Lager denken
Wenn in Deutschland von »Lagern« die Rede ist, melden sich individualistische
Reflexe und die geschichtliche Erinnerung. Der Begriff entfaltet nicht von
vornherein die produktive Kraft, um zu bewirken, worauf er zielt: Integration
und Inklusion. Trotz assoziativer Altlasten und einer gewissen Altbackenheit
ist er, so unser Autor, einer der tauglichsten Begriffe, um der politischen
Wirklichkeit zu Leibe zu rücken.
Die Wahl 2009 haben nicht die besseren Vorschläge entschieden, sondern
die Bindung großer Wählergruppen an ein politisches Lager und dessen höhere
Attraktivität. Gewonnen hat nicht die Partei mit dem besten Programm gegen die
ökonomische Krise und das globale ökologische Desaster. Das »bürgerliche« Lager
hat gewonnen, weil es eines ist. Seine Taktgeber haben mit der Steuerfrage das
integrierende Signal-, Schlüssel- und Symbolthema platziert, das sich als
geeigneter Nukleus für die politische Lagerbildung erwies.
Die »linken« Parteien
dagegen hatten allenfalls mäßigen Erfolg, Union und FDP das Recht zur
exklusiven Nutzung des Labels bürgerlich abzusprechen. Noch weniger ist
es ihnen gelungen, das »bürgerliche« Lager als konservativ, rechts
oder neoliberal abzuqualifizieren. Und überhaupt nicht gelungen ist es
zu widerlegen, dass es sich um ein Lager handelt. Gewonnen hat ein gefestigtes
Lager, das weiß, dass es regieren will, gegen disparate Formationen ohne
Regierungsprojekt. Gewonnen haben Parteien, die zur Lagerbildung fähig und
gewillt waren. Gewonnen hat ein Lager, das die Definitionshoheit über sich
(bürgerlich) und den politischen Gegner (links) hatte. Gewonnen haben
diejenigen, die einen Begriff von Macht- und Herrschaftssicherung haben.
Wenn’s schon net
trifft, ist doch die moralische Wirkung eine ungeheure«, hat der brave Soldat Schwejk über die
österreichische Artillerie gesagt. So ist das mit dem Versprechen der
Steuersenkung. Steuern senken muss weder vernünftig noch muss
wahrscheinlich sein, dass der Plan überhaupt Wirklichkeit wird. Seine Urheber
müssen nur glaubhaft machen, dass sie die Parteien der Steuersenkung sind. Die
ungeheure moralische Wirkung erzielt die Versicherung, im Zweifelsfalle
rangieren die Interessen der Wirtschaftssubjekte, die Steuern zahlen, höher als
die der Gesellschaft, der Steuermittel zufließen, zählen die individuellen
Bourgeoisinteressen mehr als die kollektiven Interessen der Citoyen, geht
Individuum vor Demokratie und Staat. Mit dem Steuersenkungsthema wird ein
ganzer ideologischer Kosmos aufgespannt. Dass wirtschaftliche Erträge Resultat
individueller Anstrengungen und individuelle Einkünfte Ergebnis persönlicher
Leistungsfähigkeit sind, ist Teil der Selbstüberschätzung hoch
vergesellschafteter Individuen, die sich individualisiert wähnen. Sie
populistisch zu bedienen ist die Leistung von Union und FDP.
Andererseits mobilisiert
die Entgegensetzung von Individuum und Staat, wie sie im Steuerthema
mitschwingt, auch eine wohlbegründete Staatsskepsis. Deutschland hat im 20.
Jahrhundert zwei Staatsgebilde hervorgebracht, die sich – wenn auch mit
substanziellen Unterschieden – das Recht auf die Unterwerfung des Individuums
unter Staatszwecke angemaßt haben. Weswegen liberale Impulse zwingend zur
Grundausstattung eines postfaschistischen und postrealsozialistischen, genuin
bundesdeutschen Nationalcharakters gehören. Sinn des Steuerthemas ist es, die
Bande zwischen Wählern, die sich primär ökonomisch definieren – der gebeutelte
Mittelstand, Selbstständige, Global Player, die Profiteure der Krise – und den
Parteien des »bürgerlichen« Lagers zu festigen. In diesen Milieus grassiert
nicht nur der unerschütterliche Glaube, Union und FDP seien die berufene
Regierung. Deren Stärke resultiert aus der Gewissheit, dass sie sich der
Zähigkeit ökonomischer Interessen, der Entschlossenheit bestimmter Milieus zur
Exklusivität und des Selbstbehauptungswillens der Inhaber gesellschaftlicher
Schlüsselpositionen sicher sein können. Dieses Lager will, dass Union und FDP
regieren – egal was ist. Es gewährt diesen Parteien einen fast grenzenlosen
Vertrauensvorschuss und attestiert ihnen blanko höhere Kompetenz. They are
damned bastards but they are our bastards. Es muss viel passieren, dass
solche Bande gelockert werden. Nach 16 Jahren Kohl war der Punkt erreicht. Wenn
aber die Probleme undurchschaubar werden wie in der Finanz- und
Wirtschaftskrise, wenn ökonomische Interessen und sozialer Status gefährdet
sind, dann zählt die Geschlossenheit des Lagers umso mehr. Autoritären
Charakteren bot die Wahl die Gelegenheit, sich wenigstens politisch mit
jenen gemein zu machen, von denen sie sozial ansonsten ausgegrenzt
werden. Wenn schon nicht auf den Soireen und Empfängen dabei, dann wenigstens
politisch dazugehören.
Doch Lagerdenken ist mehr als nur halb aufgeklärte Gefolgschaft. Sich
einem Lager zuzurechnen ist eine progressive Variante politischer Bindung, die
zeitgemäße Antwort auf Individualisierung und gesellschaftliche Fragmentierung.
Sie erlaubt Nähe und hält doch Distanz. Man muss – beispielsweise – nicht
SPD-Mitglied sein, um einen sozialdemokratischen Kanzler vorzuziehen, man kann
an den Grünen das Ökologische, an der Linken das Soziale und Ostdeutsche und an
der FDP das Bürgerrechtliche gut finden, ohne irgendeiner Partei anzugehören.
Nur eins kommt nicht in Frage: Union wählen. So entstehen Lager, die scharfe
Scheidelinien durch die Gesellschaft ziehen. Können sich aber deren politische
Protagonisten selbst moderieren wie in der großen Koalition, wechselt die
Regierungsgewalt reibungslos, funktioniert also die Demokratie, sprengen die
Lager nicht die Gesellschaft, sondern stellen Räume für die soziale und
politische Integration bereit. Denn innerhalb ist viel mehr Spielraum für
fantasievolle individuelle Kompositionen des politisch Wünschenswerten, als
Parteien es zulassen können, die sich wegen ihrer wachsenden Zahl immer
schärfer abgrenzen müssen. Man kann sich einem Lager zurechnen und muss doch
kein Parteigänger sein.
Alle Kontroversen, die
kleinen wie die großen, organisieren sich letztlich bipolar: Mehrheit oder
Minderheit, Regierung oder Opposition, für oder gegen Atomkraft, Mindestlohn,
Steuerfinanzierung öffentlicher Güter, Raucher oder Nichtraucher, Schalke oder
Dortmund. Die Welt ist voller Polaritäten. Jedermann kann sich mit jeder Frau
in dem einen oder anderen Lager und in wechselnder Besetzung wieder finden. Man
kann CDU-Wähler, gegen den Mindestlohn, Dortmund-Fan und Nicht-Raucher sein und
sich mit qualmenden Schalker Sozialdemokraten im Lager der Atomkraftgegner
zusammentun. Single-issue-Lager lassen Pluralität zu und halten
Differenz aus. Die großen, übergreifenden Lager halten nicht nur mehr Differenz
aus als jede Partei, sie halten auch die Differenzen von Parteien aus.
Soziopolitische Lagerbildung auf allen Ebenen ist einer der
Integrationsmechanismen einer horizontal heterogenen und vertikal gespaltenen
Gesellschaft, die tagtäglich danach fahndet, was sie zusammenhält, wenn Löws
Team nicht spielt. Es ist eine so lose wie verlässliche Vergesellschaftungsform
interessierter Individuen, die sich mit dem allgemeinen gesellschaftlichen
Zusammenhalt nicht von vornherein überfordern wollen, aber sich der
Notwendigkeit kollektiver Intervention bewusst sind. Minderheiten wissen
ohnehin, dass sie nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie sich in überwölbende
Zusammenhänge einfügen. Und je fragmentierter die Gesellschaft ist, desto mehr
verlangt sie nach Reintegration.
Lagerbildung ist ein
Angebot zur Resozialisierung individualisierter Individuen, die nach Bindung
suchen, aber Ortsvereinssitzungen meiden. Sie bietet beides: großzügige
Inklusion und eindeutige Exklusion. Modern ist die Zurechnung zu politischen
Lagern, weil es in hohem Maße individuelle Entscheidung bleibt, zu welchem man
gehört. Lager sind der Raum, in dem sich volatile Wähler bewegen. Sie haben
kein Aufnahmeformular, keine Satzung, keinen Vorstand, keinen Kassenwart, sie
brauchen keine Organisationsreform. Sie existieren, weil Individuen sich einer
Tendenz, einer Strömung zugehörig fühlen. Politische Lager sind informelle
Netzwerke ohne Zentren, aber mit starken Knoten: Parteien, Medien,
zivilgesellschaftlichen Organisationen, einflussreichen Wissenschaftlern,
Kulturschaffenden. Lager werden nicht organisiert, sie organisieren sich.
Parteien können ihnen Struktur, Substanz und ein Gerüst bieten, Medien die
tägliche Vergewisserung, Wissenschaftler Sicherheit. Sie entstehen vor allem in
Diskursen, sie sind überwölbende Diskursformationen, die disparate Diskurse
integrieren, so wie das dem »bürgerlichen« Lager mit dem konservativen, dem
liberalen und dem christlich-sozialen Diskurs gelingt. So strukturierte
Selbstorganisation bedient die Bedürfnisse der gebildeten Stände nach
souveräner politischer Verortung ebenso wie ihr Bedürfnis, auch als Libertins
einen Standpunkt zu haben. Zu einem Lager zu gehören, beruhigt aber auch die
kleinen Leute, die sich auf etwas verlassen können und wissen wollen, wohin man
gehört, ohne immer wissen zu müssen, was gespielt wird. Die autonome Zurechnung
zu einem Lager ist eine Antwort auf die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse
ebenso wie auf die intellektuelle Zumutung hermetischer Parteiprogramme. Die
»bürgerlichen« Parteien haben die Lehre aus dem deutschen Mehrparteiensystem
gezogen. Die Stabilisierung eines Lagers erfordert ein Parteienbündnis. Und
für ein Lager, das Machtsicherung mittels Verfügung über die Regierungsgewalt
nüchtern als die Voraussetzung nachhaltiger Veränderungen im eigenen Interesse
ansieht, ist ein dauerhaftes Parteienbündnis als Nukleus
selbstverständlich. Seine diffuse catch-all-Programmatik ist keine
Schwäche, sondern kalkuliert. Ein solches Parteienbündnis, das fest in einem
gesellschaftlichen Lager verankert ist, übersteht sogar eine lagerübergreifende
Koalition.
Unsere Epoche, die
Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich … dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die
ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager,
in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und
Proletariat.« Bei zeitgemäßer Deutung ist die These von der Vereinfachung der
gesellschaftlichen Gegensätze und ihrer Zuspitzung in einer bipolaren Spaltung
– geschrieben an der Jahreswende 1847/48 – eine epochale Einsicht des
Autorenteams. Doch ist die Lagerbildung heutzutage komplexer als die zwischen
Bourgeoisie und Proletariat, die nur die ökonomische Klassenspaltung
reproduziert. Zwar schwelt noch immer der Gegensatz zwischen Käufern und
Verkäufern der Ware Arbeitskraft, zwischen Produktionsmittelbesitzern und
Produktionsmittellosen. Heute formt er die Lager der Arbeitgeber und der
Arbeitnehmer, die sich hoch organisiert innerhalb eines dichten Regelsystems
zivilisiert gegenübertreten. Noch immer durchzieht dieser Grundkonflikt viele
Einzelkonflikte – von der Lohnfindung über die Arbeitsbedingungen bis zur
sozialen Sicherung. Immer noch strukturiert er die Lagerbildung auf mittlerer
Ebene. Man kann sich dem Gewerkschafts- oder dem Unternehmerlager zugesellen.
Aber seit dem Sieg der Demokratie ist auch der Prolet das, was der Bourgeois
schon immer war, ökonomisches Subjekt und Staatsbürger, Warenverkäufer und
Teilhaber der Volkssouveränität, Bourgeois und Citoyen.
Mit der Verallgemeinerung
der Bourgeoiseigenschaft des Warenverkäufers wurde auch die Eigenschaft des
Citoyen als Souverän der Demokratie verallgemeinert. Wenn sich heute
Bourgeoisie und Proletariat gegenüberstehen, also ungleiche ökonomische
Subjekte, dann stehen sich auch immer Citoyen gegenüber, also gleiche politische
Subjekte. Während aber die alte ökonomische Spaltung zwischen Bourgeoisie und
Proletariat nicht mehr alle gesellschaftlichen Konflikte durchzieht, wird kein
gesellschaftlicher Konflikt die Gegenüberstellung von Bourgeois und Citoyen
mehr los. Der Gegensatz zwischen dem Bourgeoisregime und der Herrschaft der
Citoyen ist der grundlegende Konflikt der Epoche, die Scheidelinie zwischen den
beiden großen gesellschaftlichen Lagern. Diese Konfrontation kreist um die
Kernfrage, ob die Gesellschaft der Logik der Ökonomie, der Konkurrenz und den
Entscheidungen anonymer Marktteilnehmer unterworfen wird oder ob der
öffentliche Diskurs und die begründete Entscheidung der Repräsentanten des
Souveräns die Richtung der Entwicklung bestimmen. Primat der Ökonomie oder
Primat der Demokratie bei der Kreation gesellschaftlicher Prosperität, darum
gruppieren sich die Lager. Ihre Grenzen sind – anders als in der 160 Jahre
alten Prognose – grundsätzlich flüssig und durchlässig, weil wir alle eben
beides sind, Bourgeois und Citoyen, und gesellschaftlicher und individueller
Widerspruch in eins fallen. Lagerwechsel ist möglich. Aber das ist etwas ganz
anderes als die angebliche Auflösung der Lager.
Die Regierungskoalition
ist stark, weil sie weiß, dass sie von einem politisch-gesellschaftlichen Lager
getragen wird. Sie wird alles tun, um dessen praktischen Interessen und Bedarf
an Symbolik Rechnung zu tragen. Sie wird versuchen, das eigene Lager zu
stabilisieren und bei der Stange zu halten, aber die Lagergrenzen durchlässig
gestalten, um es zu erweitern. Deswegen ist die NRW-Wahl so wichtig, aber auch
nach dieser Wahl ändert sich am strategischen Kompass der Regierung nichts. In
den koalitionsinternen Konflikten spiegelt sich die Suche nach dem Kurs
zwischen Lagerstabilisierung und Lagererweiterung wider. Insofern ist die
Regierung kalkulierbar.