Herbert Hönigsberger


Lager denken



Wenn in Deutschland von »Lagern« die Rede ist, melden sich individualistische Reflexe und die geschichtliche Erinnerung. Der Begriff entfaltet nicht von vornherein die produktive Kraft, um zu bewirken, worauf er zielt: Integration und Inklusion. Trotz assoziativer Altlasten und einer gewissen Altbackenheit ist er, so unser Autor, einer der tauglichsten Begriffe, um der politischen Wirklichkeit zu Leibe zu rücken.


Die Wahl 2009 haben nicht die besseren Vorschläge entschieden, sondern die Bindung großer Wählergruppen an ein politisches Lager und dessen höhere Attraktivität. Gewonnen hat nicht die Partei mit dem besten Programm gegen die ökonomische Krise und das globale ökologische Desaster. Das »bürgerliche« Lager hat gewonnen, weil es eines ist. Seine Taktgeber haben mit der Steuerfrage das integrierende Signal-, Schlüssel- und Symbolthema platziert, das sich als geeigneter Nukleus für die politische Lagerbildung erwies.

Die »linken« Parteien dagegen hatten allenfalls mäßigen Erfolg, Union und FDP das Recht zur exklusiven Nutzung des Labels bürgerlich abzusprechen. Noch weniger ist es ihnen gelungen, das »bürgerliche« Lager als konservativ, rechts oder neoliberal abzuqualifizieren. Und überhaupt nicht gelungen ist es zu widerlegen, dass es sich um ein Lager handelt. Gewonnen hat ein gefestigtes Lager, das weiß, dass es regieren will, gegen disparate Formationen ohne Regierungsprojekt. Gewonnen haben Parteien, die zur Lagerbildung fähig und gewillt waren. Gewonnen hat ein Lager, das die Definitionshoheit über sich (bürgerlich) und den politischen Gegner (links) hatte. Gewonnen haben diejenigen, die einen Begriff von Macht- und Herrschaftssicherung haben.

 

Wenn’s schon net trifft, ist doch die moralische Wirkung eine ungeheure«, hat der brave Soldat Schwejk über die österreichische Artillerie gesagt. So ist das mit dem Versprechen der Steuersenkung. Steuern senken muss weder vernünftig noch muss wahrscheinlich sein, dass der Plan überhaupt Wirklichkeit wird. Seine Urheber müssen nur glaubhaft machen, dass sie die Parteien der Steuersenkung sind. Die ungeheure moralische Wirkung erzielt die Versicherung, im Zweifelsfalle rangieren die Interessen der Wirtschaftssubjekte, die Steuern zahlen, höher als die der Gesellschaft, der Steuermittel zufließen, zählen die individuellen Bourgeoisinteressen mehr als die kollektiven Interessen der Citoyen, geht Individuum vor Demokratie und Staat. Mit dem Steuersenkungsthema wird ein ganzer ideologischer Kosmos aufgespannt. Dass wirtschaftliche Erträge Resultat individueller Anstrengungen und individuelle Einkünfte Ergebnis persönlicher Leistungsfähigkeit sind, ist Teil der Selbstüberschätzung hoch vergesellschafteter Individuen, die sich individualisiert wähnen. Sie populistisch zu bedienen ist die Leistung von Union und FDP.

Andererseits mobilisiert die Entgegensetzung von Individuum und Staat, wie sie im Steuerthema mitschwingt, auch eine wohlbegründete Staatsskepsis. Deutschland hat im 20. Jahrhundert zwei Staatsgebilde hervorgebracht, die sich – wenn auch mit substanziellen Unterschieden – das Recht auf die Unterwerfung des Individuums unter Staatszwecke angemaßt haben. Weswegen liberale Impulse zwingend zur Grundausstattung eines postfaschistischen und postrealsozialistischen, genuin bundesdeutschen Nationalcharakters gehören. Sinn des Steuerthemas ist es, die Bande zwischen Wählern, die sich primär ökonomisch definieren – der gebeutelte Mittelstand, Selbstständige, Global Player, die Profiteure der Krise – und den Parteien des »bürgerlichen« Lagers zu festigen. In diesen Milieus grassiert nicht nur der unerschütterliche Glaube, Union und FDP seien die berufene Regierung. Deren Stärke resultiert aus der Gewissheit, dass sie sich der Zähigkeit ökonomischer Interessen, der Entschlossenheit bestimmter Milieus zur Exklusivität und des Selbstbehauptungswillens der Inhaber gesellschaftlicher Schlüsselpositionen sicher sein können. Dieses Lager will, dass Union und FDP regieren – egal was ist. Es gewährt diesen Parteien einen fast grenzenlosen Vertrauensvorschuss und attestiert ihnen blanko höhere Kompetenz. They are damned bastards but they are our bastards. Es muss viel passieren, dass solche Bande gelockert werden. Nach 16 Jahren Kohl war der Punkt erreicht. Wenn aber die Probleme undurchschaubar werden wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise, wenn ökonomische Interessen und sozialer Status gefährdet sind, dann zählt die Geschlossenheit des Lagers umso mehr. Autoritären Charakteren bot die Wahl die Gelegenheit, sich wenigstens politisch mit jenen gemein zu machen, von denen sie sozial ansonsten ausgegrenzt werden. Wenn schon nicht auf den Soireen und Empfängen dabei, dann wenigstens politisch dazugehören.


Doch Lagerdenken ist mehr als nur halb aufgeklärte Gefolgschaft. Sich einem Lager zuzurechnen ist eine progressive Variante politischer Bindung, die zeitgemäße Antwort auf Individualisierung und gesellschaftliche Fragmentierung. Sie erlaubt Nähe und hält doch Distanz. Man muss – beispielsweise – nicht SPD-Mitglied sein, um einen sozialdemokratischen Kanzler vorzuziehen, man kann an den Grünen das Ökologische, an der Linken das Soziale und Ostdeutsche und an der FDP das Bürgerrechtliche gut finden, ohne irgendeiner Partei anzugehören. Nur eins kommt nicht in Frage: Union wählen. So entstehen Lager, die scharfe Scheidelinien durch die Gesellschaft ziehen. Können sich aber deren politische Protagonisten selbst moderieren wie in der großen Koalition, wechselt die Regierungsgewalt reibungslos, funktioniert also die Demokratie, sprengen die Lager nicht die Gesellschaft, sondern stellen Räume für die soziale und politische Integration bereit. Denn innerhalb ist viel mehr Spielraum für fantasievolle individuelle Kompositionen des politisch Wünschenswerten, als Parteien es zulassen können, die sich wegen ihrer wachsenden Zahl immer schärfer abgrenzen müssen. Man kann sich einem Lager zurechnen und muss doch kein Parteigänger sein.

Alle Kontroversen, die kleinen wie die großen, organisieren sich letztlich bipolar: Mehrheit oder Minderheit, Regierung oder Opposition, für oder gegen Atomkraft, Mindestlohn, Steuerfinanzierung öffentlicher Güter, Raucher oder Nichtraucher, Schalke oder Dortmund. Die Welt ist voller Polaritäten. Jedermann kann sich mit jeder Frau in dem einen oder anderen Lager und in wechselnder Besetzung wieder finden. Man kann CDU-Wähler, gegen den Mindestlohn, Dortmund-Fan und Nicht-Raucher sein und sich mit qualmenden Schalker Sozialdemokraten im Lager der Atomkraftgegner zusammentun. Single-issue-Lager lassen Pluralität zu und halten Differenz aus. Die großen, übergreifenden Lager halten nicht nur mehr Differenz aus als jede Partei, sie halten auch die Differenzen von Parteien aus. Soziopolitische Lagerbildung auf allen Ebenen ist einer der Integrationsmechanismen einer horizontal heterogenen und vertikal gespaltenen Gesellschaft, die tagtäglich danach fahndet, was sie zusammenhält, wenn Löws Team nicht spielt. Es ist eine so lose wie verlässliche Vergesellschaftungsform interessierter Individuen, die sich mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht von vornherein überfordern wollen, aber sich der Notwendigkeit kollektiver Intervention bewusst sind. Minderheiten wissen ohnehin, dass sie nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie sich in überwölbende Zusammenhänge einfügen. Und je fragmentierter die Gesellschaft ist, desto mehr verlangt sie nach Reintegration.

Lagerbildung ist ein Angebot zur Resozialisierung individualisierter Individuen, die nach Bindung suchen, aber Ortsvereinssitzungen meiden. Sie bietet beides: großzügige Inklusion und eindeutige Exklusion. Modern ist die Zurechnung zu politischen Lagern, weil es in hohem Maße individuelle Entscheidung bleibt, zu welchem man gehört. Lager sind der Raum, in dem sich volatile Wähler bewegen. Sie haben kein Aufnahmeformular, keine Satzung, keinen Vorstand, keinen Kassenwart, sie brauchen keine Organisationsreform. Sie existieren, weil Individuen sich einer Tendenz, einer Strömung zugehörig fühlen. Politische Lager sind informelle Netzwerke ohne Zentren, aber mit starken Knoten: Parteien, Medien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, einflussreichen Wissenschaftlern, Kulturschaffenden. Lager werden nicht organisiert, sie organisieren sich. Parteien können ihnen Struktur, Substanz und ein Gerüst bieten, Medien die tägliche Vergewisserung, Wissenschaftler Sicherheit. Sie entstehen vor allem in Diskursen, sie sind überwölbende Diskursformationen, die disparate Diskurse integrieren, so wie das dem »bürgerlichen« Lager mit dem konservativen, dem liberalen und dem christlich-sozialen Diskurs gelingt. So strukturierte Selbstorganisation bedient die Bedürfnisse der gebildeten Stände nach souveräner politischer Verortung ebenso wie ihr Bedürfnis, auch als Libertins einen Standpunkt zu haben. Zu einem Lager zu gehören, beruhigt aber auch die kleinen Leute, die sich auf etwas verlassen können und wissen wollen, wohin man gehört, ohne immer wissen zu müssen, was gespielt wird. Die autonome Zurechnung zu einem Lager ist eine Antwort auf die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse ebenso wie auf die intellektuelle Zumutung hermetischer Parteiprogramme. Die »bürgerlichen« Parteien haben die Lehre aus dem deutschen Mehrparteiensystem gezogen. Die Stabilisierung eines Lagers erfordert ein Parteienbündnis. Und für ein Lager, das Machtsicherung mittels Verfügung über die Regierungsgewalt nüchtern als die Voraussetzung nachhaltiger Veränderungen im eigenen Interesse ansieht, ist ein dauerhaftes Parteienbündnis als Nukleus selbstverständlich. Seine diffuse catch-all-Programmatik ist keine Schwäche, sondern kalkuliert. Ein solches Parteienbündnis, das fest in einem gesellschaftlichen Lager verankert ist, übersteht sogar eine lagerübergreifende Koalition.

 

Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich … dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.« Bei zeitgemäßer Deutung ist die These von der Vereinfachung der gesellschaftlichen Gegensätze und ihrer Zuspitzung in einer bipolaren Spaltung – geschrieben an der Jahreswende 1847/48 – eine epochale Einsicht des Autorenteams. Doch ist die Lagerbildung heutzutage komplexer als die zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die nur die ökonomische Klassenspaltung reproduziert. Zwar schwelt noch immer der Gegensatz zwischen Käufern und Verkäufern der Ware Arbeitskraft, zwischen Produktionsmittelbesitzern und Produktionsmittellosen. Heute formt er die Lager der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, die sich hoch organisiert innerhalb eines dichten Regelsystems zivilisiert gegenübertreten. Noch immer durchzieht dieser Grundkonflikt viele Einzelkonflikte – von der Lohnfindung über die Arbeitsbedingungen bis zur sozialen Sicherung. Immer noch strukturiert er die Lagerbildung auf mittlerer Ebene. Man kann sich dem Gewerkschafts- oder dem Unternehmerlager zugesellen. Aber seit dem Sieg der Demokratie ist auch der Prolet das, was der Bourgeois schon immer war, ökonomisches Subjekt und Staatsbürger, Warenverkäufer und Teilhaber der Volkssouveränität, Bourgeois und Citoyen.

Mit der Verallgemeinerung der Bourgeoiseigenschaft des Warenverkäufers wurde auch die Eigenschaft des Citoyen als Souverän der Demokratie verallgemeinert. Wenn sich heute Bourgeoisie und Proletariat gegenüberstehen, also ungleiche ökonomische Subjekte, dann stehen sich auch immer Citoyen gegenüber, also gleiche politische Subjekte. Während aber die alte ökonomische Spaltung zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht mehr alle gesellschaftlichen Konflikte durchzieht, wird kein gesellschaftlicher Konflikt die Gegenüberstellung von Bourgeois und Citoyen mehr los. Der Gegensatz zwischen dem Bourgeoisregime und der Herrschaft der Citoyen ist der grundlegende Konflikt der Epoche, die Scheidelinie zwischen den beiden großen gesellschaftlichen Lagern. Diese Konfrontation kreist um die Kernfrage, ob die Gesellschaft der Logik der Ökonomie, der Konkurrenz und den Entscheidungen anonymer Marktteilnehmer unterworfen wird oder ob der öffentliche Diskurs und die begründete Entscheidung der Repräsentanten des Souveräns die Richtung der Entwicklung bestimmen. Primat der Ökonomie oder Primat der Demokratie bei der Kreation gesellschaftlicher Prosperität, darum gruppieren sich die Lager. Ihre Grenzen sind – anders als in der 160 Jahre alten Prognose – grundsätzlich flüssig und durchlässig, weil wir alle eben beides sind, Bourgeois und Citoyen, und gesellschaftlicher und individueller Widerspruch in eins fallen. Lagerwechsel ist möglich. Aber das ist etwas ganz anderes als die angebliche Auflösung der Lager.

Die Regierungskoalition ist stark, weil sie weiß, dass sie von einem politisch-gesellschaftlichen Lager getragen wird. Sie wird alles tun, um dessen praktischen Interessen und Bedarf an Symbolik Rechnung zu tragen. Sie wird versuchen, das eigene Lager zu stabilisieren und bei der Stange zu halten, aber die Lagergrenzen durchlässig gestalten, um es zu erweitern. Deswegen ist die NRW-Wahl so wichtig, aber auch nach dieser Wahl ändert sich am strategischen Kompass der Regierung nichts. In den koalitionsinternen Konflikten spiegelt sich die Suche nach dem Kurs zwischen Lagerstabilisierung und Lagererweiterung wider. Insofern ist die Regierung kalkulierbar.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009