Joscha Schmierer


Parlamentarisch wieder alles im Lot?



Alles leichter im Lager? Oder haben Lager-Koalitionen wie jetzt die »bürgerliche« doch mehr Tücken als vermutet? Jedenfalls, so unser Autor, war die Bilanz der die Lager übergreifenden Großen Koalition nicht schlecht. Warum jedoch hatte sie für die SPD so herbe Folgen? Und gefährdet die neue Koalition mit ihrer Lagermentalität nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Es macht einen großen Unterschied, ob die Gesellschaft sich eher zu einer Citoyenneté oder einem Bourgeoisstaat hinneigt.


Es heißt immer, in einer parlamentarischen Demokratie seien »Große Koalitionen« allenfalls eine Notlösung. »Endlich wieder Lager«, war ein Kommentar der Financial Times Deutschland von Mitte November überschrieben.(1) Für den deutschen Politikbetrieb sei die wiederbelebte Lagerkonstellation eine Chance, hieß es weiter. Bei Frau Merkels Regierungserklärung im Bundestag habe sich die Erleichterung von Abgeordneten und Publikum gezeigt, dass die Große Koalition jetzt Geschichte ist. »Wie befreit johlten und klatschten die Parlamentarier von Regierung und Opposition ihren Spitzenleuten zu – befreit von den Zwängen der lagerübergreifenden Zusammenarbeit, befreit von der erdrückenden Regierungsmehrheit aus SPD und Union.« Die Not also überwunden? Die Bundesrepublik wäre also jetzt wieder in die Normalität zurückgekehrt mit der schwarzgelben Regierung, weil diese Regierung kleiner ist als die vorhergehende und die Opposition wieder größer ist als während der letzten Legislaturperiode. Doch der quantitative Aspekt ist gar nicht entscheidend für den Begriff der Großen Koalition. Von der rot-roten Koalition in Brandenburg spricht niemand als einer großen Koalition, obwohl sie sich auf deutlich mehr Abgeordnete stützen kann, als eine Regierung von CDU und SPD, die »Große Koalition« also, vorweisen könnte.


Große Koalition als Lockerungsübung und Vermittlung

Im Begriff der Großen Koalition steckt also mehr Bedeutung als die, dass sich in ihr die beiden größten Parteien zusammentun. Er bedeutet, dass sich in einer kritischen politischen Situation eine lagerübergreifende Koalition bildet wie 1967, als die CDU und ihr bisheriger Koalitionspartner, die FDP, sich als nicht länger gemeinsam regierungsfähig erwiesen und die Bundesrepublik zum ersten Mal in eine Rezession geraten war. Die »Notsituation« bestand nicht einfach darin, dass keines der »Lager«, hier bisherige Regierung, dort bisherige Opposition, rechnerisch zu einer Regierungsbildung in der Lage war. Eine Notsituation entstand, weil sich vor der bisherigen Regierung Schwierigkeiten auftaten, die sie glaubte, nur bewältigen zu können, wenn sie mit der bisherigen Opposition eine gemeinsame Basis für die Regierungsbildung fand. Nicht Größe, sondern lagerübergreifende Zusammenarbeit ist das Kennzeichen einer Großen Koalition. Die wichtigste Klammer in der damaligen Großen Koalition bildeten Plüsch und Plum, Franz Josef Strauß als Finanzminister und Karl Schiller als Wirtschaftsminister. Ihren schlechten Ruf bekam die Große Koalition damals nicht durch ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit der sie aus der Rezession herauszukommen versuchte, sondern durch die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Die Notstandsgesetze, nicht die Große Koalition per se, wurden als Gefährdung der Demokratie wahrgenommen. An der Vorbereitung der Notstandsgesetze entzündete sich die »außerparlamentarische Opposition«, die weit mehr als die Studentenbewegung und den SDS umfasste und vor allem durch die IG Metall ihr Gewicht erhielt.

Der Ruf, der Demokratie abträglich zu sein, hat sich danach dennoch an die Form der Großen Koalition geheftet. Tatsächlich aber war sie die Regierungsvariante, um aus der politischen Stagnation der späten Adenauer-Jahre und der Erhard-Regierung herauszufinden. Sie öffnete der als unsicherer Kantonist im Kalten Krieg stigmatisierten SPD den Weg in die Regierung und war damit die unerlässliche Vorbedingung für die sozialliberale Koalition unter Führung von Willy Brandt. Die Große Koalition war eine große Lockerungsübung innerhalb des politischen Systems. Sie vermittelte zwischen den entgegengesetzten Lagern, für die die christdemokratische und die sozialdemokratische Volkspartei jeweils standen. Viel Arbeitslosigkeit gab es damals noch nicht, aber es wäre undenkbar gewesen, dass Union und SPD wie in den jüngsten Bundestagswahlen aus den Reihen der Arbeitslosen gleich viel Stimmen und die Union mehr Arbeiterstimmen als die SPD erhalten hätte. Die politischen Lager repräsentierten in den Sechzigerjahren noch unterschiedliche soziale Milieus. Die erste große Koalition war insofern ein politischer Vorgriff auf gesellschaftliche Entwicklungen, die sich in den Achtzigerjahren durchsetzten.

Auf einen Begriff lässt sich die Gesellschaft der Bundesrepublik heute nicht mehr bringen. Individualisierung ist ein Aspekt, Ausdifferenzierung ein weiterer. Trotz einer wachsenden Segmentierung entspringen ihre Dynamik, ihr Entwicklungstempo und ihre Blockaden keinem Klassengegensatz. Insofern die politischen Parteien sich heute an Lagern orientieren, sind sie nicht die Repräsentanten von deutlich umrissenen sozialen Milieus. So liegt bei den Grünen der Anteil der Wähler »hoher« Bildung (Abitur/Hochschule/Uni) mit 17 Prozent zwar deutlich über ihrem Gesamtergebnis. Das macht sie aber noch nicht zu Repräsentanten der »gebildeten Schichten«. Die Union wiederum ist, auch wenn sie den größten Anteil der Arbeiterstimmen erzielte (28 Prozent), deshalb noch keine Arbeiterpartei. Die Lager konstituieren sich heute eher über ideologisches Geschrei und biografische Zufälle als über soziale Milieus.


Die Kunst, Gräben zu überspringen

Auch 2005 war die Bildung der Großen Koalition nicht durch die rechnerischen Mehrheitsverhältnisse erzwungen. Vielmehr eröffnete allein sie die Möglichkeit, die Grenzen von bisheriger Regierung und Opposition zu überspringen und eine Regierung zu bilden, die den Herausforderungen der auch damals schon schwierigen Lage einigermaßen gewachsen zu sein versprach. Es war ja nicht so, dass damals nicht auch andere Varianten (»Ampel« und »Jamaika«) sondiert worden wären. Grüne und FDP waren aber nicht bereit, in der einen oder anderen Richtung einen Schritt über die Grenzen zu wagen. Eine Regierung konnte nur lagerübergreifend gebildet werden, und keine der beiden kleinen Parteien war dazu mutig genug. Für ihr Zaudern gab es gute Gründe. Die kleine Partei, die den größten Sprung gewagt hätte, hätte gleichzeitig damit rechnen müssen, dass er ihr fast nur Nachteile bringen würde. Als kleinster Partner in einer lagerübergreifenden Koalition kämpft man als Fliegengewicht und steht als bloßer Mehrheitsbeschaffer da, der zudem die Rolle des Störenfrieds kaum vermeiden kann. Die PDS war zu parlamentarischen Überlegungen ohnehin unfähig. Auch verlangte niemand etwas von ihr. Letzten Endes waren nur die beiden großen Parteien bereit, die allfällige lagerübergreifende Koalition zu bilden.

Für die Beteiligten war diese Regierungsbildung durchaus ein Wagnis. Für die Bundesrepublik hat es sich ausgezahlt. Der von Rot-Grün beschlossene Atomausstieg ist seither besiegelt, auch wenn jetzt wieder an seinen Fristen herumgemacht wird. Ökonomie und Ökologie als komplementäre Politikfelder zu verstehen, wird heute kaum noch ausdrücklich bestritten. Die Klimapolitik wurde als gesellschaftliche Aufgabe jenseits der Parteigrenzen auf die politische Tagesordnung gehoben. Umstrittene Vorstellungen aus der rot-grünen Ecke sind während der großen Koalition Allgemeingut geworden. Frühere Minderheitspositionen in der Bildungs- und Integrationspolitik sind inzwischen weitgehend common sense, was nicht heißt, dass die entsprechenden Probleme gelöst wären. Durch die Reibung an diesem common sense versuchen Leute wie Sloterdijk oder Sarrazin, intellektuelle Funken zu schlagen und als Provokateure zu wirken. Dabei plappern sie einfach nach, was vor Jahrzehnten gängige Phrase war.

Die CDU/CSU konnte ihr Risiko in der Großen Koalition beschränken, für die SPD erwies es sich als beinahe lebensgefährlich. Warum? Innerhalb der Großen Koalition versuchte die SPD als sozialer Regierungsflügel zu agieren. Viel Schlimmes hatte sie nicht zu verhindern, weil das Schlimmste bereits passiert war. Die großen Verletzungen des sozialen Gerechtigkeitsgefühls wurden bei den letzten Bundestagswahlen nicht mit der Großen Koalition verknüpft, sondern unter den Etiketten Harz IV und Agenda 2010 der vorigen Regierung und hier der SPD angelastet. Die Etiketten meinten weniger den konkreten Inhalt der Maßnahmen, sondern drückten einfach die Abscheu gegenüber allem aus, was in den letzten Jahren als ungerecht empfunden wurde. Mit der Rente ab 67 hatten diese vagen Ungerechtigkeitsgefühle einen leicht und allseits greifbaren Anhaltspunkt bekommen. Und wer zeichnete in der großen Koalition dafür verantwortlich? Müntefering und die SPD. Harz IV und Agenda 2010 waren unbestimmte Erregungssignale, Rente mit 67 schien dem ganzen sozialpolitischen Kurs der SPD denkbar einfach Ausdruck zu verleihen. Die in der einen oder anderen Weise kaum vermeidbaren Maßnahmen, um den Sozialstaat nicht an die Wand zu fahren, wurden gerade in der Wählerschaft der SPD als dessen Zerstörung wahrgenommen. Die »Linke« tat alles, um diese Wahrnehmung zu verstärken. Die SPD-Mitglieder, die sich an den Entscheidungen der Parteispitze nicht hinreichend beteiligt fühlten, tauchten ab und überließen den Angriffen der Linken das Feld. Der CDU aber gelang es mit einigen gewerkschaftsfreundlichen Reden ihrer Kanzlerin, weitgehend unbeschadet die sozialpolitische Entrüstung an sich abgleiten zu lassen. Zugleich gelang es der SPD nicht, aus den gemeinsamen Bemühungen, der Finanz- und Wirtschaftskrise entgegenzuwirken, wahlwirksame Anerkennung zu ziehen.

Um den Leistungen der Großen Koalition gerecht zu werden, braucht man sich nur einmal vorzustellen, zum Zeitpunkt, als die Finanzkrise ins Desaster zu kippen drohte, hätte die Kanzlerin zusammen mit Brüderle vor die Öffentlichkeit treten müssen. Frau Merkel weiß schon, warum sie in ihrem Kabinett dem sturmerprobten Wolfgang Schäuble das Finanzministerium anvertraute und es nicht den Ideologen der FDP auslieferte.


Rückkehr der alten Regierung

Die Bilanz der Großen Koalition ist nicht schlecht. Der SPD hat das nichts genützt, weil ihr mit vier Jahren Verspätung nun die Maßnahmen der Regierung Schröder zur Last gelegt wurden, ohne dass ihr der fulminante Wahlkämpfer Schröder noch aus der Patsche hätte helfen können. Für die SPD ist es nicht ohne bittere Ironie, dass die lagerüberschreitende Lockerungsübung Große Koalition nun ausgerechnet in die Rückkehr der alten Regierungskonstellation der Achtziger- und Neunzigerjahre mündete. Nach Lage der Dinge hätte die SPD diesen Schlag nur verhindern können, wenn sie die Große Koalition verteidigt hätte und angesichts der objektiven Schwierigkeiten, denen sich die Bundesrepublik und die EU in den nächsten Jahren gegenübersehen, vor der alten Lagerbildung gewarnt und mutig für eine Fortsetzung der Großen Koalition plädiert hätte. Das eine hat sie gemacht, das andere aber gelassen. Eine Fortsetzung der Großen Koalition bezeichnete SPD-Parteisekretär Heil vor den Wahlen gar als »Höchststrafe«.(2) Sie ist ihm erspart geblieben. Stattdessen landeten er und seine Partei im Fegefeuer.

Die jetzige Regierung bedeutet einerseits eine große Verengung des Regierungsspektrums und zugleich die Installation einer Konfliktkoalition, die sich als Produkt einer Liebesheirat ausgibt. In der Sache geben die Lager nichts her. Aber im Wahlkampf hat das »bürgerliche Lager« triumphiert. In dieser Konstellation konnte die FDP als entschiedene Opposition auftreten und die CDU als behinderte Regierungspartei, die unter der Last einer elfjährigen SPD-Regierung fast genauso litt wie die FDP. Die FDP profitierte von ihrer Oppositionsposition und wollte doch nur an der Regierungserfahrung der CDU/CSU aus der großen Koalition teilhaben. Die Kanzlerin trat als bewährte Regierungschefin an, die zugleich durch ihr Liebäugeln mit einer Regierung des vorgeblich »bürgerlichen Lagers« ein oppositionelles »Besser so« und nicht nur ein regierungsamtliches »Weiter so« propagieren konnte. Die angestrebte »bürgerliche« Koalition hatte mit der CDU das Standbein in der Regierung, mit der FDP das Spielbein in der Opposition. In der schwierigen Gemengelage, in der keine der beiden Regierungsparteien die Regierung mit dem Ziel der Fortsetzung verteidigte, aber nur auf der Rechten sich aus Regierung und Opposition ein Lager bilden ließ, das mehrheitsfähig werden konnte, standen die Zeichen für Schwarz-Gelb gut. Hier konnte für beides kassiert werden: für eine halbwegs stabile Regierungsarbeit und für eine schrille Opposition gleichermaßen. Zwar hatte die FDP nichts zu bieten als ein windiges Versprechen auf Steuererleichterungen, die sie als conditio sine qua non der Koalitionsbildung inszenierte, um Glaubhaftigkeit zu erlangen. Zugleich war die CDU so gezwungen, diesem Versprechen irgendwie nachzukommen, ohne sich das Steuerprogramm der FDP insgesamt als Verpflichtung zu eigen machen zu können.

Aus der Unbestimmtheit der Vereinbarungen erwächst denn auch die Skepsis selbst wohlwollender Beobachter. So hieß es in der FAZ nach der ersten Parlamentswoche mit Regierungserklärung der Kanzlerin und Diskussion der Vorhaben der Ministerien:

»Wächst jetzt im Bundestag zusammen, was zusammengehört? Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Nun regieren wieder Union und FDP gemeinsam, nun opponieren wieder SPD, Grüne und Linke. So war es auch im Jahrzehnt des Aufschwungs nach dem Mauerfall. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass diese Einheit weniger fest ist – sowohl in der Regierung wie in der Opposition. Denn die Koalitionsvereinbarung ist kein Vertrag mit eindeutigem Inhalt. Verträge sollen dem Vertragen dienen. Deshalb hatte die Große Koalition lange an einem Vertragswerk gearbeitet, in dem regelrecht paragraphiert wurde, was es abzuarbeiten galt. Das gegenseitige Misstrauen zwischen Union und SPD ließ das notwendig erscheinen. Vier volle Jahre hat dieses ungewollte Bündnis gehalten und war zum Schluss zufrieden mit der eigenen Bilanz.«(3) Im Großen und Ganzen nicht zu Unrecht. Die jetzige Koalition nährt die Illusion, die gemeinsame Lagermentalität reiche als Basis der Zusammenarbeit aus. Im Einzelnen werde sich dann alles Weitere finden. Das dürfte sich als Täuschung erweisen. Dass Dauerzwist zwischen steuerpolitischem Abenteurertum und der Ahnung, dass der ganze Laden einem um die Ohren fliegen kann, wenn man allzu leichtfertig an ihm herumhantiert, dürfte die gelbschwarze Koalition prägen, solange sie hält.


Die Republik vor der Zerreißprobe

Peter Lohauß hat in der letzten Ausgabe der Kommune die zunehmende Spreizung zwischen den oberen und unteren Einkommens- und Vermögensverhältnissen beschrieben.(4) Mit der Zahl der Arbeitslosen und der Teile der Gesellschaft, die allein auf ein Transfereinkommen angewiesen sind, wird die Basis des Gesellschaftsvertrages untergraben, der die Bundesrepublik zusammenhält. Diese Basis ist die Doppelfigur von Citoyen und Bourgeois, das heißt von Staatsbürgern, die über Einkommen aus eigener Arbeit verfügen. Die »Verbürgerlichung des Proletariats« war eine von Revolutionären bedauerte, von Sozialreformern geförderte und begrüßte Entwicklung. Dass eine Gesamtheit von vielen Einzelnen ihre durch Verfassung und Wahlrecht versprochene politische Teilnahme als Bürgerinnen und Bürger, als Citoyen und Citoyenne, durch eigenes Einkommen untermauern kann, das auch einen gewissen Grad bürgerlicher Privatheit ermöglicht, ist ein Ergebnis der Verallgemeinerung der Lohnarbeit und des Klassenkampfes. So wurde die Ecklohn-Gesellschaft erkämpft, in der letzten Endes alles Einkommen aus Lohnarbeit (direkt oder über Transfer) von den Tariferfolgen der Gewerkschaften, also der Auseinandersetzung zwischen Lohnabhängigen und Kapitalfunktionären abhängt. Dies ist nicht der Gründungskompromiss der Bundesrepublik, wohl aber ihr Entwicklungsprinzip von »gehegtem Konflikt und Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften«.(5) Diese spezifische Formation der kapitalistischen Entwicklung steht unter Stress und befindet sich teilweise in Auflösung.

In der Form des Sozialstaats sind Citoyen und Bourgeois auf widersprüchliche Weise miteinander versöhnt. Aus dem Rechtstitel, als Citoyen dazuzugehören, erwächst der Anspruch auf eine Mindestversorgung, aus der Tatsache als Bourgeois über Einkommen zu verfügen, erwächst die Verpflichtung, für die Kosten der Bürgerschaft aufzukommen. Das funktioniert gut, solange der »Normalbürger« beides ist, Citoyen und Bourgeois. Der Sozialstaat ist zwar nicht ausdrücklich nach diesem Schema konstruiert, dass er jedoch so funktioniert, zeigt sich in den hysterischen Ausbrüchen einer neuen »Bürgerlichkeit«. Mit Sloterdijk meldet sich der Bourgeois zu Wort, der nicht länger einsehen will, dass er per Gesetz zur Existenzsicherung von Leuten beitragen soll, deren Anspruch auf Unterstützung aus nichts als ihrer Bürgerschaft entspringt. Die Leute sollen ruhig versorgt werden, jedoch nicht aufgrund eines gesetzlichen Anspruches, sondern aufgrund der freiwilligen Fürsorglichkeit der »Leistungsträger«. In dieser Überlegung wird auf beiden Seiten, auf der Seite der »Leistungsträger« wie auf der der Bedürftigen, aus der Doppelfigur von Citoyen und Bourgeois der Citoyen gestrichen. Der »Leistungsträger« will nichts sein als wohltätiger Bourgeois und der Bedürftige darf nichts sein als gescheiterter Bourgeois, dem man auf die Beine helfen mag oder auch nicht. Mit dem Angriff auf die Sozialstaatlichkeit wird so die viel beschworene »Bürgerlichkeit« aufgekündigt, soweit mit dieser eben nicht nur der Bourgeois, sondern in erster Linie der Citoyen und die Citoyenne gemeint sind. Die »neue« Bürgerlichkeit à la Sloterdijk meint einen Bürger ohne Bürgerschaft, sie meint den Bourgeois pur.

Ausbrüche wie die von Sarrazin und Sloterdijk müssen zwar nicht als intellektuelle Leistung, aber doch als Krisensymptom ernst genommen werden. Mit einer wachsenden Zahl von Arbeitslosen und Leuten, die von ihrem Einkommen allein nicht leben können, verliert der Sozialstaat nichts von seiner Notwendigkeit, ganz im Gegenteil, jedoch schwindet seine »Geschäftsgrundlage«. Im Grunde steht die Republik irgendwann vor der Frage, ob sie zu einem Bourgeoisstaat verkümmern will, also aufhören will, Republik zu sein, oder ob sie mit der Bürgerschaft ernst macht und den Status des Citoyen und der Citoyenne durch ein Grundeinkommen zu sichern versucht, um Teilnahme und Bildung aller Bürger zu ermöglichen. Sie sind schließlich nicht bloß Staatsangehörige, sondern die Träger der Republik. Oder eben auch nicht und das vielleicht in wachsender Zahl.

Hier, an dieser Existenzfrage der Republik, wird sich entscheiden, ob Parteien und welche Parteien in der Lage sind, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen. Es kann nicht darum gehen, wahlsoziologisch nach einer Mitte zu suchen und auf sie zu setzen, sondern eine politische Mitte zu schaffen, die um die Gefährdung der Republik weiß und ihr entgegenwirkt. Das ist das Gegenteil von Lagerbildung, es ist eine Sammlungsbewegung über Lager hinweg entlang den größten Herausforderungen. Sie sind bekannt. Die größte Herausforderung ist zu verhindern, dass die Republik zu einem Bourgeoisstaat verkümmert und zur Beute eines Lagers wird, und sei es ein »bürgerliches«.

Als das Triumphgeschrei eines Guido Westerwelle den Gipfel erreichte, zeigte sich, dass in den Parteien der Bundesrepublik genug Witz und Verstand da ist, die Wahlergebnisse klug zu nutzen, um sich nicht in der Falle der Lagerbildung einzurichten, die der gelbschwarze Wahlsieg auf Bundesebene geöffnet hat. Verwundert rieben sich die Kommentatoren die Augen, als sich zeigte, dass die Republik über die Länderparlamente immer bunter wird. Die beiden Varianten, die auf der Linken am ehesten als erstrebenswert erscheinen und bei den Grünen als Wege umstritten sind, die Ampel also und rot-rot-grün, sind merkwürdigerweise die einzigen, die nirgendwo die Regierung bilden. Sonst gibt es alles von schwarz-grün über rot-grün und Jamaika zu rot-schwarz und rot-rot.

So sollte man die Situation im Bundestag, in der nun die Unterscheidung von Regierung und Opposition mit dem Unterschied von rechts und links scheinbar übereinstimmt, nicht als die Rückkehr zu stabilen Lagern missverstehen. Es ist nur ein Zwischenschritt auf dem mühsamen Weg der Bundesrepublik zu ihrer politischen Mitte. Die wird nicht in einer festen Farbkombination zu finden sein, sondern in einer bunten Republik immer neuen Ausdruck suchen.

Peter Fahrenholz preist in der SZ den »Charme der Unübersichtlichkeit«. Der liege darin, dass die neue Unübersichtlichkeit die »Chance für neue Wege eröffnet. Denn damit Bündnisse zustande kommen, die vorher keiner gewollt hat, müssen Kompromisse geschmiedet werden, die von allen den Sprung über den eigenen Schatten erfordern. Das kann starre Fronten aufbrechen, zum Nutzen des Landes.«(6)

Eine Gesellschaft, die durch Differenzierung geprägt und von Segmentierung bedroht ist, aber keine Fronten bildet, sucht in einem politischen System, das im polarisierenden Wechselspiel von Regierung und Opposition sein Funktionsprinzip hat, nach Wegen, um der Republik eine Mitte jenseits der politischen Lagerbildung zu schaffen.

1

FTD, 11.11.09.

2

Zit. nach Der Spiegel, 36/09.

3

Wulf Schmiese: »In Höchstform«, FAZ 14.11.09.

4

Peter Lohauß: »Rückkehr der Klassengesellschaft. Soziale Gegensätze verfestigen sich«, in: Kommune 5/09, S. 7–15. – Das empirische Material belegt eine wachsende Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Hinter den ersten Teil der Überschrift würde ich aber ein Fragezeichen setzen und die Frage anschließen, ob sich die wachsenden sozialen Unterschiede tatsächlich zu Gegensätzen verfestigen.

5

Albrecht von Lucke: Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin. 1949–1989–2009, Berlin 2009, S. 67.

6

SZ, 10.11.09.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009