Neuer Klassenkampf?
Eher alte Fronten im
Philosophenstreit um den Sozialstaat
Am Anfang steht scheinbar
nur ein Philosophenstreit. Die rhetorische Figur vom grellen Gegensatz einer
Minderheit der Leistungsträger, die eine Mehrheit von Transferempfängern
mittels Zwangssteuern ernährt, geistert schon länger durch die Republik. Ebenso
wie die Gegenüberstellung von Produktiven und Unproduktiven grundierte auch das
Schlagwort einer »bürgerlichen Mehrheit« den Bundestagswahlkampf und sein Ergebnis.
Der Streit darüber, in welchen Verhältnissen wir leben, die Auseinandersetzung
um die Realitäten des Kapitalismus und der kapitalistischen Globalisierung,
wird auf den folgenden Seiten aus verschiedenen Perspektiven und mit
unterschiedlichen Annahmen geführt. Macht der Sozialstaat ansprüchlich und
passiv oder bildet er nicht eine Grundbedingung einer Republik
gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger? Wird der gesellschaftliche
Zusammenhalt von einem geldsaugenden übermächtigen Staat oder von einer schleichenden
bis manifesten Entsolidarisierung bedroht? Und was heißt da Ausschluss und
Integration – für wen und in was? Neuer Klassenkampf oder neue Perspektiven
jenseits der Klassenspaltung?
Sturm im Feuilleton: die
Renaissance der Klassengesellschaft
Die weltweite Finanzkrise
hat nicht nur die Frage nach der Systemrelevanz der Banken, sondern die
Systemfrage insgesamt aufgeworfen. Die Klassengesellschaft ist erneut ins Visier
geraten. Der Kapitalismus steht wieder einmal unter Generalverdacht. Es brodelt
im deutschen Feuilleton. Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag? Unter
dieser Überschrift bringt die FR eine Artikelserie über »Die soziale
Frage«. Die FAZ wartet mit einer Reihe kritischer Essays über »Die
Zukunft des Kapitalismus« auf. Selbst die liberale Zeit verkündet
unheilschwanger: »Der neue Klassenkampf bricht los: Warum wir nicht länger von
Gleichheit reden sollten«. Und in der Kommune sammeln sich die Belege
für eine »Rückkehr der Klassengesellschaft«.
Peter Lohauß kommt in dieser
Zeitschrift gar zum Schluss, dass »die große Bereicherung für wenige und die
große Verarmung für so viele in der Periode der rot-grünen Koalition zwischen
1998 bis 2005 eingeleitet« worden, die Weichenstellung für die neue
Klassengesellschaft demzufolge unter einer sozialdemokratisch geführten
Regierung erfolgt sei. Für die gesellschaftliche Spaltung soll ausgerechnet
jene Regierung verantwortlich sein, die mit der Agenda 2010 und einem
republikanischen Staatsbürgerrecht doch immerhin einiges für den Zusammenhalt
einer auseinanderklaffenden Gesellschaft getan hatte. Zur Erinnerung: Die unter
dem Druck einer rapide steigenden Arbeitslosigkeit eingeleiteten Sozial- und
Arbeitsmarktreformen trugen immerhin dazu bei, dass die Zahl der Arbeitslosen
in Deutschland erheblich zurückging (von 4,4 Millionen 1997 auf etwa 3
Millionen 2008) mit der Folge, dass entsprechend weniger Menschen auf Transferleistungen
angewiesen waren. Und die Aussicht auf einen deutschen Pass für Menschen, denen
bisher gesellschaftliche Anerkennung als Staatsbürger verweigert worden war, obwohl
sie bereits in der dritten Generation in Deutschland lebten und arbeiteten? Sie
sorgte für einen Schub bei der Integration von Immigranten samt ihren Familien,
indem sie endlich eine über Jahrzehnte hinweg verfehlte Einwanderungspolitik
korrigierte, unter deren desintegrierenden Folgen die Gesellschaft immer noch
leidet.
Insofern könnte man mit
Norbert Bolz der deutschen Sozialdemokratie bescheinigen, sie habe im
»wohltemperierten Sozialstaat« (vom »totalen Wohlfahrtsstaat« unterscheidet
sich dieser, Bolz zufolge, vor allem durch das Maß seiner Fürsorge) all das
verwirklicht, was der gescheiterte Sozialismus an vernünftigen Forderungen
enthielt, und den Kapitalismus dadurch sozialer und humaner gemacht. Das sieht
die Linkspartei, selbst aus der Erbmasse des gescheiterten Sozialismus
stammend, freilich ganz anders, wenn sie derselben Sozialdemokratie vorwirft,
sie habe unter der Regierung Schröder den systematischen Abbau des Sozialstaats
bis zur sozialen Kälte betrieben. Spätestens nach der verlorenen Bundestagswahl
hat die SPD diesen Vorwurf angenommen, konzeptionell mit einem Linksruck
beantwortet und damit begonnen, die eigene Regierungsarbeit im Nachhinein zu
entwerten und das dafür verantwortliche Personal auszutauschen. Nun wird sie so
lange in der Retroschleife drehen, bis sie sich mit der abgespaltenen
Schwesterpartei in der Opposition wiedervereinigt.
Offenbar gibt es
unterschiedliche Vorstellungen von der angemessenen Temperatur des Sozialen in
der kapitalistischen Klassengesellschaft. Worüber reden wir also? Was ist mit
den Begriffen der neuen Klassenspaltung oder eines neuen Klassenkampfs gemeint?
Was bedeutet es, wenn die ökonomisch unterfütterten Kategorien der alten
marxschen Klassentheorie, zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus,
kulturkritisch gewendet und moralisch aufgeladen wieder die Feuilleton-Debatten
beherrschen?
Wer wäre besser geeignet,
diese Fragen auf der Höhe der Zeit zu beantworten, als Slavoj Zizek, der als
Nomade zwischen neomarxistischer Gesellschaftstheorie, Lacanianischer
Psychoanalyse und poststrukturalistischer Kulturkritik umherschweifend zu allem
etwas zu sagen hat. In einem Leitartikel für die New York Times zum Fall
der Berliner Mauer berichtet der slowenische Tausendsassa über eine Art Systemverschmelzung
von Kapitalismus und Kommunismus, jedenfalls in den ehemals kommunistischen Ländern
Osteuropas, nur wertet er im Vergleich zu Bolz die Sache genau umgekehrt: Der
neue Kapitalismus habe nicht etwa die besten, sondern die schlimmsten Züge des
alten Kommunismus übernommen, mitsamt einem höchst gierigen und korrupten
Personal: Hier wie dort handele es sich um die Herrschaft einer reichen
Minderheit über die Mehrheit.
Die dort sich ausbreitende
kommunistische Nostalgie, so Zizek, erscheint zwar als Sehnsucht nach den guten
alten Zeiten, sei aber bloß eine verständliche Reaktion auf die Schrecken des
Turbokapitalismus. Auch hinter dem periodisch immer wieder aufflammenden
Antikommunismus verberge sich in Wirklichkeit ein antikapitalistischer Protest,
wenn auch vorerst nur im kollektiven Unbewussten. Denn die »neugeborenen Antikommunisten«
seien noch in einer Illusion befangen. Sie begriffen gar nicht, dass das, was
sie für eine pervertierte Form des Kapitalismus hielten, für einen
Pseudo-Kapitalismus, dem die wirkliche Demokratie fehle, in Wahrheit schlichter
Kapitalismus sei. Sie müssten lernen, dass der westliche Kapitalismus nur
seiner Form nach demokratisch sei und diese formaldemokratische Hülle die
faktische Macht einer wohlhabenden Oberschicht bloß verschleiere. Statt auf die
Demokratisierung kapitalistischer Verhältnisse zu setzen, dies die Pointe von
Zizeks Beitrag, verdiene ein »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« eine zweite
Chance.
Was womöglich das Herz eines
aufrechten Linken wärmt, der immer schon wusste, dass der Kapitalismus kalt und
von Übel und mit wahrer Demokratie unvereinbar ist, meint Zizek, der
gelegentlich schon mal von Lenins Bolschewismus schwärmt oder Stalins
Herrschaft preist, natürlich nicht ernst. Wenn man ihn doch ernst nimmt, kommentiert
Christian Geyer in der FAZ, handele es sich bei dem »obszönen« Versuch,
die Systemunterschiede zu verwischen und den Turbokapitalismus als bloße
»Variante des GULag« darzustellen, womöglich um eine »verblasene Verhöhnung der
Opfer«. Womöglich sei hier aber nur ein »Theorie spuckender Hyperaktiver« am
Werk, ein manisch um Dissidenz bemühter Berufsintellektueller, der unentwegt
widersprechen müsse, um sich auf der Flucht vor dem Nichts, das droht, wenn der
endlose Wortschwall einmal versiegt, nicht selbst zu verlieren: Slavoj Zizek
sei ein »Hysteriker wider den Zeitgeist«. Einen Bruder im andauernden
Widerspruchsgeist könnte man Peter Sloterdijk nennen, nur dass sich dessen
ideensprühende Radikalität nicht vom linken, sondern vom rechten Ressentiment
ernährt. Während der eine sich mit den Klassikern des Marxismus-Leninismus an
der Idee rebellionsbereiter Massen begeistert, pflegt der andere im Anschluss
an die philosophische Tradition von Nietzsche und Heidegger bis zu Gehlen den
Elitegedanken und feiert das Genie.
Im Frühsommer 2009, mitten
im Bundestagswahlkampf, widmet sich Peter Sloterdijk in einem Essay unter der
Überschrift »Die Revolution der gebenden Hand« der »Kleptokratie« des
steuerfinanzierten Sozialstaats. Dieser betreibe faktisch die Enteignung der
Tüchtigen zugunsten der Untüchtigen, seine Befürworter bedienten ein aus der vormarxistischen
Tradition stammendes, im Marxismus theoretisch nur zur Blüte gebrachtes
Ressentiment gegen das Eigentum. Der »semi-sozialistische« Sozialstaat bedeute
heute nichts anderes als organisierter Diebstahl am Eigentum der produktiven
zugunsten der unproduktiven Teile der Gesellschaft. Statt zwangsweise Steuern
abzuführen, dies die unerwartete Wende im Plädoyer für die Tüchtigen, sollten
die Leistungsträger sich als generös erweisen und den Armen, Bedürftigen und
Leistungsschwachen lieber freiwillig etwas abgeben.
Sloterdijks Forderung nach
Abschaffung der Zwangsbesteuerung reizt Axel Honneth, den Sozialphilosophen und
heutigen Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, zu einer
scharfen Entgegnung, wenn auch mit einiger Verzögerung. In einem im Spätsommer
erscheinenden Beitrag für die Zeit mit dem bezeichnenden Titel »Fataler
Tiefsinn aus Karlsruhe« greift Honneth die Provokation auf. Er kontert den Angriff
auf den Sozialstaat, nicht ohne Sloterdijks Schriften einer
sozialphilosophischen Generalkritik zu unterziehen und seine öffentliche Rolle
der Verachtung und Lächerlichkeit preiszugeben: »als Seher in dürftiger Zeit«
für jenes »erlösungshungrige Milieu« einer neuen
Elite, das schon seit Langem die Wohlfahrtsmentalität verachte. Was den
derart Geschmähten seinerseits zu wilden Schmähungen animiert, an denen er das
Publikum teilhaben lässt, indem er einen »offenen Brief« schreibt und mit einem
»Plädoyer für Freiheitswind in Deutschland« in jenem postmodern-konservativen
Zeitgeistmagazin nachlegt, das gerade erst Sarrazins Rundumschlag gegen die
Sozialstaatsmissbraucher im Kreuzberger Türkenmilieu veröffentlicht hatte.
Der Zorn auf beiden Seiten
ruft sogleich weitere Diskutanten auf ein Diskursfeld, das sich im Kreuzfeuer
der Kommentare stetig aufheizt. Es entwickelt sich eine Streitdebatte, die
vorwiegend im deutschen Feuilleton stattfindet, inzwischen aber auch nach
Frankreich übergeschwappt ist, wo Sloterdijk wie Honneth in
Intellektuellenkreisen über einen vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrad
verfügen und der Sozialstaat ebenfalls in der Krise ist. Bald wird aber nicht
nur über den Sozialstaat gestritten, sondern auch über feiges und mutiges
Denken, über richtiges und falsches Lesen und über Lektürerückstände, über
Macht und Untergang der Kritischen Theorie und »die Wunde Habermas«, über den
Tugendterror und die Freiheit des Denkens und schließlich darüber, wer in
Deutschland die Diskurshoheit besitzt. In diesem »Theater der Affekte« mahnt
Harry Nutt vergeblich die »Eingrenzung der Kampfzone« an, wo es bereits um
deren Ausweitung ging.
Man fühlte sich bald an
einen älteren Streit erinnert, den ebenfalls Peter Sloterdijk ausgelöst hatte,
mit teilweise denselben Mit- und Gegenspielern auf der Bühne, aber einem ganz
anderen Thema. Was ihm im Sommer 1999 in seiner skandalösen Elmauer Rede über Regeln
für den Menschenpark gelungen war, hat auch zehn Jahre später wieder
funktioniert. Damals hatte er angesichts der neuen Möglichkeiten der Biotechnologie
mit seinen Züchtungsfantasien zur Verbesserung der Menschheit entschiedenen
Widerspruch von allen Seiten geerntet; übrigens nicht nur aus den Geistes-, sondern
auch aus den Naturwissenschaften, die sein Gesprächsangebot meist indigniert
zurückwiesen. Die Skandalisierung seiner Vorschläge hatte er seinerseits
metaskandalisiert, indem er Jürgen Habermas als heimlichen Anführer eines
Meinungskartells denunzierte und kurzerhand die ganze Frankfurter Mischpoke,
die für den »jakobinischen Tugendterror« verantwortlich sei, öffentlich für tot
erklärte.
Sloterdijk weiß, wie es
geht. Er beherrscht die Regeln jener Ökonomie der Aufmerksamkeit, die ihm in
der Bekanntheitsliste der deutschen Philosophen – nach Jürgen Habermas –
inzwischen den zweiten Platz eingebracht haben. In regelmäßigen Abständen
schockiert er mit skandalträchtigen Äußerungen eine intellektuelle Öffentlichkeit.
Das Zündmittel, mit dem er Debatten erzeugt, ist stets dasselbe: eine steile
zivilisationspädagogische These. Der von der akademischen Philosophie
verächtlich als »Medienphilosoph« apostrophierte Sloterdijk trägt solche Thesen
stets mit der Attitüde des Freidenkers vor, der angebliche Denkverbote
übertreten muss. Und er verfolgt dabei eine mediale Dramaturgie, die er selbst
einmal als eine der »Größe eines Autors« dienende Bühnenaufführung beschrieben
hat. Das Stück besteht aus drei Akten. Im ersten Akt greift man als Partisan
der Denkfreiheit ein »gefährliches« Thema auf. Der zweite Akt wird anderen
überlassen, die sich empören und Skandal rufen. Den Gegenangriff wiederum
entlarvt der Autor im dritten Akt als Metaskandal. Im Kern handelt es sich beim
dramaturgischen Muster, das der Rektor der Staatlichen Hochschule für
Gestaltung in Karlsruhe, an der er Philosophie und Ästhetik lehrt, immer wieder
verwendet, um dieses: eine performative Selbstinszenierung mit Gegnern vor
Publikum.
Dabei liebt er es, weit auszuholen
und sich auf fremdes Gelände zu begeben, wenn er seine Feldzüge gegen den
konsensuellen Zeitgeist vorbereitet. War es 1999, im damaligen Hype um die
angebliche Entzifferung des Humangenoms, Martin Heideggers Versuch, über den
Humanismus hinauszudenken, an den er anknüpfte, und das Feld der Biologie, auf
dem er dilettierte, um seine skandalträchtige Vision vom gentechnologisch
optimierten Menschen zu begründen, begibt er sich nun zurück in die Anfänge der
Wirtschaftsgeschichte, um seine These von der Besteuerung als Diebstahl,
genauer: als putativen »Gegendiebstahl«, schrittweise zu entwickeln.
Den ersten Schritt beginnt
Sloterdijk mit einer Kritik am romantischen Rousseau, der jenen Mythos vom Eigentum
als Diebstahl in die Welt gesetzt habe, der erst durch Karl Marx in eine
Theorie von der ursprünglichen Akkumulation als einem Gewaltakt verwandelt
worden sei. Worin besteht dieser Mythos? Der erste Bürger sei zugleich »der
erste Dieb«, der sich ein Terrain angeeignet und umzäunt hat, das ihn als
Besitzenden vom Besitzlosen außerhalb des Zauns trennt. So schütze das
bürgerliche Recht, das den gewaltsamen Akt der Besitznahme nachträglich
rechtfertigt, eine Eigentumsordnung, die erst durch die willkürliche
Ausgliederung des Privatbesitzes aus dem bisherigen Gemeineigentum entstanden
sei: als »Resultat eines initialen Unrechts«. Dieses Unrecht, sobald es in
Erinnerung gerufen wird, verlange nach Wiedergutmachung. Das Urverbrechen müsse
gesühnt werden. Aber wodurch? Durch die Korrektur der Eigentumsordnung. Wenn
nämlich Eigentum Diebstahl ist und »Diebe an der Macht« sind, steht die
»Expropriation der Expropriateure« auf der politischen Agenda: Der Zaun um den
Besitz, der den Besitzlosen draußen hält – die Klassenschranke – muss wieder
eingerissen werden.
Da mit dem Scheitern der
sozialistischen Revolution zwar der Versuch entzaubert worden sei, die
ursprüngliche Aneignung von Besitz durch dessen Vergesellschaftung vollständig
rückgängig zu machen, nicht aber der Mythos selbst, halte sich, so der zweite
Schritt der sloterdijkschen Argumentation, der semi-sozialistische – vulgo:
sozialdemokratische – Staat an den Besitzenden schadlos, indem er sie
ordentlich schröpft. Das könne er mit gutem Gewissen tun, da diese immer noch
des Diebstahls schuldig seien und sich insgeheim dieser Schuld schämten. Wegen
ihres Schuldgefühls trügen sie duldsam die wachsende Steuerlast, anstatt »den
antifiskalischen Bürgerkrieg« auszurufen (dass die empirischen Steuerbürger,
die wohlhabenden vorneweg, dazu neigen, den »antifiskalischen Bürgerkrieg«
lieber als Partisanen des Steuerbetrugs oder als Ritter der Steuerflucht zu führen,
wird in dieser Analyse des schlechten Gewissens freilich unterschlagen). Dabei
hätten sie eigentlich jedes Recht dazu, denn der moderne Steuerstaat habe sich
heute »zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer« ausgeformt, das die
Hälfte des Sozialprodukts aufzehre, um es in Form von Transferleistungen wieder
auszuspeien.
Nun erst schwingt sich der sozialphilosophische
Kritiker des Steuerstaats zu den Höhen seiner Gesellschaftsanalyse, von denen
herab sich die provokante Forderung nach einer Abschaffung der
Zwangsbesteuerung zugunsten einer freiwilligen Abgabe der Vermögenden ethisch
begründen lässt. Dazu muss er das im Mythos enthaltene Verhältnis von Dieb und
Bestohlenem, von Ausbeuter und Ausgebeutetem so umkehren, dass nicht mehr die
Besitzenden, sondern die Besitzlosen ins moralische Debet geraten. Eine Kritik
der politischen Ökonomie, die das leistet, muss her. In der Tat lautet der
Kernbefund von Sloterdijks Gegenwartsdiagnose, dass »den heutigen Bedingungen
eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen Altertum
die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es
in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf
Kosten der Produktiven leben – und dies zudem auf missverständliche Weise,
nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man
schulde ihnen mehr«.
Die eigenwillige These einer
»Ausbeutungsumkehrung« (der Sloterdijk naturgemäß weit höhere Plausibilität
bescheinigt als der »viel weniger plausiblen linken These von der Ausbeutung
der Arbeit durch das Kapital«) lasse sich empirisch dadurch belegen, dass die
Subsistenz der »steuerpassiven« Hälfte der Bevölkerung, die über keinerlei
eigenes Einkommen oder über so wenig verfügt, dass sie gar keine Abgaben
zahlten, unter den Bedingungen des modernen Steuerstaats »weitgehend von den
Leistungen der steueraktiven Hälfte« garantiert werde. So mündet die
unterstellte »Ausbeutungsumkehrung« in eine umgekehrte gesellschaftliche
Schuldbilanz, die von den neuen Ausbeutern allerdings nicht anerkannt werde:
Die Unproduktiven beuten die Produktiven nicht nur aus, die Meute ist auch noch
undankbar und kann den Hals nicht voll kriegen.
Auch die Wohlhabenden
bekommen ihr Fett weg. Ihnen sei nämlich eine Dimension des menschlichen
Seelenlebens abhanden gekommen, das nicht nur nehmende, sondern auch gebende Primäraffekte
enthalte. Dazu zählt Sloterdijk den Stolz, den Zorn, die Ehre, die
Großzügigkeit und all jene lange unterdrückten Menschheitstugenden jenseits des
Nehmens, deren Rehabilitation er seine letzten beiden Bücher gewidmet hat. Es
würde zu weit führen, sich hier auf Sloterdijks ausschweifende Denkbewegungen
einzulassen, die am Ende in Plädoyers für eine Stolzkultur (Zorn und Zeit)
oder für eine »anthropotechnische Wende« im Sinn einer übenden Existenz (Du
musst Dein Leben ändern) münden.
Dass Sloterdijk in seiner
philosophischen Sozialstaatskritik ökonomischen Unsinn redet, weil er sich nur
auf die Einkommenssteuer bezieht und diejenigen staatlich erhobenen Abgaben
unterschlägt, die auch die angeblich »Steuerpassiven« zu zahlen haben (wie etwa
die Mehrwertsteuer auf Waren des täglichen Konsums), hat ihm unter anderen
Jürgen Kaube nachgewiesen. Dieser nimmt allerdings vor allem Honneth ins
Visier, der mit einer vagen Anerkennungstheorie im Gepäck die Gesellschaft auf
bloße Moralfragen reduziere und mit seiner Attacke auf Sloterdijk für die
Frankfurter Schule einen »Konkursantrag« gestellt habe. Hans Ulrich Gumbrecht
bläst ins gleiche Horn, indem er den Streit in der Sache auf eine Stilfrage
herunterbringt: hier der trockene Professor Honneth, dort der kreative
Feuilletonist Sloterdijk. Karl-Heinz Bohrer reagiert auf den »Totschlagversuch
des Frankfurter Philosophieprofessors Axel Honneth« wie ein empörter
Staatsanwalt, der der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz in einem Rundumschlag
nacheinander »ahnungslosen Linkskonformismus«, »erpresserische Anerkennungsrhetorik«,
»plebsfreundliche Entrüstung« sowie »verzerrte Alternativen« und »verblendete
Wirklichkeit« vorwirft – eine pralle Anklageschrift, der man sich ja hätte
stellen können, wenn sich Bohrer nicht als persönliches Opfer des bösen Staats
ins Spiel gebracht hätte, der »mich und viele andere um die Pfründe
wohlverdienten finanziellen Zugewinns bringt, sei es, dass er die Hälfte der
beträchtlichen Summen für akademische Auszeichnungen oder für Kulturpreise
wieder abnimmt«.
Was aber hat Axel Honneth
wirklich gegen Sloterdijk vorzubringen? Wenn man hinter der polemischen
Zuspitzung einmal die argumentative Eigenlogik seines Texts rekonstruiert,
ergeben sich folgende Einwände. Erstens attackiert er die fragwürdigen Motive
eines chronisch unangepassten Freigeists, der »mit der einsamen Entschlossenheit
und Radikalität eines Nietzsche« gegen das fade Denken einer Epoche mit
gewagten Vergangenheitsdeutungen und ungedeckten Gegenwartsdiagnosen antritt.
Zweitens die Wirkung solcher Erleuchtungen auf ein »zum Meister hochblickendes«
und »ihm ergebenes« Publikum, das in Feuilletonredaktionen, Bankenkasinos, Werbeagenturen
oder Architekturbüros nur auf Weltdeutungen aus Karlsruhe zu warten scheint.
Drittens Sloterdijks obskure Neuversion einer dualen Triebtheorie, die neben
dem Verlangen und Begehren ein von der Psychoanalyse angeblich ignoriertes
Streben nach Erfolg, nach Ehre und Stolz umfasst, das von »thymotischen
Energien« getrieben wird (Eros vs. Thymos). Viertens die direkte Anwendung
dieser Psychologie auf Gesellschaft, indem die beiden psychologischen
Triebkategorien entlang jener »Vertikalspannung« zugeordnet werden, die
Sloterdijk zum Movens jeder Entwicklung erklärt: oben eine vitale, arrivierte,
erfolgreiche Schicht, die stolz auf das Erreichte sein kann; unten die Schicht
der gesellschaftlichen Versager, die nur nimmt, während sie die eigenen
thymotischen Wünsche in Neid auf die Erfolgreichen verwandelt und mit
Forderungen nach Einschränkung, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit den
oberen Rängen ihren verdienten Genuss zu verleiden sucht. Erst vor dem
Hintergrund dieser vier Einwände bekommt der fünfte als Haupteinwand gegen
Sloterdijk sein ganzes Gewicht: Sloterdijks Aufteilung der Gesellschaft in
Gewinner, denen ihr schöner Erfolg missgönnt wird, und Verlierer, die ihre
kränkende Niederlage im Ressentiment gegen soziale Unterschiede bewältigen und,
anstatt sich selbst anzustrengen, den Sozialstaat als großen Gleichmacher gegen
die Ungleichheitsmaschine des Kapitalismus missbrauchen.
Mit einem feinen Gespür für
Entsolidarisierungstendenzen in der Gesellschaft und mit den Mitteln seiner
eigenen Philosophie sozialer Anerkennungsverhältnisse hat Axel Honneth
Sloterdijks philosophischen Angriff auf den modernen Umverteilungsstaat zurückgewiesen,
einen Sozialstaat, den dieser mit den begrifflichen Mitteln einer historisch
belasteten Elitetheorie im Namen der Erfolgreichen als soziale »Transfermaschine«,
als »Vollzugsorgan des objektiven Sozialdemokratismus« denunziert. Wenn Honneth
diesen Angriff aber als »Ausgeburt eines Klassenkampfs von oben« geißelt, muss
er damit rechnen, dass seine Gegenattacke als »intellektueller Klassenkampf von
unten« gelesen wird. Sofort teilt sich die Welt des engagierten Denkens in
politische Lager entlang von Klassenfronten. Auf die Parteienlage nach der
Bundestagswahl bezogen, würde der »rechte« Sloterdijk zum Sprachrohr einer
gestärkten FDP, die bekanntlich Steuern senken und den wuchernden Sozialstaat
begrenzen will. Und Honneth hätte sich ins Boot der ebenfalls gestärkten Linkspartei
begeben, die bekanntlich die Steuern für die Reichen erhöhen und mithilfe der
Ausweitung des Sozialstaats Reichtum für alle schaffen will.
Eine solche Parteinahme darf
man keinem der Kontrahenten unterstellen: weder Sloterdijk, der sich gerne als
»lebenslanger Sozialdemokrat« outet, noch Honneth, der seine Präferenz für die
Grünen zu erkennen gibt. So gesehen wäre es ein Streit, der innerhalb des
rot-grünen Regierungslagers hätte stattfinden müssen (dort aber nicht wirklich
stattfand, sondern einer SPD überlassen blieb, die daran zerriss) und nun als
Ersatzstreit im Feuilleton ausgetragen wird.
In der Tat ist die Zukunft
des steuerfinanzierten Sozialstaats ein politisches Streitthema ersten Ranges,
das innerhalb der schwarz-gelben Koalition nach wenigen Wochen bereits zu
Rissen geführt hat und die neue Regierung vor eine Zerreißprobe stellt. Denn jenseits
der klassenkämpferischen Alternative von »linker« Verteidigung oder »neoliberaler«
Zerschlagung geht es um den behutsamen Umbau eines Systems der sozialen
Sicherung, das sich lange bewährt hat, in Zeiten des globalisierten
Kapitalismus aber offenkundig an seine Grenzen geraten ist. Hier liegt der
wahre Sprengstoff einer Debatte über den Sozialstaat, die ich mit einigen
Bemerkungen anheizen und sie gleich wieder abkühlen möchte. Es sind Bemerkungen
über die unvermeidliche Blindheit einer partikularen Weltsicht, die vor lauter
Parteilichkeit das Ganze einer Gesellschaft im Umbruch aus dem Auge verliert.
Aus einer radikalen
Klassenperspektive geraten nämlich, von oben betrachtet, jene allgemeinen
Aufgaben des modernen Steuerstaats aus dem Blick, die weniger mit sozialer Umverteilung
zu tun haben als vielmehr damit, im 21. Jahrhundert die gefährdeten Grundlagen
unserer Lebenswelt zu sichern. Um die nötigen Mittel in elementare Gemeinschaftsaufgaben
wie gute Bildung, humanes Wohnen, soziale Integration, kulturellen Reichtum,
öffentlichen Verkehr, besseren Umwelt- und Klimaschutz oder intelligente
Kriminalitätsprävention zu investieren, brauchen wir ausreichend Steuermittel,
die selbstverständlich nach Maßstäben der Fairness und Zumutbarkeit erhoben werden
müssen. Dann aber muss man auch über die Bedeutung eines sozialen Mäzenatentums,
das in Deutschland vergleichsweise schwach entwickelt ist, nachdenken dürfen,
und zwar ohne dass gleich verächtlich von Almosen geredet wird. Oder über das anwachsende
Kultursponsoring, das man, weil in aller Regel nicht selbstlos, nur allzu gerne
moralisch diskreditiert. Oder über die Aufwertung ehrenamtlicher Tätigkeiten,
über Bürgerarbeit und vieles mehr.
Dem klassenbewussten Blick
von unten entgeht mitunter, dass die historischen Errungenschaften des modernen
Wohlfahrtsstaats in sozialer wie mentaler Hinsicht auch ihre Kehrseite haben,
erkennbar zum Beispiel in der depravierten Lebenswirklichkeit einer neuen
»weißen« Unterschicht, deren Mitglieder dazu neigen, mit ihrem Transfergeld einen
notorisch trostlosen Konsum zu finanzieren, wenn sie nicht gefordert werden.
Das in den Hartz-Gesetzen zur Arbeitsmarktreform programmatisch enthaltene
»Fördern und Fordern«, das von links als bürokratische Schikane, als würdelose
Ausbeuterei verteufelt wird, ist in Wahrheit ein soziales Erfolgsmodell, weil
es Menschen über Arbeit wieder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verschafft
– selbst im Bereich der 1-Euro-Jobs.
Was wir ebenfalls übersehen,
sind jene unerwünschten Nebenwirkungen, uneingestandenen Folgen und schamhaft
verschwiegenen Kollateralschäden, die unsere sozialen Sicherungssysteme für die
Integration von wachsenden Immigrantenpopulationen bedeuten können. Dass es in
Deutschland eine gezielte Einwanderung auch in den Wohlfahrtsstaat gibt, ist
leider nicht die bösartige Erfindung eines fremdenfeindlichen Rechtspopulismus,
sondern eine Realität, die zum Hindernis werden kann, sich auf die fremde
Lebenswelt einzulassen. Dieses Problem haben die Vereinigten Staaten von
Amerika nicht. Dort bietet man den Millionen von Arbeitsemigranten, den
politischen und wirtschaftlichen Flüchtlinge und der studierenden Jugend aus
aller Welt, wenn sie auf der Suche nach dem besseren Leben ins gelobte Land
strömen, mit dem »pursuit of happiness« keine Sozialfürsorge an, sondern nur
jenes Glück des Tüchtigen, das ohne Eigeninitiative, Risikobereitschaft und
Unternehmergeist nicht zu haben ist: Integration durch Arbeit. Darin liegt das
Geheimnis des »melting pot«: Er funktioniert als eine multikulturelle Integrationsmaschine,
die im superkapitalistischen Amerika Anerkennung und Zugehörigkeit über
Leistung verschafft, während sich die wohlfahrtsstaatliche »Festung Europa« vor
dem Ansturm aus den ärmeren Weltgegenden zu verschanzen sucht. Mit ihren
mangelhaften Sozialsystemen sind die USA gewiss kein Vorbild für europäische
Gesellschaften, aber ein wenig von ihrem Pioniergeist könnte auch Europa
guttun. Vor allem in Sachen Integration der Einwanderer könnten wir einiges
lernen.
Wenn im Zeitalter der
kapitalistischen Globalisierung zunehmende Exklusion und gesellschaftliche
Desintegration das Kernproblem darstellen, die Entwicklung einer weltweiten
Zwei-Drittel-Gesellschaft, dann ist Integration überhaupt die Hauptaufgabe: Inklusion
ist angesagt, Einschluss – nicht Spaltung durch Klassenkampf. Um auf diese
beunruhigende Entwicklung mit Gegenmaßnahmen zu antworten, muss man politische
Ziele formulieren, die sich universalisieren lassen. Man muss einen erweiterten
Begriff von Gleichheit und Gerechtigkeit, der die globalisierte Lebenswelt im
Ganzen umfasst, zur Geltung bringen: Gerechtigkeit im Weltmaßstab, Gleichheit
auf den Märkten, den Schutz der natürlichen Umwelt und den sparsamen Umgang mit
begrenzten Ressourcen, die Einbeziehung zukünftiger Generationen, das respektvolle
Zusammenleben verschiedener Kulturen.
Eine solche Perspektive
jenseits der Klassenspaltung hatte Axel Honneth – in dieser Zeitschrift
nachzulesen (4/01) – den Grünen einmal empfohlen. Weil sie historisch nicht an
partikulare Interessen gebunden seien, weil sie im Lauf ihrer Geschichte eine
Kultur des diskursiven Aushandelns entwickelt und ihre moralische Sensibilität
in der Konfrontation mit den paradoxen Modernisierungsprozessen des
Kapitalismus herausgebildet hätten, könnten sie, wie keine andere Partei, auf
die Auflösung alter Sozialordnungen und überholter Wertorientierungen lernbereit
und produktiv reagieren. Gilt das noch für die heutigen Grünen? Hört man ihre
Stimme im aktuellen Streit um den Sozialstaat? Wo bleibt der grüne Einspruch im
Diskurs über den neuen Klassenkampf?
Nachweise und Literatur:
Karl-Heinz Bohrer:
»Lobhudeleien der Gleichheit«, FAZ, 21.10.09
Norbert Bolz: »Herrschaft
des Leistungsprinzips«, FR, 12.11.09
Hans Ulrich Gumbrecht: »Der
Spieler und der Baumeister«, DIE ZEIT, 1.10.09
Axel Honneth:
»Identitätsfindung durch einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff. Sozialphilosophische
Überlegungen zum Grundsatzprogramm der Grünen«, Kommune 4/01
Axel Honneth: »Fataler
Tiefsinn aus Karlsruhe«, DIE ZEIT, 24.9.09
Jürgen Kaube: »Der Vermögensverwalter«,
FAZ, 25.9.09
Paul Kirchhof: »Die Steuer
ist ein Preis der Freiheit«, FAZ, 17.9.09
Peter Lohauß: »Die Rückkehr
der Klassengesellschaft«, Kommune 5/09
Christoph Menke: »Wahrheit.
Nicht Stil«, DIE ZEIT, 15.10.09
Harry Nutt: »Eingrenzung der
Kampfzone«, FR, 22.10.09
Peter Sloterdijk: Selbstversuch,
München (Hanser) 1996
Peter Sloterdijk: Regeln
für den Menschenpark, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1999
Peter Sloterdijk: Zorn
und Zeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2006
Peter Sloterdijk: Du musst
Dein Leben ändern, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009
Peter Sloterdijk: »Die
Revolution der gebenden Hand«, FAZ, 10.6.09
Peter Sloterdijk: »Das elfte
Gebot: die progressive Einkommenssteuer«, FAZ, 27.9.09
Peter Sloterdijk: »Aufbruch
der Leistungsträger«, CICERO 11/09
Rudolf Walter: »Blasen zu
Phrasen«, taz, 26.10.09
Slavoj Zizek: »20 Years of Collapse«, New York Times, 9.11.09