Balduin Winter
Panasiatische Netzwerke
Könnte es sein, dass wir
uns in einer längeren Umbruchphase befinden, in der sich eine vermeintlich »flache Welt« (Thomas Friedman) auf eine
Weise neu konturiert, die nicht mit den uns vertrauten Politikmustern erklärbar
ist? Um ein paar »Möglichkeiten« anzudeuten: Vielleicht wird in zwei, drei
Jahrzehnten ein »Westasien« existieren, in dem ein »muslimischer Kapitalismus«
Zivilgesellschaften entwickelt hat. Weiter: Es werden andere Teile Asiens –
heute politisch, ethnisch, kulturell, religiös sehr zerklüftet – von Netzwerken
mit hoher Integrationsfähigkeit verbunden sein, hervorgegangen aus den
aktuellen Bünden ASEAN (Südost), SAARC (Süd), GCC (Golf), SCO (Zentral) und dem
sich in nächster Zukunft bildenden ostasiatischen Bündnis zwischen Japan,
Südkorea und China. Diese Netzwerke gehen weit über wirtschaftliche Zusammenarbeit
hinaus, heute kursiert schon dafür ein Begriff zwischen Shanghai, Singapore und
Djakarta, der des »Panasianismus«. Die globale Finanzkrise dämpfte die
Aufbruchstimmung nur unwesentlich.
Wenig Sinn hat es, über
aktuelle und zukünftige Entwicklungen in Asien im alarmistischen Duktus der
»Gefahr aus dem Osten« zu schreiben, wie Wolfgang Hirn oder Michael Stürmer.
Letzterer imaginiert in seinem Buch Welt ohne Weltordnung – wer wird die
Erde erben? eine aufziehende »nachkoloniale, wieder ins Vorstaatliche
treibende hobbesianische Welt, wo das Leben den düsteren Gesetzen des
Naturzustands gehorcht«. Das alte Europa werde von »angriffslustigen, jungen Gesellschaften«
Asiens überrannt, die USA werde es trotz ihrer »rüden Flexibilität« nicht viel
länger aushalten.
Natürlich hat man, blättert
man in Prognosen der Neunzigerjahre, die Dynamik Asiens völlig unterschätzt.
Überschätzt hatten sich die Betreiber des »Project for The New American
Century«, sie scheiterten an der »imperialen Versuchung«, die Joscha Schmierer
in seinem Buch Keine Supermacht, nirgends. Den Westen neu erfinden
analysiert. Schwarzmalerei ist aber nicht angebracht. Denn es sei eben auch die
starke Seite des Westens, insbesondere der USA, sich selbst neu erfinden zu
können. Auch Herfried Münkler warnt davor, die USA bei jedem Politikwechsel
herunterzuschreiben, denn »jedes Mal haben sich die Vereinigten Staaten nach
einer kurzen Phase politischen oder ökonomischen Schwächelns wieder erholt und
eine weltpolitische Rolle gespielt, die ihnen kurz zuvor keiner mehr zugetraut
hätte. Die amerikanische Verfassung eröffnet nun einmal die Möglichkeit, dass
sich das Land mit jedem Präsidentenwechsel ›neu erfindet‹, gleichsam wieder von
vorne angefangen werden kann.« (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte
6/09)
So etwas wie ein
»Sich-neu-Erfinden« ist in Ansätzen in der politischen Literatur der USA zu
bemerken. Seit 2007 gibt es eine nicht abreißende Debatte über die veränderte
Rolle Amerikas. Die Haupttendenz in der Welt, so ein Gutteil der politischen
US-Publizistik, ist der Multilateralismus der Staatenwelt, die auf hegemoniale
Gesten misstrauisch reagiert. Auffallend dabei ist die veränderte Sichtweise
auf »Asien«.
Bedrückende »alte«
Themen, heftig debattiert, sind naturgemäß Irak, Afghanistan, Iran und Israel/Palästina. Doch werden in nahezu
allen Bereichen von Nahost über Iran bis China neue Pflöcke für die
Außenpolitik eingeschlagen. Ein Gradmesser ist das Council on Foreign Relations
(CFR), eine honorige Versammlung hochkarätiger Politiker und Professoren mit
Richard N. Haass als Präsidenten, der im Iran ein militärisches Vorgehen
ausschließt: »Solch ein Schlag würde bestenfalls das iranische Programm verzögern:
Es ist unmöglich, zu zerstören, was unbekannt ist, und es ist nicht immer
möglich, zu zerstören, was bekannt ist, wenn das Ziel gut abgeschirmt wird.«
Im CFR wird auch die
Iran-Politik kontrovers diskutiert. Kayhan Barzegar von der Islamic Azar
University Teheran (»Iran, the Middle East, and
International Security«, in: Ortadogu Etütleri, July 2009)
beharkt den Irakkrieg: Der Iran habe »äußersten Nutzen« aus der US-Politik der
jüngsten Vergangenheit ziehen können, da diese die Machtbalance des Nahen und
Mittleren Ostens durch ihr Eingreifen im Irak entscheidend verschoben habe –
zum Nachteil der arabischen Staaten und Israels. Die Politik der USA habe nicht
nur den »schiitischen Bogen« gestärkt, sondern auch Russland (wieder) und China
(neu) ins Spiel gebracht. Ein Nachteil für Iran: die sehr hohe weltpolitische
Aufmerksamkeit.
Der Iran auf dem Weg zur
Regionalmacht? Senator John F. Kerry stellt ein »Must Read« vor, das »einen
Paradigmenwechsel in der muslimischen Welt enthüllt ... und uns den Schlüssel
zum Sieg im kalten Krieg gegen den Iran und die Extremisten überreicht«: Forces
of Fortunes von Vali R. Nasr.
Dieser setzt mit einer
zentralen Einschätzung an: »Die große Ironie der fundamentalistischen Drohung
ist, dass die zwei Jahre von 1979 bis 1981, in denen islamischer Fundamentalismus
die Welt erschütterte und den Westen erschreckte, zugleich der Höhepunkt seiner
Macht war.« Dann folgen USA-Schelte: Unzulässig grobe Vereinfachung sei es
gewesen, einen »kalten Krieg« gegen den Fundamentalismus führen zu wollen. Die
Kritik ist verbunden mit der Skizze einer raschen Entwicklung: »Der Mittlere
Osten ist nicht einfach eine Zone des Zusammenpralls extremer Ideen und
verbissener Terroristenarmeen. Es ist ein Ort kämpfender und aufwärtsstrebender
Wirtschaftssysteme, wo neue Klassen und Geschäftseliten auf ihren Wegen tiefer
in die Machtstrukturen vieler Länder vordringen, wobei in vielen Ländern
religiöser, sozialer und politischer Wandel in Gang gesetzt wird.« Dem Iran
mangelt es jedoch, um eine regionale Führungsrolle einzunehmen, an
wirtschaftlicher Macht – trotz einer hochqualifizierten Intelligenz und
Arbeiterschaft. »Sein Bruttoinlandsprodukt ist nicht größer als das von
Massachusetts.« Obwohl er dreimal mehr Menschen hat als Saudi Arabien, wendet
er nur ein Drittel der saudischen Ausgaben für Militärs auf. Im Vergleich dazu
hing Indiens Aufstieg nicht mit seinen Kernwaffen zusammen, sondern mit seiner
innovativen Wirtschaftskraft.
Jetzt kreist er seinen
Gegenstand ein: Die protestierende Zivilgesellschaft ist ein Produkt des
privaten Sektors in der iranischen Wirtschaft. Darauf läuft es hinaus:
Zunehmend entfaltet sich in den muslimischen Ländern der Kapitalismus und
schafft eine immer breitere Mittelschicht von Geschäftsleuten, Technikern und
Lohnabhängigen: »Eine wesentliche Eigenschaft dieses blühenden Kapitalismus
ist, dass er so sehr zum Wiederaufleben des traditionellen islamischen Glaubens
passt. Über den ganzen Mittleren Osten formt die Frömmigkeit den Verbrauch.
Jene, die den Islam leben, verlangen auch nach islamischen Waren. ... Eine
Fabrik im Islam eröffnen ist eine Art Gebet.« Diese neuen Schichten werden
immer einflussreicher. Sie rekrutieren sich nur zum geringen Teil aus den alten
Eliten, der weit größere Teil »kommt aus den provinziellen und unteren
Gesellschaftsklassen«. Eine Milliarde Muslime werden »in diesem Jahrhundert
eine kapitalistische Revolution erleben«. Sie wird die Triebkraft sein für den
Kampf um Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte. »Der entscheidende Kampf für
die Zukunft der Region ist nicht der um die Religion. ... Der Schlüsselkampf
ist der Kampf um die Freigabe der Märkte.« Als Beleg dafür dient Vali Nasr
Chinas wirtschaftliche Öffnung, die längerfristig betrachtet auch zu einer
allmählichen Liberalisierung der Gesellschaft führe.
Worüber sich streiten lässt.
Vali Nasr’s »Paradigmenwechsel« ließe sich kurz auch so fassen: Unterstützt
unseren Wirtschaftsaufbau, gebt uns Kredite, helft der neuen Mittelschicht beim
Aufbau eines modernen Finanzwesens, aber redet uns nicht in die Politik hinein;
gebt uns viel Zeit, die Veränderungen kommen schon von selbst, die Muslime
lieben den Kapitalismus, die Golfstaaten sind der lebende Beweis. Aber inwieweit
lässt sich China als »Beweis« zitieren?
Vor Barack Obamas
Asienreise Mitte November erschienen zwei Reports mit Einflusscharakter, einer von Nina Hachigian,
Winny Chen und Christopher Beddor vom regierungsnahen Center for American
Progress (CAP) und ein weiterer von Evan A. Feigenbaum und Robert A. Manning
vom CFR und der Brooking Institution. Im Ersteren heißt es: »China sieht sich
nicht mehr als das einflussreichste Mitglied der Gruppe G-77 der
Entwicklungsländer, sondern als eine Nation, die in zunehmendem Maße seinen
Platz in der vordersten Reihe der globalen Führung wahrnimmt. Die chinesische
Regierung weiß, dass sie nicht länger abseits der internationalen Gemeinschaft
stehen kann.« Feigenbaum und Manning schlagen eine Politik vor, die dem »Muster
der deutsch-französischen Freundschaft« folgen soll. Sie weisen darauf hin,
dass die Rolle der USA nach dem Zweiten Weltkrieg als dominante Bündnismacht in
den den Kommunismus umgebenden und ihn einhegenden Bündnissen eine
Ausnahmesituation war. Heute müsse die USA ihre Rolle im strategisch wichtigen
Asien neu definieren. Beide Reports erörtern ausführlich die asiatische
Bündnissituation, die zahlreichen bi- und trilateralen Abkommen und das
mögliche Verhalten der USA, die hier, ohne Hegemonieansprüche, mit innovativen
Vorschlägen als konstruktiver Partner auftreten sollen. Gefragt seien
funktionelle Konzepte, effiziente Abkommen mit geringem bürokratischen Aufwand,
eine wohlwollende Haltung zu »panasiatischen Unternehmen« analog der EU: Die
USA seien eine pazifische Macht, keine asiatische – ähnlich wie sie eine
atlantische Macht seien, aber keine europäische.
Das klingt
zukunftsorientiert, auf Sachfragen orientiert – und vermeidet, auffallend, Menschenrechtsfragen
und offene Fragen der unterschiedlichen politischen Systeme. Robert Kagans
»Hauptwiderspruch« zwischen Demokratien und Autokratien kommt hier nicht vor,
denn »panasiatische Netzwerke und Vereinigungen sind unvermeidlich für die Vereinigten
Staaten«. Stattdessen taucht in den Schriften regierungsnaher Kreise eine
Terminologie auf mit einer gewissen Kongruenz zur neuen chinesischen
Terminologie.
Ein eindrucksvolles
(Schlüssel-)Dokument »neuchinesischen« Politspeechs ist das Asien-Papier der
Shanghai Institutes for International Studies (SIIS): »Asia’s Development in
the Global Context« von Chen Dongxiao, das die chinesische Asien-Strategie bis
2020 skizziert. Auch hierin wird etwas strikt vermieden, nämlich der früher von
chinesischen Führern verwendete Begriff vom »Sozialismus mit chinesischen
Eigenschaften«. Eine sich unglaublich rasch umwandelnde Gesellschaft des
»nicht-okzidentalen Entwicklungsmodells« (so die Bezeichnung für asiatische
Diktaturen) generiert eine neue politische Sprache. Das SIIS-Paper ist dazu
eine Fundgrube.
Ein neues »Etappenziel« wird
angegeben: »China möchte bis 2020 eine gemäßigt wohlhabende Gesellschaft
werden.« Das ist nur in einem entsprechenden Umfeld zu erreichen:
»Globalisierung, Regionalisierung, Frieden, Entwicklung«, lauten die Motti dieses
Weges. Auf diesem gibt es dann auch Altbekanntes, nämlich »Grundwidersprüche«
in Gestalt der Anmaßung einiger ungenannter Großmächte, die Grundsätze der Souveränität
und Integrität einschränken zu wollen; doch wird dies merkwürdig relativiert
durch die Notwendigkeit supranationaler Institutionen für »nicht-traditionelle
Bedrohungen« (Klima, Terrorismus, Faktoren der Weltwirtschaft), bei denen
global eingegriffen werden müsse. Gefördert werden solle auf dem multilateralen
Kontinent »Panasianismus«; dazu taucht eine »neue« Geografie auf, eine
großartige Regionalisierungsidee – anknüpfend an ASEAN, SAARC, SCO, GCC, OAS
und an eine demnächst zu gründende nordostasiatische Kooperative von Japan,
Südkorea und China –, die »Nordostasien«, »Südostasien«, »Südasien«,
»Zentralasien« und »Westasien« stärker miteinander koordinieren soll. »Ein
Geist selbstbestimmter Entwicklung und Grundzüge einer allgemeinen Identität«
sollen angeregt werden – da wird an die »asian values« der Neunzigerjahre
angeknüpft. An traditionellen Konfliktherden will China nun verstärkt mitarbeiten,
der Kompromiss soll das grundlegende Lösungsmittel sein.
Solche großen Pläne können
auch die AmerikanerInnen begeistern. Daran kann man teilhaben, da ist Platz für
Gemeinsames. In der politischen Literatur finden sich jedenfalls erste Spuren.
»Panasiatische Netzwerke« haben gute Aussichten, 2010 in jedem Essay über Asien
aufzutauchen. Die nächste Stufe wird dann Asien und Amerika umspannen.