Parlamentarisch wieder alles im Lot?
Alles leichter im Lager? Oder haben Lager-Koalitionen wie jetzt die »bürgerliche«
doch mehr Tücken als vermutet? Jedenfalls, so unser Autor, war die Bilanz der
die Lager übergreifenden Großen Koalition nicht schlecht. Warum jedoch hatte
sie für die SPD so herbe Folgen? Und gefährdet die neue Koalition mit ihrer
Lagermentalität nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Es macht einen
großen Unterschied, ob die Gesellschaft sich eher zu einer Citoyenneté oder
einem Bourgeoisstaat hinneigt.
Es heißt immer, in einer parlamentarischen Demokratie seien »Große Koalitionen«
allenfalls eine Notlösung. »Endlich wieder Lager«, war ein Kommentar der Financial
Times Deutschland von Mitte November überschrieben.(1) Für den deutschen
Politikbetrieb sei die wiederbelebte Lagerkonstellation eine Chance, hieß es
weiter. Bei Frau Merkels Regierungserklärung im Bundestag habe sich die
Erleichterung von Abgeordneten und Publikum gezeigt, dass die Große Koalition
jetzt Geschichte ist. »Wie befreit johlten und klatschten die Parlamentarier
von Regierung und Opposition ihren Spitzenleuten zu – befreit von den Zwängen
der lagerübergreifenden Zusammenarbeit, befreit von der erdrückenden
Regierungsmehrheit aus SPD und Union.« Die Not also überwunden? Die
Bundesrepublik wäre also jetzt wieder in die Normalität zurückgekehrt mit der
schwarzgelben Regierung, weil diese Regierung kleiner ist als die vorhergehende
und die Opposition wieder größer ist als während der letzten Legislaturperiode.
Doch der quantitative Aspekt ist gar nicht entscheidend für den Begriff der
Großen Koalition. Von der rot-roten Koalition in Brandenburg spricht niemand
als einer großen Koalition, obwohl sie sich auf deutlich mehr Abgeordnete
stützen kann, als eine Regierung von CDU und SPD, die »Große Koalition« also,
vorweisen könnte.
Große Koalition als Lockerungsübung und Vermittlung
Im Begriff der Großen
Koalition steckt also mehr Bedeutung als die, dass sich in ihr die beiden
größten Parteien zusammentun. Er bedeutet, dass sich in einer kritischen politischen
Situation eine lagerübergreifende Koalition bildet wie 1967, als die CDU
und ihr bisheriger Koalitionspartner, die FDP, sich als nicht länger gemeinsam
regierungsfähig erwiesen und die Bundesrepublik zum ersten Mal in eine
Rezession geraten war. Die »Notsituation« bestand nicht einfach darin, dass
keines der »Lager«, hier bisherige Regierung, dort bisherige Opposition,
rechnerisch zu einer Regierungsbildung in der Lage war. Eine Notsituation
entstand, weil sich vor der bisherigen Regierung Schwierigkeiten auftaten, die
sie glaubte, nur bewältigen zu können, wenn sie mit der bisherigen Opposition
eine gemeinsame Basis für die Regierungsbildung fand. Nicht Größe, sondern lagerübergreifende
Zusammenarbeit ist das Kennzeichen einer Großen Koalition. Die wichtigste
Klammer in der damaligen Großen Koalition bildeten Plüsch und Plum, Franz Josef
Strauß als Finanzminister und Karl Schiller als Wirtschaftsminister. Ihren
schlechten Ruf bekam die Große Koalition damals nicht durch ihre Wirtschafts-
und Finanzpolitik, mit der sie aus der Rezession herauszukommen versuchte,
sondern durch die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Die Notstandsgesetze,
nicht die Große Koalition per se, wurden als Gefährdung der Demokratie
wahrgenommen. An der Vorbereitung der Notstandsgesetze entzündete sich die
»außerparlamentarische Opposition«, die weit mehr als die Studentenbewegung und
den SDS umfasste und vor allem durch die IG Metall ihr Gewicht erhielt.
Der Ruf, der Demokratie abträglich
zu sein, hat sich danach dennoch an die Form der Großen Koalition geheftet.
Tatsächlich aber war sie die Regierungsvariante, um aus der politischen
Stagnation der späten Adenauer-Jahre und der Erhard-Regierung herauszufinden.
Sie öffnete der als unsicherer Kantonist im Kalten Krieg stigmatisierten SPD
den Weg in die Regierung und war damit die unerlässliche Vorbedingung für die
sozialliberale Koalition unter Führung von Willy Brandt. Die Große Koalition
war eine große Lockerungsübung innerhalb des politischen Systems. Sie
vermittelte zwischen den entgegengesetzten Lagern, für die die
christdemokratische und die sozialdemokratische Volkspartei jeweils standen.
Viel Arbeitslosigkeit gab es damals noch nicht, aber es wäre undenkbar gewesen,
dass Union und SPD wie in den jüngsten Bundestagswahlen aus den Reihen der
Arbeitslosen gleich viel Stimmen und die Union mehr Arbeiterstimmen als die SPD
erhalten hätte. Die politischen Lager repräsentierten in den Sechzigerjahren
noch unterschiedliche soziale Milieus. Die erste große Koalition war insofern
ein politischer Vorgriff auf gesellschaftliche Entwicklungen, die sich in den
Achtzigerjahren durchsetzten.
Auf einen Begriff
lässt sich die Gesellschaft der Bundesrepublik heute nicht mehr bringen.
Individualisierung ist ein Aspekt, Ausdifferenzierung ein weiterer. Trotz einer
wachsenden Segmentierung entspringen ihre Dynamik, ihr Entwicklungstempo und
ihre Blockaden keinem Klassengegensatz. Insofern die politischen Parteien sich
heute an Lagern orientieren, sind sie nicht die Repräsentanten von deutlich
umrissenen sozialen Milieus. So liegt bei den Grünen der Anteil der Wähler
»hoher« Bildung (Abitur/Hochschule/Uni) mit 17 Prozent zwar deutlich über ihrem
Gesamtergebnis. Das macht sie aber noch nicht zu Repräsentanten der »gebildeten
Schichten«. Die Union wiederum ist, auch wenn sie den größten Anteil der
Arbeiterstimmen erzielte (28 Prozent), deshalb noch keine Arbeiterpartei. Die
Lager konstituieren sich heute eher über ideologisches Geschrei und
biografische Zufälle als über soziale Milieus.
Die Kunst, Gräben zu überspringen
Auch 2005 war die Bildung
der Großen Koalition nicht durch die rechnerischen Mehrheitsverhältnisse
erzwungen. Vielmehr eröffnete allein sie die Möglichkeit, die Grenzen von
bisheriger Regierung und Opposition zu überspringen und eine Regierung zu bilden,
die den Herausforderungen der auch damals schon schwierigen Lage einigermaßen
gewachsen zu sein versprach. Es war ja nicht so, dass damals nicht auch andere
Varianten (»Ampel« und »Jamaika«) sondiert worden wären. Grüne und FDP waren aber
nicht bereit, in der einen oder anderen Richtung einen Schritt über die Grenzen
zu wagen. Eine Regierung konnte nur lagerübergreifend gebildet werden, und
keine der beiden kleinen Parteien war dazu mutig genug. Für ihr Zaudern gab es
gute Gründe. Die kleine Partei, die den größten Sprung gewagt hätte, hätte
gleichzeitig damit rechnen müssen, dass er ihr fast nur Nachteile bringen
würde. Als kleinster Partner in einer lagerübergreifenden Koalition kämpft man
als Fliegengewicht und steht als bloßer Mehrheitsbeschaffer da, der zudem die
Rolle des Störenfrieds kaum vermeiden kann. Die PDS war zu parlamentarischen
Überlegungen ohnehin unfähig. Auch verlangte niemand etwas von ihr. Letzten
Endes waren nur die beiden großen Parteien bereit, die allfällige
lagerübergreifende Koalition zu bilden.
Für die Beteiligten war
diese Regierungsbildung durchaus ein Wagnis. Für die Bundesrepublik hat es sich
ausgezahlt. Der von Rot-Grün beschlossene Atomausstieg ist seither besiegelt,
auch wenn jetzt wieder an seinen Fristen herumgemacht wird. Ökonomie und
Ökologie als komplementäre Politikfelder zu verstehen, wird heute kaum noch ausdrücklich
bestritten. Die Klimapolitik wurde als gesellschaftliche Aufgabe jenseits der
Parteigrenzen auf die politische Tagesordnung gehoben. Umstrittene Vorstellungen
aus der rot-grünen Ecke sind während der großen Koalition Allgemeingut
geworden. Frühere Minderheitspositionen in der Bildungs- und
Integrationspolitik sind inzwischen weitgehend common sense, was nicht
heißt, dass die entsprechenden Probleme gelöst wären. Durch die Reibung an
diesem common sense versuchen Leute wie Sloterdijk oder Sarrazin,
intellektuelle Funken zu schlagen und als Provokateure zu wirken. Dabei
plappern sie einfach nach, was vor Jahrzehnten gängige Phrase war.
Die CDU/CSU konnte ihr
Risiko in der Großen Koalition beschränken, für die SPD erwies es sich als
beinahe lebensgefährlich. Warum? Innerhalb der Großen Koalition versuchte die
SPD als sozialer Regierungsflügel zu agieren. Viel Schlimmes hatte sie nicht zu
verhindern, weil das Schlimmste bereits passiert war. Die großen Verletzungen
des sozialen Gerechtigkeitsgefühls wurden bei den letzten Bundestagswahlen
nicht mit der Großen Koalition verknüpft, sondern unter den Etiketten Harz IV
und Agenda 2010 der vorigen Regierung und hier der SPD angelastet. Die
Etiketten meinten weniger den konkreten Inhalt der Maßnahmen, sondern drückten
einfach die Abscheu gegenüber allem aus, was in den letzten Jahren als
ungerecht empfunden wurde. Mit der Rente ab 67 hatten diese vagen
Ungerechtigkeitsgefühle einen leicht und allseits greifbaren Anhaltspunkt
bekommen. Und wer zeichnete in der großen Koalition dafür verantwortlich? Müntefering
und die SPD. Harz IV und Agenda 2010 waren unbestimmte Erregungssignale, Rente
mit 67 schien dem ganzen sozialpolitischen Kurs der SPD denkbar einfach Ausdruck
zu verleihen. Die in der einen oder anderen Weise kaum vermeidbaren Maßnahmen,
um den Sozialstaat nicht an die Wand zu fahren, wurden gerade in der Wählerschaft
der SPD als dessen Zerstörung wahrgenommen. Die »Linke« tat alles, um diese
Wahrnehmung zu verstärken. Die SPD-Mitglieder, die sich an den Entscheidungen
der Parteispitze nicht hinreichend beteiligt fühlten, tauchten ab und
überließen den Angriffen der Linken das Feld. Der CDU aber gelang es mit
einigen gewerkschaftsfreundlichen Reden ihrer Kanzlerin, weitgehend unbeschadet
die sozialpolitische Entrüstung an sich abgleiten zu lassen. Zugleich gelang es
der SPD nicht, aus den gemeinsamen Bemühungen, der Finanz- und Wirtschaftskrise
entgegenzuwirken, wahlwirksame Anerkennung zu ziehen.
Um den Leistungen der Großen
Koalition gerecht zu werden, braucht man sich nur einmal vorzustellen, zum
Zeitpunkt, als die Finanzkrise ins Desaster zu kippen drohte, hätte die
Kanzlerin zusammen mit Brüderle vor die Öffentlichkeit treten müssen. Frau
Merkel weiß schon, warum sie in ihrem Kabinett dem sturmerprobten Wolfgang
Schäuble das Finanzministerium anvertraute und es nicht den Ideologen der FDP
auslieferte.
Rückkehr der alten Regierung
Die Bilanz der Großen
Koalition ist nicht schlecht. Der SPD hat das nichts genützt, weil ihr mit vier
Jahren Verspätung nun die Maßnahmen der Regierung Schröder zur Last gelegt
wurden, ohne dass ihr der fulminante Wahlkämpfer Schröder noch aus der Patsche
hätte helfen können. Für die SPD ist es nicht ohne bittere Ironie, dass die lagerüberschreitende
Lockerungsübung Große Koalition nun ausgerechnet in die Rückkehr der alten
Regierungskonstellation der Achtziger- und Neunzigerjahre mündete. Nach Lage
der Dinge hätte die SPD diesen Schlag nur verhindern können, wenn sie die Große
Koalition verteidigt hätte und angesichts der objektiven Schwierigkeiten, denen
sich die Bundesrepublik und die EU in den nächsten Jahren gegenübersehen, vor
der alten Lagerbildung gewarnt und mutig für eine Fortsetzung der Großen
Koalition plädiert hätte. Das eine hat sie gemacht, das andere aber gelassen.
Eine Fortsetzung der Großen Koalition bezeichnete SPD-Parteisekretär Heil vor
den Wahlen gar als »Höchststrafe«.(2) Sie ist ihm erspart geblieben.
Stattdessen landeten er und seine Partei im Fegefeuer.
Die jetzige Regierung
bedeutet einerseits eine große Verengung des Regierungsspektrums und zugleich
die Installation einer Konfliktkoalition, die sich als Produkt einer Liebesheirat
ausgibt. In der Sache geben die Lager nichts her. Aber im Wahlkampf hat das
»bürgerliche Lager« triumphiert. In dieser Konstellation konnte die FDP als
entschiedene Opposition auftreten und die CDU als behinderte Regierungspartei,
die unter der Last einer elfjährigen SPD-Regierung fast genauso litt wie die
FDP. Die FDP profitierte von ihrer Oppositionsposition und wollte doch nur an
der Regierungserfahrung der CDU/CSU aus der großen Koalition teilhaben.
Die Kanzlerin trat als bewährte Regierungschefin an, die zugleich durch ihr
Liebäugeln mit einer Regierung des vorgeblich »bürgerlichen Lagers« ein
oppositionelles »Besser so« und nicht nur ein regierungsamtliches »Weiter so«
propagieren konnte. Die angestrebte »bürgerliche« Koalition hatte mit der CDU
das Standbein in der Regierung, mit der FDP das Spielbein in der Opposition. In
der schwierigen Gemengelage, in der keine der beiden Regierungsparteien die
Regierung mit dem Ziel der Fortsetzung verteidigte, aber nur auf der Rechten
sich aus Regierung und Opposition ein Lager bilden ließ, das mehrheitsfähig
werden konnte, standen die Zeichen für Schwarz-Gelb gut. Hier konnte für beides
kassiert werden: für eine halbwegs stabile Regierungsarbeit und für eine
schrille Opposition gleichermaßen. Zwar hatte die FDP nichts zu bieten als ein
windiges Versprechen auf Steuererleichterungen, die sie als conditio sine
qua non der Koalitionsbildung inszenierte, um Glaubhaftigkeit zu erlangen.
Zugleich war die CDU so gezwungen, diesem Versprechen irgendwie nachzukommen,
ohne sich das Steuerprogramm der FDP insgesamt als Verpflichtung zu eigen
machen zu können.
Aus der Unbestimmtheit der
Vereinbarungen erwächst denn auch die Skepsis selbst wohlwollender Beobachter.
So hieß es in der FAZ nach der ersten Parlamentswoche mit
Regierungserklärung der Kanzlerin und Diskussion der Vorhaben der Ministerien:
»Wächst jetzt im Bundestag
zusammen, was zusammengehört? Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Nun
regieren wieder Union und FDP gemeinsam, nun opponieren wieder SPD, Grüne und
Linke. So war es auch im Jahrzehnt des Aufschwungs nach dem Mauerfall. Auf den
zweiten Blick zeigt sich, dass diese Einheit weniger fest ist – sowohl in der
Regierung wie in der Opposition. Denn die Koalitionsvereinbarung ist kein Vertrag
mit eindeutigem Inhalt. Verträge sollen dem Vertragen dienen. Deshalb hatte die
Große Koalition lange an einem Vertragswerk gearbeitet, in dem regelrecht paragraphiert
wurde, was es abzuarbeiten galt. Das gegenseitige Misstrauen zwischen Union und
SPD ließ das notwendig erscheinen. Vier volle Jahre hat dieses ungewollte
Bündnis gehalten und war zum Schluss zufrieden mit der eigenen Bilanz.«(3) Im
Großen und Ganzen nicht zu Unrecht. Die jetzige Koalition nährt die Illusion,
die gemeinsame Lagermentalität reiche als Basis der Zusammenarbeit aus. Im
Einzelnen werde sich dann alles Weitere finden. Das dürfte sich als Täuschung
erweisen. Dass Dauerzwist zwischen steuerpolitischem Abenteurertum und der
Ahnung, dass der ganze Laden einem um die Ohren fliegen kann, wenn man allzu
leichtfertig an ihm herumhantiert, dürfte die gelbschwarze Koalition prägen,
solange sie hält.
Die Republik vor der Zerreißprobe
Peter Lohauß hat in der
letzten Ausgabe der Kommune die zunehmende Spreizung zwischen den oberen
und unteren Einkommens- und Vermögensverhältnissen beschrieben.(4) Mit der Zahl
der Arbeitslosen und der Teile der Gesellschaft, die allein auf ein
Transfereinkommen angewiesen sind, wird die Basis des Gesellschaftsvertrages
untergraben, der die Bundesrepublik zusammenhält. Diese Basis ist die
Doppelfigur von Citoyen und Bourgeois, das heißt von Staatsbürgern, die über
Einkommen aus eigener Arbeit verfügen. Die »Verbürgerlichung des Proletariats«
war eine von Revolutionären bedauerte, von Sozialreformern geförderte und
begrüßte Entwicklung. Dass eine Gesamtheit von vielen Einzelnen ihre durch
Verfassung und Wahlrecht versprochene politische Teilnahme als Bürgerinnen und
Bürger, als Citoyen und Citoyenne, durch eigenes Einkommen untermauern kann,
das auch einen gewissen Grad bürgerlicher Privatheit ermöglicht, ist ein
Ergebnis der Verallgemeinerung der Lohnarbeit und des Klassenkampfes. So
wurde die Ecklohn-Gesellschaft erkämpft, in der letzten Endes alles Einkommen
aus Lohnarbeit (direkt oder über Transfer) von den Tariferfolgen der Gewerkschaften,
also der Auseinandersetzung zwischen Lohnabhängigen und Kapitalfunktionären
abhängt. Dies ist nicht der Gründungskompromiss der Bundesrepublik, wohl
aber ihr Entwicklungsprinzip von »gehegtem Konflikt und Kompromiss zwischen
Arbeitgebern und Gewerkschaften«.(5) Diese spezifische Formation der
kapitalistischen Entwicklung steht unter Stress und befindet sich teilweise in
Auflösung.
In der Form des Sozialstaats
sind Citoyen und Bourgeois auf widersprüchliche Weise miteinander versöhnt. Aus
dem Rechtstitel, als Citoyen dazuzugehören, erwächst der Anspruch auf eine
Mindestversorgung, aus der Tatsache als Bourgeois über Einkommen zu verfügen,
erwächst die Verpflichtung, für die Kosten der Bürgerschaft aufzukommen. Das
funktioniert gut, solange der »Normalbürger« beides ist, Citoyen und Bourgeois.
Der Sozialstaat ist zwar nicht ausdrücklich nach diesem Schema konstruiert,
dass er jedoch so funktioniert, zeigt sich in den hysterischen Ausbrüchen einer
neuen »Bürgerlichkeit«. Mit Sloterdijk meldet sich der Bourgeois zu Wort, der
nicht länger einsehen will, dass er per Gesetz zur Existenzsicherung von Leuten
beitragen soll, deren Anspruch auf Unterstützung aus nichts als ihrer
Bürgerschaft entspringt. Die Leute sollen ruhig versorgt werden, jedoch nicht
aufgrund eines gesetzlichen Anspruches, sondern aufgrund der freiwilligen
Fürsorglichkeit der »Leistungsträger«. In dieser Überlegung wird auf beiden
Seiten, auf der Seite der »Leistungsträger« wie auf der der Bedürftigen, aus
der Doppelfigur von Citoyen und Bourgeois der Citoyen gestrichen. Der »Leistungsträger«
will nichts sein als wohltätiger Bourgeois und der Bedürftige darf nichts sein
als gescheiterter Bourgeois, dem man auf die Beine helfen mag oder auch nicht.
Mit dem Angriff auf die Sozialstaatlichkeit wird so die viel beschworene
»Bürgerlichkeit« aufgekündigt, soweit mit dieser eben nicht nur der Bourgeois,
sondern in erster Linie der Citoyen und die Citoyenne gemeint sind. Die »neue«
Bürgerlichkeit à la Sloterdijk meint einen Bürger ohne Bürgerschaft, sie meint
den Bourgeois pur.
Ausbrüche wie die von
Sarrazin und Sloterdijk müssen zwar nicht als intellektuelle Leistung, aber
doch als Krisensymptom ernst genommen werden. Mit einer wachsenden Zahl von
Arbeitslosen und Leuten, die von ihrem Einkommen allein nicht leben können,
verliert der Sozialstaat nichts von seiner Notwendigkeit, ganz im Gegenteil,
jedoch schwindet seine »Geschäftsgrundlage«. Im Grunde steht die Republik irgendwann
vor der Frage, ob sie zu einem Bourgeoisstaat verkümmern will, also aufhören
will, Republik zu sein, oder ob sie mit der Bürgerschaft ernst macht und den
Status des Citoyen und der Citoyenne durch ein Grundeinkommen zu sichern
versucht, um Teilnahme und Bildung aller Bürger zu ermöglichen. Sie sind schließlich
nicht bloß Staatsangehörige, sondern die Träger der Republik. Oder eben auch
nicht und das vielleicht in wachsender Zahl.
Hier, an dieser
Existenzfrage der Republik, wird sich entscheiden, ob Parteien und welche
Parteien in der Lage sind, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen. Es
kann nicht darum gehen, wahlsoziologisch nach einer Mitte zu suchen und auf sie
zu setzen, sondern eine politische Mitte zu schaffen, die um die Gefährdung der
Republik weiß und ihr entgegenwirkt. Das ist das Gegenteil von Lagerbildung, es
ist eine Sammlungsbewegung über Lager hinweg entlang den größten
Herausforderungen. Sie sind bekannt. Die größte Herausforderung ist zu
verhindern, dass die Republik zu einem Bourgeoisstaat verkümmert und zur Beute
eines Lagers wird, und sei es ein »bürgerliches«.
Als das Triumphgeschrei
eines Guido Westerwelle den Gipfel erreichte, zeigte sich, dass in den Parteien
der Bundesrepublik genug Witz und Verstand da ist, die Wahlergebnisse klug zu
nutzen, um sich nicht in der Falle der Lagerbildung einzurichten, die der
gelbschwarze Wahlsieg auf Bundesebene geöffnet hat. Verwundert rieben sich die
Kommentatoren die Augen, als sich zeigte, dass die Republik über die
Länderparlamente immer bunter wird. Die beiden Varianten, die auf der Linken am
ehesten als erstrebenswert erscheinen und bei den Grünen als Wege umstritten
sind, die Ampel also und rot-rot-grün, sind merkwürdigerweise die einzigen, die
nirgendwo die Regierung bilden. Sonst gibt es alles von schwarz-grün über
rot-grün und Jamaika zu rot-schwarz und rot-rot.
So sollte man die Situation
im Bundestag, in der nun die Unterscheidung von Regierung und Opposition mit
dem Unterschied von rechts und links scheinbar übereinstimmt, nicht als die
Rückkehr zu stabilen Lagern missverstehen. Es ist nur ein Zwischenschritt auf
dem mühsamen Weg der Bundesrepublik zu ihrer politischen Mitte. Die wird nicht
in einer festen Farbkombination zu finden sein, sondern in einer bunten
Republik immer neuen Ausdruck suchen.
Peter Fahrenholz preist in
der SZ den »Charme der Unübersichtlichkeit«. Der liege darin, dass die
neue Unübersichtlichkeit die »Chance für neue Wege eröffnet. Denn damit
Bündnisse zustande kommen, die vorher keiner gewollt hat, müssen Kompromisse geschmiedet
werden, die von allen den Sprung über den eigenen Schatten erfordern. Das kann
starre Fronten aufbrechen, zum Nutzen des Landes.«(6)
Eine Gesellschaft, die durch
Differenzierung geprägt und von Segmentierung bedroht ist, aber keine Fronten
bildet, sucht in einem politischen System, das im polarisierenden Wechselspiel
von Regierung und Opposition sein Funktionsprinzip hat, nach Wegen, um der
Republik eine Mitte jenseits der politischen Lagerbildung zu schaffen.
1
FTD, 11.11.09.
2
Zit. nach Der Spiegel, 36/09.
3
Wulf Schmiese: »In Höchstform«, FAZ 14.11.09.
4
Peter Lohauß: »Rückkehr der Klassengesellschaft. Soziale
Gegensätze verfestigen sich«, in: Kommune 5/09, S. 7–15. – Das
empirische Material belegt eine wachsende Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse.
Hinter den ersten Teil der Überschrift würde ich aber ein Fragezeichen setzen
und die Frage anschließen, ob sich die wachsenden sozialen Unterschiede
tatsächlich zu Gegensätzen verfestigen.
5
Albrecht von Lucke: Die gefährdete Republik. Von Bonn
nach Berlin. 1949–1989–2009, Berlin 2009, S. 67.
6
SZ, 10.11.09.