Marcus Welsch

 

Hinter der Fassade des Nationalismus

 

Belgrader Szenen ? im Sommer 2010

 

 

 

Eine Stadt, die schlecht eingenäht ist in ihren verschiedenen Vergangenheits-Schichten. Belgrad, »die Weiße«, erscheint dem politischen Reisenden als ein Synonym für das balkanische Drama sich ständig verstellender Exzentrik. Ein Konglomerat aus unbearbeiteter Verantwortung für die Kriege, sozialer Stagnation und wirtschaftlichen Mafia-Strukturen, die in die Politik hineinreichen. Ein gedemütigter, aber latenter Nationalismus. Die Ausgrenzungsmechanismen in den Flüchtlingssiedlungen. Die Keime zivilgesellschaftlicher und demokratischer Aktivität. Szenen aus einer Stadt auf dem Weg nach Europa.

 

Wenn man von Südosten nach Belgrad fährt, also nicht aus Mitteleuropa anreist, sondern von Kosovo oder Mazedonien her den Weg in die Hauptstadt sucht, überquert die Autobahn einen Hügel nahe Kaludjerica. Völlig überraschend liegt einem Belgrad zu Füßen. Am Abend wirft einem die Sonne in der Achse des »Autoputs« ihr gleißendes Licht entgegen. Man ist geblendet und hält unweigerlich die Luft an beim Blick über die Stadt an Donau und Save.

Doch für Verklärungen bleibt keine Zeit. Schon geht es an den gewaltigen East-Gate-Towern vorbei, so als hätte Hollywood einen neuen Science-Fiction-Prototyp testen wollen. Titos eigentliches realsozialistisches Vermächtnis. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Metropolen findet man im Zentrum wenige monumentale Denkmäler, meist stammen sie aus der Zeit vor dem Bruch mit Stalin. Es ist der Wohnungsbau, der hier auffällt. Rationale Ausnützung des Platzes in kleinen Einheiten, funktionale Standards, irgendwie futuristischer als bei uns. Hellersdorf in Ost-Berlin wirkt dagegen irgendwie phantasielos.

In Banjica neben den Hochhäusern der »Fünf Idioten« läuft im Hochparterre der Fernseher. Partizan Belgrad spielt um die Qualifikation für die Champions League. Der Nachbarjunge ist erst 17, aber nebenberuflich Schiedsrichter. Es steht zwei zu null, und man ist zufrieden, auch wenn die Hausgemeinschaft zur Hälfte Anhänger von Roter Stern ist. Obwohl die Hauswände im Viertel überzogen sind mit ultranationalen Bekenntnissen, empfängt die Familie den Kosovo-Reisenden entspannt. Wie man so verrückt sein könne, mit so einem kleinen Auto diese Strecke zu fahren.

Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung scheint hier der Kosovo kein großes Thema zu sein. Die Politik solle endlich pragmatisch werden. Und letztendlich habe Serbien nichts vom Kosovo. Man wüsste doch gar nicht, was man mit den Albanern anfangen solle und es gäbe genug andere Probleme. Allein die Mieten, die durch gestiegene Nebenkosten nicht unter 200 Euro lägen, sind ein viel präsenteres Thema.

 

Am nächsten Morgen in der Innenstadt. Die Strahinjica Bana, die Ausgehmeile, ist noch leer. Im Volksmund heißt sie Silicon Valley. Noch sind keine sponzoru?e unterwegs, die jungen Frauen auf der Suche nach einem Freund mit Auto und mehr. Der neue Stil der Bar-Lounges ist allgegenwärtig. Neben effizienter Kaffeehauskultur hat es immer etwas von einer Möbelhausausstellung. Die Cafés in Belgrad, Zagreb und Sarajevo ähneln sich zunehmend. Früh am Morgen ist es der ideale Platz zum Start in den Tag.

Wolfgang Klotz, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Südosteuropa, ist versenkt in seine Zeitungslektüre. Es geht immer noch um die WAZ-Affäre, die sich bei all den Details, die man in den deutschen Blättern nicht findet, anhört wie das Who is Who der Balkanmafia. Doch auch bei der Außenpolitik Serbiens, dem Hin und Her mit der Türkei oder der aussichtslosen Haltung zum Kosovo fällt auf, dass es immer einen unberechenbaren Faktor mehr zu berücksichtigen gilt, als in den Strategiepapieren der Think Tanks in Brüssel, Paris oder Berlin aufscheint. So liest sich das neue regional cooperation wie ein Gummibegriff, der sich in Brüssel anders buchstabiert als in Belgrad oder Zagreb. Vor Kurzem wurde zwischen den beiden Ländern eine Vereinbarung getroffen, dass in den jeweiligen Botschaften der Länder Listen ausliegen sollen, die die Personen aktueller Anklagen auflistet. So kann man vor der Reise in das Nachbarland sichergehen, dass man bei der Einreise nicht verhaftet wird.

Während sich der internationale Nachrichtenverkehr in den letzten Jahren auf die Auslieferung der Kriegsverbrecher und die Kosovofrage konzentrierte, lief die innenpolitische Demontage Serbiens auf Hochtouren. Vor allem die Folgen der serbischen Kleptokratie in den Neunzigerjahren werden unterschätzt.

»Nachdem in den Neunzigerjahren die Politik Serbiens um Fragen kreiste, die nicht zu lösen sind (Außenpolitik), wird es höchste Zeit, die liegen gebliebene Probleme endlich anzugehen: die Innenpolitik«, bringt der Verleger Dejan Ilic es auf den Punkt. Srebrenica ist ein wichtiges, sehr starkes Symbol für die Schrecken und die Verklärung in Serbien. Die Herausforderungen liegen jedoch in einer noch viel tiefer greifenden Aufarbeitung der Neunzigerjahre. Der Druck der EU ist dabei ein nicht zu unterschätzender positiver Faktor. Ilic ist Teil der »kritischen Masse« in Belgrad, die sich selbst seit der Opposition gegen Milosevic »das andere Serbien« nennt und sich kritisch mit der gesellschaftspolitischen Lage auseinandersetzt. Der überwiegend große Teil der Gesellschaft (»Serbien 1«) blockiere bei aller Rhetorik des Konsenses eines Wegs nach Europa allerdings die zivilgesellschaftliche Entwicklung, ist verstrickt in verschiedene dubiose Interessenbereiche und hat an den längst überfälligen Reformen kein ernsthaftes Interesse. Das Engagement ist nach dem Sturz von Milosevic immer wieder stecken geblieben.

Das Vertrauen in die Parteien sei nicht nur beim anderen Serbien (»Serbien 2«) vollkommen ruiniert. Milosevic hat Staat und Wirtschaft so ausgehöhlt, dass jahrelang nur mafiöse parallelgesellschaftliche Überlebensstrategien Orientierung boten. Wer sich nicht einlässt, ist entweder verdächtig oder verdient Respekt. Der Staatsrechtler Vojin Dimitrijevic nennt das Engagement der Böll-Stiftung in Belgrad mittlerweile strani faktor ?  der fremde Faktor. Hinter dem Ehrentitel liegt die schwierige Aufgabe, wie man die Diskussionskultur eines zivilgesellschaftlichen Engagements überhaupt zum Leben erweckt. Mitstreiter gibt es formal gesehen genug. Eine NGO wie das Helsinki Committee besticht durch kontinuierliche Arbeit. Auch die sonstigen Orte des kritischen Diskurses sind keine Feigenblätter. Die Frage ist nur, wie kleine Zirkel den Radius von »Serbien 2« überschreiten können.

Das »Center for Cultural Decontamination« in der Bircaninova 21 ist ein Ort, wie man ihn sich für einen lebendigen Austausch nicht besser vorstellen kann. In einer Art Laube hinter der früheren DDR-Botschaft versteckt finden in dem Pavillion seit zehn Jahren Workshops, Seminare und internationale Veranstaltungen statt. Es gibt die Intellektuellen, die eitlen und uneitlen Akademiker, und es gibt die Kulturetats der Botschaften, die diese Einrichtung mit Veranstaltungen unterstützen. Nur wo ist der Elan der Protestbewegung von Otpor hin, die Milosevic zum Abdanken gezwungen hat?

Am Nationalismus kommt man nicht vorbei. Das betrifft nicht nur die unmittelbaren Ausbrüche, wenn zum Beispiel die United Forces, die radikalen Fußballfans des Viertels, sich Schlägereien im Schwimmbad liefern. Kein spezifisches Problem nur dieses Milieus. Immer noch sind 57 Prozent der Bevölkerung in Serbien gegen eine Inhaftierung und Auslieferung von Mladic. Nur 33 Prozent unterstützten die vom Begriff »Genozid« bereinigte Erklärung des Parlaments zur Entschuldigung für Srebrenica (siehe auch Ernst Köhler: »Das letzte Wort«, Kommune 4/10). Immer noch versteht ein großer Teil der Bevölkerung nicht, weshalb die Verbrechen Milosevics im Kosovo einen so irreversiblen Fehler darstellen, dass es keine andere Wahl gibt, als die Abspaltung zu akzeptieren. Ein kleiner, aber zunehmend wachsender Teil der Bevölkerung versteht, dass man nur mit einer gewissen »Pragmatik« in die EU kommt. Dass es irreversibel nur in Richtung Europa geht ? schon aus rein ökonomischen Gründen ?, scheint zumindest in Belgrad inzwischen mehrheitsfähig zu sein.

 

Vom Westufer der Save hat man einen prächtigen Ausblick auf die Dächer der Stadt. Was die Weltkriege nicht zerstört haben, wurde immer wieder überbaut. Vor allem vom türkischen Antlitz wollte man sich schnell befreien. Was den Spaziergänger aus dem Westen fasziniert, ist die Vielzahl von Baustilen, die dem Betrachter die Orientierung verweigert. Kaum vorzustellen, dass bei diesem Konglomerat der Stile sich noch vor 100 Jahren die Stadt eher wie ein beschaulicher orientalischer Markt gezeigt hat. Schaut man über die Dächer der Stadt mit Hochhäusern, Kirchen, Kafanas und modernen Repräsentationsbauten, bleibt das Auge weniger an den Schriftzeichen der Kreditinstitute und Bierwerbung hängen, als an der neuen Kathedrale des heiligen Sava. Die Rundkuppel gehört zu den größten Gotteshäusern der Welt. Dagegen wirkt die Kathedrale des heiligen Erzengels Michael, die sich über dem älteren Teil der Stadt erhebt, wie eine beschauliche Dorfkirche. Die Sveti Sava, deren Fassade erst 2007 fertiggestellt wurde, ist jüngst einem neuen Beleuchtungskonzept unterzogen worden. Sie ist so imposant, dass sie es mit dem Weißen Haus in Washington aufnehmen könnte. Der Einfluss der orthodoxen Kirche hat wie in Russland massiv zugenommen. In der Geschichte Serbiens ist die Kirche die Mitbegründerin der Nation gewesen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und den Kriegen in Bosnien und Kroatien hielt sie länger als Milosevic an einer großserbischen Idee fest. Ganz zu schweigen vom Kosovo.

Von einem Podest aus sähe man hinter diesem Symbolbau das Stadion von Partizan Belgrad. Diese Nähe ist städtebaulichem Zufall geschuldet. Die Auswüchse ideologischer Verbindung hingegen nicht. Die radikalen Ultras und die überwiegend jungen Mitglieder der jetzt zum Teil verbotenen kleriko-faschistischen Organisationen wie »Obraz« waren neben ein paar vereinzelten nationalistischen Intellektuellen die Einzigen, die gegen die Festnahme von Karadzic in Belgrad demonstrierten. Noch ist nicht geklärt, wer am 24. Juli den Journalisten Teofil Pansic nachts im Bus in Zemun mit einer Eisenstange zusammenschlug. Zwei Tage nach dem für die Nationalisten enttäuschenden Ausgang des Den Haager Richterspruchs waren es wohl keine verwirrten Einzeltäter.

Der Prozess um Zoran Djindjics Ermordung wirft immer noch mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Es war ein Irrtum zu glauben, man könnte mit der Mafia verhandeln. Letztendlich kontrollierte der Geheimdienst ihn und nicht umgekehrt, wie die Reportagen der TV-Journalistin Brankica Stankovic in den Sendungen von Insajder einer breiteren Öffentlichkeit verdeutlichen.

Nata Mesarovic übernahm damals die schwierige Aufgabe, den Prozess vor einem Sondergericht zu führen, nachdem ihr Kollege überraschend zurückgetreten war. Heute ist sie oberste Richterin von Serbien. Die im Vorjahr durchgeführte Justizreform und die Überprüfung der Richter und Staatsanwälte fiel für die Öffentlichkeit enttäuschend aus. Die Gelegenheit, sich der unter dem Regime von Slobodan Milosevic kompromittierten Richter und Staatsanwälte zu entledigen, wurde wegen mangelnder Transparenz des Wahlverfahrens vertan. Über 800 Richter und Staatsanwälte, die in ihren Ämtern nicht erneut bestätigt wurden, haben sich unterdessen an das Verfassungsgericht gewand. László Végel schreibt dies dem politischen Zugeständnis Tadics an seinen Koalitionspartner, der Ex-Milosevic-Partei Sozialistische Partei Serbiens zu, die sich ihrer Klientel verpflichtet sieht (siehe László Végel: »Serbiens europäischer Optimismus. Letters from Serbia«, in Kommune 2/10).

Es bleibt, die Einzelfälle kritisch zu betrachten. Die juristische Auseinandersetzung um die Angriffe auf Brankica Stankovic macht die widersprüchliche Rechtsprechung deutlich. Stankovic beschäftigte sich in der Sendung 20Insajder schon länger mit dem Sport und der speziellen Fankultur der Belgrader Clubs. Die Fans der großen Clubs Partizan, Roter Stern und FK Rad, tragen seit langem »Ehrentitel« wie Grobari (Totengräber) oder Delije (Die Mutigen). Nicht erst seit dem Tod des brutal zusammengeschlagenen französischen Fußballfans Brice Taton sind Gewaltexzesse mehr als nur ein Ventil halbstarker Jugendkultur. Auch wenn es jeder weiß, rührt man nicht ungestraft an den Verbindungen der so unterschiedlichen nationalistischen Gesellschaftsgruppen. Die Sendung von Stankovic über die ultranationalistische Szene und ihre Nähe zu anderen Teilen der Gesellschaft wurde ihr von den entsprechenden Kreisen übel genommen. Die Drohungen bei einem Fußballspiel im vergangenen Herbst, bei der Sprechchöre skandierten, es könne ihr so ergehen wie dem 1999 ermordeten Journalisten Slavko Curuvija, brachte die Sache vor Gericht. Seit dem Tod von Brice Taton verhängt man exemplarisch hohe Strafen. Stankovic erhielt Polizeischutz. Die Hooligans, die sie einzuschüchtern versuchten, wurden allerdings in erster Instanz überraschend freigesprochen. Erst nach massiven Protesten verschiedener Journalistenverbände wie NUNS oder ANEM wurden vor einem Berufungsgericht die entsprechenden Bedrohungen geahndet.

 

Selbst die jungen Touristen, die aus anderen osteuropäischen Städten den Party-Versprechungen der Metropole folgend am Wochenende nach Belgrad fahren, fliehen vor der hochsommerlichen Hitze. Kaum jemand ist im Park Kalemegdan an den Ständen, die Banknoten aus der Hyper-Inflaftionszeit, Tschetnikmützen und Titopostkarten verkaufen. Die Einzigen, die Ruhe im Park bei der alten Festung von Belgrad suchen und ungestört ihrem täglichen Rhythmus folgen, sind die altkommunistischen Rentner, die sich mit Kaffeetrinken und Schachspielen die Zeit totschlagen. Die alten Männer lassen nicht viel Gutes an der gegenwärtigen Politik. Anlass für ihren Spott findet sich genug. Im Laufe des Jahres wurden acht Chefärzte in Krebsabteilungen verhaftet, weil sie mit hohen Dosen und falschen Diagnosen Geschäfte gemacht haben. So mancher der Schachspieler hat nur noch zwei Zähne im Mund. Der Ruf des medizinischen Systems ist nicht allzu gut in Serbien.

Die Erinnerungskultur in Serbien bleibt zweigeteilt. Diejenigen, die die Titozeit noch kennen und sich nostalgisch einer besseren Vergangenheit hingeben, und die Jüngeren, die nur das Serbien in seiner nationalistischen Selbstüberschätzung nach den Achtzigerjahren kennengelernt haben. Von den Alten haben erstaunlich viele Milosevic gewählt. Das hat nicht nur mit dem fatalistischen Glauben an die Kraft der Mächtigen zu tun. Geschickt hatte Milosevic bei seinem Aufstieg an die Spitze der Serbischen Kommunistischen Partei die Kaderlogik gepflegt und mit seiner nationalistischen Rhetorik die Opferrolle Serbiens mit dem formalen Fortbestand des alten Jugoslawiens verbunden. Es ist heute doppelt schwer für einen Westler nachzuvollziehen, wie diese Allianz der Erinnerung immer noch die Gesellschaft zusammenhält. Und es ist ein Trugschluss, dass sich mit der EU-Integration der Nationalismus auflösen wird.

 

Städtebaulich überwiegen im Zentrum Belgrads die Errungenschaften Titos. Die direkten Relikte Milosevics reduzieren sich auf ein paar grün-metallene Spiegelfassaden. Sein Staklenac, was so viel wie Glashäuschen bedeutet, ist eine hässliche Ecke im Zentrum, eine missglückte Einkaufspassage. Die eigentlichen Symbolbauten sollten nicht im Zentrum, sondern am Rand von Novi Belgrad entstehen. Hier wollte Milosevic die Welt beeindrucken. Fährt man über die breite Gazella-Brücke Richtung Novi Belgrad, sieht man zuerst das Hotel Continental, einst Hotel Belgrad Intercontinental, bis es die Lizenzgebühren für den Namen nicht mehr zahlen konnte; da ließ man einfach die ersten vier Buchstaben entfernen.

In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich die grün-metallenen Fassaden der Delta-Holding. Mit bissigem Humor sagt man in Belgrad: »Kosovo ist Serbien ? aber Serbien ist Delta.« Wer dieses Land in seinen ökonomischen Zwängen verstehen will, kommt an diesem Konzern nicht vorbei. Miroslav Miskovic war unter Milosevic kurz stellvertretender Ministerpräsident und bekam irgendwann die exklusiven Importrechte für Luxusautos. Mit diesem Schlüsselgeschäft begann er seine Unternehmungen aufzubauen, profitierte von günstigen Privatisierungen und machte mit seiner Delta Bank gute Geschäfte. Es gab unzählige Wege in der Inflationszeit von derselben zu profitieren. Mit dem Auto waren Kleinkriminelle in der Hyperinflationszeit unterwegs und versuchten, die zeitliche Differenz der Kursanstiege zwischen der ungarischen Grenze und Belgrad mit einem schnellen Auto zu unterbieten. Mit Kofferraumladungen voll Geld fuhren sie zwischen den beiden Märkten hin und her. Oder man hatte eine Bank, mit der man über raffinierte Darlehensgeschäfte ganz andere Renditen erzielen konnte. Wie diese ominösen Bankgeschäfte im Detail funktionierten, darüber zerbrechen sich heute noch die Experten den Kopf.

Die Bank ist längst verkauft, aber die Delta-Holding erwirtschaftet ein Zehntel des Bruttoinlandsproduktes von Serbien. In manchen Bereichen des Einzelhandels hält Miskovic Anteile von 70 Prozent. Die Monopolstellung in den Supermärkten hat frappierende Auswirkungen. Schaut man sich die Preise in den Ladenketten an, fragt man sich, wie man mit dem derzeitigen Netto-Durchschnittseinkommen in Serbien von 334 Euro überhaupt eine Familie ernähren kann. Viele Produkte aus Serbien werden in Supermärkten in Montenegro günstiger angeboten. Ohne eigenen Paprikaanbau und Bauernmärkte würde es sehr eng für den größten Teil der Bevölkerung in Belgrad.

Miskovic war klug genug, sich nach dem Sturz von Milosevic mit den neuen Politikern zu arrangieren. So wie es in den Neunzigern üblich wurde, ist er auch heute an der Parteienfinanzierung beteiligt. Fährt man durch die Peripherie von Belgrad, fällt im Vergleich zu anderen osteuropäischen Metropolen auf, wie wenige ausländische Firmen präsent sind. Solange Serbiens Tycoons dies zu verhindern wissen, wird sich daran nichts ändern. Die Verzerrung des Wettbewerbs ist dabei nicht alles, denn auch die Kartellbehörde, die Antikorruptionsagentur, Stadtverwaltungen, Steuerbehörden und die Justiz unterliegen dem Einfluss der Politik, die wiederum dem Einfluss der Oligarchen unterliegt. Wie heißt es kurz und bündig: »Die Regeln in Serbien werden nicht von Politikern gemacht.«

 

Es ist auffällig, wie viele Medien es in Serbien gibt. Die jüngste Medienanalyse der EU zählt 517 Printmedien, 193 registrierte Radiostationen, davon 158 lokale, die Piratensender nicht mitgezählt. Es wird auf die zukünftige Auswirkung der Digitalisierung in Hinsicht regionaler Berichterstattung und zunehmende Qualitätseinbußen durch marginale Gehälter der Journalisten hingewiesen.

Die Aufregung um das Ausscheiden des WAZ-Konzerns wirft hingegen ganz andere Fragen auf. Anders als in anderen Balkanstaaten hat man den Einfluss der Wirtschaftsmagnaten und ihrer Hintermänner unterschätzt. Der Spott der Öffentlichkeit ist nicht verwunderlich, betrachtet man die Protagonisten, mit denen die WAZ sich am Zeitungsmarkt beteiligen wollte. Man versuchte über Mittelsmänner an die Anteile der Zeitung Vecernje Novosti zu kommen, nachdem man schon mit 50 Prozent an der Politika, dem Flaggschiff des Belgrader Journalismus, beteiligt war. Die Mittelsmänner waren die Bosse des Zigarettenschmuggels wie Stanko Subotic und eben jener Milan Beko, der jetzt in Serbien wegen Geldwäsche angeklagt wird. Man sieht sich jetzt von der serbischen Regierung getäuscht. Auf das Spiel mit den Strohmännern haben sie sich allerdings selbstverantwortlich eingelassen ?= und verloren.

Schaut man sich die Besitz- und Vertriebsstrukturen sowie das Anzeigengeschäft Serbiens an, muss man sich fragen, wie sich bei diesen Monopolverhältnissen eine freie Presse weiterentwickeln soll. Die Besitzanteile der Medien sind allesamt mit den Parteien oder staatlichen Institutionen verwoben. Dies wird stillschweigend vorausgesetzt, wenn man vom Engagement auf dem Balkan berichtet. Berücksichtigt man die Tatsache, dass der Anzeigen- und Vertriebsmarkt in wenigen Händen liegt und dass sowohl Berater des Präsidenten als auch der Belgrader Bürgermeister Dragan Djilas über ihre Firmen direkt daran beteiligt sind, kann man sich gut vorstellen, wie in Serbien Druck auf Verleger ausgeübt wird. Der Kreislauf der Einflussnahme von Wirtschaft, Politik und Medien in Serbien dient in erster Linie der Wahrung der Interessen der Tycoons. Im Vergleich dazu hat Bulgarien transparentere Verhältnisse. Auf den ersten Blick ist die WAZ diesem Spiel exemplarisch zum Opfer gefallen. Dass die WAZ von vornherein nur an der Rendite aus dem Anzeigengeschäft interessiert gewesen sein mag, kann ihr keiner vorwerfen. Fraglich ist, weshalb man vonseiten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD; vgl. Der Westen, 24.4.09) die WAZ-Geschäfte in Südosteuropa unterstützt hat, wenn man berücksichtigt, dass diese Beteiligungen an strikte Bedingungen demokratischer Strukturen geknüpft sind.

 

Als man in Belgrad begann, die Straßennamen aus der Tito-Zeit umzubenennen, meldete sich irgendwann der russische Botschafter. Ihm ging die Säuberung der Vergangenheit zu weit, denn der Umbenennung fielen auch viele Namen von Generälen der Roten Armee zum Opfer.

Es ist beinahe schon eine Ironie der Geschichte, dass eine Woche nach dem Kosovo-Urteil des Gerichtshofs in Den Haag die russischen Behörden melden, den lang gesuchten Bogoljub Karic gefasst zu haben, ihm aber politisches Asyl gewähren wollen. Karic war einst mit seinen Medienimperien und Mobilfunknetzen einer der reichsten und einflussreichsten Personen des Landes. Er hatte nur den Fehler begangen, die Einflussnahme seiner wirtschaftlichen Interessen zu weit zu treiben und direkt in die Politik einzusteigen. Bei den ersten Erfolgen im Kampf um die Präsidentschaft erinnerte sich das politische Establishment doch noch der Ungereimtheiten seines Aufstiegs. Damals waren die fragwürdigen Privatisierungen und Finanzierungen kein Thema. Als er jedoch gefährlich wurde, zog man sein Vermögen ein und verstaatlichte seine Unternehmen.

Karic ist in der russischen Diaspora nicht allein. Milosevics Witwe Mirjana Markovic und ihr Sohn Marko leben seit Jahren unbehelligt in Russland trotz serbischer Anklagepunkte. Moskau gibt sich zwar generell als 20Freund Serbiens, wenn es um das Völkerrecht und die Energiepolitik geht. Im August gab es allerdings eine Ohrfeige für Tadic. Als man den genauen Verlauf der Gasleitung mit Russland und Bulgarien erörtern wollte, gab es eine brüske Antwort aus Moskau, dass Serbien darüber nicht mitzureden hätte. Letztlich ging es Russland immer um eine günstige Balance zwischen den Kräften des Balkans und nicht um die bedingungslose Unterstützung des slawischen Bruderstaates. Das war im 19. Jahrhundert so, und das muss man sich heute in Serbien ein weiteres Mal eingestehen. Außer im Nordkosovo sieht man nirgends mehr Schilder »Russland ist mit uns«. Schon zu Djindjics Zeiten lernte Tadic die abgeklärte Haltung Moskaus zur DOS (dem parteipolitischen Bündnis gegen Milosevic) kennen. Ginge es nach Moskau, wäre in Belgrad wahrscheinlich noch immer die alte Garde an der Macht.

 

Nach dem Embargo gegen Serbien funktioniert ein freies Unternehmertum immer noch nicht so recht und »normale Karrieren« stehen meist auf wackligen Füßen. Das hat Folgen für die Orientierung der nationalistisch geprägten Jugend. Facebook und YouTube sind voll von obskuren Bekenntnissen. In Vierteln wie Banjica, Zemun oder Novi Beograd sind die Vorbilder unter der Bevölkerungsschicht der unter 30-Jährigen längst die Kriminellen. Es gibt ein T-Shirt, das mit einem Sprachspiel den schlechten Ruf des Viertels kultiviert: Munze konza/Zemun Zakan  (Zemun rules!). Es geht aber nicht nur um dieses Viertel, das durch die nach ihm benannte Mafia, Djindjics Mörder, traurige Berühmtheit erlangt hat.

Man muss nur in die ehemaligen Vorzeigeviertel des sozialen Wohnungsbaus gehen, wo früher die Mittelschicht ihre Wohnungen hatte. Heute lachen einen die Jugendlichen aus, wenn man sie fragt, warum sie nicht studieren. Das hat weniger mit den Kosten und dem finanziellen Risiko für die Familien zu tun. Das Prestige hat sich radikal geändert. Die Vorbilder sind längst nicht mehr der Vater, der einmal als stolzer Ingenieur in Titos Kombinaten an der Konstruktion von Flugzeugmotoren getüftelt hat. Nach dem ersten Zusammenbruch der Wirtschaft Anfang der Neunziger hat er die Familie notdürftig mit Taxifahren über Wasser gehalten. Mit kleinen Tricksereien als Kellnerinnen in einer Mafiabar der Innenstadt haben seine Töchter bereits damals mehr Geld verdient.

Die Schieflage in der Gesellschaft rührt an diesen Erinnerungen. Unter Milosevic war Serbiens anarchisches Wirtschaftsleben für angesehene Berufe ein Fanal. Für viele ergaben sich allerdings lukrative Geschäfte auf dem Schwarzmarkt. Das Embargo hat den unfreiwilligen Effekt gehabt, dass man sich an diese zum Teil nicht unbeträchtlichen Geschäfte gewöhnt hat, die heute zusehends unterbunden werden. Steuern und Strom wurden teils gar nicht bezahlt. Regulären Arbeitsverhältnissen ist man nur nachgegangen, um die Sozialversicherungsbeiträge zu sichern. Löhne werden bis heute nur dann ausgezahlt, wenn Geld in der Kasse ist. Manchmal über Jahre nicht. Wer heute einen Laden eröffnet, ist oft nach kurzer Zeit pleite, weil er mit den Abgaben und Nebenkosten nicht klarkommt, die jetzt der Staat vermehrt einzutreiben sucht. Die Stimmung ist deswegen nicht gut, wenn es um Reformen dieser Art geht.

 

Belgrad ist an vielen Ecken eine Baustelle. Die Stadt subventioniert die Renovierung von Fassaden zu 70 Prozent. Das regierende Bündnis im Rathaus versucht auch im Erscheinungsbild zu punkten. Belgrads Bürgermeister Dragan Djilas hat mehr als nur Erfahrung im Umgang mit den Medien. Er gründete in Tschechien die PR-Firma Multicom. Aus Multicom gingen später Fernsehshows wie »Big Brother« hervor.

In der Jevrejska 16, einem ehemaligen Kino in einem der schönen Häuser in der Altstadt, hat das Kulturzentrum Rex seinen Sitz. Bekannt für das unermüdliche Engagement für die Vermittlung moderner Kultur, mit unzähligen Konzerten, Theaterprojekten und Workshops, sorgte man in der Zeit der Milosevic-Regentschaft für die Gegenkultur. Zwar gehört man heute formal immer noch zu B92, dem ehemals unabhängigen Studentenradio, grenzt sich aber von dessen mittlerweile kommerzialisierter Programmausrichtung gerne ab.

Dusica Parezanovic, die unermüdliche Programmmacherin, hat fast nichts von ihrem Elan eingebüßt. Doch anstatt wie früher über avantgardistische Medienlabors zu sprechen, scheint der Städtebau in jüngster Zeit das Thema zu sein. Wenn sie über die Probleme elementarer Bürgerbeteiligungen und den Mangel an Bebauungsplänen spricht, wird der Mangel ziviler Partizipation in Serbien deutlich.

Wer in Serbien eine Wohnung kaufen will, muss sich schon sehr genau auskennen. Gerade windige Immobilienkontakte lassen sehr spät erst erkennen, dass der vermeintliche Eigentümer nur vorgibt, rechtmäßiger Besitzer zu sein. Nicht selten werden Wohnungen bis zu sechs Mal ohne tatsächliche Eigentumsübertragung verkauft. Das Geld ist trotzdem weg. Sechs Familien, die für ihr restliches Leben ruiniert sind.

Doch das Rex verfolgt weniger den Mietmarkt, es interveniert bei konkreten städteplanerischen Auswüchsen. Erst vor Kurzem hat man den Bau einer Shoppingmall verhindert, die nach halb legaler Planung mitten in eine Wohnanlage gesetzt werden sollte. Wie dieser Sisyphoskampf überhaupt gelingen kann? Angesichts zementierter Machtverhältnisse ist es doch utopisch, Gehör im Rathaus zu finden. Da zuckt ein kurzes Lachen über ihr sonst sehr kontrolliertes Gesicht. Man wisse schon, dass Belgrad bei seiner heiklen Verkehrslage sehr sensibel auf Blockaden und Sit-ins reagiere.

Die Vorreiterrolle auf dem Balkan haben allerdings die Studenten in Zagreb eingenommen. Auch dort geht es um städtebauliche Maßnahmen. In Zagreb wehrt man sich vehement gegen die Zerstörung des Blumenmarktes an der Varsavska. Der Protest gegen die nicht genehmigte Zerstörung zugunsten eines Baus für ein Einkaufszentrum sorgt im Juli für Riesenaufsehen. Selbst der kroatische Präsident Ivo Josipovic wirkte auf die Polizei ein. Es wird also sehr genau wahrgenommen, wie sich Protestformen in den Nachbarländern fortsetzen und übertragen lassen. Eine etwas andere Form der regional cooperation.

 

Topola in Zentralserbien. Ein Ausflug aufs Land, um dem Hitzestau des Molochs zu entkommen. Topola hat einen besonderen Mythos, lange bevor die Region Sumadija als Unterschlupf der Tschetniks galt. Die Königsstadt war das Zentrum der aufständischen Kämpfer Serbiens gegen die osmanischen Herrscher.

Seit Kurzem gibt es in einem Nachbarort ein kleines Freibad. Auffallend sind die orangenen Baikal-T-Shirts, die die Kellner tragen. Es handelt sich um kein öffentliches Schwimmbad, sondern um das Lieblingsprojekt eines Privatunternehmers, der in Russland sein Einkommen erwirtschaftet. Die Bezahlung ist jedoch nicht stabil. 50 Euro für die letzten vier Wochen. Mehr sei nicht drin. Bei einer nächtlichen Fahrt im Yugo entlädt sich endlich das Gewitter über Serbien. Und während das klapprige Auto seinen Weg durch die Regenmassen fräst, erfährt man, dass der Fahrer seit Monaten von seiner Firma ebenfalls kein Gehalt bekommen hat. Sie sind auf den Import von Gebrauchtwagen spezialisiert, in den Neunzigern ein lukratives Geschäft. Jetzt gibt es ? wie in anderen Balkanstaaten ?  das Verbot, Gebrauchtwagen älter als zehn Jahre zu importieren. Fiat produziert immer noch nicht im benachbarten Kragujevac, und so geht man zähneknirschend jeden Tag ohne Gehalt in die Firma, zahlt die Sozialabgaben, um die Rente nicht zu gefährden.

Die Wut gegenüber den Profiteuren im halbkriminellen Wirtschaftssektor wächst. Die Regierung Tadic versucht zwar mit einzelnen Aktionen in die Korruption einzugreifen ? jedoch nach einer auch für Insider undurchschaubaren Logik. Das fiskalische Ausbluten des Landes ist ein ernstes Problem. Zwar ist die Steuerpolitik im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten günstig, doch haben alle serbischen Großindustriellen ihre Firmen in Offshore-Paradiesen wie in Zypern, der Schweiz oder auf den Virgin Islands registriert. Schon zu Milosevics Zeiten sind immense Summen ins Ausland abgeflossen, die dem Staat neben den ausbleibenden ausländischen Direkt-Investitionen fehlen. Ein weiterer Grund der Flucht ins Ausland ist die Diskretion, die gerade von Geschäftsleuten mit politischen Verbindungen geschätzt wird. Sitzt die Firma im Ausland, ist es kaum nachzuweisen, welcher Politiker hinter dem neuen Eigentümer eines privatisierten Betriebes steht.

Der Visa-Erleichterung folgte ein kurzer euphorischer Aufschrei. Jenseits der Frage, warum man Bosnien ausgebremst hatte, war es ein Impuls, die mentale Blockade der jüngeren Generation zu durchbrechen. Die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen spricht Bände: Noch vor einem Jahr wartete man auf die Gay-Parade, um alles, was von der serbischen Norm abweicht, zu verprügeln. Dieselben Schwerenöter verließen Anfang Januar zum ersten Mal das Land für einen Besuch in Berlin, um sich unverhofft auf einer Tuntenparty wiederzufinden und dabei etliche Irritationen zu erleben.

Das sind Einzelfälle. Doch die Wirkung von Reisen mit konstruktiven Irritationen ist genau das, was die junge Generation nötig hat, die der homogen nationalistischen Vergiftung der Neunziger ausgesetzt war. Das Internet ändert daran nichts. YouTube und Facebook sind voll von reaktionären Postings. Vernetzung allein löst keinen Nationalismus auf. Oft zementieren sie eher stereotype Ansichten, da primär die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bedient werden muss. Es sind vor allem die Auslandsaufenthalte, die das Weltbild wieder öffnen und zeigen, dass die Welt mehr zu bieten hat als die ständige implizite Opferverklärung. Doch solange 70 Prozent der Studenten nicht einmal einen Pass besitzen und sich nur wenige Reisen in den Westen leisten können, bleibt es oft bei der serbischen Variante der Ballermann-Fahrten. Der letzte Fluchtpunkt dieses 20Sommers galt den Bars an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Dort ist der harte Alkohol noch billiger als in Belgrad.

 

Richtung Osten kommt man an den wilden Siedlungen vorbei, die die Flüchtlinge aus den Kriegen Serbiens aufnehmen mussten. In Belgrad wohnen heute mehr als 100 000 Menschen auf diese Art. Diese Teile der Stadt haben eine eigene Dynamik entwickelt. Im Jahr 1993 gab es 45 000 illegale Bauten. Heute schätzt man die Zahl auf 23 000.

Zu Gast bei einer serbischen Familie im Stadtteil Kaludjerica aus dem Süd-Kosovo wird der ganze Fluch, die Hoffnungslosigkeit und die Sackgassen der Neunzigerjahre klar. Man versteht, warum die Leute diese Zeit so schnell wie möglich vergessen oder hinter sich lassen wollen. Allein, die Kriegserinnerungen vergehen nicht. Nicht bei denen, die sie am eigenen Körper und an den verlorenen Geschwistern erlebten. Die Vermissten sind da, jeden Tag, weil sie nicht da sind. Verschwundene Familienangehörige sind Geister, die keine Ruhe lassen. Da hilft der lauteste Turbofolk nicht. Stattdessen zaghafte Erzählungen aus dem Krieg. Keine üblichen Soldatengeschichten, sondern Erzählungen, die aus Ellipsen bestehen. Auslassungen, das ist die Struktur der Vergangenheit, die man in Serbien überall findet.

Die Ideologie großserbischer ethnischer Vertreibungspolitik kommt hier auf ungewohnte Weise zu sich. Belgrad ist nicht mehr das, was es einmal war. Wie auch in Sarajevo beklagt man, dass sich die Zusammensetzung der Stadt vollkommen gewandelt hat und nichts mehr mit der früheren Stadtkultur zu tun hat. Die Bauern vom Land werden mit Skepsis beäugt. Die Bemerkungen der alteingesessenen Belgrader Bevölkerung über die Bewohner der Republik Srpska in Bosnien wie auch über die serbische Bevölkerung des Kosovo verdeutlichen, dass sie in Belgrad alles andere als willkommen sind. Der Zynismus der Aggressionspolitik von Milosevic schlägt auf die Bevölkerung von Belgrad zurück.

 

In den kleinen Räumen des Verlags Fabrika Kniga stapeln sich Kartons mit Büchern bis an die Decke. Der Verleger Dejan Ilic hat sich auf die Übersetzung und Herausgabe von Literatur über die Neunzigerjahre aus Serbien und Ex-Jugoslawien spezialisiert. Obwohl es etliche Literatur gibt, sind diese Themen in der serbischen Öffentlichkeit nicht präsent. Der Buchmarkt ist überschaubar in Serbien ? aus dem einfachen Grund, weil es ihn praktisch nicht gibt. Weniger als zehn Buchläden haben eine Auswahl von 2000 Titeln. Etwa 500 neue Buchtitel kommen in einem Zeitraum von drei Jahren neu auf den Markt. Most (Die Brücke), eine Art Amazon Serbiens, existiert zwar, kann aber allein nicht existieren. Die Verleger sind auf die Eingriffe des Staates in den Buchmarkt angewiesen.

Unser Gespräch setzt noch einmal bei der Sicht auf die Verbrechen unter Milosevic an. Ilic nahm an der Diskussionsveranstaltung über Srebrenica teil, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen hatte. Er betont die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung ausländischer Medien und den innenpolitischen Diskussionen in Belgrad. Es gebe längst einen impliziten Konsens der offiziellen Elite, was die Verantwortung Serbiens für die Kriege angeht. Es geht um die Fragen der Ursachen und der Konsequenzen daraus. Vor allem an kritischen gesellschaftspolitischen Schriften, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, mangelt es. Eines der Themen, die er auch in den Radiobeiträgen als Autor von Pescanik verfolgt, sind die Reform der Kulturpolitik und die Revision der Schulbücher. Für den Verleger ein spannendes Feld, da es bei Ersterem keine transnationalen vergleichenden Ansätze, geschweige denn Literatur gibt. Zum Thema der Entgiftung der Schulbücher hat er einiges anzumerken. Solange sich nicht die Erziehung auf elementarer Ebene ändert, könne Tadic noch so oft nach Srebrenica fahren, ohne dass sich die alten Mythen auflösen.

 Ilics Herz hängt auch an der fiktionalen Literatur. »Fiction against a conflict or post-conflict society«, nennt er das. So hat Fabrika Kniga den Iran-Comic Persepolis in serbischer Übersetzung herausgebracht.

 

Kehrt man zum Ausgangspunkt des Spaziergangs am Ufer der Save zurück, steht man vor einem Stück Geschichte, die in jüngerer Zeit mehr Beachtung findet. Staro Sajmiste, das alte Messegelände, mit seinem Bauhausstil ist erst kaum zu erkennen, so überwuchert ist es vom Unkraut der vergangenen Jahre. Sajmiste beherbergte in den Pavillons der Messe das größte KZ unter der Besatzung der NS. Von hier gingen die Vernichtungsaktionen aus. Serbien war das erste Land Europas, das Hitler als »judenfrei« gemeldet wurde. Später wurden hier Roma und Partisanen festgehalten. Die kleine Gedenktafel zerfällt am Rande des Parks. Die Bewohner erregen sich über die Arbeiter des Grünflächenamts, die wieder einmal die Rasenmäher allzu nachlässig über das Gelände geführt haben.

Vom Ufer aus fällt eher ein anderes Mahnmal auf, das den serbischen Opfern, vornehmlich der Opfer der Ustascha im Zweiten Weltkrieg, gedenkt. Es wurde 1995 gebaut, nachdem die Nationale Gedenkstädte Jasenovac zurück in kroatische Hand gefallen war, erwähnt allerdings nicht die Judenverfolgung. Das ist nicht verwunderlich. Schon der Tito-Staat knüpfte in seinen antifaschistischen Gedenkritualen nicht an die Shoa an. Mit einem monumentalen Rad überstrahlt dieses Denkmal alles, während die Orte des Schreckens im Wildwuchs verschwinden. Im Hintergrund überragt das CeKa, das nach der NATO-Bombardierung wieder errichtete Hochhaus der Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die Szenerie.

Es ist weniger der bauliche Zustand des Sajmiste, der Wolfgang Klotz Kopfzerbrechen bereitet. In der Debatte über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auf dem Balkan und seine historischen Bedingungen liegt vieles brach, dominieren die Versäumnisse. Diese Epoche dient immer noch als Grundlage eines innerjugoslawisch verklärten, mythischen Geschichtsbildes. Das betrifft nicht allein die Suche nach dem Grab des Tschetnik-Führers Draza Mihailovic (1893?1946), das selbst von gemäßigten Medien zum »größten Geheimnis des 20. Jahrhunderts« gepusht wurde. Die Leiterin des Belgrader Historischen Archivs Branka Prpa kritisiert, der Staat würde sich in die Arbeit der Historiker einmischen, anstatt sich zu bemühen, die politischen Morde aus der jüngsten Vergangenheit aufzuklären. Prpa, geborene Kroatin, ist die Witwe des ermordeten Journalisten Slavko Curuvija. Dass man mit diesem Thema vermintes Gebiet betritt, musste Klotz schon gleich bei seinen ersten Tagen in Belgrad zur Kenntnis nehmen, als man ihm abriet, gewisse Diskussionen über die in Slowenien gefundenen Massengräber für eine breitere Debatte zu nutzen. Es bestünde Gefahr für Wind von der falschen Seite. Die orthodoxe Kirche könnte die Gräber in Slowenien für ihre nationalistischen Angriffe auf Kroatien nutzen. Die generelle Unterdrückung dieser Aufarbeitung zeigt aber, wie prekär es um die öffentliche Diskussionskultur generell steht.

Klotz verweist auf den slowenischen Autor Drago Jancar, der schildert, wie die Tito-Ära als mythologisches Märchen funktioniert, wofür Revolutionen und Diktaturen von Natur aus bestens prädestiniert seinen.

 

Wenn man Belgrad gen Westen verlässt, ist das letzte erhabene Gefühl die Fahrt über die Brücke, die den Blick auf Sajmiste erlaubt. Im Sommer steht man allerdings meistens im Stau. Es wird saniert. Der wachsende Verkehr verlangt längst weitere Übergänge über die Save. Die neu entstehende Most na Adi Ciganliji soll mit ihrer spektakulären Tragseilkonstruktion ein Prestigeobjekt werden. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Mit den 118 Millionen Euro hätte man gleich drei Brücken bauen können, mit den Kosten des gesamten Magistralhalbrings um Belgrad sogar eine komplette U-Bahn.

Doch wo immer in Serbien ein Streit entsteht, gibt es überraschende Wendungen. Mit China hat man jetzt einen Partner gefunden, mit dem eine weitere Brücke gebaut wird, der erste Neubau über die Donau seit dem Zweiten Weltkrieg, geschätzte Kosten 170 Millionen Euro. Geschäfte mit China haben ihre Besonderheit. Die Konstrukteure bringen das Geld gleich selber mit. Kredite ohne Aufforderung zur Haushaltssanierung oder Strukturreformen, natürlich auch ohne Ausschreibung. Serbische Medien sprechen von »afrikanischen Verhältnissen«. Die Sonne strahlt über dem Autoput. Serbien liegt südlicher, als man sich vorstellen kann.

 

 

Extra Kasten

 

Zum Tod von Biljana Kovacevic-Vuco

Der Tod der vielleicht bedeutendsten serbischen Menschenrechtsexpertin und Anwältin Biljana Kovacevic-Vuco lässt einige Fragen offen. Kovacevic, bis zu ihrem Tod die Präsidentin der Anwaltsvereinigung YuKom, führte in der Post-Milosevic-Zeit und bereits zuvor wie keine andere den zähen Kampf um zivile Standards. Nach dem Sturz von Milosevic kämpfte sie um die Öffnung der serbischen Stasi-Akten, womit sie naturgemäß scheitern musste. Sie verteidigte unzählige Menschen, die mit den Behörden Serbiens und den Machenschaften der Wirtschafts-Oligarchie in Konflikt geraten waren, Journalisten, die mundtod gemacht werden sollten, Roma, die der Willkür ausgesetzt waren. Manche nennen sie die »Politowskaja Serbiens«. Und so manchen vorschnellen Schergen konnte man mit dem Besitz ihrer Handynummer Respekt einflössen. Kovacevic-Vuco starb am 20. April infolge einer Sepsis. Dies war die letzte in einer langen Reihe von »Komplikationen« nach einer Nierentransplantation. Denn die Anwältin hatte bewusst auf jede privilegierte Behandlung im Hospital verzichtet. In der Todesanzeige, die die Böll-Stiftung in serbischen Zeitungen veröffentlichte, heißt es am Ende: Sie hat ihr ganzes Leben für dieses Land gearbeitet. Dieses eine Mal, da sie auf die Hilfe dieses Landes angewiesen war, wurde sie ihr nicht gewährt.

Drei Wochen nach ihrem Tod unterzog sich der seit sieben Jahren amtierende serbische Minister für Gesundheit einer Bandscheibenoperation in einem Münchner Klinikum, was den »Zorn des Volkes« auslöste und zu lauten Rücktrittsforderungen führte. Der Sprecher des Ministers ließ verlauten, dass nur das hohe ministeriale Pflichtbewusstsein den Patienten veranlasst habe, die Operation wieder und wieder hinauszuschieben, bis schließlich der medizinische Befund eine Spezialbehandlung notwendig machte.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2010