Wie viel Erde braucht der Mensch?
Im allgemeinen Bewusstsein scheint inzwischen eine Einsicht fest verzurrt: Kein Wachstum um jeden Preis, sorgsamer Umgang mit Ressourcen. Strittig ist unter Fachleuten freilich, wie das »Wachstumsdilemma« gelöst werden kann: nachhaltiges Wachstum oder radikale Umkehr, individuelles Sparen oder gesellschaftliche Kontrolle? Unser Autor setzt sich mit den wichtigsten Spielarten der ökologisch-ökonomischen Kritik auseinander, die bis an den Kern der kapitalistischen Produktionsweise führt.
Seit dem Sommer preisen
euphorisierte Medien mit Schlagzeilen wie »Deutschland holt auf«, »Deutschland
trotzt der Konkurrenz«, »Deutschland Superstar« (SZ, HAZ, 10.9.10,
FAS, 12.9.10) das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Deutschland und
ähnliche Wachstumsinterventionen anderswo. Demgegenüber fanden bemerkenswerte
Ergebnisse einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung kaum mediale Aufmerksamkeit.
Unter der Überschrift»Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis« wurde
mitgeteilt, dass die meisten der Befragten den sorgsamen Umgang mit der Umwelt
und den Ressourcen für nötig hielten. Eine knappe Mehrheit glaube nicht, dass
mit höherem Wirtschaftswachstum auch die eigene Lebensqualität steige, aber für
90 Prozent der Befragten sei Wirtschaftswachstum wichtig beziehungsweise sehr
wichtig.(1) In diesem Meinungsbefund steckt ein Widerspruch, der die intensiver
werdende Debatte um ökonomisches Wachstum vor dem Hintergrund zunehmend
sichtbarer ökologischer Risiken bestimmt: Wie kann industrielles Wachstum und
Umweltverbrauch in Vorstellungen und politische Agenden von
naturhaushalterischer Zukunft transformiert werden?
Ein seit den Siebzigerjahren
vornehmlich in ökologischen Kreisen vom Club of Rome, World Watch Institute
oder Wuppertal-Institut bis hin zu grünen Parteien und Bewegungen intensiv
verhandeltes Problem zieht Kreise. Im Zuge der zähen und ergebnisoffenen
Klimadebatte um die Reduktion der CO2-Produktion erhielt die
grundsätzliche Frage um die Möglichkeiten und Bedingungen von wirtschaftlichem
Wachstum eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Es geht um Fragen der
Umgestaltung der sozialen und kulturellen Reproduktion von Gesellschaft. Oder,
um damit eine alte Frage neu aufzuwerfen: »Wie viel Erde braucht der
Mensch?«(2)
Eine ganze Reihe von
Analysen und Konzepten mahnen zum sorgfältigen Umgang mit Natur, zum Einhalten
und Zurücknehmen, zur Änderung gesellschaftlichen und individuellen Verhaltens,
über Mülltrennung, Sparlampennutzung und Feinstaub- oder Antirauchersanktionen
hinaus: Muss Wachstum in unserer Wirtschaft sein? Was sind seine ökonomischen
und gesellschaftlichen Triebkräfte? Müssen wir das Wachstumsdilemma aushalten,
um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zu gefährden? Wie soll
Verteilungsgerechtigkeit ohne Wachstum hergestellt werden? Setzen wir auf
quantitatives Wachstum bei Veränderung seiner stofflich-energetischen Qualität?
Kann Wachstum, qualitativ und nachhaltig umgeformt, der Vernutzung der Erde und
Gefährdung der Menschen Einhalt gewähren? Müssen wir uns nicht in eine
Postwachstumsökonomie bewegen?
Gerhard Scherhorn, ein Doyen
des ökologischen Diskurses und langjähriger Mitarbeiter des
Wuppertal-Instituts, formuliert die politischen Probleme dieser Debatte: Die
Logik und »Anziehungskraft des quantitativen Wachstums (sind) so stark, dass
die Politik der nachhaltigen Entwicklung nur so weit vorankommt, wie sie sich
dem Wachstumsziel unterordnet.« Deshalb »müssen wir einstweilen mit zwei
widerstreitenden Tendenzen leben: Es wird partielle Fortschritte im Sinne der
nachhaltigen Entwicklung geben, zugleich aber wird das Streben nach
Wirtschaftswachstum das Denken weiterhin so stark beherrschen, dass es die
nachhaltige Entwicklung immer wieder in Frage stellt.«(3)
Wir haben es also mit
unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen und Erfahrungen und subjektiven
Empfindungen, Einstellungen, Erwartungen zu tun. Betriebswirtschaftliche lean-production-Konzepte,
ökonomietheoretische Zugriffe auf ethische Bedingungen von Produktion,
Vorschläge zu gesellschaftlich organisiertem qualitativen und nachhaltigem
Wachstum, Verzichts- oder Umverteilungsvorstellungen sind in den Wortmeldungen
und in der Praxis vertreten. Konsumentscheidungen und individuelle Regeln von
Lebensführung, Auskommen mit wenig Geld oder sparen am sowieso Genughaben
korrespondieren mit Entscheidungen zu gesellschaftspolitischem Handeln.
Die Integration partieller
ökologischer Neuerungen in Sektoren der Gesamtwirtschaft hat Ökoboomer in
Betrieb, Verwaltung, wissenschaftlicher Forschung und wirtschaftlicher Beratung
hervorgebracht. Formale Nonprofit-Unternehmen leben vom Boom des zum
Euphemismus gewendeten Begriffs »Nachhaltigkeit« ebenso gut wie Biospritbauern,
Solar- und Windkraftunternehmen, Angestellte in städtischen Öko-Agenda-Büros
oder Entwickler von Cleantech als »Leitindustrien für die Zukunft«.
CSR-Strategien von Unternehmen stehen mittlerweile hoch im Kurs, die
Zeitschrift forum. Nachhaltig Wirtschaften. Das Entscheider-Magazin
koordiniert und propagiert in Kooperation mit B.A.U.M. (Bundesdeutscher
Arbeitskreis für umweltbewusstes Management) »technische Innovationen und eine
schnellere Marktentwicklung für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.«(4) Statt
Nischenökos und Umweltraumwissenschaftler und -pädagogen sind nun Changemaker
im Bestreben um »mehr ganzheitliche Unternehmensverantwortung« als Ökoberater
unterwegs: »Angesichts der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen
Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ist Corporate Social Responsibility (CSR)
eine Conditio sine qua non für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen und muss
daher mit derselben Sorgfalt und Professionalität geplant und umgesetzt werden
wie das eigentliche Kerngeschäft.«(5)
Sie werden gestützt durch in
ihrer Profession etablierte Wirtschaftswissenschaftler, die nach der »Ethik der
Marktwirtschaft« fahnden. Sie weisen in Richtung einer geistigen
(Re-)Konstruktion von Marktwirtschaft, wenn sie Vorstellungen von den
»Invisible values« des »reifen Kapitalismus« formulieren, der dann zu dieser
Reife gelangt, wenn er sein »invisible capital« hervorhebt. Dies müsse nur von
einer »gereiften Menschheit« unter dem Motto, wachsender Konsum und
Naturverbrauch kann nicht alles sein, entdeckt werden.(6) Es sei dringlich, die
Ethik der Marktökonomien wiederzuentdecken, denn gesellschaftlicher Fortschritt
mache sich nicht allein am monetären Wachstum fest. Ethik müsse zu einem
Schlüsselelement der meisten Arbeitsbeziehungen und des ökonomischen Austauschs
werden.(7) So kam die jüngste Tagung der Bertelsmann-Stiftung »Wege aus der
Krise ? Ist die Marktwirtschaft noch zukunftsfähig? Perspektive für eine
ethische Ausrichtung reifer und sich entwickelnder Marktwirtschaften« zu dem
Ergebnis: »Quantitatives Wachstum allein reicht nicht ? Qualität ist
gefragt«.(8) In Wort und Tat geprägt sind solche Konzeptionen von der
Integration ökologischer Komponenten in betriebswirtschaftlich orientierte
Ideen- und Produktproduktion.
Der ökologische Mainstream
geht über dieses Statusmix-Denken hinaus und propagiert gegen die
»Wachstumsfalle« unseres Wirtschaftens die Hinwendung zu qualitativem und
nachhaltigem Wachstum. Das Codewort für qualitatives Wachstum hieß in Ernst
Ulrich von Weizsäckers Faktor Vier (1995) »Effizienz«.(9) In seinem
aktuellem Bericht an den Club of Rome wird mit dem auf »Faktor Fünf«
erhöhten Faktor »das Konzept einer zukunftssicheren und umweltverträglichen
Wirtschaftspolitik« versprochen, das »wegweisend für den technologischen
Fortschritt und für nachhaltiges Wachstum« sei.(10) »Suffizienz« mache es zu
nachhaltigem Wachstum. Denn »eine nachhaltige Zivilisation kommt nicht ohne
Verzicht und Rücksichtnahme aus, ohne Bedürfnisbefriedigung jenseits des
Bruttosozialprodukts.«(11) Änderung der Wachstumspolitik von Staat und
Institutionen durch Erhöhung von Ressourceneffizienz und Entkoppelung des
ökonomischen Wachstums von Energie- und Stoffströmen sind die Kerne dieser
Wachstumskritik. Die Vorstellungen und Vorschläge zur Änderung
wirtschaftlich-ökologischer Praxis dieser Strömung gründet auf der Annahme,
dass das Beharren auf Wachstum einer Politik geschuldet ist, die nicht mehr
darauf achtet, dass sich der »Kapitalismus unter dem Druck der Politik der
Marktwirtschaft anpasst«. Angesichts der Finanzkrise, der Zunahme der
ökologischen Degradation und der sozialen Auswirkungen müsse »der Geburtsfehler
des Kapitalismus, der Primat der Kapitalakkumulation, nun endlich aufgegeben
werden. Das ist keine Frage des ?Alles oder nichts?. Auch ohne den Primat wird
Kapital akkumuliert, aber mit mehr Augenmaß.«(12)
In einem Grundsatzpapier mit
dem Titel »Politik in der Wachstumsfalle« formuliert Gerhard
Scherhorn den Kern dieser vorherrschenden ökologischen Theoriebildung: »Das
zentrale Problem der Menschen heute ist der Substanzverzehr, seine Ursache die
Fixierung der Politik auf das Wirtschaftswachstum. Die Lösung liegt im
Gegensatz zur Wachstumspolitik in der Politik der nachhaltigen Entwicklung.
Diese Politik lässt die nachhaltigere Produktion in den Grenzen des
Substanzerhalts wachsen und die weniger nachhaltige schrumpfen. Sie wird nur
gelingen, wenn Wirtschaftswachstum nicht mehr das Ziel der Politik ist.«(13)
Die »Vorstellung von der Wünschbarkeit exponentiellen Wirtschaftswachstum« habe
sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit den ökonomischen
Wachstumstheorien entwickelt. Das »Ergebnis waren zweieinhalb Jahrzehnte
Scheinwachstum. ? Die Wirtschaftspolitik sieht sich auf Gedeih und Verderb an
exponentielles Wachstum des Sozialprodukts und Volkseinkommens gebunden.«
Politik habe sich »in eine Denkweise hineinmanövriert, die im Wachstum die
einzige Lösung der wirtschaftlichen Probleme sieht«.(14)
Daraus gelte es
auszubrechen, indem die Marktwirtschaft wiederhergestellt wird. Dabei wird
Kapitalismus betrachtet als Verzerrung und schlechter Auswuchs einer auf
»freien Marktzugang angelegten Wettbewerbsordnung«, der Marktwirtschaft, die es
per staatlicher Intervention wiederherzustellen gilt: »Wir dürfen den
Kapitalismus nicht mit der Marktwirtschaft verwechseln. Marktwirtschaft kann
Wohlstand für alle schaffen, Kapitalismus kann das nicht, solange er auf dem
Vorrang der Kapitalakkumulation besteht, denn der bereichert einseitig die
oberen Einkommensklassen.« Der Kapitalismus »hatte schon viele Gesichter, im
20. Jahrhundert hat er sich unter dem Druck der Politik einige Jahrzehnte lang
der Marktwirtschaft angepasst, und das sollte auch jetzt, diesmal auf Dauer,
erreichbar sein.«(15)
Die Politik des »Green New
Deal« der Grünen, ihre Idee der »neuen industriellen Revolution« sind Teile
dieses Projektseiner sich als solche verstehenden Avantgarde des
gesellschaftlichen Fortschritts, die mit ihrem beispielhaftem Tun, ihrem
visionären Eifer, ihrer trefflichen Vernetzung die Welt verändern möchte, sich
aber in deren marktwirtschaftlichen Segmenten eingerichtet hat. Das
gegenwärtige Umfragehoch der Grünen etwa kommt ja nicht von ungefähr, und der
Spruch, dass man sich »Öko leisten können« muss, findet seine Wahrheit in der
Lebenswirklichkeit der Menschen.(16)
Gegen diese »grüne«
Wachstumsstrategie gibt es am Rande des Öko-Mainstreams ernst zu nehmende
Einwände: »Die Legende vom nachhaltigen Wachstum. Ein Plädoyer für den
Verzicht« überschreibt Niko Paech seine Kritik am »Greenwashing« des
Wachstumsbegriffs: »Die Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem
Wachstum ? suggeriert, dass sich industrielle Wertschöpfung in zwei Dimensionen
aufspalten lässt: Man unterscheidet kurzerhand zwischen den rein qualitativen
Werten ? das sind nutzbringende Funktionen, um derentwillen die Güter überhaupt
produziert werden ? und einer materiellen Dimension des Outputs, die allein als
ökologisch problematisch erscheint.«(17) So sei etwa im Recyclingkonzept die
Vorstellung enthalten, man könne Wiederverwertungen als materielle
Stoffkreisläufe ohne Vernutzung von Materie organisieren. Der andere
»Entkopplungsmythos« gründet sich auf die Möglichkeiten der Effizienzsteigerung
von Ressourcennutzung.
Nun wird Paech nicht
bestreiten, dass diese Konzepte erst einmal den Naturverbrauch reduzieren
können. Das hat aber noch nichts mit einer Abschwächung von wirtschaftlichem
Wachstum zu tun. Im Gegenteil: ökonomisches Wachstum, sprich beschleunigte
Akkumulation, würde gerade bei effizienterer, das heißt rationeller
Ressourcennutzung Konkurrenzvorsprünge bringen, bedenkt man nur die zu
erwartenden Preissteigerungen bei Rohstoffen. Für das Recycling gilt dies nur
begrenzt, weil ihre Verfahren oft ein hohes Maß an Energie- und
Arbeitskrafteinsatz erfordern.(18) Paech kommt also begründet zu dem Schluss:
»Es ist also falsch anzunehmen, dass sich ökonomisches Wachstum und
Ressourcenverbrauch durch Effizienz- und Konsistenzmaßnahmen entkoppeln ließen.
Ganz im Gegenteil gilt, dass Effizienz und Konsistenz die Umweltbelastungen nur
dann senken werden, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst.?Entkoppelung? kann
es nach dieser Logik nicht geben.«(19) Konsequent plädiert er deshalb für eine
»Genügsamkeitsstrategie«. »Deshalb zielt eine Postwachstumsökonomie darauf,
Expansionszwänge zu überwinden. Der wichtigste (zu überwindende Zwang, die
Red.) besteht in einem Lebensstil, der vollständig von
geldvermittelter und global arbeitsteiliger Fremdversorgung abhängig ist.« Eine
Ȇberwindung der Wachstumslogik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des
bisherigen Wohlstands- und Versorgungsmodells ist undenkbar.«(20)
Diese Ansicht ist zumindest
konsequent in ihrer Wachstumskritik. Sie ist dezidiert subjektorientiert und
dabei konzentriert auf das Subjekt als Konsumenten. Das gesellschaftliche
Subjekt als Produzent kommt ebenso wie die für die Gesellschaft grundlegende
Kategorie der Arbeit, die schließlich den Reichtum schafft, in den bislang
behandelten Wachstumskritiken allerdings nicht vor.
Kapitalismuskritiker, die
das Wohl der Produzenten von gesellschaftlichem Reichtums als ihr Anliegen
betonen, wenden sich gegen diese Formen von Gesellschaftskritik. Sie sehen wohl
die ökologischen Probleme von Wachstum und die kulturellen Verwerfungen durch
Konsumismus, verweisen aber darauf, dass diese durch ungleiche Verteilung
gesellschaftlichen Reichtums hervorgerufen seien: »Die große Ungleichheit
zwingt zu mehr Wachstum und behindert es zugleich. Erst durch mehr Wachstum
wird eine effektive Stärkung der unteren Einkommensgruppen möglich, und weniger
Ungleichheit reduziert schließlich die Notwendigkeit von Wachstum. Unklar ist
freilich, ob die Umwelt so lange warten kann.«(21) Diese Position von
gewerkschaftsnaher Seite scheint ihre Plausibilität aus der Logik des
historisch gewachsenen Produktivitäts- und Wachstumspakts zwischen Lohnarbeit
und Kapital zu gewinnen. Dieser konnte die soziale Frage im Ringen um die
Verteilung des produzierten Mehrprodukts abfedern, schuf den gesellschaftlichen
Konsens um Wachstum von Wirtschaft.(22) Die in diesem Prozess hergestellte und
erhaltene, immer mehr oder minder fragile soziale Gerechtigkeit bildete das
Fundament, auf dem sich freie demokratische Gesellschaften und die Emanzipation
des Arbeiters zum Bürger entwickeln konnten.
Die Autoren des zitierten
Papiers suggerieren unter Berufung auf Joseph Stiglitz und andere, dass
gesellschaftliche Ungleichheit Kampf ums Wachstum nötig gemacht habe und weiter
nötig mache. Nur ? den Zwang zum Wachstum aus der ungleichen Verteilung des
produzierten Mehrprodukts zu erklären, stellt Motive und Mechanismen des
Produktivitätspaktes auf den Kopf. Denn dieser ist historisch politisches
Resultat der inneren Logik des Kapitals und nicht umgekehrt.
Doch diese innere Logik des
Kapitals scheint kaum einem der Wachstumskritiker bewusst. Man sorgt sich um
die Zerstörung der Reproduktionsbedingungen von Mensch und Natur, blendet
jedoch den grundlegenden Charakter, die »bestimmte Gestaltung des Verhältnisses
der Menschen zur Natur und der Verhältnisse der Menschen untereinander«(23)
aus. Gewiss, Kapitalismus ist auch Marktwirtschaft. Scherhorn und andere
berufen sich hier gern auf Fernand Braudel. Doch Marktwirtschaft ist keine
historisch eng eingrenzbare Verkehrsform von Geld, Kapital, Waren und
Arbeitkräften, sondern bezeichnet, wie Braudel in seiner Untersuchung der
Weltwirtschaft seit dem 15. Jahrhundert zeigt, eine allgemeine Form des
Austauschs in einer Wirtschaft.(24) Die Organe, die Kapital in welcher Form
auch immer anhäufen (akkumulieren), sind bestrebt die Marktwirtschaft, bei
Braudel begriffen als Wettbewerbssektor, auszuschalten, Monopole zu bilden,
Herrschaft auszuüben. Sie bedienen sich dabei in symbiotischer Einheit des
Staates. Gleichzeitig, so Braudel, werden bei allen Verdrängungsbestrebungen
kleine Betriebe der Marktwirtschaft benötigt und immer wieder neu geschaffen,
die als Schmiermittel des »großen« Kapitalismus nötig sind.(25) Eindringen in
nichtkapitalistische Milieus hat Rosa Luxemburg diesen Prozess genannt, unter
den Begriff »Landnahme« wird er in Teilen der modernen Soziologie
debattiert.(26)
Das Eigentümliche der
Reproduktion unter kapitalistischen Verhältnissen liegt darin, dass ihr Zweck
nicht der der Konsumtion, sondern der Wertproduktion ist. Was den Kapitalismus
in seiner reifen Form ausmacht, ist nicht nur Monopolbildung im Produktions-,
Finanz-, Banken- und Handelssektor, die Verflechtung zwischen Staat und
Kapitalmacht, sondern liegt in der besonderen Form der Produktion verborgen. Es
ist, seit der industriellen Nutzung natürlicher Ressourcen, die ständige
Revolutionierung der Ausbeutung von Arbeitskraft und von Natur durch
Verwandlung beider in Waren sowie die Nutzbarmachung naturwissenschaftlichen
Wissens in technischen Herstellungsprozessen. Die kapitalistische
Produktionsweise ist charakterisiert durch Schrankenlosigkeit, Risikoeinsätze
ohne Maß, Mitte oder Vernunft. Wachstum wird nicht durch politischen Eingriff
erzeugt, sondern wohnt der Logik der kapitalistischen Produktionsweise inne.
Dass diese Logik in ihrem Kern irrational ist, weil sie die Gesetze der
Thermodynamik ignoriert, denen wir unterliegen, macht die Beharrungskräfte des
Kapitalismus und der ihn hegenden Wirtschaftspolitik nicht dynamischer.
Akkumulation wiederum ist
kein mechanistischer Vorgang der Reichtumsanhäufung. Sie wird durch Arbeit in
Gang gehalten und wirkt auf deren Träger zurück. Arbeit hat sich in einem
jahrhundertelangen Kulturprozess »als Medium der Subjektbildung, als Prozess
der Verinnerlichung von Arbeitsdisziplin, von Zeitökonomie, von Sparsamkeit,
insgesamt für die Regulierung von Gefühlen, Affekten, Aggressionen«(27)
herausgebildet. »Arbeit ist nicht nur etwas ?Ökonomisches?, sondern das, was
die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen ? vielleicht
nicht die ganze Wirklichkeit, aber doch wesentliche Momente von ihr ? erst
hervorbringt.«(28) Sie wird nun zunehmend ihres Gebrauchswerts beraubt, ihrer
spezifischen schöpferischen, menschlichen Elemente. »In dem Maße, wie sich die
Maschinensysteme immer weiter lebendige Qualifikationen der Subjekte aneignen,
werden die Menschen zu einem existenziellen Problem für einen
gesellschaftlichen Zustand, dessen ungeheure Produktivkraft auf die Einzelnen
gar nicht mehr Rücksicht nehmen muss.«(29)
Arbeitsproduktivität, ein
Begriff, der mit Fortschritt, Innovation, mit etwas Gutem assoziiert wird und
tief in unserem kulturellen Selbstverständnis verankert ist, kehrt in ihren
ökologischen und humanen Dimensionen zunehmend ihre negative Seite hervor ? in
kaum mehr zu kompensierender Belastung von Mensch, Natur, Umwelt. Diese
Dimension steckt nicht nur im Abfall und Müll, sondern auch hinter den
Beobachtungen von »isoliertem oder kompensatorischem Konsum«, hinter der
berechtigten Klage vom Verlust der Zeit und Muße, hinter der Warnung, dass die
Zivilisation Genuss und Glück verlernt,(30) hinter der Mahnung von Jacques
Attali, dass sich Konsumfreiheit als einzige Form der Freiheit entwickelt, weil
nicht mehr der Konsument die Ware kaufe, sondern die Ware ihren Konsumenten.
Gewiss hat Wachstum eine
mythische Dimension, vielleicht auch »magische und parareligöse Qualität«, doch
bleibt es eine ökonomische Kategorie und wird nicht zu einer »zivilreligiösen«
Dimension, der mit in einem weiteren Säkularisierungsprozess beizukommen
ist.(31) An einer Entzauberung der Warenwelt, die solche Mythen oder
Quasireligionen hervorbringt, muss gewiss gearbeitet werden. Doch scheint mir
die Qualifizierung eines die gesellschaftliche Realität prägenden Zustands als
transzendente Glaubensgestalt wenig hilfreich im Ringen um eine Änderung
unserer Natur- und Produktionsverhältnisse.
Die hier angerissenen
politisch, ökonomisch, gewerkschaftlich oder kulturwissenschaftlich begründeten
Wachstumskritiken haben alle ihre Wahrheiten und auch partiellen
Handlungsalternativen, von denen Teile auch praktiziert werden. Doch wir werden
nicht umhinkommen, die Begründungszusammenhänge von wachstumskritischer Politik
präziser und tiefer zu erfassen, um eine Perspektive fundamentalen
gesellschaftlichen Wandels entwickeln zu können.
Es erscheint sinnvoll, dabei
an Überlegungen von Christoph Deutschmann in Kommune 2/10 anzuknüpfen.
Wenn ich es richtig sehe, gehen sie in die Richtung eines »Rückbaus ? einer
Rückkehr zu einem stationären Reproduktionsmodus von Wirtschaft und
Gesellschaft«.(32) Deutschmann sieht den »Schlüssel einer Rückkehr aus der
kapitalistischen Wachstumsexplosion« in einem »Rückbau des Warencharakters der
Arbeitskraft und des Bodens«.(33) Ihm geht es darum, Natur und die Nutzung
menschlicher Arbeit nicht über den Markt, sondern unter »bewusster Kontrolle
der Gesellschaft« zu organisieren. Solche Gedanken korrespondieren durchaus mit
Vorstellungen zum Gemeingut oder Praktiken einer Allmende, die bestimmte Bereiche
der Gesellschaft dem Marktgeschehen und der Inwertsetzung entzieht. In
peripheren gewerkschaftlichen Kreisen diskutierte Konzepte von moderner
Wirtschaftsdemokratie gehören in solche Überlegungen ebenso integriert wie
Fragen des bedingungslosen Grundeinkommens.
1
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-18C7F3BB-1359DB6F/bst/hs.xsl/nachrichten_102799.htm.
Die Umfrage unter 1500 BürgerInnen aus Österreich und Deutschland wurde im
August 2010 veröffentlicht.
2
Leo N. Tolstoi 1989: Wie viel Erde braucht der Mensch?
Erzählungen und Legenden, Frankfurt am Main, S. 9 f.
3
Scherhorn 2010: »Politik in der Wachstumsfalle«, S. 11.
Impulspapier auf der Loccumer Tagung v. 2.?4. Juli 2010: »Politik in der
Wachstumsfalle. Mit Wachstum aus der Krise oder durch Wachstum in die Krise?«
Erhältlich als Impulspapier Scherhorn pdf bei
www.loccum.de/wachstum/index.html.
4
forum. Nachhaltig Wirtschaften, Nr.
2/10, »Editorial«.
5
Jerome Braun in: forum. Nachhaltig Wirtschaften, Nr.
2/10, S. 88. Jerome Braun betreibt zusammen mit Dennis Lotter die CSR-Agentur
Benefit Identity.
6
Hiroshi Tasaka 2010, in:
Stefan Bergheim, Malte C. Böcker: »Building Blocks for Ethical Market Economies
in the 21st Century. A Background Paper on Qualitative Growth«,
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-18C7F3BB-1359DB6F/bst/xcms_bst_dms_32017_32018_2.pdf,
S. 4.
7
Vgl. Ebd., S. 4, 12.
8
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-87439F71-49143876/bst/hs.xsl/prj_101373.htm
9
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins, L.Hunter
Lovins: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand ? halbierte Naturverbrauch,
München 1995.
10
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Karlson Hargroves, Michael
Smith: Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum, München 2010
(Werbetext).
11
Ebd., S. 14.
12
Gerhard Scherhorn: »Chance zur Revision?«, in: Politische
Ökologie, Dezember 2008, S. 21?22.
13
Gerhard Scherhorn 2010 (Fn. 3), S. 1.
14
Ebd., S. 4.
15
Scherhorn 2008 (Fn. 12), S. 21.
16
»Wir sind genau das Klientel, das sich leisten kann, was die
Grünen fordern«, meinte Joachim Betz, Präsident des Führungskräfteverbandes ULA
mit 50000 Mitgliedern, in: SZ, 4./5.9.10.
17
Niko Paech: »Die Legende vom nachhaltigen Wachstum. Ein
Plädoyer für den Verzicht«, in: Le Monde diplomatique Sept. 2010, S.
12?13; vgl. ausführlicher ders.: »Wachstum ?light?? Qualitatives Wachstum ist
eine Utopie«, in: Wissenschaft & Umwelt. Interdisziplinär, 13/09.
18
Dies ist ein Grund, warum Unmengen Müll und Schrott aus den
Industrieländern in Elendsviertel der Metropolen des Südens verfrachtet werden.
Allein von den 50 Millionen Tonnen Elektroschrott, die jährlich anfallen, wird
ein Großteil auf diese Art entsorgt.
19
Niko Paech 2010 (Fn. 17).
20
Niko Paech: »Effizienz, Suffiziens, Konsistenz ? Wie wird
Wachstum nachhaltig.« Präsentation auf der Tagung der Evangelischen Akademie
Loccum am 2.7.2010 als pdf bei www.loccum.de/wachstum/index/html.
21
Simon Sturn, Till van Treeck,: »Wachstumszwang durch
Ungleichheit und Ungleichheit als Wachstumsbremse«, in: spw, Heft 2/10,
S. 20. Die Autoren sind Wirtschaftswissenschaftler am Institut für
Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.
22
Vgl. dazu: Peter Schyga: »Schranken der Natur. Natur in der
politischen Ökonomie«, in: Kommune 3/06, S. 78?82.
23
Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, Berlin
1913 (Repr. Frankfurt am Main 1965), S. 2.
24
Vgl. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15. bis 18.
Jahrhunderts. Band 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, Frankfurt am Main
(Büchergilde Gutenberg) 1986, S. 693?708.
25
»In Wirklichkeit herrscht, ?, eine lebendige Dialektik
zwischen dem Kapitalismus und jenem gegensätzlichen, weiter unten angesiedelten
Bereich, der nicht als echter Kapitalismus bezeichnet werden kann. ? In
Wirklichkeit brauchen die großen Firmen die kleineren Unternehmen ? erstens, um
tausenderlei mehr oder minder untergeordnete, vom Kapitalismus übergangene, für
das Dasein der Gesellschaft aber gleichwohl unerlässliche Aufgaben abzuwälzen«,
Fernand Braudel (Fn. 24), S. 706, 707.
26
Vgl. hierzu die Beiträge in Klaus Dörre, Stephan Lessenich,
Hartmut Rosa (Hrsg.): Soziologie ? Kapitalismus ? Kritik. Eine Debatte,
Frankfurt am Main 2009.
27
Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen
2001, S. 296.
28
Christoph Deutschmann: »Ende des Wachstums? Über Probleme
des Kapitalismus mit seinem eigenen Erfolg«, in: Kommune, Heft 2/10, S.
10.
29
Oskar Negt (Fn. 27), S. 305.
30
Vgl. etwa. Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit
ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Frankfurt am
Main: Verlag Zweitausendeins 2009.
31
Claus Leggewie, Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir
sie kannten, Frankfurt am Main 2009. Der Begriff habe so viel »habituelle
Selbstverständlichkeit«, dass »niemand nach seiner Plausibilität fragt. ? In
der endlichen Welt ist unendliches Wachstum undenkbar; dass man trotzdem denkt,
das ginge, zeigt, zu welchen Illusionen unser Habitus führt und dass Wachstum
keine ökonomische Kategorie ist, sondern eine zivilreligiöse. ? Nur eine
wirtschaftlich säkulare Gesellschaft kann mit dem Klimawandel und anderen
Zukunftsproblemen adäquat umgehen, weil in ihr der theologische Begriff des
Wachstums und die darauf bezogene Expertokratie keinen Wert haben«, S. 111?112.
32
Christoph Deutschmann (Fn. 21), S. 7.
33
Ebd., S. 13.