeinsamkeiten beider Länder auf dem Gebiet der
Abschiebungspraxis etwa ließen sich sicherlich ausbauen, schließlich verfügen
auch deutsche Politiker über einschlägige Erfahrungen und die Ordnungskräfte
für die entsprechende Übung (für 2008 spricht das Bundesinnenministerium von
7.778 Abschiebungen, für das vergangene Jahr von 13.894, im Juni 2010
registrierte es allein 12.777 »ausreisepflichtige Kosovaren«, unter ihnen 8.500
Roma). Zudem hätte eine solche Zusammenarbeit guteAussichten, bei nicht wenigen
Nachbarn Anklang zu finden. Bekanntlich schieben auch Länder wie Belgien,
Schweden, Italien massiv ab; in ihrer Stellungnahme zur französischen Politik gegenüber
den Roma kritisiert die UN-Kommission für die Beseitigung von Rassismus und
Diskriminierung (CERD) unter anderem die dänische, die estnische und die slowenische
Regierung.
Als Fischer sich für eine
verstärkte deutsch-französische Zusammenarbeit ins Zeug legte, wird ihm nicht
gerade eine gemeinsame Initiative zur Beschränkung der Menschenrechte
vorgeschwebt haben. Aber wo gibt es in der Festung Europa schon größere ungehobene
Gemeinschaftspotenziale als in der allerorten populären Diskriminierung von
Minderheiten? Übrigens verweist der französische Außenminister nicht zu Unrecht
darauf, dass sein Land von keinem EU-Staat kritisiert wurde. Anscheinend hat
sein Präsident nur im Eifer des Gefechts etwas laut herausposaunt, was in den
meisten Staaten ohnehin gang und gäbe ist, aber immer noch darauf wartet, als
Gemeinschaftsaufgabe entdeckt zu werden. Um diesem Manko abzuhelfen, schlägt
der französische Staatssekretär Lellouche mittlerweile die Entwicklung einer
europäischen Politik gegenüber den Roma vor. Frankreichs regierungsoffiziellen
Rassismus zur Maxime einer europäischen Gesetzgebung erheben ? wäre das nicht
eine wahre Aufgabe für das Straßburger Parlament und aussichtsreicher als die
so sterile wie erfolglose Kritik an der französischen Vorreiterrolle bei der
Minderheitenhetze?