Eine Stadt, die schlecht eingenäht ist in ihren verschiedenen Vergangenheits-Schichten. Belgrad, »die Weiße«, erscheint dem politischen Reisenden als ein Synonym für das balkanische Drama sich ständig verstellender Exzentrik. Ein Konglomerat aus unbearbeiteter Verantwortung für die Kriege, sozialer Stagnation und wirtschaftlichen Mafia-Strukturen, die in die Politik hineinreichen. Ein gedemütigter, aber latenter Nationalismus. Die Ausgrenzungsmechanismen in den Flüchtlingssiedlungen. Die Keime zivilgesellschaftlicher und demokratischer Aktivität. Szenen aus einer Stadt auf dem Weg nach Europa.
Wenn man von Südosten
nach Belgrad fährt, also nicht aus Mitteleuropa anreist, sondern von Kosovo oder Mazedonien her den Weg in
die Hauptstadt sucht, überquert die Autobahn einen Hügel nahe Kaludjerica. Völlig überraschend liegt einem Belgrad
zu Füßen. Am Abend wirft einem die Sonne in der Achse des »Autoputs« ihr
gleißendes Licht entgegen. Man ist geblendet und hält unweigerlich die Luft an
beim Blick über die Stadt an Donau und Save.
Doch für Verklärungen bleibt
keine Zeit. Schon geht es an den gewaltigen East-Gate-Towern vorbei, so als
hätte Hollywood einen neuen Science-Fiction-Prototyp testen wollen. Titos
eigentliches realsozialistisches Vermächtnis. Im Unterschied zu anderen osteuropäischen
Metropolen findet man im Zentrum wenige monumentale Denkmäler, meist stammen
sie aus der Zeit vor dem Bruch mit Stalin. Es ist der Wohnungsbau, der hier
auffällt. Rationale Ausnützung des Platzes in kleinen Einheiten, funktionale
Standards, irgendwie futuristischer als bei uns. Hellersdorf in Ost-Berlin
wirkt dagegen irgendwie phantasielos.
In Banjica neben den
Hochhäusern der »Fünf Idioten« läuft im Hochparterre der Fernseher.
Partizan Belgrad spielt um die Qualifikation für die Champions League.
Der Nachbarjunge ist erst 17, aber nebenberuflich Schiedsrichter. Es steht zwei
zu null, und man ist zufrieden, auch wenn die Hausgemeinschaft zur Hälfte
Anhänger von Roter Stern ist. Obwohl die Hauswände im Viertel überzogen
sind mit ultranationalen Bekenntnissen, empfängt die Familie den
Kosovo-Reisenden entspannt. Wie man so verrückt sein könne, mit so einem kleinen
Auto diese Strecke zu fahren.
Im Gegensatz zur Mehrheit
der Bevölkerung scheint hier der Kosovo kein großes Thema zu sein. Die Politik
solle endlich pragmatisch werden. Und letztendlich habe Serbien nichts vom
Kosovo. Man wüsste doch gar nicht, was man mit den Albanern anfangen solle und
es gäbe genug andere Probleme. Allein die Mieten, die durch gestiegene
Nebenkosten nicht unter 200 Euro lägen, sind ein viel präsenteres Thema.
Am nächsten Morgen in der
Innenstadt. Die Strahinjica Bana, die Ausgehmeile, ist noch leer. Im Volksmund heißt sie Silicon Valley.
Noch sind keine sponzoru?e unterwegs, die jungen Frauen auf der Suche
nach einem Freund mit Auto und mehr. Der neue Stil der Bar-Lounges ist
allgegenwärtig. Neben effizienter Kaffeehauskultur hat es immer etwas von einer
Möbelhausausstellung. Die Cafés in Belgrad, Zagreb und Sarajevo ähneln sich zunehmend.
Früh am Morgen ist es der ideale Platz zum Start in den Tag.
Wolfgang Klotz, der Leiter
der Heinrich-Böll-Stiftung in Südosteuropa, ist versenkt in seine
Zeitungslektüre. Es geht immer noch um die WAZ-Affäre, die sich bei all
den Details, die man in den deutschen Blättern nicht findet, anhört wie das Who
is Who der Balkanmafia. Doch auch bei der Außenpolitik Serbiens, dem Hin
und Her mit der Türkei oder der aussichtslosen Haltung zum Kosovo fällt auf,
dass es immer einen unberechenbaren Faktor mehr zu berücksichtigen gilt, als in
den Strategiepapieren der Think Tanks in Brüssel, Paris oder Berlin aufscheint.
So liest sich das neue regional cooperation wie ein Gummibegriff, der
sich in Brüssel anders buchstabiert als in Belgrad oder Zagreb. Vor Kurzem
wurde zwischen den beiden Ländern eine Vereinbarung getroffen, dass in den
jeweiligen Botschaften der Länder Listen ausliegen sollen,
die die Personen aktueller Anklagen auflistet. So kann man vor der Reise in das
Nachbarland sichergehen, dass man bei der Einreise nicht verhaftet wird.
Während sich der
internationale Nachrichtenverkehr in den letzten Jahren auf die Auslieferung
der Kriegsverbrecher und die Kosovofrage konzentrierte, lief die innenpolitische
Demontage Serbiens auf Hochtouren. Vor allem die Folgen der serbischen Kleptokratie in den Neunzigerjahren werden
unterschätzt.
»Nachdem in den
Neunzigerjahren die Politik Serbiens um Fragen kreiste, die nicht zu lösen sind
(Außenpolitik), wird es höchste Zeit, die liegen gebliebene Probleme endlich
anzugehen: die Innenpolitik«, bringt der Verleger Dejan Ilic es auf den Punkt.
Srebrenica ist ein wichtiges, sehr starkes Symbol für die Schrecken und die
Verklärung in Serbien. Die Herausforderungen liegen jedoch in einer noch viel
tiefer greifenden Aufarbeitung der Neunzigerjahre. Der Druck der EU ist dabei
ein nicht zu unterschätzender positiver Faktor. Ilic ist Teil der »kritischen
Masse« in Belgrad, die sich selbst seit der Opposition gegen Milosevic »das
andere Serbien« nennt und sich kritisch mit der gesellschaftspolitischen
Lage auseinandersetzt. Der überwiegend große Teil der Gesellschaft (»Serbien
1«) blockiere bei aller Rhetorik des Konsenses eines Wegs nach Europa
allerdings die zivilgesellschaftliche Entwicklung, ist verstrickt in
verschiedene dubiose Interessenbereiche und hat an den längst überfälligen
Reformen kein ernsthaftes Interesse. Das Engagement ist nach dem Sturz von Milosevic
immer wieder stecken geblieben.
Das Vertrauen in die
Parteien sei nicht nur beim anderen Serbien (»Serbien 2«) vollkommen ruiniert.
Milosevic hat Staat und Wirtschaft so ausgehöhlt, dass jahrelang nur mafiöse
parallelgesellschaftliche Überlebensstrategien Orientierung boten. Wer sich
nicht einlässt, ist entweder verdächtig oder verdient Respekt. Der Staatsrechtler
Vojin Dimitrijevic nennt das Engagement der Böll-Stiftung in Belgrad mittlerweile
strani faktor ? der fremde
Faktor. Hinter dem Ehrentitel liegt die schwierige Aufgabe, wie man die
Diskussionskultur eines zivilgesellschaftlichen Engagements überhaupt zum Leben
erweckt. Mitstreiter gibt es formal gesehen genug. Eine NGO wie das Helsinki
Committee besticht durch kontinuierliche Arbeit. Auch die sonstigen Orte des
kritischen Diskurses sind keine Feigenblätter. Die Frage ist nur, wie kleine
Zirkel den Radius von »Serbien 2« überschreiten können.
Das »Center for Cultural
Decontamination« in der Bircaninova 21 ist ein Ort, wie man ihn sich für einen
lebendigen Austausch nicht besser vorstellen kann. In einer Art Laube hinter
der früheren DDR-Botschaft versteckt finden in dem Pavillion seit zehn Jahren
Workshops, Seminare und internationale Veranstaltungen statt. Es gibt die
Intellektuellen, die eitlen und uneitlen Akademiker, und es gibt die Kulturetats
der Botschaften, die diese Einrichtung mit Veranstaltungen unterstützen. Nur wo
ist der Elan der Protestbewegung von Otpor hin, die Milosevic zum
Abdanken gezwungen hat?
Am Nationalismus kommt man
nicht vorbei. Das betrifft nicht nur die unmittelbaren Ausbrüche, wenn zum
Beispiel die United Forces, die radikalen Fußballfans des Viertels, sich
Schlägereien im Schwimmbad liefern. Kein spezifisches Problem nur dieses
Milieus. Immer noch sind 57 Prozent der Bevölkerung in Serbien gegen eine
Inhaftierung und Auslieferung von Mladic. Nur 33 Prozent unterstützten die vom
Begriff »Genozid« bereinigte Erklärung des Parlaments zur Entschuldigung für
Srebrenica (siehe auch Ernst Köhler: »Das letzte Wort«, Kommune 4/10).
Immer noch versteht ein großer Teil der Bevölkerung nicht, weshalb die
Verbrechen Milosevics im Kosovo einen so irreversiblen Fehler darstellen, dass
es keine andere Wahl gibt, als die Abspaltung zu akzeptieren. Ein kleiner, aber
zunehmend wachsender Teil der Bevölkerung versteht, dass man nur mit einer gewissen
»Pragmatik« in die EU kommt. Dass es irreversibel nur in Richtung Europa geht ?
schon aus rein ökonomischen Gründen ?, scheint zumindest in Belgrad inzwischen
mehrheitsfähig zu sein.
Vom Westufer der Save hat
man einen prächtigen Ausblick auf die Dächer der Stadt. Was die Weltkriege nicht zerstört haben, wurde immer wieder überbaut.
Vor allem vom türkischen Antlitz wollte man sich schnell befreien. Was den
Spaziergänger aus dem Westen fasziniert, ist die Vielzahl von Baustilen, die
dem Betrachter die Orientierung verweigert. Kaum vorzustellen, dass bei diesem
Konglomerat der Stile sich noch vor 100 Jahren die Stadt eher wie ein
beschaulicher orientalischer Markt gezeigt hat. Schaut man über die Dächer der
Stadt mit Hochhäusern, Kirchen, Kafanas und
modernen Repräsentationsbauten, bleibt das Auge weniger an den Schriftzeichen
der Kreditinstitute und Bierwerbung hängen, als an der neuen Kathedrale des
heiligen Sava. Die Rundkuppel gehört zu den größten Gotteshäusern der Welt.
Dagegen wirkt die Kathedrale des heiligen Erzengels Michael,
die sich über dem älteren Teil der Stadt erhebt, wie eine beschauliche Dorfkirche.
Die Sveti Sava, deren Fassade erst 2007 fertiggestellt wurde, ist jüngst einem
neuen Beleuchtungskonzept unterzogen worden. Sie ist so imposant, dass sie es
mit dem Weißen Haus in Washington aufnehmen könnte. Der Einfluss der orthodoxen
Kirche hat wie in Russland massiv zugenommen. In der Geschichte Serbiens ist
die Kirche die Mitbegründerin der Nation gewesen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens
und den Kriegen in Bosnien und Kroatien hielt sie länger als Milosevic an einer
großserbischen Idee fest. Ganz zu schweigen vom Kosovo.
Von einem Podest aus sähe
man hinter diesem Symbolbau das Stadion von Partizan Belgrad. Diese Nähe ist
städtebaulichem Zufall geschuldet. Die Auswüchse ideologischer Verbindung
hingegen nicht. Die radikalen Ultras und die überwiegend jungen Mitglieder der
jetzt zum Teil verbotenen kleriko-faschistischen Organisationen wie »Obraz«
waren neben ein paar vereinzelten nationalistischen Intellektuellen die
Einzigen, die gegen die Festnahme von Karadzic in Belgrad demonstrierten. Noch
ist nicht geklärt, wer am 24. Juli den Journalisten Teofil Pansic nachts im Bus
in Zemun mit einer Eisenstange zusammenschlug. Zwei Tage nach dem für die
Nationalisten enttäuschenden Ausgang des Den Haager Richterspruchs waren es
wohl keine verwirrten Einzeltäter.
Der Prozess um Zoran
Djindjics Ermordung wirft immer noch mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Es war ein Irrtum zu glauben, man könnte mit der Mafia
verhandeln. Letztendlich kontrollierte der Geheimdienst ihn und nicht umgekehrt,
wie die Reportagen der TV-Journalistin Brankica Stankovic in den Sendungen von Insajder
einer breiteren Öffentlichkeit verdeutlichen.
Nata Mesarovic übernahm
damals die schwierige Aufgabe, den Prozess vor einem Sondergericht zu führen,
nachdem ihr Kollege überraschend zurückgetreten war. Heute ist sie oberste
Richterin von Serbien. Die im Vorjahr durchgeführte Justizreform und die
Überprüfung der Richter und Staatsanwälte fiel für die Öffentlichkeit enttäuschend
aus. Die Gelegenheit, sich der unter dem Regime von Slobodan Milosevic
kompromittierten Richter und Staatsanwälte zu entledigen, wurde wegen
mangelnder Transparenz des Wahlverfahrens vertan. Über 800 Richter und
Staatsanwälte, die in ihren Ämtern nicht erneut bestätigt wurden, haben sich
unterdessen an das Verfassungsgericht gewand. László Végel schreibt dies dem
politischen Zugeständnis Tadics an seinen Koalitionspartner, der
Ex-Milosevic-Partei Sozialistische Partei Serbiens zu, die sich ihrer Klientel
verpflichtet sieht (siehe László Végel: »Serbiens europäischer Optimismus.
Letters from Serbia«, in Kommune 2/10).
Es bleibt, die Einzelfälle
kritisch zu betrachten. Die juristische Auseinandersetzung um die Angriffe auf
Brankica Stankovic macht die widersprüchliche Rechtsprechung deutlich.
Stankovic beschäftigte sich in der Sendung 20Insajder schon länger mit
dem Sport und der speziellen Fankultur der Belgrader Clubs. Die Fans der großen
Clubs Partizan, Roter Stern und FK Rad, tragen seit langem »Ehrentitel« wie Grobari (Totengräber) oder Delije
(Die Mutigen). Nicht erst seit dem Tod des brutal zusammengeschlagenen
französischen Fußballfans Brice Taton sind Gewaltexzesse mehr als nur ein
Ventil halbstarker Jugendkultur. Auch wenn es jeder weiß, rührt man nicht
ungestraft an den Verbindungen der so unterschiedlichen nationalistischen Gesellschaftsgruppen.
Die Sendung von Stankovic über die ultranationalistische Szene und ihre Nähe zu anderen Teilen der Gesellschaft wurde ihr von den
entsprechenden Kreisen übel genommen. Die Drohungen bei einem Fußballspiel im
vergangenen Herbst, bei der Sprechchöre skandierten, es könne ihr so ergehen
wie dem 1999 ermordeten Journalisten Slavko Curuvija, brachte die Sache vor
Gericht. Seit dem Tod von Brice Taton verhängt man exemplarisch hohe Strafen.
Stankovic erhielt Polizeischutz. Die Hooligans, die sie einzuschüchtern
versuchten, wurden allerdings in erster Instanz überraschend freigesprochen.
Erst nach massiven Protesten verschiedener Journalistenverbände wie NUNS oder
ANEM wurden vor einem Berufungsgericht die entsprechenden Bedrohungen geahndet.
Selbst die jungen
Touristen, die aus anderen osteuropäischen Städten den Party-Versprechungen der Metropole folgend am
Wochenende nach Belgrad fahren, fliehen vor der hochsommerlichen Hitze. Kaum
jemand ist im Park Kalemegdan an den Ständen, die Banknoten aus der
Hyper-Inflaftionszeit, Tschetnikmützen und Titopostkarten verkaufen. Die
Einzigen, die Ruhe im Park bei der alten Festung von Belgrad suchen und
ungestört ihrem täglichen Rhythmus folgen, sind die altkommunistischen Rentner,
die sich mit Kaffeetrinken und Schachspielen die Zeit totschlagen. Die alten
Männer lassen nicht viel Gutes an der gegenwärtigen Politik. Anlass für ihren
Spott findet sich genug. Im Laufe des Jahres wurden acht Chefärzte in
Krebsabteilungen verhaftet, weil sie mit hohen Dosen und falschen Diagnosen
Geschäfte gemacht haben. So mancher der Schachspieler hat nur noch zwei Zähne
im Mund. Der Ruf des medizinischen Systems ist nicht allzu gut in Serbien.
Die Erinnerungskultur in
Serbien bleibt zweigeteilt. Diejenigen, die die Titozeit noch kennen und sich
nostalgisch einer besseren Vergangenheit hingeben, und die Jüngeren, die nur
das Serbien in seiner nationalistischen Selbstüberschätzung nach den
Achtzigerjahren kennengelernt haben. Von den Alten haben erstaunlich viele
Milosevic gewählt. Das hat nicht nur mit dem fatalistischen Glauben an die
Kraft der Mächtigen zu tun. Geschickt hatte Milosevic bei seinem Aufstieg an
die Spitze der Serbischen Kommunistischen Partei die Kaderlogik gepflegt und
mit seiner nationalistischen Rhetorik die Opferrolle Serbiens mit dem formalen
Fortbestand des alten Jugoslawiens verbunden. Es ist heute doppelt schwer für
einen Westler nachzuvollziehen, wie diese Allianz der Erinnerung immer noch die
Gesellschaft zusammenhält. Und es ist ein Trugschluss, dass sich mit der
EU-Integration der Nationalismus auflösen wird.
Städtebaulich überwiegen im Zentrum Belgrads die Errungenschaften Titos. Die direkten Relikte Milosevics
reduzieren sich auf ein paar grün-metallene Spiegelfassaden. Sein Staklenac,
was so viel wie Glashäuschen bedeutet,
ist eine hässliche Ecke im Zentrum, eine missglückte Einkaufspassage. Die
eigentlichen Symbolbauten sollten nicht im Zentrum, sondern am Rand von Novi Belgrad
entstehen. Hier wollte Milosevic die Welt beeindrucken. Fährt man über die
breite Gazella-Brücke Richtung Novi Belgrad, sieht man zuerst das Hotel Continental,
einst Hotel Belgrad Intercontinental, bis es die Lizenzgebühren für den Namen
nicht mehr zahlen konnte; da ließ man einfach die ersten vier Buchstaben entfernen.
In unmittelbarer
Nachbarschaft befinden sich die grün-metallenen Fassaden der Delta-Holding. Mit
bissigem Humor sagt man in Belgrad: »Kosovo ist Serbien ? aber Serbien ist
Delta.« Wer dieses Land in seinen ökonomischen Zwängen verstehen will, kommt an
diesem Konzern nicht vorbei. Miroslav Miskovic war unter Milosevic kurz
stellvertretender Ministerpräsident und bekam irgendwann die exklusiven Importrechte
für Luxusautos. Mit diesem Schlüsselgeschäft begann er seine Unternehmungen
aufzubauen, profitierte von günstigen
Privatisierungen und machte mit seiner Delta Bank gute Geschäfte. Es gab
unzählige Wege in der Inflationszeit von derselben zu profitieren. Mit dem Auto
waren Kleinkriminelle in der Hyperinflationszeit unterwegs und versuchten, die
zeitliche Differenz der Kursanstiege zwischen der ungarischen Grenze und
Belgrad mit einem schnellen Auto zu unterbieten. Mit Kofferraumladungen voll
Geld fuhren sie zwischen den beiden Märkten hin und her. Oder man hatte eine
Bank, mit der man über raffinierte Darlehensgeschäfte ganz andere Renditen
erzielen konnte. Wie diese ominösen Bankgeschäfte im Detail funktionierten,
darüber zerbrechen sich heute noch die Experten den Kopf.
Die Bank ist längst
verkauft, aber die Delta-Holding erwirtschaftet ein Zehntel des
Bruttoinlandsproduktes von Serbien. In manchen Bereichen des Einzelhandels hält
Miskovic Anteile von 70 Prozent. Die Monopolstellung in den Supermärkten hat
frappierende Auswirkungen. Schaut man sich die Preise in den Ladenketten an,
fragt man sich, wie man mit dem derzeitigen Netto-Durchschnittseinkommen in
Serbien von 334 Euro überhaupt eine Familie ernähren kann. Viele Produkte aus Serbien
werden in Supermärkten in Montenegro günstiger angeboten. Ohne eigenen Paprikaanbau
und Bauernmärkte würde es sehr eng für den größten Teil der Bevölkerung in
Belgrad.
Miskovic war klug genug,
sich nach dem Sturz von Milosevic mit den neuen Politikern zu arrangieren. So
wie es in den Neunzigern üblich wurde, ist er auch heute an der Parteienfinanzierung beteiligt. Fährt man durch die
Peripherie von Belgrad, fällt im Vergleich zu anderen osteuropäischen
Metropolen auf, wie wenige ausländische Firmen präsent sind. Solange Serbiens
Tycoons dies zu verhindern wissen, wird sich daran nichts ändern. Die Verzerrung
des Wettbewerbs ist dabei nicht alles, denn auch die Kartellbehörde, die
Antikorruptionsagentur, Stadtverwaltungen, Steuerbehörden und die Justiz
unterliegen dem Einfluss der Politik, die wiederum dem Einfluss der Oligarchen
unterliegt. Wie heißt es kurz und bündig: »Die Regeln in Serbien werden nicht
von Politikern gemacht.«
Es ist auffällig, wie
viele Medien es in Serbien gibt. Die
jüngste Medienanalyse der EU zählt 517 Printmedien, 193 registrierte
Radiostationen, davon 158 lokale, die Piratensender nicht mitgezählt. Es wird
auf die zukünftige Auswirkung der Digitalisierung in Hinsicht regionaler
Berichterstattung und zunehmende Qualitätseinbußen durch marginale Gehälter der
Journalisten hingewiesen.
Die Aufregung um das
Ausscheiden des WAZ-Konzerns wirft hingegen ganz andere Fragen auf.
Anders als in anderen Balkanstaaten hat man den Einfluss der Wirtschaftsmagnaten
und ihrer Hintermänner unterschätzt. Der Spott der Öffentlichkeit ist nicht
verwunderlich, betrachtet man die Protagonisten, mit denen die WAZ sich
am Zeitungsmarkt beteiligen wollte. Man versuchte über Mittelsmänner an die
Anteile der Zeitung Vecernje Novosti zu kommen, nachdem man schon mit 50 Prozent an der Politika, dem Flaggschiff des
Belgrader Journalismus, beteiligt war. Die Mittelsmänner waren die Bosse
des Zigarettenschmuggels wie Stanko Subotic und eben jener Milan Beko, der
jetzt in Serbien wegen Geldwäsche angeklagt wird. Man sieht sich jetzt von der
serbischen Regierung getäuscht. Auf das Spiel mit den Strohmännern haben sie
sich allerdings selbstverantwortlich eingelassen ?= und verloren.
Schaut man sich die Besitz-
und Vertriebsstrukturen sowie das Anzeigengeschäft Serbiens an, muss man sich
fragen, wie sich bei diesen Monopolverhältnissen eine freie Presse
weiterentwickeln soll. Die Besitzanteile der Medien sind allesamt mit den
Parteien oder staatlichen Institutionen verwoben. Dies wird stillschweigend
vorausgesetzt, wenn man vom Engagement auf dem Balkan berichtet. Berücksichtigt
man die Tatsache, dass der Anzeigen- und Vertriebsmarkt in wenigen Händen liegt
und dass sowohl Berater des Präsidenten als auch
der Belgrader Bürgermeister Dragan Djilas über ihre Firmen direkt daran
beteiligt sind, kann man sich gut vorstellen, wie in Serbien Druck auf Verleger
ausgeübt wird. Der Kreislauf der Einflussnahme von Wirtschaft, Politik und
Medien in Serbien dient in erster Linie der Wahrung der Interessen der Tycoons.
Im Vergleich dazu hat Bulgarien transparentere Verhältnisse. Auf den ersten
Blick ist die WAZ diesem Spiel exemplarisch zum Opfer gefallen. Dass die
WAZ von vornherein nur an der Rendite aus dem Anzeigengeschäft interessiert
gewesen sein mag, kann ihr keiner vorwerfen. Fraglich ist, weshalb man
vonseiten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD; vgl. Der
Westen, 24.4.09) die WAZ-Geschäfte in Südosteuropa unterstützt hat,
wenn man berücksichtigt, dass diese Beteiligungen an strikte Bedingungen demokratischer
Strukturen geknüpft sind.
Als man in Belgrad
begann, die Straßennamen aus der Tito-Zeit umzubenennen, meldete sich irgendwann der russische Botschafter. Ihm
ging die Säuberung der Vergangenheit zu weit, denn der Umbenennung fielen auch
viele Namen von Generälen der Roten Armee zum Opfer.
Es ist beinahe schon eine
Ironie der Geschichte, dass eine Woche nach dem Kosovo-Urteil des Gerichtshofs
in Den Haag die russischen Behörden melden, den lang gesuchten Bogoljub Karic
gefasst zu haben, ihm aber politisches Asyl gewähren wollen. Karic war einst
mit seinen Medienimperien und Mobilfunknetzen einer der reichsten und einflussreichsten
Personen des Landes. Er hatte nur den Fehler begangen, die Einflussnahme seiner
wirtschaftlichen Interessen zu weit zu treiben und direkt in die Politik
einzusteigen. Bei den ersten Erfolgen im Kampf um die Präsidentschaft erinnerte
sich das politische Establishment doch noch der Ungereimtheiten seines Aufstiegs.
Damals waren die fragwürdigen Privatisierungen und Finanzierungen kein Thema.
Als er jedoch gefährlich wurde, zog man sein Vermögen ein und verstaatlichte
seine Unternehmen.
Karic ist in der russischen
Diaspora nicht allein. Milosevics Witwe Mirjana
Markovic und ihr Sohn Marko leben seit Jahren unbehelligt in Russland trotz
serbischer Anklagepunkte. Moskau gibt sich zwar generell als 20Freund Serbiens, wenn es um das Völkerrecht und die
Energiepolitik geht. Im August gab es allerdings eine Ohrfeige für Tadic. Als man den genauen Verlauf der Gasleitung mit Russland
und Bulgarien erörtern wollte, gab es eine brüske Antwort aus Moskau, dass
Serbien darüber nicht mitzureden hätte. Letztlich ging es Russland immer
um eine günstige Balance zwischen den Kräften des Balkans und nicht um die
bedingungslose Unterstützung des slawischen Bruderstaates. Das war im 19.
Jahrhundert so, und das muss man sich heute in Serbien ein weiteres Mal
eingestehen. Außer im Nordkosovo sieht man nirgends mehr Schilder »Russland ist
mit uns«. Schon zu Djindjics Zeiten lernte Tadic die abgeklärte Haltung Moskaus
zur DOS (dem parteipolitischen Bündnis gegen Milosevic)
kennen. Ginge es nach Moskau, wäre in Belgrad wahrscheinlich noch immer die
alte Garde an der Macht.
Nach dem Embargo gegen
Serbien funktioniert ein freies Unternehmertum immer noch nicht so recht und
»normale Karrieren« stehen meist auf wackligen Füßen. Das hat Folgen für die
Orientierung der nationalistisch geprägten Jugend. Facebook und YouTube sind
voll von obskuren Bekenntnissen. In Vierteln wie Banjica, Zemun oder Novi
Beograd sind die Vorbilder unter der Bevölkerungsschicht der unter 30-Jährigen
längst die Kriminellen. Es gibt ein T-Shirt, das mit einem Sprachspiel den
schlechten Ruf des Viertels kultiviert: Munze
konza/Zemun Zakan (Zemun rules!).
Es geht aber nicht nur um dieses Viertel, das durch die nach ihm benannte
Mafia, Djindjics Mörder, traurige Berühmtheit erlangt hat.
Man muss nur in
die ehemaligen Vorzeigeviertel des sozialen Wohnungsbaus gehen, wo früher die
Mittelschicht ihre Wohnungen hatte. Heute
lachen einen die Jugendlichen aus, wenn man sie fragt, warum sie nicht
studieren. Das hat weniger mit den Kosten und dem finanziellen Risiko für die
Familien zu tun. Das Prestige hat sich radikal geändert. Die Vorbilder sind
längst nicht mehr der Vater, der einmal als stolzer Ingenieur in Titos
Kombinaten an der Konstruktion von Flugzeugmotoren getüftelt hat. Nach dem ersten
Zusammenbruch der Wirtschaft Anfang der Neunziger hat er die Familie notdürftig
mit Taxifahren über Wasser gehalten. Mit kleinen Tricksereien als Kellnerinnen
in einer Mafiabar der Innenstadt haben seine Töchter bereits damals mehr Geld
verdient.
Die Schieflage in der
Gesellschaft rührt an diesen Erinnerungen. Unter Milosevic
war Serbiens anarchisches Wirtschaftsleben für angesehene Berufe ein Fanal. Für
viele ergaben sich allerdings lukrative Geschäfte auf dem Schwarzmarkt. Das Embargo
hat den unfreiwilligen Effekt gehabt, dass man sich an diese zum Teil nicht
unbeträchtlichen Geschäfte gewöhnt hat, die heute zusehends unterbunden werden.
Steuern und Strom wurden teils gar nicht bezahlt. Regulären Arbeitsverhältnissen
ist man nur nachgegangen, um die Sozialversicherungsbeiträge zu sichern. Löhne werden bis heute nur dann ausgezahlt, wenn Geld in
der Kasse ist. Manchmal über Jahre nicht. Wer heute einen Laden eröffnet,
ist oft nach kurzer Zeit pleite, weil er mit den Abgaben und Nebenkosten nicht
klarkommt, die jetzt der Staat vermehrt einzutreiben sucht. Die Stimmung ist
deswegen nicht gut, wenn es um Reformen dieser Art geht.
Belgrad ist an vielen
Ecken eine Baustelle. Die Stadt subventioniert die Renovierung von Fassaden zu 70 Prozent. Das
regierende Bündnis im Rathaus versucht auch im Erscheinungsbild zu punkten.
Belgrads Bürgermeister Dragan Djilas hat mehr als nur Erfahrung im Umgang mit
den Medien. Er gründete in Tschechien die PR-Firma Multicom.
Aus Multicom gingen später Fernsehshows wie »Big Brother« hervor.
In der Jevrejska 16, einem
ehemaligen Kino in einem der schönen Häuser in der Altstadt, hat das
Kulturzentrum Rex seinen Sitz. Bekannt für das unermüdliche Engagement für die
Vermittlung moderner Kultur, mit unzähligen Konzerten, Theaterprojekten und
Workshops, sorgte man in der Zeit der Milosevic-Regentschaft für die
Gegenkultur. Zwar gehört man heute formal immer noch zu B92, dem ehemals unabhängigen
Studentenradio, grenzt sich aber von dessen mittlerweile kommerzialisierter
Programmausrichtung gerne ab.
Dusica Parezanovic, die
unermüdliche Programmmacherin, hat fast nichts von
ihrem Elan eingebüßt. Doch anstatt wie früher über avantgardistische Medienlabors
zu sprechen, scheint der Städtebau in jüngster Zeit das Thema zu sein. Wenn sie
über die Probleme elementarer Bürgerbeteiligungen und den Mangel an
Bebauungsplänen spricht, wird der Mangel ziviler Partizipation in Serbien
deutlich.
Wer in Serbien eine Wohnung
kaufen will, muss sich schon sehr genau auskennen. Gerade windige
Immobilienkontakte lassen sehr spät erst erkennen, dass der vermeintliche
Eigentümer nur vorgibt, rechtmäßiger Besitzer zu sein. Nicht selten werden
Wohnungen bis zu sechs Mal ohne tatsächliche Eigentumsübertragung verkauft. Das
Geld ist trotzdem weg. Sechs Familien, die für ihr restliches Leben ruiniert
sind.
Doch das Rex verfolgt
weniger den Mietmarkt, es interveniert bei konkreten städteplanerischen
Auswüchsen. Erst vor Kurzem hat man den Bau einer Shoppingmall verhindert, die
nach halb legaler Planung mitten in eine Wohnanlage gesetzt werden sollte. Wie dieser Sisyphoskampf überhaupt gelingen kann? Angesichts
zementierter Machtverhältnisse ist es doch utopisch, Gehör im Rathaus zu
finden. Da zuckt ein kurzes Lachen über ihr sonst sehr kontrolliertes Gesicht.
Man wisse schon, dass Belgrad bei seiner heiklen Verkehrslage sehr sensibel auf
Blockaden und Sit-ins reagiere.
Die Vorreiterrolle auf dem
Balkan haben allerdings die Studenten in Zagreb eingenommen. Auch dort geht es
um städtebauliche Maßnahmen. In Zagreb wehrt man sich vehement gegen die
Zerstörung des Blumenmarktes an der Varsavska. Der Protest gegen die nicht
genehmigte Zerstörung zugunsten eines Baus für ein Einkaufszentrum sorgt im
Juli für Riesenaufsehen. Selbst der kroatische Präsident Ivo Josipovic wirkte
auf die Polizei ein. Es wird also sehr genau wahrgenommen, wie sich
Protestformen in den Nachbarländern fortsetzen und übertragen lassen. Eine
etwas andere Form der regional cooperation.
Topola in Zentralserbien.
Ein Ausflug aufs Land, um dem Hitzestau
des Molochs zu entkommen. Topola hat einen besonderen Mythos,
lange bevor die Region Sumadija als Unterschlupf der Tschetniks galt. Die
Königsstadt war das Zentrum der aufständischen Kämpfer Serbiens gegen die
osmanischen Herrscher.
Seit Kurzem gibt
es in einem Nachbarort ein kleines Freibad. Auffallend sind die orangenen
Baikal-T-Shirts, die die Kellner tragen. Es handelt sich um kein öffentliches
Schwimmbad, sondern um das Lieblingsprojekt eines Privatunternehmers, der in
Russland sein Einkommen erwirtschaftet. Die Bezahlung ist jedoch nicht stabil.
50 Euro für die letzten vier Wochen. Mehr sei nicht drin. Bei einer nächtlichen
Fahrt im Yugo entlädt sich endlich das Gewitter über Serbien. Und während das
klapprige Auto seinen Weg durch die Regenmassen fräst, erfährt man, dass der
Fahrer seit Monaten von seiner Firma ebenfalls kein Gehalt bekommen hat. Sie
sind auf den Import von Gebrauchtwagen spezialisiert, in den Neunzigern ein lukratives
Geschäft. Jetzt gibt es ? wie in anderen Balkanstaaten ? das Verbot, Gebrauchtwagen älter als zehn
Jahre zu importieren. Fiat produziert immer noch nicht im benachbarten Kragujevac, und so geht man zähneknirschend jeden Tag ohne
Gehalt in die Firma, zahlt die Sozialabgaben, um die Rente nicht zu gefährden.
Die Wut gegenüber den
Profiteuren im halbkriminellen Wirtschaftssektor wächst. Die Regierung Tadic
versucht zwar mit einzelnen Aktionen in die Korruption einzugreifen ? jedoch
nach einer auch für Insider undurchschaubaren Logik. Das fiskalische Ausbluten
des Landes ist ein ernstes Problem. Zwar ist die Steuerpolitik im Vergleich zu
den westeuropäischen Staaten günstig, doch haben alle serbischen Großindustriellen
ihre Firmen in Offshore-Paradiesen wie in Zypern, der Schweiz oder auf den Virgin
Islands registriert. Schon zu Milosevics Zeiten sind immense Summen ins Ausland
abgeflossen, die dem Staat neben den ausbleibenden ausländischen
Direkt-Investitionen fehlen. Ein weiterer Grund der Flucht ins Ausland ist die
Diskretion, die gerade von Geschäftsleuten mit politischen Verbindungen geschätzt
wird. Sitzt die Firma im Ausland, ist es kaum nachzuweisen, welcher Politiker
hinter dem neuen Eigentümer eines privatisierten Betriebes steht.
Der Visa-Erleichterung
folgte ein kurzer euphorischer Aufschrei. Jenseits der Frage, warum man Bosnien
ausgebremst hatte, war es ein Impuls, die mentale Blockade der jüngeren
Generation zu durchbrechen. Die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen spricht
Bände: Noch vor einem Jahr wartete man auf die Gay-Parade, um alles, was von
der serbischen Norm abweicht, zu verprügeln. Dieselben Schwerenöter verließen
Anfang Januar zum ersten Mal das Land für einen Besuch in Berlin, um sich
unverhofft auf einer Tuntenparty wiederzufinden und dabei etliche Irritationen
zu erleben.
Das sind Einzelfälle. Doch
die Wirkung von Reisen mit konstruktiven Irritationen ist genau das, was die
junge Generation nötig hat, die der homogen nationalistischen Vergiftung der
Neunziger ausgesetzt war. Das Internet ändert daran nichts. YouTube und
Facebook sind voll von reaktionären Postings. Vernetzung allein löst keinen Nationalismus
auf. Oft zementieren sie eher stereotype Ansichten, da primär die Zugehörigkeit
zu einer Gruppe bedient werden muss. Es sind vor allem die Auslandsaufenthalte,
die das Weltbild wieder öffnen und zeigen, dass die Welt mehr zu bieten hat als
die ständige implizite Opferverklärung. Doch solange 70 Prozent der Studenten
nicht einmal einen Pass besitzen und sich nur wenige Reisen in den Westen
leisten können, bleibt es oft bei der serbischen Variante der Ballermann-Fahrten.
Der letzte Fluchtpunkt dieses 20Sommers galt den Bars
an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Dort ist der harte Alkohol noch
billiger als in Belgrad.
Richtung Osten kommt man
an den wilden Siedlungen vorbei, die
die Flüchtlinge aus den Kriegen Serbiens aufnehmen mussten. In Belgrad wohnen
heute mehr als 100 000 Menschen auf diese Art. Diese Teile der Stadt haben eine
eigene Dynamik entwickelt. Im Jahr 1993 gab es 45 000 illegale Bauten. Heute
schätzt man die Zahl auf 23 000.
Zu Gast bei einer serbischen
Familie im Stadtteil Kaludjerica aus dem
Süd-Kosovo wird der ganze Fluch, die Hoffnungslosigkeit und die Sackgassen der
Neunzigerjahre klar. Man versteht, warum die Leute diese Zeit so schnell wie
möglich vergessen oder hinter sich lassen wollen. Allein, die
Kriegserinnerungen vergehen nicht. Nicht bei denen, die sie am eigenen Körper
und an den verlorenen Geschwistern erlebten. Die Vermissten sind da, jeden Tag,
weil sie nicht da sind. Verschwundene Familienangehörige sind Geister, die
keine Ruhe lassen. Da hilft der lauteste Turbofolk nicht. Stattdessen zaghafte
Erzählungen aus dem Krieg. Keine üblichen Soldatengeschichten, sondern
Erzählungen, die aus Ellipsen bestehen. Auslassungen, das ist die Struktur der
Vergangenheit, die man in Serbien überall findet.
Die Ideologie großserbischer
ethnischer Vertreibungspolitik kommt hier auf ungewohnte Weise zu sich. Belgrad
ist nicht mehr das, was es einmal war. Wie auch in Sarajevo beklagt man, dass
sich die Zusammensetzung der Stadt vollkommen gewandelt hat und nichts mehr mit
der früheren Stadtkultur zu tun hat. Die Bauern vom Land werden mit Skepsis
beäugt. Die Bemerkungen der alteingesessenen Belgrader Bevölkerung über die
Bewohner der Republik Srpska in Bosnien wie
auch über die serbische Bevölkerung des Kosovo verdeutlichen, dass sie in
Belgrad alles andere als willkommen sind. Der Zynismus der Aggressionspolitik
von Milosevic schlägt auf die Bevölkerung von Belgrad zurück.
In den kleinen Räumen des
Verlags Fabrika Kniga stapeln sich Kartons mit Büchern bis an die Decke. Der
Verleger Dejan Ilic hat sich auf die Übersetzung und Herausgabe von Literatur
über die Neunzigerjahre aus Serbien und Ex-Jugoslawien spezialisiert. Obwohl es
etliche Literatur gibt, sind diese Themen in der serbischen Öffentlichkeit
nicht präsent. Der Buchmarkt ist überschaubar in Serbien ? aus dem einfachen
Grund, weil es ihn praktisch nicht gibt. Weniger als zehn Buchläden haben eine
Auswahl von 2000 Titeln. Etwa 500 neue Buchtitel kommen in einem Zeitraum von
drei Jahren neu auf den Markt. Most (Die Brücke), eine Art Amazon
Serbiens, existiert zwar, kann aber allein nicht existieren. Die Verleger sind
auf die Eingriffe des Staates in den Buchmarkt angewiesen.
Unser Gespräch setzt noch
einmal bei der Sicht auf die Verbrechen unter Milosevic an. Ilic nahm an der
Diskussionsveranstaltung über Srebrenica teil, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung
eingeladen hatte. Er betont die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung
ausländischer Medien und den innenpolitischen Diskussionen in Belgrad. Es gebe
längst einen impliziten Konsens der offiziellen Elite, was die Verantwortung
Serbiens für die Kriege angeht. Es geht um die Fragen der Ursachen und der Konsequenzen
daraus. Vor allem an kritischen gesellschaftspolitischen Schriften, die sich
mit diesen Fragen beschäftigen, mangelt es. Eines der Themen, die er auch in
den Radiobeiträgen als Autor von Pescanik verfolgt, sind die Reform der
Kulturpolitik und die Revision der Schulbücher. Für den Verleger ein spannendes
Feld, da es bei Ersterem keine transnationalen vergleichenden Ansätze,
geschweige denn Literatur gibt. Zum Thema der Entgiftung der Schulbücher hat er
einiges anzumerken. Solange sich nicht die Erziehung auf elementarer Ebene
ändert, könne Tadic noch so oft nach Srebrenica fahren, ohne dass sich die
alten Mythen auflösen.
Ilics Herz hängt auch an der fiktionalen Literatur. »Fiction
against a conflict or post-conflict society«, nennt er das. So hat Fabrika
Kniga den Iran-Comic Persepolis in serbischer Übersetzung
herausgebracht.
Kehrt man zum
Ausgangspunkt des Spaziergangs am Ufer der Save zurück, steht man vor einem Stück Geschichte, die in
jüngerer Zeit mehr Beachtung findet. Staro Sajmiste, das alte
Messegelände, mit seinem Bauhausstil ist erst kaum zu erkennen, so überwuchert
ist es vom Unkraut der vergangenen Jahre. Sajmiste beherbergte in den Pavillons
der Messe das größte KZ unter der Besatzung der NS. Von hier gingen die
Vernichtungsaktionen aus. Serbien war das erste Land Europas, das Hitler als
»judenfrei« gemeldet wurde. Später wurden hier Roma und Partisanen
festgehalten. Die kleine Gedenktafel zerfällt am Rande des Parks. Die Bewohner
erregen sich über die Arbeiter des Grünflächenamts, die wieder einmal die
Rasenmäher allzu nachlässig über das Gelände geführt haben.
Vom Ufer aus fällt eher ein
anderes Mahnmal auf, das den serbischen Opfern, vornehmlich der Opfer der Ustascha im Zweiten Weltkrieg, gedenkt. Es wurde
1995 gebaut, nachdem die Nationale Gedenkstädte Jasenovac zurück in kroatische
Hand gefallen war, erwähnt allerdings nicht die Judenverfolgung. Das ist nicht
verwunderlich. Schon der Tito-Staat knüpfte in seinen antifaschistischen Gedenkritualen
nicht an die Shoa an. Mit einem monumentalen Rad überstrahlt dieses Denkmal
alles, während die Orte des Schreckens im Wildwuchs verschwinden. Im
Hintergrund überragt das CeKa, das nach der NATO-Bombardierung wieder
errichtete Hochhaus der Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei, die Szenerie.
Es ist weniger der bauliche
Zustand des Sajmiste, der Wolfgang Klotz Kopfzerbrechen bereitet. In der
Debatte über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auf dem Balkan und seine
historischen Bedingungen liegt vieles brach, dominieren die Versäumnisse. Diese
Epoche dient immer noch als Grundlage eines innerjugoslawisch verklärten,
mythischen Geschichtsbildes. Das betrifft nicht allein die Suche nach dem Grab
des Tschetnik-Führers Draza Mihailovic (1893?1946),
das selbst von gemäßigten Medien zum »größten Geheimnis des 20. Jahrhunderts«
gepusht wurde. Die Leiterin des Belgrader Historischen Archivs Branka Prpa
kritisiert, der Staat würde sich in die Arbeit der Historiker einmischen,
anstatt sich zu bemühen, die politischen Morde aus der jüngsten Vergangenheit
aufzuklären. Prpa, geborene Kroatin, ist die Witwe des ermordeten Journalisten
Slavko Curuvija. Dass man mit diesem Thema vermintes Gebiet betritt,
musste Klotz schon gleich bei seinen ersten Tagen in Belgrad zur Kenntnis
nehmen, als man ihm abriet, gewisse Diskussionen über die in Slowenien
gefundenen Massengräber für eine breitere Debatte zu nutzen. Es bestünde Gefahr
für Wind von der falschen Seite. Die orthodoxe Kirche könnte die Gräber in
Slowenien für ihre nationalistischen Angriffe auf Kroatien nutzen. Die
generelle Unterdrückung dieser Aufarbeitung zeigt aber, wie prekär es um die
öffentliche Diskussionskultur generell steht.
Klotz verweist auf den
slowenischen Autor Drago Jancar, der schildert, wie die Tito-Ära als
mythologisches Märchen funktioniert, wofür Revolutionen und Diktaturen von
Natur aus bestens prädestiniert seinen.
Wenn man Belgrad gen Westen
verlässt, ist das letzte erhabene Gefühl die Fahrt über die Brücke, die den
Blick auf Sajmiste erlaubt. Im Sommer steht man allerdings meistens im Stau. Es
wird saniert. Der wachsende Verkehr verlangt längst weitere Übergänge über die Save. Die neu entstehende Most na Adi Ciganliji
soll mit ihrer spektakulären Tragseilkonstruktion ein Prestigeobjekt werden.
Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Mit den 118 Millionen Euro hätte
man gleich drei Brücken bauen können, mit den Kosten des gesamten Magistralhalbrings um Belgrad sogar eine komplette U-Bahn.
Doch wo immer in
Serbien ein Streit entsteht, gibt es überraschende Wendungen. Mit China hat man
jetzt einen Partner gefunden, mit dem eine weitere Brücke gebaut wird, der
erste Neubau über die Donau seit dem Zweiten Weltkrieg, geschätzte Kosten 170
Millionen Euro. Geschäfte mit China haben ihre Besonderheit. Die Konstrukteure
bringen das Geld gleich selber mit. Kredite ohne Aufforderung zur Haushaltssanierung
oder Strukturreformen, natürlich auch ohne Ausschreibung. Serbische Medien
sprechen von »afrikanischen Verhältnissen«. Die Sonne strahlt über dem Autoput.
Serbien liegt südlicher, als man sich vorstellen kann.
Extra Kasten
Zum Tod von Biljana
Kovacevic-Vuco
Der Tod der vielleicht
bedeutendsten serbischen Menschenrechtsexpertin und Anwältin Biljana
Kovacevic-Vuco lässt einige Fragen offen. Kovacevic, bis zu ihrem Tod die
Präsidentin der Anwaltsvereinigung YuKom, führte in der Post-Milosevic-Zeit und
bereits zuvor wie keine andere den zähen Kampf um zivile Standards. Nach dem
Sturz von Milosevic kämpfte sie um die Öffnung der serbischen Stasi-Akten,
womit sie naturgemäß scheitern musste. Sie verteidigte unzählige Menschen, die
mit den Behörden Serbiens und den Machenschaften der Wirtschafts-Oligarchie in
Konflikt geraten waren, Journalisten, die mundtod gemacht werden sollten, Roma,
die der Willkür ausgesetzt waren. Manche nennen sie die »Politowskaja
Serbiens«. Und so manchen vorschnellen Schergen konnte man mit dem Besitz ihrer
Handynummer Respekt einflössen. Kovacevic-Vuco starb am 20. April infolge einer
Sepsis. Dies war die letzte in einer langen Reihe von »Komplikationen« nach einer
Nierentransplantation. Denn die Anwältin hatte bewusst auf jede privilegierte
Behandlung im Hospital verzichtet. In der Todesanzeige, die die Böll-Stiftung
in serbischen Zeitungen veröffentlichte, heißt es am Ende: Sie hat ihr
ganzes Leben für dieses Land gearbeitet. Dieses eine Mal, da sie auf die Hilfe
dieses Landes angewiesen war, wurde sie ihr nicht gewährt.
Drei Wochen nach ihrem Tod
unterzog sich der seit sieben Jahren amtierende serbische Minister für
Gesundheit einer Bandscheibenoperation in einem Münchner Klinikum, was den
»Zorn des Volkes« auslöste und zu lauten Rücktrittsforderungen führte. Der
Sprecher des Ministers ließ verlauten, dass nur das hohe ministeriale
Pflichtbewusstsein den Patienten veranlasst habe, die Operation wieder und
wieder hinauszuschieben, bis schließlich der medizinische Befund eine
Spezialbehandlung notwendig machte.