Peter Schyga

 

Wie viel Erde braucht der Mensch?

 

Eine Diskussion um die Grenzen des Wachstums

 

 

 

Im allgemeinen Bewusstsein scheint inzwischen eine Einsicht fest verzurrt: Kein Wachstum um jeden Preis, sorgsamer Umgang mit Ressourcen. Strittig ist unter Fachleuten freilich, wie das »Wachstumsdilemma« gelöst werden kann: nachhaltiges Wachstum oder radikale Umkehr, individuelles Sparen oder gesellschaftliche Kontrolle? Unser Autor setzt sich mit den wichtigsten Spielarten der ökologisch-ökonomischen Kritik auseinander, die bis an den Kern der kapitalistischen Produktionsweise führt.

 

Seit dem Sommer preisen euphorisierte Medien mit Schlagzeilen wie »Deutschland holt auf«, »Deutschland trotzt der Konkurrenz«, »Deutschland Superstar« (SZ, HAZ, 10.9.10, FAS, 12.9.10) das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Deutschland und ähnliche Wachstumsinterventionen anderswo. Demgegenüber fanden bemerkenswerte Ergebnisse einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung kaum mediale Aufmerksamkeit. Unter der Überschrift»Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis« wurde mitgeteilt, dass die meisten der Befragten den sorgsamen Umgang mit der Umwelt und den Ressourcen für nötig hielten. Eine knappe Mehrheit glaube nicht, dass mit höherem Wirtschaftswachstum auch die eigene Lebensqualität steige, aber für 90 Prozent der Befragten sei Wirtschaftswachstum wichtig beziehungsweise sehr wichtig.(1) In diesem Meinungsbefund steckt ein Widerspruch, der die intensiver werdende Debatte um ökonomisches Wachstum vor dem Hintergrund zunehmend sichtbarer ökologischer Risiken bestimmt: Wie kann industrielles Wachstum und Umweltverbrauch in Vorstellungen und politische Agenden von naturhaushalterischer Zukunft transformiert werden?

Ein seit den Siebzigerjahren vornehmlich in ökologischen Kreisen vom Club of Rome, World Watch Institute oder Wuppertal-Institut bis hin zu grünen Parteien und Bewegungen intensiv verhandeltes Problem zieht Kreise. Im Zuge der zähen und ergebnisoffenen Klimadebatte um die Reduktion der CO2-Produktion erhielt die grundsätzliche Frage um die Möglichkeiten und Bedingungen von wirtschaftlichem Wachstum eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Es geht um Fragen der Umgestaltung der sozialen und kulturellen Reproduktion von Gesellschaft. Oder, um damit eine alte Frage neu aufzuwerfen: »Wie viel Erde braucht der Mensch?«(2)

Eine ganze Reihe von Analysen und Konzepten mahnen zum sorgfältigen Umgang mit Natur, zum Einhalten und Zurücknehmen, zur Änderung gesellschaftlichen und individuellen Verhaltens, über Mülltrennung, Sparlampennutzung und Feinstaub- oder Antirauchersanktionen hinaus: Muss Wachstum in unserer Wirtschaft sein? Was sind seine ökonomischen und gesellschaftlichen Triebkräfte? Müssen wir das Wachstumsdilemma aushalten, um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zu gefährden? Wie soll Verteilungsgerechtigkeit ohne Wachstum hergestellt werden? Setzen wir auf quantitatives Wachstum bei Veränderung seiner stofflich-energetischen Qualität? Kann Wachstum, qualitativ und nachhaltig umgeformt, der Vernutzung der Erde und Gefährdung der Menschen Einhalt gewähren? Müssen wir uns nicht in eine Postwachstumsökonomie bewegen?

 

Ökoboom und Changemaker

Gerhard Scherhorn, ein Doyen des ökologischen Diskurses und langjähriger Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts, formuliert die politischen Probleme dieser Debatte: Die Logik und »Anziehungskraft des quantitativen Wachstums (sind) so stark, dass die Politik der nachhaltigen Entwicklung nur so weit vorankommt, wie sie sich dem Wachstumsziel unterordnet.« Deshalb »müssen wir einstweilen mit zwei widerstreitenden Tendenzen leben: Es wird partielle Fortschritte im Sinne der nachhaltigen Entwicklung geben, zugleich aber wird das Streben nach Wirtschaftswachstum das Denken weiterhin so stark beherrschen, dass es die nachhaltige Entwicklung immer wieder in Frage stellt.«(3)

Wir haben es also mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen und Erfahrungen und subjektiven Empfindungen, Einstellungen, Erwartungen zu tun. Betriebswirtschaftliche lean-production-Konzepte, ökonomietheoretische Zugriffe auf ethische Bedingungen von Produktion, Vorschläge zu gesellschaftlich organisiertem qualitativen und nachhaltigem Wachstum, Verzichts- oder Umverteilungsvorstellungen sind in den Wortmeldungen und in der Praxis vertreten. Konsumentscheidungen und individuelle Regeln von Lebensführung, Auskommen mit wenig Geld oder sparen am sowieso Genughaben korrespondieren mit Entscheidungen zu gesellschaftspolitischem Handeln.

Die Integration partieller ökologischer Neuerungen in Sektoren der Gesamtwirtschaft hat Ökoboomer in Betrieb, Verwaltung, wissenschaftlicher Forschung und wirtschaftlicher Beratung hervorgebracht. Formale Nonprofit-Unternehmen leben vom Boom des zum Euphemismus gewendeten Begriffs »Nachhaltigkeit« ebenso gut wie Biospritbauern, Solar- und Windkraftunternehmen, Angestellte in städtischen Öko-Agenda-Büros oder Entwickler von Cleantech als »Leitindustrien für die Zukunft«. CSR-Strategien von Unternehmen stehen mittlerweile hoch im Kurs, die Zeitschrift forum. Nachhaltig Wirtschaften. Das Entscheider-Magazin koordiniert und propagiert in Kooperation mit B.A.U.M. (Bundesdeutscher Arbeitskreis für umweltbewusstes Management) »technische Innovationen und eine schnellere Marktentwicklung für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.«(4) Statt Nischenökos und Umweltraumwissenschaftler und -pädagogen sind nun Changemaker im Bestreben um »mehr ganzheitliche Unternehmensverantwortung« als Ökoberater unterwegs: »Angesichts der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts ist Corporate Social Responsibility (CSR) eine Conditio sine qua non für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen und muss daher mit derselben Sorgfalt und Professionalität geplant und umgesetzt werden wie das eigentliche Kerngeschäft.«(5)

Sie werden gestützt durch in ihrer Profession etablierte Wirtschaftswissenschaftler, die nach der »Ethik der Marktwirtschaft« fahnden. Sie weisen in Richtung einer geistigen (Re-)Konstruktion von Marktwirtschaft, wenn sie Vorstellungen von den »Invisible values« des »reifen Kapitalismus« formulieren, der dann zu dieser Reife gelangt, wenn er sein »invisible capital« hervorhebt. Dies müsse nur von einer »gereiften Menschheit« unter dem Motto, wachsender Konsum und Naturverbrauch kann nicht alles sein, entdeckt werden.(6) Es sei dringlich, die Ethik der Marktökonomien wiederzuentdecken, denn gesellschaftlicher Fortschritt mache sich nicht allein am monetären Wachstum fest. Ethik müsse zu einem Schlüsselelement der meisten Arbeitsbeziehungen und des ökonomischen Austauschs werden.(7) So kam die jüngste Tagung der Bertelsmann-Stiftung »Wege aus der Krise ? Ist die Marktwirtschaft noch zukunftsfähig? Perspektive für eine ethische Ausrichtung reifer und sich entwickelnder Marktwirtschaften« zu dem Ergebnis: »Quantitatives Wachstum allein reicht nicht ? Qualität ist gefragt«.(8) In Wort und Tat geprägt sind solche Konzeptionen von der Integration ökologischer Komponenten in betriebswirtschaftlich orientierte Ideen- und Produktproduktion.

 

Marktwirtschaft versus Kapitalismus ? Green New Deal

Der ökologische Mainstream geht über dieses Statusmix-Denken hinaus und propagiert gegen die »Wachstumsfalle« unseres Wirtschaftens die Hinwendung zu qualitativem und nachhaltigem Wachstum. Das Codewort für qualitatives Wachstum hieß in Ernst Ulrich von Weizsäckers Faktor Vier (1995) »Effizienz«.(9) In seinem aktuellem Bericht an den Club of Rome wird mit dem auf »Faktor Fünf« erhöhten Faktor »das Konzept einer zukunftssicheren und umweltverträglichen Wirtschaftspolitik« versprochen, das »wegweisend für den technologischen Fortschritt und für nachhaltiges Wachstum« sei.(10) »Suffizienz« mache es zu nachhaltigem Wachstum. Denn »eine nachhaltige Zivilisation kommt nicht ohne Verzicht und Rücksichtnahme aus, ohne Bedürfnisbefriedigung jenseits des Bruttosozialprodukts.«(11) Änderung der Wachstumspolitik von Staat und Institutionen durch Erhöhung von Ressourceneffizienz und Entkoppelung des ökonomischen Wachstums von Energie- und Stoffströmen sind die Kerne dieser Wachstumskritik. Die Vorstellungen und Vorschläge zur Änderung wirtschaftlich-ökologischer Praxis dieser Strömung gründet auf der Annahme, dass das Beharren auf Wachstum einer Politik geschuldet ist, die nicht mehr darauf achtet, dass sich der »Kapitalismus unter dem Druck der Politik der Marktwirtschaft anpasst«. Angesichts der Finanzkrise, der Zunahme der ökologischen Degradation und der sozialen Auswirkungen müsse »der Geburtsfehler des Kapitalismus, der Primat der Kapitalakkumulation, nun endlich aufgegeben werden. Das ist keine Frage des ?Alles oder nichts?. Auch ohne den Primat wird Kapital akkumuliert, aber mit mehr Augenmaß.«(12)

In einem Grundsatzpapier mit dem Titel »Politik in der Wachstumsfalle« formuliert Gerhard Scherhorn den Kern dieser vorherrschenden ökologischen Theoriebildung: »Das zentrale Problem der Menschen heute ist der Substanzverzehr, seine Ursache die Fixierung der Politik auf das Wirtschaftswachstum. Die Lösung liegt im Gegensatz zur Wachstumspolitik in der Politik der nachhaltigen Entwicklung. Diese Politik lässt die nachhaltigere Produktion in den Grenzen des Substanzerhalts wachsen und die weniger nachhaltige schrumpfen. Sie wird nur gelingen, wenn Wirtschaftswachstum nicht mehr das Ziel der Politik ist.«(13) Die »Vorstellung von der Wünschbarkeit exponentiellen Wirtschaftswachstum« habe sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit den ökonomischen Wachstumstheorien entwickelt. Das »Ergebnis waren zweieinhalb Jahrzehnte Scheinwachstum. ? Die Wirtschaftspolitik sieht sich auf Gedeih und Verderb an exponentielles Wachstum des Sozialprodukts und Volkseinkommens gebunden.« Politik habe sich »in eine Denkweise hineinmanövriert, die im Wachstum die einzige Lösung der wirtschaftlichen Probleme sieht«.(14)

Daraus gelte es auszubrechen, indem die Marktwirtschaft wiederhergestellt wird. Dabei wird Kapitalismus betrachtet als Verzerrung und schlechter Auswuchs einer auf »freien Marktzugang angelegten Wettbewerbsordnung«, der Marktwirtschaft, die es per staatlicher Intervention wiederherzustellen gilt: »Wir dürfen den Kapitalismus nicht mit der Marktwirtschaft verwechseln. Marktwirtschaft kann Wohlstand für alle schaffen, Kapitalismus kann das nicht, solange er auf dem Vorrang der Kapitalakkumulation besteht, denn der bereichert einseitig die oberen Einkommensklassen.« Der Kapitalismus »hatte schon viele Gesichter, im 20. Jahrhundert hat er sich unter dem Druck der Politik einige Jahrzehnte lang der Marktwirtschaft angepasst, und das sollte auch jetzt, diesmal auf Dauer, erreichbar sein.«(15)

Die Politik des »Green New Deal« der Grünen, ihre Idee der »neuen industriellen Revolution« sind Teile dieses Projektseiner sich als solche verstehenden Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts, die mit ihrem beispielhaftem Tun, ihrem visionären Eifer, ihrer trefflichen Vernetzung die Welt verändern möchte, sich aber in deren marktwirtschaftlichen Segmenten eingerichtet hat. Das gegenwärtige Umfragehoch der Grünen etwa kommt ja nicht von ungefähr, und der Spruch, dass man sich »Öko leisten können« muss, findet seine Wahrheit in der Lebenswirklichkeit der Menschen.(16)

 

Änderung des Lebensstils

Gegen diese »grüne« Wachstumsstrategie gibt es am Rande des Öko-Mainstreams ernst zu nehmende Einwände: »Die Legende vom nachhaltigen Wachstum. Ein Plädoyer für den Verzicht« überschreibt Niko Paech seine Kritik am »Greenwashing« des Wachstumsbegriffs: »Die Unterscheidung zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum ? suggeriert, dass sich industrielle Wertschöpfung in zwei Dimensionen aufspalten lässt: Man unterscheidet kurzerhand zwischen den rein qualitativen Werten ? das sind nutzbringende Funktionen, um derentwillen die Güter überhaupt produziert werden ? und einer materiellen Dimension des Outputs, die allein als ökologisch problematisch erscheint.«(17) So sei etwa im Recyclingkonzept die Vorstellung enthalten, man könne Wiederverwertungen als materielle Stoffkreisläufe ohne Vernutzung von Materie organisieren. Der andere »Entkopplungsmythos« gründet sich auf die Möglichkeiten der Effizienzsteigerung von Ressourcennutzung.

Nun wird Paech nicht bestreiten, dass diese Konzepte erst einmal den Naturverbrauch reduzieren können. Das hat aber noch nichts mit einer Abschwächung von wirtschaftlichem Wachstum zu tun. Im Gegenteil: ökonomisches Wachstum, sprich beschleunigte Akkumulation, würde gerade bei effizienterer, das heißt rationeller Ressourcennutzung Konkurrenzvorsprünge bringen, bedenkt man nur die zu erwartenden Preissteigerungen bei Rohstoffen. Für das Recycling gilt dies nur begrenzt, weil ihre Verfahren oft ein hohes Maß an Energie- und Arbeitskrafteinsatz erfordern.(18) Paech kommt also begründet zu dem Schluss: »Es ist also falsch anzunehmen, dass sich ökonomisches Wachstum und Ressourcenverbrauch durch Effizienz- und Konsistenzmaßnahmen entkoppeln ließen. Ganz im Gegenteil gilt, dass Effizienz und Konsistenz die Umweltbelastungen nur dann senken werden, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst.?Entkoppelung? kann es nach dieser Logik nicht geben.«(19) Konsequent plädiert er deshalb für eine »Genügsamkeitsstrategie«. »Deshalb zielt eine Postwachstumsökonomie darauf, Expansionszwänge zu überwinden. Der wichtigste (zu überwindende Zwang, die Red.) besteht in einem Lebensstil, der vollständig von geldvermittelter und global arbeitsteiliger Fremdversorgung abhängig ist.« Eine »Überwindung der Wachstumslogik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des bisherigen Wohlstands- und Versorgungsmodells ist undenkbar.«(20)

Diese Ansicht ist zumindest konsequent in ihrer Wachstumskritik. Sie ist dezidiert subjektorientiert und dabei konzentriert auf das Subjekt als Konsumenten. Das gesellschaftliche Subjekt als Produzent kommt ebenso wie die für die Gesellschaft grundlegende Kategorie der Arbeit, die schließlich den Reichtum schafft, in den bislang behandelten Wachstumskritiken allerdings nicht vor.

 

Mehr Wachstum, weniger Ungleichheit?

Kapitalismuskritiker, die das Wohl der Produzenten von gesellschaftlichem Reichtums als ihr Anliegen betonen, wenden sich gegen diese Formen von Gesellschaftskritik. Sie sehen wohl die ökologischen Probleme von Wachstum und die kulturellen Verwerfungen durch Konsumismus, verweisen aber darauf, dass diese durch ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums hervorgerufen seien: »Die große Ungleichheit zwingt zu mehr Wachstum und behindert es zugleich. Erst durch mehr Wachstum wird eine effektive Stärkung der unteren Einkommensgruppen möglich, und weniger Ungleichheit reduziert schließlich die Notwendigkeit von Wachstum. Unklar ist freilich, ob die Umwelt so lange warten kann.«(21) Diese Position von gewerkschaftsnaher Seite scheint ihre Plausibilität aus der Logik des historisch gewachsenen Produktivitäts- und Wachstumspakts zwischen Lohnarbeit und Kapital zu gewinnen. Dieser konnte die soziale Frage im Ringen um die Verteilung des produzierten Mehrprodukts abfedern, schuf den gesellschaftlichen Konsens um Wachstum von Wirtschaft.(22) Die in diesem Prozess hergestellte und erhaltene, immer mehr oder minder fragile soziale Gerechtigkeit bildete das Fundament, auf dem sich freie demokratische Gesellschaften und die Emanzipation des Arbeiters zum Bürger entwickeln konnten.

Die Autoren des zitierten Papiers suggerieren unter Berufung auf Joseph Stiglitz und andere, dass gesellschaftliche Ungleichheit Kampf ums Wachstum nötig gemacht habe und weiter nötig mache. Nur ? den Zwang zum Wachstum aus der ungleichen Verteilung des produzierten Mehrprodukts zu erklären, stellt Motive und Mechanismen des Produktivitätspaktes auf den Kopf. Denn dieser ist historisch politisches Resultat der inneren Logik des Kapitals und nicht umgekehrt.

Doch diese innere Logik des Kapitals scheint kaum einem der Wachstumskritiker bewusst. Man sorgt sich um die Zerstörung der Reproduktionsbedingungen von Mensch und Natur, blendet jedoch den grundlegenden Charakter, die »bestimmte Gestaltung des Verhältnisses der Menschen zur Natur und der Verhältnisse der Menschen untereinander«(23) aus. Gewiss, Kapitalismus ist auch Marktwirtschaft. Scherhorn und andere berufen sich hier gern auf Fernand Braudel. Doch Marktwirtschaft ist keine historisch eng eingrenzbare Verkehrsform von Geld, Kapital, Waren und Arbeitkräften, sondern bezeichnet, wie Braudel in seiner Untersuchung der Weltwirtschaft seit dem 15. Jahrhundert zeigt, eine allgemeine Form des Austauschs in einer Wirtschaft.(24) Die Organe, die Kapital in welcher Form auch immer anhäufen (akkumulieren), sind bestrebt die Marktwirtschaft, bei Braudel begriffen als Wettbewerbssektor, auszuschalten, Monopole zu bilden, Herrschaft auszuüben. Sie bedienen sich dabei in symbiotischer Einheit des Staates. Gleichzeitig, so Braudel, werden bei allen Verdrängungsbestrebungen kleine Betriebe der Marktwirtschaft benötigt und immer wieder neu geschaffen, die als Schmiermittel des »großen« Kapitalismus nötig sind.(25) Eindringen in nichtkapitalistische Milieus hat Rosa Luxemburg diesen Prozess genannt, unter den Begriff »Landnahme« wird er in Teilen der modernen Soziologie debattiert.(26)

Das Eigentümliche der Reproduktion unter kapitalistischen Verhältnissen liegt darin, dass ihr Zweck nicht der der Konsumtion, sondern der Wertproduktion ist. Was den Kapitalismus in seiner reifen Form ausmacht, ist nicht nur Monopolbildung im Produktions-, Finanz-, Banken- und Handelssektor, die Verflechtung zwischen Staat und Kapitalmacht, sondern liegt in der besonderen Form der Produktion verborgen. Es ist, seit der industriellen Nutzung natürlicher Ressourcen, die ständige Revolutionierung der Ausbeutung von Arbeitskraft und von Natur durch Verwandlung beider in Waren sowie die Nutzbarmachung naturwissenschaftlichen Wissens in technischen Herstellungsprozessen. Die kapitalistische Produktionsweise ist charakterisiert durch Schrankenlosigkeit, Risikoeinsätze ohne Maß, Mitte oder Vernunft. Wachstum wird nicht durch politischen Eingriff erzeugt, sondern wohnt der Logik der kapitalistischen Produktionsweise inne. Dass diese Logik in ihrem Kern irrational ist, weil sie die Gesetze der Thermodynamik ignoriert, denen wir unterliegen, macht die Beharrungskräfte des Kapitalismus und der ihn hegenden Wirtschaftspolitik nicht dynamischer.

Akkumulation wiederum ist kein mechanistischer Vorgang der Reichtumsanhäufung. Sie wird durch Arbeit in Gang gehalten und wirkt auf deren Träger zurück. Arbeit hat sich in einem jahrhundertelangen Kulturprozess »als Medium der Subjektbildung, als Prozess der Verinnerlichung von Arbeitsdisziplin, von Zeitökonomie, von Sparsamkeit, insgesamt für die Regulierung von Gefühlen, Affekten, Aggressionen«(27) herausgebildet. »Arbeit ist nicht nur etwas ?Ökonomisches?, sondern das, was die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen ? vielleicht nicht die ganze Wirklichkeit, aber doch wesentliche Momente von ihr ? erst hervorbringt.«(28) Sie wird nun zunehmend ihres Gebrauchswerts beraubt, ihrer spezifischen schöpferischen, menschlichen Elemente. »In dem Maße, wie sich die Maschinensysteme immer weiter lebendige Qualifikationen der Subjekte aneignen, werden die Menschen zu einem existenziellen Problem für einen gesellschaftlichen Zustand, dessen ungeheure Produktivkraft auf die Einzelnen gar nicht mehr Rücksicht nehmen muss.«(29)

Arbeitsproduktivität, ein Begriff, der mit Fortschritt, Innovation, mit etwas Gutem assoziiert wird und tief in unserem kulturellen Selbstverständnis verankert ist, kehrt in ihren ökologischen und humanen Dimensionen zunehmend ihre negative Seite hervor ? in kaum mehr zu kompensierender Belastung von Mensch, Natur, Umwelt. Diese Dimension steckt nicht nur im Abfall und Müll, sondern auch hinter den Beobachtungen von »isoliertem oder kompensatorischem Konsum«, hinter der berechtigten Klage vom Verlust der Zeit und Muße, hinter der Warnung, dass die Zivilisation Genuss und Glück verlernt,(30) hinter der Mahnung von Jacques Attali, dass sich Konsumfreiheit als einzige Form der Freiheit entwickelt, weil nicht mehr der Konsument die Ware kaufe, sondern die Ware ihren Konsumenten.

 

Wachstumskontrolle durch Gesellschaft

Gewiss hat Wachstum eine mythische Dimension, vielleicht auch »magische und parareligöse Qualität«, doch bleibt es eine ökonomische Kategorie und wird nicht zu einer »zivilreligiösen« Dimension, der mit in einem weiteren Säkularisierungsprozess beizukommen ist.(31) An einer Entzauberung der Warenwelt, die solche Mythen oder Quasireligionen hervorbringt, muss gewiss gearbeitet werden. Doch scheint mir die Qualifizierung eines die gesellschaftliche Realität prägenden Zustands als transzendente Glaubensgestalt wenig hilfreich im Ringen um eine Änderung unserer Natur- und Produktionsverhältnisse.

Die hier angerissenen politisch, ökonomisch, gewerkschaftlich oder kulturwissenschaftlich begründeten Wachstumskritiken haben alle ihre Wahrheiten und auch partiellen Handlungsalternativen, von denen Teile auch praktiziert werden. Doch wir werden nicht umhinkommen, die Begründungszusammenhänge von wachstumskritischer Politik präziser und tiefer zu erfassen, um eine Perspektive fundamentalen gesellschaftlichen Wandels entwickeln zu können.

Es erscheint sinnvoll, dabei an Überlegungen von Christoph Deutschmann in Kommune 2/10 anzuknüpfen. Wenn ich es richtig sehe, gehen sie in die Richtung eines »Rückbaus ? einer Rückkehr zu einem stationären Reproduktionsmodus von Wirtschaft und Gesellschaft«.(32) Deutschmann sieht den »Schlüssel einer Rückkehr aus der kapitalistischen Wachstumsexplosion« in einem »Rückbau des Warencharakters der Arbeitskraft und des Bodens«.(33) Ihm geht es darum, Natur und die Nutzung menschlicher Arbeit nicht über den Markt, sondern unter »bewusster Kontrolle der Gesellschaft« zu organisieren. Solche Gedanken korrespondieren durchaus mit Vorstellungen zum Gemeingut oder Praktiken einer Allmende, die bestimmte Bereiche der Gesellschaft dem Marktgeschehen und der Inwertsetzung entzieht. In peripheren gewerkschaftlichen Kreisen diskutierte Konzepte von moderner Wirtschaftsdemokratie gehören in solche Überlegungen ebenso integriert wie Fragen des bedingungslosen Grundeinkommens.

 

1

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-18C7F3BB-1359DB6F/bst/hs.xsl/nachrichten_102799.htm. Die Umfrage unter 1500 BürgerInnen aus Österreich und Deutschland wurde im August 2010 veröffentlicht.

2

Leo N. Tolstoi 1989: Wie viel Erde braucht der Mensch? Erzählungen und Legenden, Frankfurt am Main, S. 9 f.

3

Scherhorn 2010: »Politik in der Wachstumsfalle«, S. 11. Impulspapier auf der Loccumer Tagung v. 2.?4. Juli 2010: »Politik in der Wachstumsfalle. Mit Wachstum aus der Krise oder durch Wachstum in die Krise?« Erhältlich als Impulspapier Scherhorn pdf bei www.loccum.de/wachstum/index.html.

4

forum. Nachhaltig Wirtschaften, Nr. 2/10, »Editorial«.

5

Jerome Braun in: forum. Nachhaltig Wirtschaften, Nr. 2/10, S. 88. Jerome Braun betreibt zusammen mit Dennis Lotter die CSR-Agentur Benefit Identity.

6

Hiroshi Tasaka 2010, in: Stefan Bergheim, Malte C. Böcker: »Building Blocks for Ethical Market Economies in the 21st Century. A Background Paper on Qualitative Growth«, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-18C7F3BB-1359DB6F/bst/xcms_bst_dms_32017_32018_2.pdf, S. 4.

7

Vgl. Ebd., S. 4, 12.

8

www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-87439F71-49143876/bst/hs.xsl/prj_101373.htm

9

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory B. Lovins, L.Hunter Lovins: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand ? halbierte Naturverbrauch, München 1995.

10

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Karlson Hargroves, Michael Smith: Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum, München 2010 (Werbetext).

11

Ebd., S. 14.

12

Gerhard Scherhorn: »Chance zur Revision?«, in: Politische Ökologie, Dezember 2008, S. 21?22.

13

Gerhard Scherhorn 2010 (Fn. 3), S. 1.

14

Ebd., S. 4.

15

Scherhorn 2008 (Fn. 12), S. 21.

16

»Wir sind genau das Klientel, das sich leisten kann, was die Grünen fordern«, meinte Joachim Betz, Präsident des Führungskräfteverbandes ULA mit 50000 Mitgliedern, in: SZ, 4./5.9.10.

17

Niko Paech: »Die Legende vom nachhaltigen Wachstum. Ein Plädoyer für den Verzicht«, in: Le Monde diplomatique Sept. 2010, S. 12?13; vgl. ausführlicher ders.: »Wachstum ?light?? Qualitatives Wachstum ist eine Utopie«, in: Wissenschaft & Umwelt. Interdisziplinär, 13/09.

18

Dies ist ein Grund, warum Unmengen Müll und Schrott aus den Industrieländern in Elendsviertel der Metropolen des Südens verfrachtet werden. Allein von den 50 Millionen Tonnen Elektroschrott, die jährlich anfallen, wird ein Großteil auf diese Art entsorgt.

19

Niko Paech 2010 (Fn. 17).

20

Niko Paech: »Effizienz, Suffiziens, Konsistenz ? Wie wird Wachstum nachhaltig.« Präsentation auf der Tagung der Evangelischen Akademie Loccum am 2.7.2010 als pdf bei www.loccum.de/wachstum/index/html.

21

Simon Sturn, Till van Treeck,: »Wachstumszwang durch Ungleichheit und Ungleichheit als Wachstumsbremse«, in: spw, Heft 2/10, S. 20. Die Autoren sind Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.

22

Vgl. dazu: Peter Schyga: »Schranken der Natur. Natur in der politischen Ökonomie«, in: Kommune 3/06, S. 78?82.

23

Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913 (Repr. Frankfurt am Main 1965), S. 2.

24

Vgl. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Band 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, Frankfurt am Main (Büchergilde Gutenberg) 1986, S. 693?708.

25

»In Wirklichkeit herrscht, ?, eine lebendige Dialektik zwischen dem Kapitalismus und jenem gegensätzlichen, weiter unten angesiedelten Bereich, der nicht als echter Kapitalismus bezeichnet werden kann. ? In Wirklichkeit brauchen die großen Firmen die kleineren Unternehmen ? erstens, um tausenderlei mehr oder minder untergeordnete, vom Kapitalismus übergangene, für das Dasein der Gesellschaft aber gleichwohl unerlässliche Aufgaben abzuwälzen«, Fernand Braudel (Fn. 24), S. 706, 707.

26

Vgl. hierzu die Beiträge in Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa (Hrsg.): Soziologie ? Kapitalismus ? Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main 2009.

27

Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 296.

28

Christoph Deutschmann: »Ende des Wachstums? Über Probleme des Kapitalismus mit seinem eigenen Erfolg«, in: Kommune, Heft 2/10, S. 10.

29

Oskar Negt (Fn. 27), S. 305.

30

Vgl. etwa. Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Frankfurt am Main: Verlag Zweitausendeins 2009.

31

Claus Leggewie, Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Frankfurt am Main 2009. Der Begriff habe so viel »habituelle Selbstverständlichkeit«, dass »niemand nach seiner Plausibilität fragt. ? In der endlichen Welt ist unendliches Wachstum undenkbar; dass man trotzdem denkt, das ginge, zeigt, zu welchen Illusionen unser Habitus führt und dass Wachstum keine ökonomische Kategorie ist, sondern eine zivilreligiöse. ? Nur eine wirtschaftlich säkulare Gesellschaft kann mit dem Klimawandel und anderen Zukunftsproblemen adäquat umgehen, weil in ihr der theologische Begriff des Wachstums und die darauf bezogene Expertokratie keinen Wert haben«, S. 111?112.

32

Christoph Deutschmann (Fn. 21), S. 7.

33

Ebd., S. 13.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010