Xaver Brenner


Von Statik und Dynamik

Altes Systemdenken und neue gesellschaftliche Entwicklung



Während die übrige Welt über die Zukunft debattiert und die USA den Wechsel wählten, wurden im deutschen Wahlkampf all jene Themen ausgeklammert, die nur ansatzweise die Zukunft problematisiert hätten. Die Finanzkrise wurde fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt steigender Arbeitslosigkeit infolge des Exportrückgangs diskutiert. Bildungs-, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik waren Randthemen wie Alterung der Gesellschaft und Migration. Die Volksparteien wollten dem Souverän jede Beunruhigung ersparen. Und der Souverän? Will er die Krisen diskutieren? Ganz offensichtlich nicht. Abgeschieden in unserer deutschen Befindlichkeit lieben wir die Statik und haben eine furchtbare Abneigung gegen jede gesellschaftliche Dynamik.


Der deutsche Wiederholungswunsch

Doch jede gesellschaftliche Entwicklung kann nur aus der Wahl der Zeit, aus dem Wunsch und dem Willen zur Entscheidung in der Gegenwart entstehen. Geschichte muss gemacht werden, sonst wird sie erlitten. Liegt hier die Wurzel des deutschen Leidens? Verstehen wir Geschichte immer nur als die Wiederholung des Alten? Liegt im Wunsch nach Wiederholung der Schlüssel zum Verständnis unserer Muster und Verhaltensweisen? Der biedere deutsche »Wohlfühlwahlkampf« mit all seinen Vermeidungsmustern deutet in diese Richtung. Folgen wir dieser Spur, so stoßen wir zuerst auf den Wunsch, Geschichte könne sich als Schicksal, ohne eigenes Zutun ereignen. So war der Slogan des SPD-Herausforderers Steinmeier konstruiert: »Unser Land kann mehr …«. Im Wahlkampf war doch ein alternatives Programm der SPD gefragt? Fällt das automatisch vom Himmel auf das Land? Fatalistisch, ohne Konzept, quasi schicksalsergeben steuerte die SPD mit ihrem »Weiter so« aus der Großen Koalition in ihre größte Niederlage. Man wünschte die Wiederholung mit Merkel. Gerade dadurch aber unterlag die SPD dem »System Merkel«.(1) Das Alte zu wiederholen, konservieren, das können die Konservativen in jedem Fall noch besser.

Das »vielgesichtige« System Merkel besteht ja gerade darin, es jedem recht zu machen, keinen zu verprellen und jedem zu suggerieren, er sitze mit »ihr« in einem Boot. An diesem System ist vor allem die Beliebigkeit in der Kursbestimmung bemerkenswert. Eigentlich sollten im Boot doch alle wissen, welcher Kurs gesegelt wird. Doch richtungslos wie der Wahlkampf war, ist auch dieses System. Irgendwie ergibt sich der Kurs aus den mächtigsten Zeitströmungen. Durch sie ist es getrieben. Und die mächtigste Strömung ist zurzeit die des Geldes. In der Finanzkrise genügte den Deutschen die Auskunft, es müssten die »systemrelevanten Banken« gerettet werden, und schon bekam die Große Koalition die Zustimmung, ein gigantisches Bürgschafts- und Schuldenpaket aufzulegen. Die Rettung des »Systems« allein genügte als Legitimation.


Das Geheimnis im System der Ordnung

Was ist so faszinierend am System, dass die Deutschen bei seiner Erwähnung in Ehrfurcht erstarren oder im Fall seiner Krise regelrecht in Furcht geraten? In unserer Kultur erzeugt die Furcht um den Erhalt des Systems immer wieder die Neigung, sich bedenkenlos den mächtigsten politischen und ökonomischen Strömungen zu überlassen. Was gewinnt eine Kultur, wenn sie sich der Macht überlässt? Sie gewinnt ein funktionierendes, sich selbst regelndes System. Der Einzelne muss nicht agieren, er darf sich rein dem Reagieren überlassen.

Hier hilft der Blick in die deutsche Geschichte. Auf dem Reichstag in Worms erklärte Luther, er sei »gefangen in dem Wort Gottes. Daher kann und will ich nicht widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.« Das Lutherwort also: »Hier steh ich und kann nicht anders!«(2) Das Gewissen bildet die Mittelstelle zum System Gottes. Es gibt dem Tun in der Rückkoppelung Halt und Sicherheit und der Seele wiederum die Anerkennung des ganzen Systems. Deshalb ist diese Gewissheit heilsam. Sie bildet die Wende in der deutschen Geistesgeschichte, wie Hegel sagt. In ihr käme nämlich der Gedanke der »Vereinigung mit Gott im Geiste« des Menschen zum Ausdruck. Die Vereinigung kommt ausschließlich im Inneren des Gläubigen zustande, wo er sich mit der objektiven Idee vereinigt. Dadurch ist der gläubige Mensch für Hegel ein Schöpfer, denn er erzeugt in seinem »Geist« seine »erfüllte Gegenwart«.(3) Hat er das einmal erlebt, so will er immer in dieser Gegenwart leben. Die Gegenwart dieses Systems gibt ihm die Gewissheit und Sicherheit, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Luther war, wie Hegel, ein deutscher Pflichtmensch, der voll »im Werkzeug-Seins für seinen inneren Gott« aufging. Die Haltung des Werkzeug-Sein als pflichtvolle Erfüllung der gerade gestellten Aufgabe übersetzt Hegel auf die Stellung des Bürgers zum preußischen Staat. Er war die Inkarnation des lutherischen Systems(4) der inneren Pflicht mit der äußeren Verpflichtung. Diese Maschine der Vernunft, wie Hegel den Staat beschreibt, war ordentlich bis in den Tod.

Hegels Systemtheorie baut auf diese Pflicht. Er sieht im preußischen Staat die perfekteste bürokratische Maschine seiner Zeit. Sie war ihm die Verwirklichung der perfekten Ordnung auf Erden. Der »Immer-Wunsch«, in der Perfektion zu leben und ihr Ausdruck zu sein, liefert uns den Schlüssel zur deutschen Perfektion. Immer suchen wir die beste Maschine zu bauen, das störungsfreieste System zu entwickeln, das geringste Risiko zu erleiden. Systeme, Routinen, Ordnung entlasten. Doch in der Überperfektion stellen sie das Leben still. Nur zu oft sind wir in der ständigen Wiederholung der immergleichen Perfektion auf der Sandbank der Statik aufgelaufen. So hat eigentlich der Wunsch, Kritik zu vermeiden, Risiken zu umgehen, Störungen schon vor ihrem Auftreten aus dem Wege zu gehen, unsere Kultur in eine Sackgasse der Statik geführt. Das finden wir nicht gut, denn wir wissen: »Stillstand ist Rückschritt!« Aber mit dem Wunsch nach Veränderung steht unter den deutschen Verhältnissen immer derselbe Verhinderer auf: die Frage nach der perfekten Alternative. Doch weil es eine perfekte Systemalternative nicht gibt, sind wir unter deutschen Bedingungen zum Abwarten verurteilt, bis uns die Verhältnisse selbst an den Rand des Systemzusammenbruchs führen.

Nur zu oft wird übersehen, dass es neben dem Ordnungssinn eine zweite Quelle der Perfektion gibt. Für Hegel ist es die Vernunft selbst, die in ihrer ewigen Entwicklung aus sich heraus wirkt. Sie arbeitet wie ein Marionettenspieler. Nach der Idee Platons gibt es eine »heilige Leitung« durch ewig gültige, unsichtbare »Gesetze« im Staat.(5) Seit damals begleitet unsere Kultur der geheime Wunsch nach unsichtbarer, aber richtiger Führung. Hegel greift diese Idee auf und findet sich bestätigt, als er die ökonomischen Schriften von Adam Smith über den »Wohlstand der Nationen« las. Smith habe mit der Entdeckung der »unsichtbaren Hand« das Gesetz der Vernunft auch in der Ökonomie gefunden. Nach ihm seien die Menschen von »einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst eintritt.«(6)

Mit der Idee der unsichtbaren Hand (invisible hand) glaubte Adam Smith ein ökonomisches Gesetz von zweifacher Wirkung entdeckt zu haben. Er nahm an, dass jeder Kapitalist, indem er seinen egoistischen Interessen folgt, am Ende etwas tut, was er eigentlich gar nicht will. Er fördere auch das Allgemeinwohl. Produziert er neue, preiswertere Waren, um damit seinen Konkurrenten aus dem Markt zu werfen, so vollbringe der Kapitalist ein doppeltes Werk. Sein eigentliches Ziel, das der Gewinnmaximierung, erzeuge ein uneigentliches Ergebnis, die wohlfeile Anbietung von Waren und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen für alle. Das sei nicht sein Wille gewesen, aber das systemische Ergebnis seines Handelns. Hegel sieht hier den Weltgeist an der Arbeit. Er arbeitet systematisch wie ein preußischer Buchhalter nach dem Rationalitätsprinzip. Man sieht es nicht, aber es wirkt. Und es bewirkt etwas, das dem deutschen Wesen doch sehr entgegenkommt: Es erzeugt eine automatisierte Ordnung nach einem unbeeinflussbaren, also entlastenden Prinzip.


Der Systemfehler in der Zauberformel

»Jeder Einzelne wird sich darum bemühen, sein Kapital so anzulegen, dass er den höchsten Wert erzielen kann. Im Allgemeinen wird er weder darauf aus sein, das öffentliche Wohl zu fördern, noch wird er wissen, inwieweit er es fördert. Er interessiert sich lediglich für seine eigene Sicherheit und seinen eigenen Gewinn. Und dabei wird er von einer unsichtbaren Hand geleitet, ein Ziel zu fördern, das keineswegs in seiner Absicht gelegen hatte. Indem er seinen eigenen Interessen dient, fördert er das Wohl der Allgemeinheit oft auf weit wirksamere Weise, als wenn es in seiner wahren Absicht gelegen hätte, es zu fördern.«(7)

Die smithsche Zauberformel von der marktübergreifenden Vernunft des Preismechanismus(8) barg von Anfang an mehrere Probleme. Die vollständige Ausschaltung des Egoismus durch den Egoismus hatte schon Smith selbst als theoretische Konstruktion verstanden. Einmal war der »Wettbewerb nicht vollständig«, denn der Kapitalismus neigt zur Monopolbildung. Zweitens: Um Ungleichgewichte zu vermeiden, greift der Staat als Geschäftsführer der Gesellschaft ein. Wenn er das tut, so muss er sich, nach der ökonomischen Logik, in einen Marktteilnehmer verwandeln. Er tritt dann auf dem Markt auf, »als wenn es sich bei (den staatlichen Aktionen, X. B.) nicht um kollektive, sondern um individuelle Bedürfnisse handelte.«(9) Damit kommt ein drittes Thema ins Spiel. Hinter der volkswirtschaftlichen Rationalität taucht immer wieder die betriebswirtschaftliche Rationalität auf. Sie sucht beständig den Preismechanismus zu ihren Gunsten zu verändern. Dadurch wird die »Unvollständigkeit des Wettbewerbs« zur Realität, weil mächtige Gruppen über Informationsvorteile Einfluss auf den Staat nehmen, um ihre Interessen durchzusetzen.(10)

Eine gerechte »Ökonomie des ganzen Hauses« (Aristoteles)(11) auf der Grundlage des Preismechanismus war nicht entstanden. Die smithsche Formel war entzaubert. Der Markt bedarf des Staates. Das »Mischsystem« (Samuelson) von »Markt- und Staatslenkung« hatte sich als System des »Wohlfahrtsstaats« durchgesetzt. Mit dem Siegeszug von Keynes und der Globalsteuerung sah es in den Siebziger- und Achtzigerjahren so aus, als sei der Sieg des Keynesianismus endgültig. Doch mit der Ölkrise und anderen krisenhaften Erscheinungen trat die lange verdrängte Seite der betriebswirtschaftlichen Rationalität wieder in den Vordergrund. Der Pendelschlag ging mit Friedrich von Hayek und Milton Friedman in die andere Richtung. Jetzt wurde das Interesse des kapitalistischen Einzelbetriebes, die »Betriebswohlfahrt«, als Dreh- und Angelpunkt der Gesamtwirtschaft wieder entdeckt.


Die Verbetriebswirtschaftlichung der Politik

Übertragen in die Politik wurde der Vorrang der »betriebswirtschaftlichen Rationalität« unter den Schlagworten »Reaganomics« und »Thatcherismus« bekannt. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine Renaissance des Wirtschaftsliberalismus. Es geht und ging um die Rückkehr zum Prinzip der unsichtbaren Hand. Das Einzelunternehmen und seine Funktionsfähigkeit bekamen den Vorrang vor dem Gesamtinteresse. Zwar sprach man in der Betriebswirtschaftslehre immer von gesamtgesellschaftlicher Verpflichtung. Doch die gesellschaftlichen Kosten wurden nur zu gerne als »unproduktive Aufwendungen« begriffen. Die »Wettbewerbsfähigkeit« des Einzelunternehmens stand im Zentrum dieses Denkens. Hier lohnt der Blick in die USA. Dort fand in den Achtzigerjahren eine theoretische Diskussion über die »Wettbewerbsfähigkeit« von Ländern statt. Krugman hat sie eine »gefährliche Obsession« genannt.(12) Länder wurden mit Unternehmen verglichen. Angeblich konkurrieren sie wie Firmen miteinander. »Was gut ist für General Motors, das ist gut für Amerika!« Doch Länder konkurrieren nicht wie Firmen um Kunden. Volkswirtschaften erzeugen in ihrem Inneren Güter und Dienstleistungen für ihren Binnenmarkt, also für den »eigenen Verbrauch«. Demgegenüber verkauft selbst das größte Unternehmen nur einen minimalen Teil seiner Produktion an die eigene Belegschaft.« Darüber hinaus haben Länder einen Nutzen vom weltweiten Austausch. (Krugman) In der Frage des Außenhandels hat sich die Unternehmensstrategie auf noch eigenartigere Weise durchgesetzt. Hier wird der »wechselseitige Vorteil internationaler Wirtschaftsbeziehungen (comparative advantage) mit Wettbewerbsvorteil (competitive advantage) von Unternehmen verwechselt.«(13) Krugman, der diesen Fehler entdeckte, führt ihn auf die begrenzte Sichtweise von Unternehmen zurück.

Doch es steckt mehr dahinter. Der »Fehler« ist systemischer Natur. Krugman hat den Schlüssel für die Bevorzugung der betriebswirtschaftlichen Logik gefunden. In der Formel von der »unsichtbaren Hand« wirkt nämlich ein geheimer Reduktionismus. Alles wird letztlich auf die einfachste Rationalität reduziert. Und die zeigt sich im egoistischen Betriebsinteresse. Das egoistische Einzelinteresse des Betriebes wirkt als Vorbild.

Bei dieser Lage wundert es nicht, dass die betriebswirtschaftliche Logik zum Handlungsmuster auch innerhalb der Industrieländer wurde. Als »Change Management« ist das innerbetriebliche Veränderungsmanagement zum Vorbild für die Gesamtgesellschaft geworden. Das hat zum Abbau demokratischer Macht und zum Aufbau ökonomischer Selbstermächtigung geführt. Das Recht, Macht auszuüben und Veränderungen in der Gesellschaft zu erzwingen, verlagerte sich in die Großbetriebe. Dabei veränderte sich nicht nur die Machtbalance im Gesellschaftsgefüge. Mit dieser Theorie akzeptierten die Industriegesellschaften, dass die gesellschaftliche Dynamik aus dem betrieblichen Wirtschaften zu kommen hat. Der Staat hat diesem Kraftzentrum zu dienen. Ganz nebenbei entstand mit dem Vorrang der betriebswirtschaftlichen Rationalität ein neues Gesellschaftsbild. Das Augenmerk galt ausschließlich dem Wohl der Großfirmen. Der Mittelstand und weite Teile der Gesellschaft, die ihre betriebswirtschaftliche Produktivität nicht ausweisen konnten, fielen unter das Verdikt »unproduktiv« und wurden damit vernachlässigt. Mit dem Blick auf die Betriebswelt wurde eine eigenartige Betrachtung von Dynamik und Statik geboren. Alles, was dem Betriebsinteresse diente, war zu fördern. Computer in Kindergärten waren eine gute Investition für den »Betrieb USA« oder das »Unternehmen Deutschland« in ihrem »Kampf gegen Japan und China«. Gleichzeitig entstanden dabei gute Rahmenbedingungen für Siemens oder Daimler. Interessant ist, dass die Zunahme der betriebswirtschaftlichen Ökonomisierung in der amerikanischen Gesellschaft ausgerechnet mit dem Demokraten Clinton begann. Seinen Wahlkampf gegen Bush sen. (1992) gewann er mit dem Slogan: »It’s the economy, stupid!« Gemeint war: Nur ein Dummkopf kann den Vorrang der Ökonomie leugnen. Damit setzt ausgerechnet Clinton die endgültige Verbetriebswirtschaftlichung unserer Politik durch.

Der Siegeszug der betriebswirtschaftlichen Rationalität wäre nicht vollständig beschrieben, ohne Milton Friedman und seine Theorie der Geldpolitik zu erwähnen. Sie lieferte die theoretischen Grundlagen sowohl für den Rückzug des Staates aus der Kontrolle der Geldpolitik sowie die Vorlage für die Privatisierung derselben. Auch hier kann man diese »neue Dynamik« betriebswirtschaftlicher Rationalität bewundern. Es ging nach ihrem Bedürfnis nun darum, auch das gesellschaftliche Tauschmittel Geld über die Groß- und Investmentbanken in die Hand zu bekommen. Mit Geld werden dort keine gesellschaftlichen Bedürfnisse vermittelt. Geld als Tauschmittel hat für günstigste Produktionsverhältnisse des Großunternehmens zu sorgen. Und für das Bankgewerbe ist Geld selbst zu einer Ware geworden, die »hergestellt« wurde. Auch wenn dieses Projekt in der Finanzkrise zunächst gescheitert ist, so hat es doch noch im Absturz der Investmentbanken die Macht der »betrieblichen Rationalität« bewiesen. Die Staatenwelt konnte sich aus den von den Großbanken geschaffenen Geldstrukturen nicht befreien. Sie mussten und müssen weitergeführt werden, weil ihr Wirken »systemrelevant« ist.


Die Übertragung des amerikanischen Change Managements auf die SPD-Politik

In Deutschland hat die rot-grüne Regierung unter Schröder den entscheidenden Schritt in die Verbetriebswirtschaftlichung der Politik getan. Augenfällig ist dies geworden am Duo Schröder-Hartz. Schröder hat mit seiner Agenda 2010 das Change Management von den USA auf die deutsche Gesellschaft übertragen. Ausgebrütet im engsten Beraterkreis wurde sie der eigenen Partei, dem Parlament und dem Volk aufgezwungen. Die Reform folgte keinem offenen, nach vorne gerichteten demokratischen Konzept. Sie war konzipiert als Reduktionsreform. Sie reduziert die Gesellschaft auf das Bild von Betrieben und reformiert sie dann nach dem Muster betrieblicher Macht- und Funktionsmuster. Die neue Systemtheorie Schröders folgte dem betrieblichen Veränderungsmanagement. Folgerichtig wurde die SPD-Politik vom Wähler als eine technokratische Reform aufgefasst, die seine Rechte verkleinert. Der Wähler und die SPD-Mitglieder wurden nach dem Muster des Change Managements »reformiert«, in Wirklichkeit aber reduziert.

Nach dieser Logik ist alles, was den Unternehmen dient, auch gut für die Bevölkerung. Folgerichtig hat der Personalchef von VW, Hartz, die Betriebsrationalität des größten Autoherstellers der Republik zur Vorlage für die »Sanierung« des gesamten Arbeitssektors genommen. Mit den Hartz-Gesetzen hat die SPD ein neues Profil gewonnen. An die Stelle des gesellschaftlichen Systems und seiner Vernunft trat jetzt das System des Betriebsinteresses. Die Betriebräte großer Unternehmen haben diese Politik immer betrieben und sie unterstützt, während Teile der Gewerkschaften dieser schröderschen Logik nicht mehr folgen konnten.

Warum sich Müntefering und Steinmeier aus dieser Politik nicht befreien konnten, sondern statisch in ihren Positionen verharrten, liegt hier begründet. Mit dem weltweiten Sieg der betriebswirtschaftlichen Rationalität ist die politische Dynamik auf den Betrieb übergegangen. Von jeher hatte das betriebliche System im sozialdemokratischen Denken den Vorrang. Die SPD geriet so in ein doppeltes Problem. Ursprünglich galt die Annahme: Entwickeln sich Großbetriebe aufgrund ihrer inneren Dynamik, so folgen sie bei der Entwicklung ihrer Produktivkräfte einer unsichtbaren Hand. Im Gefolge dieses Gesamtsystems, so nahm die alte sozialdemokratische Theorie an, wird einmal von ganz alleine Wohlstand für alle verwirklicht. Der zweite Fehler der alten Theorie lag und liegt im Entlastungsgedanken. Er lautete: Man folge nur der Gesamtrationalität, so liege man in der Entwicklung der eigenen Politik immer richtig. Doch hinter dem Rücken der SPD, ja der gesamten Bevölkerung, entschied Schröder, dass nun die betriebliche Vernunft entscheidet. Heute wissen wir: Was gut ist für GM, ist jedoch nicht einmal gut für Opel. Folglich ist nicht nur die Abnahme der traditionellen Wählerschaft ein Problem für die SPD. Ihr Hauptproblem liegt in der alten systemgelenkten Hoffnung der deutschen Politik. Immer noch glaubt sie, ihr könne die Entscheidung abgenommen werden – man könne also in Statik verharren – weil die Vernunft des jeweils vorherrschenden Systems für den Einzelnen oder die Gruppe entscheidet. Die SPD ist und war eine Systempartei. Das kann ihr zum Verhängnis werden.


Über einen neuen Gesellschaftsvertrag

Immer wieder ist von einem »neuen Gesellschaftsvertrag« die Rede. Was kann man sich darunter vorstellen, was will man damit sagen? Zunächst ganz offensichtlich das Ende des alten. Wenn jener sich durch die besondere Sehnsucht nach Statik ausgezeichnet hat, dann müsste der neue im Versuch bestehen, diese Gesellschaft in Dynamik zu versetzen. Unter den besonderen deutschen Umständen kann dies zuerst nur in Gedanken geschehen. Das muss kein Fehler sein, wenn wir keine perfekten Alternativen verlangen, wo dynamisches Suchen und Experimentieren gefragt ist.

Dabei muss die Rationalität des ganzen Hauses zurückgewonnen werden. Alles, was der guten Regierung der Gesellschaft dient, muss auch wieder als nützlich und gut verstanden werden. Eine Vorraussetzung für ein neues Wertesystem ist die Wiedergewinnung von Zivilcourage. Betrachten wir uns als entwicklungswerte Gesellschaft, dann muss jeder seine persönliche Verpflichtung verstehen. Dieser neue Gesellschaftsvertrag beginnt im Aufbau der »guten Selbstregierung«. Wenn jeder sich selbst so gut »regiert«, wie er selbst »regiert« werden will, dann gewinnen wir einen Ort in uns, der nicht vom System bestimmt ist. Doch das betrifft nur die persönliche Grundbedingung. Sie müsste ergänzt werden durch die Idee einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Mit der Idee der Nachhaltigkeit schützen wir zu Recht die Natur. Aber den Schutz der Menschen in Betrieb und Gesellschaft überlassen wir dem Wirken der Marktgesetze. Eine Nachhaltigkeit der ethischen Verantwortung steht noch aus. Sie muss die Menschenrechte um die Zeitdimension der Nachhaltigkeit erweitern und das Recht auf Entwicklung des Menschen als entwicklungswertes Kunstwerk in den Mittelpunkt stellen. Das kann nicht im Gegensatz, das muss in der Versöhnung mit der Natur geschehen. Trotzdem bildet sich dadurch eine zweite Dimension. Sie umfasst die Verantwortung für die gegenwärtige und zukünftige Generation in der Konfrontation gegen die herrschende Statik des Systems. Verantwortung aus Überzeugung und nicht aus Pflicht, das könnte ein wesentlicher Baustein einer neuen deutschen Zukunft sein.


1

Heribert Prantl: »Merkel, ›Mamma mia!‹«, in: SZ, 17.10.09.

2

»Legenden um Luther: Luther in Worms«, KDG Wittenberg. http://www.luther.de

3

G. W. F. Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Religion, Frankfurt am Main 1969, Bd. 17, S. 329.

4

Max Weber hat in der protestantischen Ethik den Nachweis gesucht, dass die Ideen einer Werksmoral zur Kapitalbildung führten. Was er nicht untersucht hat, ist der systembildende Charakter der dabei entstehenden Rationalität. Siehe M. Weber: Die Protestantische Ethik, Bd. I., Tübingen 1972, S. 107.

5

Platon: Gesetze (Nomoi) 644 e. Die Menschen werden hier von den Göttern über goldene Fäden gelenkt. Das sei die »heilige Leitung der vernünftigen Überlegungen, die man das gemeinsame Gesetz des Staates nennt«.

6

G. W. F. Hegel: Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1969, Bd. 7, S. 347. Hegel zitiert hier fast wörtlich aus Adam Smith: An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776).

7

Adam Smith: Der Reichtum der Nationen (1776). Zit. von Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 56.

8

Paul A. Samuelson: Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 56–59.

9

Ebd., S. 65.

10

Siehe Joseph Stiglitz: »Worauf es ankommt. Ein Jahr nach dem Banken-Crash«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/09.

11

Siehe dazu Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 310.

12

Paul Krugman: Der Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg, Frankfurt am Main 1999, S. 21 ff. In den USA 1994 ist der Artikel unter dem Titel »Competitiveness: A Dangerous Obsession in Foreign Affairs« erschienen.

13

Ebd., S. 90 ff. – Die Theorie der »komparativen Vorteile« im Handel zwischen Ländern geht auf David Ricardo zurück. Er hat herausgefunden, dass ein »ärmeres Land immer noch einen komparativen Kostenvorteil erzielt, wenn es sich darauf beschränkt, nur die Güter zu produzieren, die es mit dem relativ geringsten Aufwand herstellen kann«.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009