Während die übrige Welt über die Zukunft debattiert und die USA den Wechsel wählten, wurden im deutschen Wahlkampf all jene Themen ausgeklammert, die nur ansatzweise die Zukunft problematisiert hätten. Die Finanzkrise wurde fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt steigender Arbeitslosigkeit infolge des Exportrückgangs diskutiert. Bildungs-, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik waren Randthemen wie Alterung der Gesellschaft und Migration. Die Volksparteien wollten dem Souverän jede Beunruhigung ersparen. Und der Souverän? Will er die Krisen diskutieren? Ganz offensichtlich nicht. Abgeschieden in unserer deutschen Befindlichkeit lieben wir die Statik und haben eine furchtbare Abneigung gegen jede gesellschaftliche Dynamik.
Der deutsche
Wiederholungswunsch
Doch
jede gesellschaftliche
Entwicklung kann nur aus der Wahl der Zeit, aus dem Wunsch und dem
Willen zur
Entscheidung in der Gegenwart entstehen. Geschichte muss gemacht
werden, sonst
wird sie erlitten. Liegt hier die Wurzel des deutschen Leidens?
Verstehen wir
Geschichte immer nur als die Wiederholung des Alten? Liegt im Wunsch
nach
Wiederholung der Schlüssel zum Verständnis unserer
Muster und Verhaltensweisen?
Der biedere deutsche »Wohlfühlwahlkampf«
mit all seinen Vermeidungsmustern
deutet in diese Richtung. Folgen wir dieser Spur, so stoßen
wir zuerst auf den
Wunsch, Geschichte könne sich als Schicksal, ohne eigenes
Zutun ereignen. So
war der Slogan des SPD-Herausforderers Steinmeier konstruiert:
»Unser Land kann
mehr …«. Im Wahlkampf war doch
ein alternatives Programm der SPD
gefragt? Fällt das automatisch vom Himmel auf das Land?
Fatalistisch, ohne
Konzept, quasi schicksalsergeben steuerte die SPD mit ihrem
»Weiter so« aus der
Großen Koalition in ihre größte
Niederlage. Man wünschte die Wiederholung mit
Merkel. Gerade dadurch aber unterlag die SPD dem »System
Merkel«.(1) Das Alte
zu wiederholen, konservieren, das können die Konservativen in
jedem Fall noch
besser.
Das
»vielgesichtige« System
Merkel besteht ja gerade darin, es jedem recht zu machen, keinen zu
verprellen
und jedem zu suggerieren, er sitze mit »ihr« in
einem Boot. An diesem System
ist vor allem die Beliebigkeit in der Kursbestimmung bemerkenswert.
Eigentlich
sollten im Boot doch alle wissen, welcher Kurs gesegelt wird. Doch
richtungslos
wie der Wahlkampf war, ist auch dieses System. Irgendwie ergibt sich
der Kurs
aus den mächtigsten Zeitströmungen. Durch sie ist es
getrieben. Und die
mächtigste Strömung ist zurzeit die des Geldes. In
der Finanzkrise genügte den
Deutschen die Auskunft, es müssten die
»systemrelevanten Banken« gerettet
werden, und schon bekam die Große Koalition die Zustimmung,
ein gigantisches
Bürgschafts- und Schuldenpaket aufzulegen. Die Rettung des
»Systems« allein
genügte als Legitimation.
Das Geheimnis im System
der Ordnung
Was
ist so faszinierend am System,
dass die Deutschen bei seiner Erwähnung in Ehrfurcht erstarren
oder im Fall
seiner Krise regelrecht in Furcht geraten? In unserer Kultur erzeugt
die Furcht
um den Erhalt des Systems immer wieder die Neigung, sich bedenkenlos
den
mächtigsten politischen und ökonomischen
Strömungen zu überlassen. Was gewinnt
eine Kultur, wenn sie sich der Macht überlässt? Sie
gewinnt ein funktionierendes,
sich selbst regelndes System. Der Einzelne muss nicht agieren, er darf
sich
rein dem Reagieren überlassen.
Hier
hilft der Blick in die
deutsche Geschichte. Auf dem Reichstag in Worms erklärte
Luther, er sei
»gefangen in dem Wort Gottes. Daher kann und will ich nicht
widerrufen, weil
wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam
ist.« Das Lutherwort
also: »Hier steh ich und kann nicht anders!«(2) Das
Gewissen bildet die
Mittelstelle zum System Gottes. Es gibt dem Tun in der
Rückkoppelung Halt und
Sicherheit und der Seele wiederum die Anerkennung des ganzen Systems.
Deshalb
ist diese Gewissheit heilsam. Sie bildet die Wende in der deutschen
Geistesgeschichte, wie Hegel sagt. In ihr käme
nämlich der Gedanke der
»Vereinigung mit Gott im Geiste« des Menschen zum
Ausdruck. Die Vereinigung
kommt ausschließlich im Inneren des Gläubigen
zustande, wo er sich mit der
objektiven Idee vereinigt. Dadurch ist der gläubige Mensch
für Hegel ein
Schöpfer, denn er erzeugt in seinem
»Geist« seine »erfüllte
Gegenwart«.(3) Hat
er das einmal erlebt, so will er immer in dieser Gegenwart leben. Die
Gegenwart
dieses Systems gibt ihm die Gewissheit und Sicherheit, immer auf der
richtigen
Seite zu stehen. Luther war, wie Hegel, ein deutscher Pflichtmensch,
der voll
»im Werkzeug-Seins für seinen inneren
Gott« aufging. Die Haltung des
Werkzeug-Sein als pflichtvolle Erfüllung der gerade gestellten
Aufgabe
übersetzt Hegel auf die Stellung des Bürgers zum
preußischen Staat. Er war die
Inkarnation des lutherischen Systems(4) der inneren Pflicht mit der
äußeren
Verpflichtung. Diese Maschine der Vernunft, wie Hegel den Staat
beschreibt, war
ordentlich bis in den Tod.
Hegels
Systemtheorie baut
auf diese Pflicht. Er sieht im preußischen Staat die
perfekteste bürokratische
Maschine seiner Zeit. Sie war ihm die Verwirklichung der perfekten
Ordnung auf
Erden. Der »Immer-Wunsch«, in der Perfektion zu
leben und ihr Ausdruck zu sein,
liefert uns den Schlüssel zur deutschen Perfektion.
Immer suchen wir die
beste Maschine zu bauen, das störungsfreieste System
zu entwickeln, das geringste
Risiko zu erleiden. Systeme, Routinen, Ordnung entlasten.
Doch in der
Überperfektion stellen sie das Leben still. Nur zu oft sind
wir in der
ständigen Wiederholung der immergleichen Perfektion auf der
Sandbank der Statik
aufgelaufen. So hat eigentlich der Wunsch, Kritik zu vermeiden, Risiken
zu
umgehen, Störungen schon vor ihrem Auftreten aus dem Wege zu
gehen, unsere
Kultur in eine Sackgasse der Statik geführt. Das finden wir
nicht gut, denn wir
wissen: »Stillstand ist Rückschritt!« Aber
mit dem Wunsch nach Veränderung
steht unter den deutschen Verhältnissen immer derselbe
Verhinderer auf: die Frage
nach der perfekten Alternative. Doch weil es eine
perfekte Systemalternative
nicht gibt, sind wir unter deutschen Bedingungen zum Abwarten
verurteilt, bis
uns die Verhältnisse selbst an den Rand des
Systemzusammenbruchs führen.
Nur
zu oft wird übersehen,
dass es neben dem Ordnungssinn eine zweite Quelle der Perfektion gibt.
Für
Hegel ist es die Vernunft selbst, die in ihrer ewigen Entwicklung aus
sich
heraus wirkt. Sie arbeitet wie ein Marionettenspieler. Nach der Idee
Platons
gibt es eine »heilige Leitung« durch ewig
gültige, unsichtbare »Gesetze« im
Staat.(5) Seit damals begleitet unsere Kultur der geheime Wunsch nach
unsichtbarer, aber richtiger Führung. Hegel greift diese Idee
auf und findet
sich bestätigt, als er die ökonomischen Schriften von
Adam Smith über den
»Wohlstand der Nationen« las. Smith habe mit der
Entdeckung der »unsichtbaren
Hand« das Gesetz der Vernunft auch in der Ökonomie
gefunden. Nach ihm seien die
Menschen von »einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst
eintritt.«(6)
Mit
der Idee der unsichtbaren
Hand (invisible hand) glaubte Adam Smith ein
ökonomisches Gesetz von
zweifacher Wirkung entdeckt zu haben. Er nahm an, dass jeder
Kapitalist, indem
er seinen egoistischen Interessen folgt, am Ende etwas tut, was er
eigentlich
gar nicht will. Er fördere auch das Allgemeinwohl. Produziert
er neue,
preiswertere Waren, um damit seinen Konkurrenten aus dem Markt zu
werfen, so
vollbringe der Kapitalist ein doppeltes Werk. Sein eigentliches Ziel,
das der
Gewinnmaximierung, erzeuge ein uneigentliches Ergebnis, die wohlfeile
Anbietung
von Waren und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen
für alle. Das sei nicht
sein Wille gewesen, aber das systemische Ergebnis seines Handelns.
Hegel sieht
hier den Weltgeist an der Arbeit. Er arbeitet
systematisch wie ein
preußischer Buchhalter nach dem
Rationalitätsprinzip. Man sieht es nicht, aber
es wirkt. Und es bewirkt etwas, das dem deutschen Wesen doch sehr
entgegenkommt:
Es erzeugt eine automatisierte Ordnung nach einem unbeeinflussbaren,
also
entlastenden Prinzip.
Der Systemfehler in der
Zauberformel
»Jeder
Einzelne wird sich
darum bemühen, sein Kapital so anzulegen, dass er den
höchsten Wert erzielen
kann. Im Allgemeinen wird er weder darauf aus sein, das
öffentliche Wohl zu
fördern, noch wird er wissen, inwieweit er es
fördert. Er interessiert sich
lediglich für seine eigene Sicherheit und seinen eigenen
Gewinn. Und dabei wird
er von einer unsichtbaren Hand geleitet, ein Ziel zu fördern,
das keineswegs in
seiner Absicht gelegen hatte. Indem er seinen eigenen Interessen dient,
fördert
er das Wohl der Allgemeinheit oft auf weit wirksamere Weise, als wenn
es in seiner
wahren Absicht gelegen hätte, es zu
fördern.«(7)
Die
smithsche Zauberformel
von der marktübergreifenden Vernunft des Preismechanismus(8)
barg von
Anfang an mehrere Probleme. Die vollständige Ausschaltung des
Egoismus durch
den Egoismus hatte schon Smith selbst als theoretische Konstruktion
verstanden.
Einmal war der »Wettbewerb nicht
vollständig«, denn der Kapitalismus neigt zur
Monopolbildung. Zweitens: Um Ungleichgewichte zu vermeiden, greift der
Staat
als Geschäftsführer der Gesellschaft ein. Wenn er das
tut, so muss er sich,
nach der ökonomischen Logik, in einen Marktteilnehmer
verwandeln. Er tritt dann
auf dem Markt auf, »als wenn es sich bei (den staatlichen
Aktionen, X. B.)
nicht um kollektive, sondern um individuelle Bedürfnisse
handelte.«(9) Damit
kommt ein drittes Thema ins Spiel. Hinter der volkswirtschaftlichen
Rationalität taucht immer wieder die betriebswirtschaftliche
Rationalität
auf. Sie sucht beständig den Preismechanismus zu ihren Gunsten
zu verändern.
Dadurch wird die »Unvollständigkeit des
Wettbewerbs« zur Realität, weil
mächtige Gruppen über Informationsvorteile Einfluss
auf den Staat nehmen, um ihre
Interessen durchzusetzen.(10)
Eine
gerechte »Ökonomie des
ganzen Hauses« (Aristoteles)(11) auf der Grundlage des
Preismechanismus war nicht
entstanden. Die smithsche Formel war entzaubert. Der Markt bedarf des
Staates.
Das »Mischsystem« (Samuelson) von »Markt-
und Staatslenkung« hatte sich als
System des »Wohlfahrtsstaats« durchgesetzt. Mit dem
Siegeszug von Keynes und
der Globalsteuerung sah es in den Siebziger- und Achtzigerjahren so
aus, als
sei der Sieg des Keynesianismus endgültig. Doch mit der
Ölkrise und anderen
krisenhaften Erscheinungen trat die lange verdrängte Seite der
betriebswirtschaftlichen
Rationalität wieder in den Vordergrund. Der Pendelschlag ging
mit Friedrich von
Hayek und Milton Friedman in die andere Richtung. Jetzt wurde das
Interesse des
kapitalistischen Einzelbetriebes, die
»Betriebswohlfahrt«, als Dreh- und
Angelpunkt der Gesamtwirtschaft wieder entdeckt.
Die Verbetriebswirtschaftlichung
der Politik
Übertragen
in die Politik
wurde der Vorrang der »betriebswirtschaftlichen
Rationalität« unter den
Schlagworten »Reaganomics« und
»Thatcherismus« bekannt. Dahinter verbirgt sich
nicht nur eine Renaissance des Wirtschaftsliberalismus. Es geht und
ging um die
Rückkehr zum Prinzip der unsichtbaren Hand. Das
Einzelunternehmen und seine
Funktionsfähigkeit bekamen den Vorrang vor dem
Gesamtinteresse. Zwar sprach man
in der Betriebswirtschaftslehre immer von gesamtgesellschaftlicher
Verpflichtung.
Doch die gesellschaftlichen Kosten wurden nur zu gerne als
»unproduktive
Aufwendungen« begriffen. Die
»Wettbewerbsfähigkeit« des
Einzelunternehmens
stand im Zentrum dieses Denkens. Hier lohnt der Blick in die USA. Dort
fand in
den Achtzigerjahren eine theoretische Diskussion über die
»Wettbewerbsfähigkeit« von
Ländern statt. Krugman hat sie eine
»gefährliche
Obsession« genannt.(12) Länder wurden mit
Unternehmen verglichen. Angeblich
konkurrieren sie wie Firmen miteinander. »Was gut ist
für General Motors, das
ist gut für Amerika!« Doch Länder
konkurrieren nicht wie Firmen um Kunden.
Volkswirtschaften erzeugen in ihrem Inneren Güter und
Dienstleistungen für
ihren Binnenmarkt, also für den »eigenen
Verbrauch«. Demgegenüber verkauft
selbst das größte Unternehmen nur einen minimalen
Teil seiner Produktion an die
eigene Belegschaft.« Darüber hinaus haben
Länder einen Nutzen vom weltweiten Austausch.
(Krugman) In der Frage des Außenhandels hat sich die
Unternehmensstrategie auf
noch eigenartigere Weise durchgesetzt. Hier wird der
»wechselseitige Vorteil
internationaler Wirtschaftsbeziehungen (comparative advantage) mit
Wettbewerbsvorteil
(competitive advantage) von Unternehmen verwechselt.«(13)
Krugman, der diesen
Fehler entdeckte, führt ihn auf die begrenzte Sichtweise von
Unternehmen
zurück.
Doch
es steckt mehr
dahinter. Der »Fehler« ist systemischer Natur.
Krugman hat den Schlüssel für
die Bevorzugung der betriebswirtschaftlichen Logik gefunden. In der
Formel von
der »unsichtbaren Hand« wirkt nämlich ein
geheimer Reduktionismus. Alles wird
letztlich auf die einfachste Rationalität reduziert. Und die
zeigt sich im
egoistischen Betriebsinteresse. Das egoistische Einzelinteresse des
Betriebes
wirkt als Vorbild.
Bei
dieser Lage wundert es
nicht, dass die betriebswirtschaftliche Logik zum Handlungsmuster auch
innerhalb der Industrieländer wurde. Als »Change
Management« ist das
innerbetriebliche Veränderungsmanagement zum Vorbild
für die Gesamtgesellschaft
geworden. Das hat zum Abbau demokratischer Macht und zum Aufbau
ökonomischer
Selbstermächtigung geführt. Das Recht, Macht
auszuüben und Veränderungen in der
Gesellschaft zu erzwingen, verlagerte sich in die
Großbetriebe. Dabei veränderte
sich nicht nur die Machtbalance im Gesellschaftsgefüge. Mit
dieser Theorie akzeptierten
die Industriegesellschaften, dass die gesellschaftliche Dynamik aus dem
betrieblichen
Wirtschaften zu kommen hat. Der Staat hat diesem Kraftzentrum zu
dienen. Ganz nebenbei
entstand mit dem Vorrang der betriebswirtschaftlichen
Rationalität ein neues Gesellschaftsbild.
Das Augenmerk galt ausschließlich dem Wohl der
Großfirmen. Der Mittelstand und
weite Teile der Gesellschaft, die ihre betriebswirtschaftliche
Produktivität
nicht ausweisen konnten, fielen unter das Verdikt
»unproduktiv« und wurden
damit vernachlässigt. Mit dem Blick auf die Betriebswelt wurde
eine eigenartige
Betrachtung von Dynamik und Statik geboren. Alles, was dem
Betriebsinteresse
diente, war zu fördern. Computer in Kindergärten
waren eine gute Investition
für den »Betrieb USA« oder das
»Unternehmen Deutschland« in ihrem »Kampf
gegen
Japan und China«. Gleichzeitig entstanden dabei gute
Rahmenbedingungen für
Siemens oder Daimler. Interessant ist, dass die Zunahme der
betriebswirtschaftlichen Ökonomisierung in der amerikanischen
Gesellschaft
ausgerechnet mit dem Demokraten Clinton begann. Seinen Wahlkampf gegen
Bush
sen. (1992) gewann er mit dem Slogan: »It’s the
economy, stupid!« Gemeint war:
Nur ein Dummkopf kann den Vorrang der Ökonomie leugnen. Damit
setzt ausgerechnet
Clinton die endgültige Verbetriebswirtschaftlichung unserer
Politik durch.
Der
Siegeszug der
betriebswirtschaftlichen Rationalität wäre nicht
vollständig beschrieben, ohne
Milton Friedman und seine Theorie der Geldpolitik zu erwähnen.
Sie lieferte die
theoretischen Grundlagen sowohl für den Rückzug des
Staates aus der Kontrolle
der Geldpolitik sowie die Vorlage für die Privatisierung
derselben. Auch hier
kann man diese »neue Dynamik«
betriebswirtschaftlicher Rationalität bewundern.
Es ging nach ihrem Bedürfnis nun darum, auch das
gesellschaftliche Tauschmittel
Geld über die Groß- und Investmentbanken in die Hand
zu bekommen. Mit Geld
werden dort keine gesellschaftlichen Bedürfnisse vermittelt.
Geld als
Tauschmittel hat für günstigste
Produktionsverhältnisse des Großunternehmens zu
sorgen. Und für das Bankgewerbe ist Geld selbst zu einer Ware
geworden, die
»hergestellt« wurde. Auch wenn dieses Projekt in
der Finanzkrise zunächst
gescheitert ist, so hat es doch noch im Absturz der Investmentbanken
die Macht
der »betrieblichen Rationalität« bewiesen.
Die Staatenwelt konnte sich aus den
von den Großbanken geschaffenen Geldstrukturen nicht
befreien. Sie mussten und
müssen weitergeführt werden, weil ihr Wirken
»systemrelevant« ist.
Die Übertragung des
amerikanischen Change Managements auf die SPD-Politik
In
Deutschland hat die
rot-grüne Regierung unter Schröder den entscheidenden
Schritt in die
Verbetriebswirtschaftlichung der Politik getan. Augenfällig
ist dies geworden
am Duo Schröder-Hartz. Schröder hat mit seiner Agenda
2010 das Change
Management von den USA auf die deutsche Gesellschaft
übertragen. Ausgebrütet im
engsten Beraterkreis wurde sie der eigenen Partei, dem Parlament und
dem Volk
aufgezwungen. Die Reform folgte keinem offenen, nach vorne gerichteten
demokratischen Konzept. Sie war konzipiert als Reduktionsreform. Sie
reduziert
die Gesellschaft auf das Bild von Betrieben und reformiert sie dann
nach dem Muster
betrieblicher Macht- und Funktionsmuster. Die neue Systemtheorie
Schröders
folgte dem betrieblichen Veränderungsmanagement. Folgerichtig
wurde die
SPD-Politik vom Wähler als eine technokratische Reform
aufgefasst, die seine
Rechte verkleinert. Der Wähler und die SPD-Mitglieder wurden
nach dem Muster
des Change Managements »reformiert«, in
Wirklichkeit aber reduziert.
Nach
dieser Logik ist alles,
was den Unternehmen dient, auch gut für die
Bevölkerung. Folgerichtig hat der
Personalchef von VW, Hartz, die Betriebsrationalität des
größten
Autoherstellers der Republik zur Vorlage für die
»Sanierung« des gesamten
Arbeitssektors genommen. Mit den Hartz-Gesetzen hat die SPD ein neues
Profil gewonnen.
An die Stelle des gesellschaftlichen Systems und seiner Vernunft trat
jetzt das
System des Betriebsinteresses. Die Betriebräte
großer Unternehmen haben diese
Politik immer betrieben und sie unterstützt, während
Teile der Gewerkschaften
dieser schröderschen Logik nicht mehr folgen konnten.
Warum
sich Müntefering und
Steinmeier aus dieser Politik nicht befreien konnten, sondern statisch
in ihren
Positionen verharrten, liegt hier begründet. Mit dem
weltweiten Sieg der
betriebswirtschaftlichen Rationalität ist die politische
Dynamik auf den
Betrieb übergegangen. Von jeher hatte das betriebliche System
im
sozialdemokratischen Denken den Vorrang. Die SPD geriet so in ein
doppeltes
Problem. Ursprünglich galt die Annahme: Entwickeln sich
Großbetriebe aufgrund
ihrer inneren Dynamik, so folgen sie bei der Entwicklung ihrer
Produktivkräfte
einer unsichtbaren Hand. Im Gefolge dieses
Gesamtsystems, so nahm die
alte sozialdemokratische Theorie an, wird einmal von ganz alleine
Wohlstand für
alle verwirklicht. Der zweite Fehler der alten Theorie lag und liegt im
Entlastungsgedanken. Er lautete: Man folge nur der
Gesamtrationalität, so liege
man in der Entwicklung der eigenen Politik immer richtig. Doch hinter
dem
Rücken der SPD, ja der gesamten Bevölkerung,
entschied Schröder, dass nun die
betriebliche Vernunft entscheidet. Heute wissen wir: Was gut ist
für GM, ist
jedoch nicht einmal gut für Opel. Folglich ist nicht nur die
Abnahme der
traditionellen Wählerschaft ein Problem für die SPD.
Ihr Hauptproblem liegt in
der alten systemgelenkten Hoffnung der deutschen Politik. Immer noch
glaubt
sie, ihr könne die Entscheidung abgenommen werden –
man könne also in Statik
verharren – weil die Vernunft des jeweils vorherrschenden
Systems für den
Einzelnen oder die Gruppe entscheidet. Die SPD ist und war eine
Systempartei.
Das kann ihr zum Verhängnis werden.
Über einen neuen
Gesellschaftsvertrag
Immer
wieder ist von einem
»neuen Gesellschaftsvertrag« die Rede. Was kann man
sich darunter vorstellen,
was will man damit sagen? Zunächst ganz offensichtlich das
Ende des alten. Wenn
jener sich durch die besondere Sehnsucht nach Statik ausgezeichnet hat,
dann
müsste der neue im Versuch bestehen, diese Gesellschaft in
Dynamik zu
versetzen. Unter den besonderen deutschen Umständen kann dies
zuerst nur in
Gedanken geschehen. Das muss kein Fehler sein, wenn wir keine perfekten
Alternativen verlangen, wo dynamisches Suchen und Experimentieren
gefragt ist.
Dabei
muss die Rationalität
des ganzen Hauses zurückgewonnen werden. Alles, was der guten
Regierung der
Gesellschaft dient, muss auch wieder als nützlich und gut
verstanden werden.
Eine Vorraussetzung für ein neues Wertesystem ist die
Wiedergewinnung von
Zivilcourage. Betrachten wir uns als entwicklungswerte Gesellschaft,
dann muss
jeder seine persönliche Verpflichtung verstehen. Dieser neue
Gesellschaftsvertrag
beginnt im Aufbau der »guten Selbstregierung«. Wenn
jeder sich selbst so gut
»regiert«, wie er selbst
»regiert« werden will, dann gewinnen wir einen Ort
in
uns, der nicht vom System bestimmt ist. Doch das betrifft nur die
persönliche
Grundbedingung. Sie müsste ergänzt werden durch die
Idee einer nachhaltigen gesellschaftlichen
Entwicklung. Mit der Idee der Nachhaltigkeit schützen wir zu
Recht die Natur.
Aber den Schutz der Menschen in Betrieb und Gesellschaft
überlassen wir dem
Wirken der Marktgesetze. Eine Nachhaltigkeit der ethischen
Verantwortung steht
noch aus. Sie muss die Menschenrechte um die Zeitdimension der
Nachhaltigkeit
erweitern und das Recht auf Entwicklung des Menschen als
entwicklungswertes
Kunstwerk in den Mittelpunkt stellen. Das kann nicht im Gegensatz, das
muss in
der Versöhnung mit der Natur geschehen. Trotzdem bildet sich
dadurch eine
zweite Dimension. Sie umfasst die Verantwortung für die
gegenwärtige und
zukünftige Generation in der Konfrontation gegen die
herrschende Statik des
Systems. Verantwortung aus Überzeugung und nicht aus Pflicht,
das könnte ein
wesentlicher Baustein einer neuen deutschen Zukunft sein.
1
Heribert
Prantl: »Merkel, ›Mamma
mia!‹«, in: SZ,
17.10.09.
2
»Legenden
um Luther: Luther in Worms«, KDG Wittenberg.
http://www.luther.de
3
G. W. F. Hegel:
Vorlesung über die Philosophie der
Religion, Frankfurt am Main 1969, Bd. 17, S. 329.
4
Max Weber hat
in der protestantischen Ethik den Nachweis
gesucht, dass die Ideen einer Werksmoral zur Kapitalbildung
führten. Was er
nicht untersucht hat, ist der systembildende Charakter der dabei
entstehenden
Rationalität. Siehe M. Weber: Die Protestantische
Ethik, Bd. I.,
Tübingen 1972, S. 107.
5
Platon: Gesetze
(Nomoi) 644 e. Die Menschen werden
hier von den Göttern über goldene Fäden
gelenkt. Das sei die »heilige Leitung
der vernünftigen Überlegungen, die man das gemeinsame
Gesetz des Staates
nennt«.
6
G. W. F. Hegel:
Philosophie des Rechts, Frankfurt am
Main 1969, Bd. 7, S. 347. Hegel
zitiert hier fast wörtlich aus Adam Smith: An
Inquiry into the nature and
causes of the wealth of nations (1776).
7
Adam Smith: Der
Reichtum der Nationen (1776). Zit.
von Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre, Bd.
1, S. 56.
8
Paul A.
Samuelson: Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S.
56–59.
9
Ebd., S. 65.
10
Siehe Joseph
Stiglitz: »Worauf es ankommt. Ein Jahr nach dem
Banken-Crash«, in: Blätter für
deutsche und internationale Politik 9/09.
11
Siehe dazu
Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde,
Göttingen 2001, S. 310.
12
Paul Krugman: Der
Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg,
Frankfurt am Main 1999, S. 21 ff. In den USA 1994 ist
der Artikel unter
dem Titel »Competitiveness: A Dangerous Obsession in Foreign
Affairs«
erschienen.
13
Ebd., S. 90 ff.
– Die Theorie der »komparativen Vorteile«
im
Handel zwischen Ländern geht auf David Ricardo
zurück. Er hat herausgefunden,
dass ein Ȋrmeres Land immer noch einen komparativen
Kostenvorteil erzielt,
wenn es sich darauf beschränkt, nur die Güter zu
produzieren, die es mit dem
relativ geringsten Aufwand herstellen kann«.