Antonia Grunenberg


»Der Sinn von Politik ist Freiheit ...«

Im Zeitalter der Entgrenzung - den politischen Freiheitsbegriff zurückgewinnen



Die Freiheit ist zentrales Verfassungsgut. Aber in welcher Verfassung befindet sich hierzulande die Freiheit? Schon im Spannungsverhältnis zur Sicherheit wird manches von ihr preisgegeben. Gefährlich wird es für die Demokratie, wenn sich wichtige gesellschaftliche Gruppen der Kontrolle des »common sense« entziehen, wie in der jüngsten Finanzkrise geschehen. Unsere Autorin entwirft ein Freiheitsmodell nach Hannah Arendt, das über die subjektive Bekundung des Liberalismus hinausgeht, die Akteure als Handelnde und kommentierende Zuschauer ins Zentrum stellt, das zeit- und geschichtsgebunden ist und als »großes Wagnis« immer von Neuem errungen werden muss.


Als ich 1999 meine Professur in Oldenburg antrat, brachte ich ein Buch über die Freiheit mit. Ich hatte mich Anfang der Neunzigerjahre mit der Frage beschäftigt, welche Schlussfolgerungen sich aus der Perspektive der »Globalisierung« für die Verfassungen in den westlichen Ländern ergäben. Dem Rausch der Entgrenzung - für den damals das längst vergessene Wort Datenautobahn stand, mit der Konnotation, der Globus sei durch ein System von Datenautobahnen vernetzt, statt durch eine Vielheit von Kulturen, Gesellschaften und Staaten - habe ich die Frage nach dem Ort der Freiheit entgegengestellt. Angesichts des gängigen funktionalen Verständnisses von Demokratie als einer Mixtur aus gesunder Marktwirtschaft, stabilen Institutionen und Lebenszufriedenheit, habe ich die Frage nach dem public spirit aufgeworfen. Wo liegen die Regenerationskräfte unserer Freiheit, die uns 1989 so eindrucksvoll in den Freiheitsbewegungen in der Mitte und im Osten Europas vor Augen geführt worden waren und die im Westen brachzuliegen scheinen?

Der seinerzeit als so durchschlagend empfundene Dualismus von nationalstaatlich verfasster Freiheit einerseits und der Utopie einer zugleich horizontalen wie vertikalen Vernetzung in Richtung Weltregierung andererseits ist angesichts der konkreten Konfliktlagen in dieser Welt in den Hintergrund getreten. Der Atem der Freiheit ist zwischenzeitlich einigen Ländern, die 1989 in die Freiheit aufgebrochen waren, ausgegangen. Stattdessen hat sich dort ein Torso aus formal demokratischen Institutionen und mehr oder weniger korrupten Marktwirtschaften herausgebildet, der sich mittels ritualisierter Zustimmung der Bevölkerung in Wahlen legitimiert. Eine unverhoffte Nebenwirkung ist dabei die scheinbar interesselose Enthaltung eines Großteils der Bevölkerungen vom öffentlichen Leben, sind starke und, im Unterschied zum Westen, anhaltende populistische Bewegungen, die das institutionelle Gefüge polarisieren.

In Deutschland ist dagegen deutlich sichtbar geworden, dass die unhinterfragbare Maxime der Nachkriegszeit mit ihrer historisch nur zu gut begründeten Festlegung auf die Freiheitsrechte des Individuums gegen den Staat sowie die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Freiheitsrechten des Individuums Leerstellen erzeugt hat, in die die staatliche Exekutive hineingestoßen ist. Unter den wenigen, die auf diese Problematik in regelmäßigen Abständen öffentlich hinweisen, sind die Verfassungsrichter. Sie fordern aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven eine Neubestimmung des freiheitlichen Selbstverständnisses unserer Republik. Der eine plädiert dafür, das Verhältnis zwischen Gemeinwillen und Individualismus besser auszubalancieren, die andere fordert, die Exekutive in ihre Schranken zu verweisen; wieder ein anderer spricht für die Rückkehr zu den Familienwerten als Kernbestand der Freiheit und gegen die angeblich freiheitsschädigenden Ideale der 68er-Bewegung. Was sie eint, ist ihre Überzeugung, dass eine Zeit zu Ende gegangen ist und ein Paradigmenwandel stattfindet, der erst noch seiner Erklärung harrt.


Gegenwärtig sind vor allem zwei Dimensionen des Freiheitsbegriffs in der Debatte. In der ersten Dimension wird Freiheit dualistisch zwischen Individuum und Staat geteilt. In Universitätsseminaren antworten Studierende auf die Frage, zu definieren, was der Begriff der Freiheit besage, spontan: zu tun und zu lassen, was man will. Wenn um weitere, zusätzliche Konnotationen des Begriffs gebeten wird, dann spazieren in der Regel ein verballhornter Hegel durchs Gespräch (der Staat ist die Verwirklichung der Freiheit) oder ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter Kant (tu-, was die Gesetze sagen). Die Ursprünge dieser Einstellung liegen zum Teil in der deutschen Nachkriegsgeschichte begründet und, wie einige Verfassungsrichter hervorheben, in der Überbetonung der Freiheit des Einzelnen nach der Ära des totalitären, korporativ organisierten NS-Staates und nach dem Ende der posttotalitären DDR. Darüber hinaus liegen, so scheint mir, die Ursprünge in einer im Westen generell üblichen Einstellung, Freiheit auf die Selbstbestimmung vor Übergriffen anderer und des Staates zu reduzieren. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat diese Problemlage in seinem Buch Staat, Gesellschaft, Freiheit aufgegriffen. Diese Einstellung geht, darauf verweist Hannah Arendt verschiedentlich, auf eine bis ins 17. Jahrhundert reichende Tradition zurück, wonach Freiheit vor allem in der Freiheit von Politik bestünde. Erst in dem politikfreien Raum beginne die wahre Freiheit. An dieser Einstellung hat sich bis heute nicht viel geändert. Offensichtlich handelt es sich um eine konstitutive Konstellation und nicht um eine jüngste Errungenschaft, wie etwa der Begriff der Politikverdrossenheit nahezulegen scheint.

Die zweite Dimension spricht das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit an. Das Thema ist nicht neu. Von alters her wurde Sicherheit als gefühlte und erfahrene Beständigkeit der eigenen Existenz und des friedlichen Zusammenlebens mit anderen verstanden. Individuelle wie kollektive Sicherheit wurde seit je als Voraussetzung der Möglichkeit von Politik überhaupt definiert. Vor diesem historischen Hintergrund gibt es im Laufe der letzten Jahrhunderte immer wieder Ereigniswellen, in denen die Sicherheit vor die Freiheit getreten ist. Damit einhergehend legte der Staat eine Hyperaktivität an den Tag und reklamierte weitreichende Befugnisse, mit denen ihn die Bürgerinnen und Bürger freiwillig ausstatteten. Die Terroranschläge des 11. September 2001 und die Reaktionen der westlichen Staatenwelt haben vor Augen geführt, wie mühelos das Balanceverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit innerhalb des legitimierten gesetzlichen und Verfassungsrahmens ausgehebelt werden kann. Längst nicht so im Licht der Aufmerksamkeit stehend findet eine ständige Erweiterung der Regelungskompetenzen des Staates im Alltagsleben jedes Einzelnen statt. Ich nenne beispielhaft: Speicherung von Daten im Krankenversicherungsausweis, im Personalausweis sowie Reisepass, Videoüberwachung öffentlicher Plätze, Speicherung von DNA, elektronische Eingriffe in die Privat- und Intimsphäre.

Insbesondere in der zweiten Dimension wird der Staat zur Maßgabe der Freiheit. Er erscheint nicht nur als Garant, sondern als Maß der Freiheit, eine für manche beunruhigende Perspektive, für andere ein beruhigendes Gefühl, da sie den damit verbundenen Freiheitsverzicht nicht als Einbuße, sondern als Sicherheitsgewinn verbuchen.

Diese Konstellation wird noch bestärkt dadurch, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die soziale Sicherheit zum Bestandteil des Sicherheitsbedürfnisses geworden ist (s. insbesondere den Vertragsentwurf für eine europäische Verfassung). Seit Jahren befragt das Institut für Demoskopie in Allensbach Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Westdeutschland nach ihrer Vorliebe für die beiden Grundwerte unserer Demokratie. Unabhängig von schwankenden Prozentsätzen ist über die Jahre eine Tendenz festzustellen - und zwar inzwischen in Ost und West nahezu gleichermaßen -, die sich in Richtung der Lebens- und sozialen Sicherheit neigt.

Im Folgenden möchte ich einen etwas anderen Blickwinkel auf die Freiheit öffnen, den Hannah Arendt in ihrer Verarbeitung des Zusammenbruchs der europäischen Demokratien des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat und der einige Einsichten bereithält, die dienlich sein könnten, einen politischen Freiheitsbegriff zurückzugewinnen.


Alle arendtschen Begriffe sind an geschichtliche Ereignislinien und Konstellationen gebunden und zeigen dies auch offen an. Zu dieser Tiefendimension des Begriffs Freiheit gehören geschichtliche Erfahrungen:

-  Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts; das Neue in Bezug auf den Freiheitsbegriff bestand hier darin, dass bei der Gründung der Vereinigten Staaten 1787 die Verfassung der Freiheit mit einer horizontalen Machtverteilung verbunden wurde (das republikanische Prinzip der Föderation beziehungsweise der Checks and Balances);

die Französische Revolution von 1789 mit ihrem Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und sozialer Sicherheit auch für die Ärmsten. Das Besondere war hier, dass die Protagonisten das Verständnis von Freiheit an die Beseitigung der Massenarmut knüpften und so das Umschlagen in den Terror evozierten;

die Russische Revolution von 1917 - neu war hier eine Form der freiheitlichen Selbstorganisation, die Räte, die freilich bald von der zentralen Macht mit terroristischen Mitteln zerstört wurde;

die Deutsche Revolution von 1918; kennzeichnend war hier zum einen, dass politische Freiheit in Form einer Strafmaßnahme vonseiten der Siegermächte gegen Deutschland auftrat, und zum anderen, dass sich die Akteure nicht einigen konnten, ob sie dieses Angebot annehmen und wie sie es gestalten wollten.

Die totalitäre Herrschaft in Deutschland, Europa und der Sowjetunion nahm Arendt unter dem Aspekt in den Blick, dass sie als Gegenmodell und Alternative zum liberalen Freiheitsmodell konzipiert war.

Warum ist dieser verschwundene Zeithorizont von Bedeutung? Erfahrungen und Ereignisse prägen Begriffe, verändern sie, zerstören sie oder begründen sie neu. Die geschichtlichen Ereignisse der letzten dreihundert Jahre ebenso wie die Erfahrung der Genozide im Europa des 20. Jahrhunderts haben die Begriffsbildung verschoben - unter Umständen bis zur Unkenntlichkeit. Am Beispiel der totalitären Herrschaft wäre etwa zu exemplifizieren, wie nahtlos Grundbegriffe politischen Denkens wie: Moral, Pflicht, Volk, Gemeinschaft oder Individuum manipulierbar waren. Zwar muss man der Genauigkeit halber hinzufügen, dass sich der Freiheitsbegriff gegen totalitäre Propaganda versperrte; Oswald Spengler, einer der wenigen konservativen Denker von Format, machte in Preußentum und Sozialismus 1919 eher eine unglückliche Figur, als er Freiheit als freiwillige Einordnung in völkische Hierarchien bestimmte. Doch die Grundtatsache, dass alle politischen Begriffe manipulationsanfällige Risikobegriffe und daher nicht einfach gültige Bestimmungen des Wirklichen sind, bleibt bestehen.

Aus der Diagnose, dass weder Tradition noch Ethos die Völkermorde in der Mitte von zivilisierten Gesellschaften hatten verhindern können, zog Arendt den Schluss, dass die Beziehung zwischen den Menschen und der sie umgebenden Welt, die konstitutiv sei für die Bewahrung der Tradition, verloren gegangen war. Sie begann daher daran zu arbeiten, die Grundbegriffe des politischen Denkens enger an die Welt des unberechenbaren Wirklichen zu binden.

Die geschichtlichen Ereignislinien und Erfahrungen bilden die historische Tiefendimension des arendtschen Freiheitsbegriffs. Doch nicht im Sinne einer linearen Tradition. Arendt war überzeugt, dass die Moderne systematisch alle Traditionslinien durchbrochen habe; der Genozid an den europäischen Juden, die Millionen Terroropfer in der Sowjetunion waren dafür das sichtbarste Zeichen, nicht die Ursache. Aber wenn die Traditionskette ohnehin gebrochen war, was bedeutete dann das Herumsuchen in vergangenen Ereignissen und Fragmenten des Denkens? In gewisser Weise tauchte Arendt zu den Schätzen der Vergangenheit ab, um zu prüfen, was zu retten sei in einer Welt ohne Tradition, die sich nun, da sie sich nicht mehr auf Traditionen berufen kann, neu zu begründen hat. Für ihren Freund und entfernten Verwandten Walter Benjamin fand Arendt die schöne Metapher des »Perlentauchers«, um die unmögliche Aufgabe zu bezeichnen, die darin liegt, in der Vergangenheit gegen den Sog der Zukunft zu tauchen. Für Arendt war die radikale Überprüfung verschiedener Traditionslinien im politischen Denken zwingend, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie nach den Katastrophen in der Mitte Europas ein politischer Raum zu rekonstruieren sei, in dem die ins Sinnlose manipulierte Begriffswelt sich erneut aufrichten könne. Aus diesem Blickwinkel wird nun sichtbar, warum der historische »Ballast« wichtig ist: weil aus den historischen Erfahrungen vergangener Jahrhunderte, Generationen und Erfahrungen das Wertvollste entnommen und zum Bestandteil der Rekonstruktion des Politischen in einer traditionslosen Welt gemacht werden kann.


Welche Perspektive auf die Freiheit hebt Arendt hervor? Der Begriff gründet bei ihr zunächst auf der Unterscheidung zwischen individueller, privater Freiheit und öffentlicher oder politischer Freiheit. Die private Freiheit des Individuums kann nie politisch sein, da etwas nur politisch ist, wenn es auf Mit-Menschen und Mit-Welt bezogen ist: »Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und dass sie mehr ist als ein Nicht-gezwungen-Werden.«

Der politische Freiheitsbegriff wird dem öffentlichen Bereich zugeordnet. Damit ist die private Freizügigkeit keineswegs abgewertet gegenüber der öffentlich wahrgenommenen. Beide bedingen einander. Der geschützte Privatbereich macht es erst möglich, sich in die Öffentlichkeit zu wagen und Freiheit zu konstituieren wie umgekehrt nur eine Abstraktion von privaten Bedürfnissen und Nöten das Handeln in Freiheit ermöglicht. Diese Unterscheidung ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert weitgehend verloren gegangen, da die Bereiche des Privaten, des Gesellschaftlichen und des Politischen untrennbar miteinander vermischt sind.

Freiheit erscheint sodann bei Arendt in den klassischen Unterscheidungen, wie wir sie seit der Antike kennen: Freiheit im Sinne von Befreiung, die zur Bedingung der Möglichkeit von Freiheit werden kann, wie sie auch vice versa das Ende der Freiheit einläuten kann (s. die Französische Revolution). Andererseits: Freiheit zu etwas, auf etwas hin, kann im günstigsten Fall zur Gründung eines Gemeinwesens, zu einer Verfassung oder einer grundlegenden Reform führen. Auf jeden Fall bleibt sie in allen politischen Konstellationen das Desiderat schlechthin. Für dieses Desiderat fanden die gründenden Väter der amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert den schönen Begriff public happiness (öffentliches Glück). Last, but not least wird Freiheit bei Arendt auch in verkörperter Form wahrgenommen: zum Beispiel die Freiheit, die in Institutionen verkörpert ist, die sie schützen, aber eben auch zerstören können.

Neben diesen klassischen Ausdifferenzierungen, die sich bei fast allen Denkern der Moderne von Machiavelli bis Isaiah Berlin finden, zieht Arendt weitere Feindifferenzierungen ein. Sie fragt: Über welche Fähigkeiten muss verfügen, wer politische Freiheit wahrnehmen will? Sie nimmt nicht für selbstverständlich, dass Individuen Freiheit einfach wollen oder sie stiften können. Ihr Subjektbegriff ist also nicht der klassisch liberale, der besagt, dass das Individuum alles kann, so es denn nur will.

Freilich folgt Arendt der Grundannahme des Liberalismus insoweit, als auch sie Freiheit als Fähigkeit aller einzelnen und der vielen, sie auszuüben, denkt. Eine auf den ersten Blick banal klingende Maxime. Wenn man genauer hinschaut, so kann man erkennen, dass sie bemüht ist, den Freiheitsbegriff aus der Umklammerung des klassisch-liberalen Subjektbegriffs (ich will - ich soll) zu lösen. Nach diesem Modell besteht freiheitliches politisches Handeln in etwa darin: Ich setze qua kollektivem Willen gewisse Mittel - etwa einen Aufstand - ein, um den Zweck der Freiheit - die Befreiung vom Tyrannen - zu erreichen. In einer solchen Koordination wird Freiheit »gemacht« oder »hergestellt« via Zentralisierung der vielen einzelnen zum Gesamtwillen beziehungsweise via Repräsentation. In Arendts Kontext hingegen soll sie als Fähigkeit der vielen Einzelnen regeneriert werden, etwas Neues zu stiften.


Noch etwas anderes sollte hier bedacht werden. Die Maxime, dass alle gleichermaßen über die Fähigkeit zur Freiheit verfügen, wird aus einer doppelten Annahme heraus begründet. Zum einen nimmt Arendt an, dass keine Herrschaft, wie verwerflich auch immer sie sei, diese Gabe der Menschen zerstören könne. Diese Annahme ist logisch nur möglich, wenn man diese Fähigkeit als natürlich oder göttlich gegeben annimmt. Diese Grundannahme teilt Arendt mit vielen ihrer Zeit, ohne freilich den Konsequenzen, die etwa die Naturrechtstheoretiker der Vierziger- oder Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts (Leo Strauss) daraus zogen, zu folgen. Wie wichtig diese Grundannahme ist, wird in verschiedenen Ausführungen Arendts zur persönlichen, politischen sowie kollektiven Verantwortung in einer Diktatur oder in einer totalitären Herrschaft deutlich. Ihr Argument lautet: Es muss unter allen Umständen, auch den schlimmsten, anzunehmen bleiben, dass Menschen in der Lage sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und daher Verantwortung für sich und ihr Gemeinwesen zu übernehmen. Würde diese Annahme aufgegeben, bliebe nichts übrig, das ihn als Angehörigen einer spezies sui generis auszeichnen würde. Jede Ordnung, ob gut oder schlecht, könne mit ihm schalten und walten, wie sie wolle. Der Mensch sei dann ein aus der jeweiligen Ordnung abgeleitetes, ihr zur beliebigen Verfügung stehendes Wesen. Die Annahme, dass alle Menschen prinzipiell zur Freiheit fähig seien, war ihr conditio sine qua non einer Rekonstruktion des Politischen. Der damit einhergehende Circulus vitiosus ist mit der Säkularisierung mitgegeben. Die Abwesenheit jeder transzendentalen Begründung und Erfahrung hat, so argumentiert Arendt, das vollständige Auf-sich-selber-Angewiesensein der Menschen zur Folge. An dieser Stelle würde Arendt durchaus mit Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmt gewordenem Diktum übereinstimmen: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« Nur setzt Arendt an die Stelle der ausbleibenden staatlichen Garantie die politischen Fähigkeiten der Beteiligten, in denen Freiheit, Handeln, Urteilen und Verantwortung zusammenlaufen. Das »große Wagnis« jedoch bleibt.


Die zweite Annahme beruht auf einer Erfahrung. Niemals in der Geschichte ist die numerische Allheit der Bürgerinnen und Bürger in Sachen Freiheit tätig geworden, sondern immer die, die sich zusammentaten, um zu handeln. Dies sind nicht immer die gleichen, sondern möglicherweise jeweils andere. An dieser Stelle greift Arendt weder auf das scheinbar evidente Repräsentationsprinzip zurück noch auf eine Elitetheorie - noch auf den Staat. Das Ereignis und die, die es bewirken, stehen im Vordergrund. Wer tatsächlich mitwirkt, bleibt der Spontaneität und dem Zufall überlassen.

Doch chancenreich ist dieses Konzept nur, weil alle zur Freiheit fähig sind; wir wissen nicht woher und warum. Wir nehmen dies an, weil wir nicht anders können in einer Welt, die völlig von uns verantwortet wird. Nur weil wir dies annehmen, können viele dann für Freiheit kämpfen. Die Grundannahme wird also nicht durch die weniger umfangreiche Zahl derer, die tatsächlich für die Freiheit kämpfen, aufgehoben. Doch wer sind die vielen? In Beantwortung dieser Frage zieht Arendt eine in der deutschen Tradition unübliche Unterscheidung ein. Die vielen, die in einer Revolution handeln, sind keine Einheit, kein Volkskörper, kein zusammengeschweißter Wille: das Projekt der Freiheit stützt sich auf die Tausenden von unterschiedlichen Perspektiven, die die Handelnden mitbringen und aus denen das Freiheitsprojekt entsteht. Der Freiheitsbegriff selber ist also unterfüttert mit einer klaren Vorstellung von Pluralität im Sinne von gleichzeitiger Verschiedenheit. Hier bedient sich Arendt aus dem Reichtum der nordamerikanischen Denktradition des Pragmatismus, in der unter Pluralität eine sich ergänzende Vielheit unterschiedlicher Positionen und Interessen verstanden wird. Die vielen stellen verschiedene Meinungen und Interessen dar. Was sie eint, ist das gemeinsame Interesse, Freiheit zu gründen; was sie trennt, sind ihre unterschiedlichen Perspektiven auf die Freiheit, die im Verlaufe des Handelns aufeinanderprallen und sich ins Benehmen setzen müssen. Dieses Freiheitsprojekt ist riskant, es kann scheitern, wie man an vielen fehlgeschlagenen Revolutionen nachvollziehen kann.

Was aber geschieht in der Gesamtheit, also unter denen, die gar nicht zum Handeln aufbrechen? In Arendts Überlegungen sind die in Freiheit Handelnden von einer Welt der zuschauenden Zeitgenossen umgeben, die das Ereignis mitverfolgen, die Handlungen kritisieren, kommentieren, auch Vorurteile äußern, kurz: urteilen. Man mag hier mit Fug und Recht zur Metapher des griechischen Chores greifen, freilich ein vielstimmiger, dissonanter Chor, keine Kollektivstimme. Die Handelnden sind nicht in der Lage, ihr Handeln zu beurteilen, da sie involviert sind. Wer handelt, wird vom Ereignis ebenso mitgerissen, wie er das Ereignis prägen will, er kann nicht zur gleichen Zeit sein Handeln beurteilen. Auf der anderen Seite können die urteilenden Zuschauer nicht gleichzeitig handeln. Sie bilden eine Art Schutzraum um das Ereignis herum - den öffentlichen Raum. Ihre Aufgabe ist es, das Verstehen des Geschehens zu vermitteln.

Der Fokus liegt also sowohl auf dem Handeln selbst wie auf dem kommentierenden Urteilen als Sinn-Erzeugen. Die beiden Tätigkeiten resultieren aus der Fähigkeit aller zur Freiheit.


Es sollte jetzt hier deutlich geworden sein, dass Arendts Subjektbegriff etwas anders konnotiert ist als in der liberalen Tradition üblich. Es ist ein entsubstanzialisierter Subjektbegriff, zurückgeschnitten von der Gewissheit des »Ich will« auf die Möglichkeit des »Ich kann«.

Der Ertrag einer solchen Perspektive auf die Freiheit besteht zum einen darin, dass die Handelnden sich nicht loslösen können von der Anwesenheit der anderen. Sie sind nicht die Erwählten (Elite) oder Beauftragten (Repräsentanten); in gewisser Weise stellen sie sogar eine zufällige Faktizität dar. Sie bleiben mit der Pluralität der vielen verbunden. Zum anderen wird freiheitliches Handeln mit Urteilen verbunden. Handelnder und Zuschauer begegnen sich auf einer Ebene. Sie sind gleichberechtigt. Erst in ihrer Beziehung wird das ganze Projekt sichtbar. Der reine Wille vermag in dieser Perspektive rein gar nichts, da in der reinen Tathandlung die Sinnvermittlung sich nur den Handelnden erschließt und diese vorgeben müssen, der Sinn ihrer Handlungen sei evident.

Ein hochriskantes Unternehmen, das von einer starken Dynamik getragen wird. Es ist möglich, aber es ist nicht vorhersehbar, dass sich in dieser Konstellation der »Machiavellian moment« (John G. A. Pocock) ereignet, jenes Zusammentreffen von fortuna und virtù, in dem Zufall, Schicksal, Fügung und die Fähigkeiten der Handelnden in einer sinnstiftenden Weise zusammenkommen und ein geschichtliches Werk vollbringen.

Für Partizipationstheoretiker bleibt immer noch eine Frage zu beantworten: Sind denn in diesem Denkansatz alle Bürgerinnen und Bürger eingeschlossen? Kann jeder oder jede teilhaben? Arendt lässt diese Frage im Sinne ihrer Grundvoraussetzung, dass alle Menschen zur Freiheit begabt sind, offen. Sie muss sie offenlassen, andernfalls würde sie - wie in den griechischen Poleis üblich - bestimmte Menschenkategorien ausschließen. Und dass dies in einer demokratischen Massengesellschaft nicht möglich ist, war Arendt sehr bewusst.

Kein Zweifel, ein derartiger Freiheitsbegriff wird von einer Emphase getragen, die da heißt: sie ist möglich, die politische Freiheit, trotz allem, was geschehen ist und »nicht hätte geschehen dürfen«. Er ist nicht in den Alltag der demokratischen Selbstverwaltung übertragbar.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung: Dass Arendt, wie aus den Erörterungen zum Freiheitsbegriff zu entnehmen ist, aus der Diagnose des Traditionsbruchs in der Moderne das Postulat einer Generalrevision der traditionellen philosophischen und wissenschaftlichen Begrifflichkeit herleitete, das hat die Fachwelt bis heute entschieden verurteilt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften standen und stehen bis heute die Zeichen auf Kontinuität - allen Adaptionen neuer Diskursansätze zum Trotz. Doch die Frage, ob der Traditionsbruch, von dem doch so viele reden, nicht auch den traditionellen Begriffsapparat längst in Mitleidenschaft gezogen hat, bleibt weiterhin offen, es sei denn, man behauptet, das Geschehene sei zwar schrecklich, berühre aber in seiner Einmaligkeit das politische Denken und seine Kategorien in keinster Weise. Diese Antwort ist freilich nicht befriedigend, wie jüngste, ebenfalls einmalige Ereignisse, die die Fragilität der demokratischen Ordnung immer wieder handfest vorführen, beweisen.

Es lässt sich aus dieser Konzeption von politischer Freiheit eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen: Ein so ausgestatteter Freiheitsbegriff setzt die Auflösung des traditionellen liberalen Subjektbegriffs voraus; nicht das autonome, willensstarke Subjekt, sondern das auf andere angewiesene, das bedürftige Subjekt steht hier im Zentrum. Freiheit besteht nicht in der Umsetzung des freien Willens in die Tat, sondern im Zusammenwirken der vielen, der Handelnden und der Zuschauer, zu einem Zweck, den sie sich selber setzen. - Von hier aus könnte man weiterverfolgen, wie sich dieser Ansatz mit der gegenwärtig in den Sozialwissenschaften laufenden Debatte über Subjektivierung und die Neubegründung des Subjektbegriffs verbindet. Freiheit ist sodann kein moralisches Vermögen im Sinne von: du sollst Freiheit ausüben, sondern eher eines, das besagt, du kannst, es ist möglich. Das freie Handeln der vielen setzt sodann die Existenz von Zuschauern voraus, die das Geschehen kommentieren, kritisieren, beurteilen.

Das Freiheitsprojekt ist in einer pluralen Welt situiert; es wiegt nur so viel, wie die unterschiedlichen Perspektiven auf sie, die öffentlich verhandelt werden, indem sie zu einem gemeinsamen Projekt zusammenkommen. Dieses ist der öffentliche Raum, in dem Freiheit zur Entfaltung kommen kann.

Die große Leistung von Hannah Arendt bestand darin, in einer Zeit der materiellen und geistigen Zerstörung die Grundlagen für eine Rekonstruktion des Politischen zu legen. Am Grunde dieses Unternehmens liegt die Freilegung eines Vermögens, das jedem eigen ist, nicht von jedem ausgeübt wird und zu Ergebnissen führt, die offen sind. Es bleibt uns überlassen, ob wir auf dieses Vermögen zurückgreifen oder es ausschlagen.


Nachbemerkung aus konkretem Anlass

Man kann diesen ungewöhnlichen Zugang zu einem Freiheitsverständnis, das in eine Reihe mit anderen menschlichen Grundvermögen gestellt wird, nicht auf existierende Verhältnisse übertragen, ohne die Frage nach der Übertragbarkeit zu berühren. Dabei ist dem Missverständnis vorzubeugen, es handele sich um ein Plädoyer für ein subjektivistisches oder voluntaristisches Freiheitsverständnis. Gerade das ist nicht der Fall. Denn das private unterscheidet sich vom politischen Freiheitsverständnis darin, dass im Politischen Freiheit in erster Linie eine Sache des Könnens, nicht eine des Wollens ist.

Zutreffend ist jedoch auch: die durch das demokratische Reglement nicht gelöste Frage nach der Erneuerungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Institutionen bedarf eines Impulses durch Handelnde, die Institutionen aufsprengen und verändern können.

All das bleibt jedoch blauer Dunst, solange Folgendes nicht berücksichtigt wird: Politische Freiheit wird heute auch dadurch bedroht, dass die Verfassungsorgane die selbstreferentiellen Ereignisse, die sich im Zwischenreich zwischen Wirtschaft und Politik abspielen, nicht mehr einfangen können. Nicht nur dass sie immer erst post festum agieren können, sie können weder den gewünschten Originalzustand wiederherstellen noch die Rückbindung an die Verfassungsziele garantieren. Damit schwindet die dem Freiheitsvermögen zugrundeliegende Gewissheit, sich auf Verfassungen und an Verfassungen wirksam zu orientieren. Die konstitutive Beschränkung und Manipulierung des politisch Möglichen durch große Wirtschaftsverbände samt ihrer Lobbyisten sowie durch Finanznetzwerke und ihre Banken hat das Herz der Demokratien geschwächt. Das demokratische Reglement, die Kontrollorgane existieren weiterhin. Sie sind jedoch gerade dazu nicht mehr in der Lage, wozu sie einst erfunden wurden: den ganzen Prozess zu kontrollieren und Ausuferungen zu verhindern. Eher scheint es noch so zu sein, dass sie sie begünstigen.

So sind wir Zeuginnen und Zeugen, wie das von unseren Vorvätern in jahrhundertealten Denkübungen, in Aufständen, Revolutionen und Verfassungsdebatten erdachte republikanisch-nationale Regelungsmodell für die divergente Pluralität unserer Interessen im Zeitalter der Entgrenzung seine Ohnmacht immer wieder von Neuem unter Beweis stellt, anstatt in der Wahrnehmung der Kontrolle seine politische Macht bestätigen zu können.

Über dieses Schreckensszenario, das die gründenden Väter der amerikanischen Republik fürchteten, kann kaum hinwegtäuschen, dass die Kontrolleure immer von Neuem das Versprechen wiederholen, die Kontrolle wieder zu erlangen. Was aber, wenn die Kontrolleure selbst einer Kontrolle bedürfen, deren Grundlage, das Wissen aller um ein »summum bonum«, in dem sich individuelle Interessen und das Wohl des Gemeinwesens treffen, nicht mehr existiert.

Uns im »alten Europa« mag vorderhand trösten, dass Schreckenszenarien, wie der Zangengriff amerikanischer Banken auf den Kongress, bei uns doch so nicht auftreten. Funktionieren nicht bei uns alle Kontrollsysteme, Korruption mal beiseitegelassen? Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, dass wir in einer finanzpolitisch verklammerten Welt leben und daher wenig Anlass zur Beruhigung haben. Das Grundproblem ist überall ziemlich ähnlich.

Es ist genau das geschehen, wovor John Adams, Alexis de Tocqueville, Montesquieu und andere seit dem 18. Jahrhundert warnten: die Rückbindung der Handlungen der mächtigsten Interessengruppen an die Angelegenheiten aller ist nicht mehr gewährleistet. Die wirtschaftspolitische Ratio hat sich mit ihrem Anspruch auf Selbstevidenz von einem Partner des Common sense zu dessen tödlichem Rivalen entwickelt.

Solange darüber keine offene und öffentliche Debatte begonnen wird, wird sich zyklisch das gleiche Szenario auf erweiterter Stufenleiter wiederholen wie bisher. Die politischen Handlungsmöglichkeiten werden schrumpfen, und die sogenannte politische Klasse wird einen schleichenden Funktionswandel hin zum Hinterhofaufseher global agierender Netzwerke absolvieren.


Der Text ist ein Auszug aus der Abschiedsvorlesung der Autorin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Juli 2009 und wurde für die Publikation um die Nachbemerkung erweitert.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009