Bernd Rheinberg


Die Ordnung der Räume

Über die Zukunft des Cyberspace



Der Cyberspace braucht neue Ideen, Instrumente und Institutionen. Denn derzeit ist der »neue Raum«, von den Menschen selbst erfunden, ungezügelter »Nahme« ausgesetzt. Das »neue Jerusalem« eröffnet zwar zuvor ungeahnte Möglichkeiten, aber es hat seine Tücken. Es geht, wie der Disput um das Urheberrecht im Netz zeigt, um Aneignung und Einverleibung, die Regeln benötigen. Diese wird am ehesten staatliche Ordnungspolitik setzen können, die Zivilgesellschaft kann auf eine Zivilisierung des Netzverhaltens einwirken. Geschieht dies nicht, erweist sich die vermeintliche Netzfreiheit der Sozialisierung geistigen Gemeinguts als blanke Enteignung kreativer Produzenten. Die Ordnung des Cyberspace bedeutet also kein Ende der Freiheit, sondern ihre Gestaltung.



Seit rund 15 Jahren prägt der Computer unser Leben. Diese Prägung ist schleichend vonstatten gegangen: Am Anfang war er nicht mehr als ein besserer Schreibmaschinenersatz, dann ließ sich auch immer besser damit Setzen und Layouten (was man bis zu einem gewissen Punkt auch selber tat), man »vernetzte« sich und schickte E-Mails, statt zum Telefonhörer zu greifen, sendete Texte und Fotos um die Welt, buchte sich zwischendurch eine Flugreise und bestellte fair gehandelten Tee, zwei DVDs und einen Zauberer für den Kindergeburtstag, bevor man in die virtuelle Haut einer anderen Identität schlüpfte, um im Web 2.0 ein weiteres Leben zu führen.

Die Veränderung durch den Computer, die hier nur angedeutet werden kann, ist nur ein Aspekt unter den alltäglichen Veränderungen, die unser Leben formen. Ständig kommt eine weitere hinzu. Den Gebrauch eines Löffels muss man nur einmal erlernen, aber jedes neue Update auf unserem Handy oder Computer ist wie eine Initiation, mit der wir in einen Kreis von Eingeweihten aufgenommen werden, der seine Abhängigkeit von der neuen und neuesten Technik mit glänzenden Augen und geröteten Wangen feiert – oder mit Resignation zur Kenntnis nimmt. Die Technik ist revolutionär und evolutionär geworden. Wir sind ihren Triebkräften ausgeliefert. Sie ist unser Schicksal.

Davon war Günther Anders schon in den 1940er-Jahren überzeugt. Er identifizierte angesichts der zunehmenden und verfeinerten technischen Apparate ein »Scham-Motiv« bei den Menschen; er nannte dieses Motiv: »prometheische Scham«. Grund für diese Scham sei ein Makel des Sich-Schämenden, nämlich »geworden, statt gemacht zu sein«. Er sah dahinter das Begehren des Menschen, ein »selfmade man« zu sein, der, unabhängig von Gott, Göttern und Natur, sich selbst erschafft, besser: sich selbst herstellt, um der Perfektion seiner Produkte mindestens nahe zu kommen – und der Reproduzierbarkeit. Nun hat sich diese Scham stark verändert: Sie ist wegen des großen Genusses, den die Befriedigung des Begehrens mit sich bringt, in Schamlosigkeit umgeschlagen, was den Menschen kühner macht, seine eigene Evolution vorantreiben, und das heißt: beschleunigen, sich von seinen produzierten Vorbildern ablösen und ihn nach dem dauerhaften Gefühl und dem immerwährenden Status auf dem Olymp streben lässt. Kaum jemand, der daran mitarbeitet, würde dies je bejahen. Die Rede ist vielmehr immer von den sozialen Vorteilen, die eine Erfindung mit sich bringt: Krankheiten werden besiegt, Hunger gestillt, Träume erfüllt. Der Blick geht immer auf den »utopischen Gehalt« einer jeden Erfindung. Und warum? Weil wir gerne Verheißungen hören und Hoffnungen brauchen? Darum auch. Vor allem aber, weil tatsächlich Krankheiten besiegt, Hunger gestillt und Träume erfüllt wurden und werden. Und weil die Möglichkeiten, die »Potenziale«, die in einer neuen Sache stecken, gleich ob Glühbirne oder Serum, immer grandios und begeisternd sind.

Das ist beim Cyberspace beziehungsweise dem Internet nicht anders.

»Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseins-Industrie zum Schrittmacher der sozioökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr Steuerungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie. … Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden.«

Machen wir es uns ein wenig einfacher: Klopfen wir die marxistische Sprachschlacke ab und ersetzen die Wörter »Medien« durch »Internet«, bald das Hauptmedium unserer Zeit, und »Massen« durch »Menschheit« oder »Gesellschaft«, eventuell auch »Zivilgesellschaft«.

Im Kursbuch Nummer 20 vom März 1970 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger seinen langen Essay »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, aus dem das Zitat stammt. Der »Baukasten« ist eine Fortführung seiner Gedanken zur »Bewusstseins-Industrie«. Enzensberger wendet sich gegen das orwellsche »Schreckbild« dieser Industrie als monolithischen Apparat der Überwachung. Seine Argumentation ist einfach: Ab einer gewissen Größe sei ein »Kommunikationszusammenhang« nicht mehr kontrollierbar; seine »Undichtigkeit« erfordere einen Monitor, der größer sein müsste als das zu überwachende System selbst. Das Regime erlebte letztlich eine Überforderung und könnte sich nur noch durch polizeiliche oder militärische Mittel helfen. »Der Ausnahmezustand ist also die einzige Alternative zur Undichtigkeit der Bewusstseins-Industrie. Er kann aber nicht auf längere Sicht festgehalten werden.« Die Sachzwänge dieser Industrie, die auf Informationsaustausch fußt, kehrten sich immer wieder gegen ihre Kontrolleure. Wenn auch Enzensberger bei den »Medien« noch an Nachrichtensatelliten, Funk, Fernsehen und Telefon, Kopierer und Datenbanken dachte, so liest sich diese Theorie doch wie eine Vorhersage der heutigen Möglichkeiten des Internet, aber auch der seiner fleißigen Kontrolleure wie in den Regimes Chinas und Irans. Hier zeigt sich eine Schwäche dieser Theorie: Eine Kontrolle ist sehr wohl partiell und temporär technisch möglich – den Rest erledigt die virtuelle Guerilla des Regimes durch Manipulation, sprich: gezielte Falschinformation. Doch – und da dürfte Enzensberger recht haben – auf Dauer wird sich die totale Kontrolle dieses Mediums Internet nicht ermöglichen lassen.

Nach der marxistischen Theorie müssen die Produktivkräfte nur selbst revolutionär werden, und schon lassen sich auch die schlechten Verhältnisse ändern. Dies kann natürlich nur dann gelingen, wenn diesen Kräften auch der richtige, also ein positiver Gehalt innewohnt. Enzensberger behauptet diesen Gehalt nachdrücklich. Damit ihn auch seine Genossinnen und Genossen erkennen und mit aller Macht nutzen und somit den Fortschritt voranbringen können, muss er zunächst die Irrtümer in den Köpfen der Linken beseitigen. Vehement wehrt er sich daher gegen die defätistische »Manipulations-These«, wonach die Medien in erster Linie dazu dienen können, die Massen zu manipulieren. Enzensberger vermutet als wahren Urheber hinter dieser linken resignativen Erfahrung den »bürgerlichen Klassenhintergrund« ihrer Exponenten. »Oft scheint es nämlich gerade an ihren progressiven Möglichkeiten zu liegen, dass die Medien als bedrohliche Übermacht erfahren werden: daran, dass sie die bürgerliche Kultur und damit die Privilegien der bürgerlichen Intelligenz zum ersten Mal von Grund auf in Frage stellen ...«

Nein, Resignation ist Enzensberger Sache nicht. Er betont die Vorteile der neuen Medien, ihren wahrhaft revolutionären Charakter: »Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär.« Sie seien zudem aktions- und augenblicksorientiert. »Sie lösen ›geistiges Eigentum‹ schlechthin auf« und sind nicht nur Konsumtions-, sondern zugleich Produktionsmittel – und zwar »sozialisierte Produktionsmittel«. Das entscheidende Charakteristikum der avanciertesten Medien sei aber ihre – kollektive Struktur! Aus ihren Kommunikationsnetzen ergäben sich schließlich Modelle der Selbstorganisation. Vor allem darin liege das emanzipatorische Moment der neuen Technik.

Dies ist nun, rund vierzig Jahre später, alles eingetreten. Es ist im Internet und der massenhaften Nutzung von Personalcomputern und internetfähigen Handys wahr, und das heißt: alltägliche Praxis geworden. Ihre Protagonisten feiern es in den Blogs und den sozialen Netzwerken, in den Tauschbörsen und den anonymen Welten des Web 2.0. Sie nennen sich Nutzer und treffen sich unter dem Banner fröhlicher Piraten. Die digitalen Spatzen zwitschern es von allen virtuellen Dächern: Die Kulturrevolution ist da. Der Fortschritt. Die Gleichheit. Die Emanzipation. Das neue Jerusalem.

 

Ein neues Jerusalem? Ja. Denn wird diese neue Technik von vielen nicht wie ein neuer, ein quasi heiliger Ort empfunden, ein lebendiger Raum aus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Dieser neue Ort ist der Cyberspace. Er wird hier als die Gesamtheit der virtuellen Räume verstanden, insbesondere aber als seine unendliche Kathedrale, das Internet.

Es ist von vornherein etwas Bemerkenswertes an diesem neuen Raum: Er wurde vom Menschen selbst geschaffen. Er ist nicht von der Natur gegeben, nicht per se vorhanden, keine breitbrüstige Gaia gebar ihn, auch ist er nicht das von Gott zur Verfügung gestellte Terrain, in das der Mensch geworfen oder verbannt wurde. Er ist ein Raum menschlichen Geistes, ein Produkt seiner Kreativität, dieser Raum ist paraphysisch, und er ist scheinbar unermesslich. So ähnelt er doch seinem Schöpfer, dem menschlichen Geist, der, im Bewusstsein zu Hause und unkörperlich, von seinen physischen Grundlagen abhängig ist. Doch zunächst ist er ein Raum von Möglichkeiten, und jeder, der sich in ihn hineinbegibt, steht wie ein Einwanderer am Rande, am Anfang dieses Raums: befeuert von den Geschichten derer, die schon dort waren; ungewiss, was ihn alles erwartet; unschlüssig, was er selbst dort alles machen will; neugierig, welche Möglichkeiten sich auftun; entschlossen, sich seinen eigenen Claim abzustecken in diesem neuen Reich.

Aber das wirklich Besondere am Cyberspace ist seine Technikexistenz – er ist selbst technisch, die Technik ist in ihm selbst Raum geworden. Daraus bezieht er seinen besonderen Kraftimpuls und wird so zu einem unvergleichlichen Feld menschlicher Energie, Aktivität und Leistung. Er vergrößert seinen Umfang ständig, gleich dem sich ständig ausdehnenden Weltraum, verbessert seine Infrastruktur, gewinnt immer neue Nutzer hinzu, die sich zudem auf die eine oder andere Weise aus dem einen oder anderen Motiv vernetzen, und bleibt für jeden beinahe jederzeit erreich- und das heißt: verfügbar. Durch seine materiellen Grundlagen bleibt er aber an die »alten« Räume angeschlossen, der realen Welt; vor allem aber: Er wirkt auf diese Räume und alle ihre Gegebenheiten – Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, Mensch – ein und verändert diese. Wie geschieht das?

Dies geschieht vor allem zunächst durch Anschauung. Wir werden – und tun dies zu einem guten Teil schon heute – die anderen Räume, die unsere bisherige Welt ausmachten (Land, Meer und All), aus dem Cyberspace betrachten. Unser Blick aus dem Weltraum auf die Erde zum Beispiel hat unser Verständnis über den blauen Planeten gehörig verändert (wenn auch unser Verhalten nur allmählich): wir haben seine Einmaligkeit wie auch seine Zerbrechlichkeit begriffen. Auch der Blick aus dem Cyberspace wird unseren Blick auf die Welt verändern – weil wir in diesem neuen Raum einige neue Bedingungen vorfinden. Dazu gehören die sogenannte »Echtzeit«, in der weltumspannend alles getan werden kann; der weitgehende Zugriff auf große Mengen an vielfältigen – oder sollte man besser sagen: unvorstellbaren – Informationen; die unaufwändige Möglichkeit der Verbindung mit allen und jedem, also auch wildfremden Personen; die scheinbar unaufhörliche Verzweigung und gleichzeitige Ausdehnung dieses Raums. Dies alles ist neu und konnte mit den alten Mitteln nicht hergestellt werden. Aber es ist so neu und so potent durch seine technologische Kraft, die auf beeindruckende Weise Kommunikation, Informationsgewinnung, Wissensgenerierung und das Spiel mit dem eigenen Ich in einem Medium bündelt – und zwar so, dass es unsere Weltanschauung ändert. Wie das neue Weltbild aussieht, das dann entsteht, kann niemand vorhersagen. Aber es zeichnen sich bereits Konturen ab.

Historische Weggabelungen wie die Reformation oder die amerikanische Revolution haben rund 20 Jahre gebraucht, bis sie sich durchsetzten. Man kann die Entstehung und Entwicklung des Cyberspace bis zu einem gewissen Punkt tatsächlich mit der Situation in Nordamerika Ende des 18. Jahrhunderts vergleichen. Die Siedler Neuenglands hatten neue Räume für sich erobert und urbar gemacht. Unter welchen menschlichen und allgemeinen Opfern das geschah, wissen wir. Es entstand ein Selbstbewusstsein, das sich mit neuen Gedanken von Selbstbestimmung, Freiheit und Menschenwürde mischte und eine revolutionäre Stimmung erzeugte. Für viele war Amerika das gelobte Land, frei von Verfolgung und – in weiten Teilen – frei von Gesetzen. Die Verheißung fruchtbaren, unendlichen Landes beseelte immer neue Siedler. Schließlich, wie in der Reformation, gab ein zentrales Dokument, das Ethos mit Pathos verband und zum Vermächtnis wurde, den neuen, weltverändernden Weg vor. Dieses Dokument gibt es für den Cyberspace bislang nicht. Es gibt zwar eine verbindende Sprache, aber keine Sprachgewalt. Es gibt Informationen zuhauf, aber keine wirklich tragende Idee. »Warum auch?«, werden die Netz-Begeisterten sagen, »es gibt doch die Technologie«.

Zunächst walten auch in neuen Räumen immer noch die alten Überzeugungen und Anschauungen, müssen noch die alten Kämpfe weitergekämpft werden: Wer ist der eigentliche, der bessere Weltbeweger – die Masse oder das Individuum? Welches ist die bessere Form der Einflussnahme und Selbstbestimmung – die direkte oder die repräsentative? Wem gehört die Welt – allen Menschen zugleich oder den Einzelnen?

Es ist auffallend, dass sich die Kombattanten in diesen Kämpfen scheinbar nach den alten und neuen Räumen verteilen, wie weiland nach alter und neuer Welt. Im Cyberspace tummeln sich nämlich, laut trommelnd, die Kämpfer mit der Überzeugung, dass Menschenmassen den Fortschritt in die Welt bringen, Weisheit und Kreativität eher bei den Vielen (zum Beispiel als »Schwarmintelligenz«) denn beim Einzelnen zu finden sind, die Selbstregierung am besten durch direkte Partizipation möglich ist, alles von Wert in Gemeingüter umzuwandeln sei. In der realen Welt hausen dann die Reaktionäre, jeder ein König Georg III. Ihnen zufolge stehen die Denkmäler für Dichter, Denker und Erfinder zu Recht an allen Ecken, wird allein durch Repräsentation in der modernen Massendemokratie Verantwortung ausgeübt und ziviler Umgang garantiert, bringt die private Verfügung über die Produktionsmittel (gleich ob Fabrik oder die eigenen Fertigkeiten) erst den freien und unabhängigen Bürger hervor.

Der alte »Weltbürger« kann in diesem Kampf als stärkstes Argument einige Tatsachen aufbieten: Jeder möge in seinem Bücherregal nachschauen, wie viele Bücher darin von mehreren Autoren entstanden sind (da hilft es den »Schwärmern« auch nicht, wenn sie Homer und Shakespeare ob deren undeutlichen Biografien mal einfach so zu Gruppennamen umetikettieren); das Repräsentationsmodell hat in der Politik schließlich auch Entlastung von der Politik gebracht und in der Öffentlichkeit eine höhere Professionalisierung; das Recht auf Eigentum – und dazu gehört auch das Urheberrecht – hat Wohlstand und einen selbstbewussten Mittelstand hervorgebracht, der weltweit die Stütze für funktionierende Demokratien bildet. (Vorher war alles Thron und Altar unterworfen.)

Aber auch der neue »Cybercitizen« kann Unbezweifelbares in die Waagschale werfen. Viele Entwicklungen im Maschinenbau zum Beispiel (bis hin zur Robotik) sind Teamarbeit, und anders gar nicht mehr denkbar. Das Direkte, Unmittelbare, vor allem aber die Kommunikationsstruktur des Internet schafft neue Foren des Austauschs, Möglichkeiten der politischen Organisation und Beteiligung, der Kampagnenführung, des Journalismus. Ein Weltgut wie Wissen darf (wie Wasser) nicht künstlich verknappt werden, sodass die Befriedigung des entsprechenden elementaren Bedürfnisses unerschwinglich wird – und Wissen wird immer mehr zu einem elementaren Bedürfnis.

Der Cybercitizen hat zwei Vorteile gegenüber dem Weltbürger alter Prägung: Er weiß um die Schlagkraft des neuen Mediums und sein utopisches Potenzial, das er jeden Tag aufs Neue erlebt (der Gebrauch gleicht manchmal dem begeisternden Gefühl, auf einer Welle zu reiten); und er hat die Entwicklung schlichtweg auf seiner Seite, im Moment jedenfalls. Der alte Weltbürger gleicht dagegen eher einem »Entgeisterten« – er hat ein paar gute Argumente, große schweigende Bataillone und viel Geld hinter sich, ein paar bewährte Institutionen und Geschäftsmodelle, aber er spürt auch, dass er eine Entwicklung verschlafen hat und die bisherige Wertschöpfung schwieriger wird.

Ein Problem liegt in den Missverständnissen: Die Cyberspace-Begeisterten glauben, auf Dauer eine Boston Tea Party feiern zu können und sich den Blick auf die realen – und das heißt auch im Netz zuallererst: die ökonomischen – Verhältnisse die meiste Zeit zu ersparen. Sie sehen das Internet und ihr Tun isoliert, Kritik lassen sie mit der Behauptung abperlen, der Kritiker verstehe nichts vom Netz. Das ist eine Sektenargumentation, ein Anzeichen politischer und moralischer Separierung, die gegen jede Kritik feit, sie als illegitim denunziert, Anzeichen einer Abschottung gegen das reale Leben und Ausdruck eines selbstverliebten Eskapismus. Auf der anderen Seite sollten die »Entgeisterten« nicht glauben, sie könnten sich einfach nur unter einen staatlichen Schutzschirm begeben, quasi ein ökonomisches Reservat, das Einnahmen nach alten Modellen und damit das Fortbestehen des Unternehmens garantiert. Es wird deutlich: Vom Netz reden, heißt: vom Geld reden.

 

Denn es geht im Kern um eins: um Aneignung. Der Disput um das Urheberrecht im Internet hat es noch einmal deutlich gemacht, dieser Streit hatte etwas Exemplarisches und Klärendes. Bei jedem Produkt, jedem kreativen Werk gibt es einen Schöpfer oder Urheber, oftmals einen Werkvermittler oder Rechteverwerter, häufig einen Nutzer. Der Streit der letzten Zeit wurde meist zwischen Vermittlern/Rechteverwertern auf der einen Seite und Nutzern auf der anderen Seite geführt, beide Seiten wurden verstärkt durch Kreative als Urheber. »Zum Verschenken unseres Eigentums ohne vorherige Zustimmung möchten wir … nicht gezwungen werden«, haben die großen deutschen Verlagshäuser in einer Resolution konstatiert. Die wesentlichen Streitpunkte des aktuellen Kulturkampfs finden sich in diesem Satz wieder, man beachte nur die Worte »Verschenken«, »Eigentum«, »Zustimmung«, »gezwungen«. Auch hier geht es in erster Linie um Aneignung. Die Vermittler eignen sich ein Werk an, indem sie dem Urheber das Recht zur Vervielfältigung abkaufen. Auch die Nutzer eignen sich das Werk an, meist eine Kopie davon. Früher haben sie in der Regel dafür einen festgelegten Preis bezahlt; im Netz neigen große Gruppen dazu, sich kostenfreie Kopien herzustellen oder »herunterzuladen«. Die kommerziellen Werkvermittler wie auch die individuellen Urheber haben meist etwas dagegen, denn dieses Verhalten, diese Aneignung, die zur schleichenden Enteignung wird, untergräbt, im großen Stil durchgeführt, schlichtweg ihre Existenz. Eine Binsenweisheit. Die aber gesagt sein muss. Doch warum zählt sie nicht?

Es gibt viele Gründe. Zunächst einmal ist es sehr einfach, im Netz kostenfreie Kopien herzustellen – das ist verführerisch und macht gedankenlos; zudem wird alles und jedes wie eine Information behandelt, die frei (und das heißt auch: ohne Absender) im Netz flottiert – es gibt so kaum Knappheit, die Wert zumessen kann.

Daneben gibt es immer ein Heer von Kreativen, die niemals eine kommerzielle Werkvermittlung erhoffen können, weil die etablierten Häuser sich von anderen Kreativen mehr versprechen und Kreativität – anders als behauptet – oft ein schwieriges Gut ist: meist ohne Buchwert, mit schlechten Gewinnerwartungen, die Cash-Burn-Rate ist enorm. Die zurückgewiesenen Kreativen, die nichts zu verlieren haben außer ihrer Ruhmlosigkeit, werden die unvermittelte, mit Hoffnungen und Träumen aufgeladene, doch sehr wahrscheinlich brotlose Existenz im Netz dem ausschließlich privaten Künstlernirvana vorziehen. Das Internet bietet für Urheber oder Schöpfer, die sich auf keinen Vertrag mit Rechteverwertern einlassen können oder wollen, neue Möglichkeiten und auch Freiheiten – geschützt sind ihre Rechte in diesem Raum der Freiheiten aber kaum.

Die kommerziellen Werkvermittler selbst haben auch hierzulande durch Knebelverträge, sogenannte Total-buy-out-Verträge, mit denen zum Beispiel Autoren und Fotografen die Rechte an ihren Texten inhaltlich, räumlich und zeitlich unbeschränkt abgeben, inklusive also das Recht, diese Rechte an andere abzugeben, die Urheber quasi auch enteignet, denn das Urheberrecht ist ohne das (Verfügungs-)Recht, Nutzungs- und also Verwertungsrechte zu vergeben, nicht viel wert, und mit diesen Verträgen werden die kreativen Mündel letztlich gegen ihre ökonomischen Fürsprecher auf dem Markt von diesen selbst aufgebracht.

Dann ist da noch die mit viel Verve und Chuzpe betriebene Bewegung der Netz-Piraten, die sich vor allem die Produkte der Multis der Bewusstseinsindustrie als Prise ausgeguckt haben und den Nutzern beim kostenlosen Herunterladen – sprich: Aneignen – mit Erfolg (und letztlich eigenem Gewinn!) jedes schlechte Gewissen ausreden, wenn es überhaupt notwendig ist, denn irgendwie gilt Piraterie gegen Multis per se als »hip«. Da wird leicht und gerne verdrängt, dass diese Auseinandersetzung auf den Schultern der Urheber ausgetragen wird, die zwar das wichtigste, aber auch das schwächste Glied in dieser Kette »Urheber – Rechteverwerter – Nutzer« sind.

Ein weiterer Grund für dieses Verhalten liegt auch in der von den großen Unternehmen mitgeschaffenen Kultur der Kostenlosigkeit, schließlich gab es zum Beispiel schon vor dem Internet Umsonstzeitungen, die die Preise verdarben. Und der Mangel an Bezahlmodellen kann nicht den Nutzern in die Schuhe geschoben werden. Doch langsam dämmert die Erkenntnis: Auch in den digitalen Vertriebskanälen müssen jenseits der Werbung Erträge fließen.

Ein weiterer wichtiger Grund trägt ideellen Charakter: Zwei eigentlich gute Initiativen – Creative Commons und Open Access –, mit denen Wissensverbreitung erleichtert werden kann, sind vielerorts von der Idee zur Ideologie mutiert. Und wie alle Ideologen glauben viele ihrer Protagonisten, dass allein an diesen Konzepten die Welt genesen wird, und deshalb muss Widerspenstigen mit Zwang begegnet werden. Besonders widerspenstig können Urheber sein, die auf ihre Rechte für das von ihnen Geschaffene pochen. Dabei kann es sie eigentlich gar nicht geben! Wenn es allein nach der Creative-Commons-Bewegung ginge. Denn in ihren Kreisen hat sich der Gedanke als richtungs- und handlungsweisend durchgesetzt, wonach es so etwas wie ein besonderes Eigentumsrecht an schöpferischen Werken gar nicht geben kann, weil sie aus etwas stammten, das für jeden verfügbar, denn immer schon da sei: Sprache und Musik. Und daher könne eigentlich nichts individuell Geschaffenes daraus entstehen. – Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Bis dahin sollten wir einmal versuchen, uns vorzustellen, wie wir Herrn von Goethe in seinem Haus am Frauenplan in Weimar überzeugen könnten, dass sein Faust (Teil 1 und 2) gefälligst unter einer Creative-Commons-Lizenz zu veröffentlichen sei, da er sich einer alten Volkslegende bedient habe und daher bei seinem Stück nicht von einem Werk gesprochen werden könnte, an dem er besondere Rechte genießen dürfe. Nun, wenn wir Glück haben, wird er mit einer boshaften Xenie in den Horen auf unser Ansinnen antworten, wenn wir Pech haben, bekommen wir seinen Federkiel ohne viel Aufhebens und Erregung in den Hals gerammt.

Gegenwärtig scheint es, als würden die Grundlagen des Internet – weitgehend unkontrollierte Datenströme und schwer identifizierbare Nutzer – sowie die oben genannten Gründe die Bedingungen diktieren, zu denen schöpferische Werke zu haben sein werden. Wie gesagt: schöpferische Werke. Das Netz verändert nur mittelbar die Welt der Betongießer oder Friseure; es ist vor allem die Welt der »Kreativen«, die sich vollkommen ändert, weil sich ihre ökonomischen wie schöpferischen Bedingungen ändern und es Rechtstitel nur »weich«, nämlich durchsetzungsschwach gibt. Enzensberger sprach davon, dass die Neuen Medien die anderen Bereiche »infiltrieren«. Der Cyberspace verändert aber vor allem dadurch, dass er sich andere Bereiche einverleibt.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung auf dem Zeitungsmarkt, die der Öffentlichkeit durch den Konflikt zwischen Zeitungsjournalisten und Bloggern deutlich wurde. Während die Zeitungen an Auflage verlieren, steigt die Zahl der Blogger und damit der selbst ernannten Online-Journalisten. Es findet zweifellos ein Strukturwandel der Öffentlichkeit statt, der unsere Aufmerksamkeit verdient – schließlich erfüllen die Medien als »vierte Gewalt« in der Demokratie eine nicht unerhebliche Kontrollfunktion. Auch hier steht das Modell der Repräsentation – eine große Zahl von gut ausgebildeten Journalisten im Printbereich und im Fernsehen, die den Bürgern Reportagen, Nachrichten, Informationen, Meinungen, Kommentare liefern – dem Modell einer »direkten« und kommunikativen Öffentlichkeit durch Blogger gegenüber. Auch im Online-Journalismus haben sich einige feste Größen etabliert, die, von ihren alten Häusern »freigesetzt«, die Seiten gewechselt oder sich von vornherein im Netz hochgearbeitet haben. Gewiss genießen sie ihre Reputation, ihre Unabhängigkeit, das Gefühl, zu einer Avantgarde zu gehören. Aber genießen sie auch ein relevantes Einkommen? Das sichert auf lange Sicht die Unabhängigkeit und damit den Ruf und auch die Funktion der vierten Gewalt. Einen qualitätsvollen Journalismus, ob »online« oder »print«, wird es ohne Einkünfte auf Dauer nicht geben. Es wäre auch zum Nachteil jeder Demokratie, denn schließlich soll und kann guter Journalismus, »zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft« (Habermas) anleiten, indem er zum Beispiel gut recherchierte Reportagen oder versierte Leitartikel liefert. Welcher Verleger bezahlt denn Blogger?

Bislang jedenfalls macht das Netz fast alle zu besitzlosen Künstlerexistenzen.

Aber es ist nicht allein die Einkommensfrage, die sich bei diesem Strukturwandel stellt. Nach dem Übergang von der literarischen zur bürgerlichen und nun zu einer digitalen Öffentlichkeit werden wir es eine Zeit lang mit einer weiteren, einer stärkeren Zersplitterung von Öffentlichkeit zu tun haben. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Zeitungsmarkt im Printbereich zu rund 70 Prozent aus Regionen mit nur einem Lokalblatt besteht, das weit davon entfernt ist, den einfachsten Ansprüchen von Qualitätsjournalismus zu genügen; außerdem sind in letzter Zeit viele Redaktionen geradezu kaputtgespart worden, um die Rendite zu erhöhen. Auch die vierte Gewalt ist eine Angelegenheit von wenigen, und es würde ihr gewiss nicht schaden, wenn es ein paar mehr wären. Selbst jetzt, da die Diskutanten durch das Internet und die Globalisierung der Probleme (Beispiel »Klimawandel«) an Zahl mehr werden, führen – gleich ob lokal oder global – nur einige wenige Prozent der Bevölkerung die wichtigen Diskussionen. Und diese teilen sich im Gebrauch der Medien auf. Noch ist das Internet nicht das Leitmedium für die Diskussionen der Republik. Doch das wird es werden. Bis dahin haben wir es mit mehreren, fast gleichrangigen Medien der Öffentlichkeit zu tun, aber nur die wenigsten Personen werden in allen zu Hause sein. Die »Betriebsblindheit«, die viele ergriffen hat, dürfte schon ein Indiz dafür sein, so wie die beliebten »Bauchnabeldiskussionen«. Doch eine funktionierende »demokratische Öffentlichkeit« ist etwas anderes als ein Pool von nebeneinander existierenden »Szenen« oder »Sphären«. Die Platzhirsche der einzelnen Szenen und Sphären werden ihre Foren für die anderen öffnen müssen. Die hybride Öffentlichkeit, die daraus entsteht, muss nicht die uninteressanteste sein.

Der Cyberspace ist vor allem das Spielfeld des letzten individuellen Kapitals: des Geistes. Aber er kennt, ohnehin eine Aktie aus dem Pennystock-Bereich, im Moment nur die Existenz in einer prekären Subsistenzwirtschaft, wo Schmalhans Küchenchef ist und jeder Traum vergesellschaftet. Der Kreativ-Klasse steht eine Pauperisierung ins Haus, die sie noch nicht begriffen hat, weil in der Avantgarde die Armut so schick ist wie das abgegriffene Notebook. Aber irgendwann wird aus dem Magenknurren des digitalen Tagelöhners ein Murren, und schließlich entsteht das Gefühl von Resignation oder Rebellion. Doch dann ist schon eine ganze Generation von Kreativen im Cyberspace vernutzt worden. Länder Asiens haben jahrzehntelang durch Produktpiraterie versucht, zu Wohlstand zu kommen. Dies gelingt ihnen erst, seit sie sich weitgehend auf die eigenen kreativen Potenziale verlassen. Für die sie ihren Wert kennen und ihren Preis nehmen. Auch in der Kreativgesellschaft des Internet müssen sich Werke und Ideen rechnen!

Nun gibt es einige Modelle jenseits der unsicheren und nicht in jedem Fall gewünschten Finanzierung durch Werbung, mit denen das bewerkstelligt werden könnte: etwa eine »Kultur-Flatrate« (die allerdings dem Urheber ein eigenes Leistungsschutzrecht nimmt); eine Rechteagentur für digitale Buchinhalte (in den USA geplant: Book Rights Registry, in Deutschland könnte das die VG Wort übernehmen, was den Verlagshäusern aber nicht gefällt); Bezahlabos für Zeitungen oder für Nachrichtenagenturen, die aus der Gesamtheit des Cyberspace Texte zu bestimmten Themen periodisch oder in Einzelfällen zusammenstellen, also eigentlich spezielle Suchmaschinen oder Filter für Blogs und Zeitungen (das wäre eine Dienstleistung, die dem Dienstleister wie dem Verfasser der Beiträge Geld erbringen könnte, deren Einrichtung im Moment aussichtslos scheint, weil die Predigten der Netzideologen in eine andere Richtung gehen und der Leidensdruck der Kreativen noch nicht groß genug ist, und doch wird sich das Angebot bald ändern; niemand, der sich vom Chinesen um die Ecke ein Chop Suey nach Hause bringen lässt, erwartet, dass dieser das umsonst tut); eine Art iTunes für literarische Texte wäre ein weiteres Modell. Die Direktvermarktung könnte in diesem Bereich zunehmen, schließlich stehen mit Firmen wie PayPal, ClickandBuy und so weiter schon genug funktionierende Bezahlmöglichkeiten zur Verfügung. Die traditionelle Ökonomie könnte also weiter Einzug halten im Cyberspace – und sie wird es, weil sie auch den Schöpfern von Werken, Ideen, Produkten Vorteile bringt. Aber sie wird immer mit kostenlosen Angeboten und einer neuen Netz-Ökonomie konkurrieren müssen, die sich auf »Generative« (wie Kevin Kelly sie nennt) stützt, also Leistungen, die immer wieder neu erbracht werden. Das kann sie immer noch durch Qualität.

Aber es könnte auch anders kommen, indem nämlich die Monopolstrukturen im Netz die Überhand gewännen. Zur Pauperisierung der Kreativ-Klasse träte dann eine digitale Feudalisierung der Öffentlichkeit und des Markts für kulturelle Güter durch solch geniale, rücksichtslos expandierende Firmen wie Google. Es ist jedenfalls interessant zu beobachten, wie nach dem Knockout für die alten Speichermedien Marke CD (weitere werden folgen) und dem Ausbau des Internet zu einem Metaspeicher im Internet selbst nun privat bewirtschaftete Megaspeicher entstehen sollen. Das Bild vom Gedächtnis der Menschheit bekommt Kontur – aber anders, als man es sich lange vorgestellt hatte. Und es ist auch umso überraschender, weil es trotz der Bedrohung durch Filesharing geschieht. Dahinter steckt die wirtschaftliche Potenz eines Giganten, der es sich nicht leisten kann, stehen zu bleiben, und der danach strebt, ein »Komplettangebot« für alle kulturellen Güter zu schaffen. Das wird für den Nutzer hilfreich und angenehm sein. Aber es wird ihn auch abhängig machen. Und es wird alle mittelständischen Firmen auf den Märkten, die Google für sich als vielversprechend erachtet, auslöschen. So etwas wie »Konkurrenz« wird es dann nicht mehr geben.

Betrachtet man die ökonomische Entwicklung des Cyberspace, so fällt der Blick irgendwann auch auf die sogenannte »Internet-Blase« vom Anfang dieses Jahrtausends. Der Optimismus, mit dem damals kreditgebläht ökonomisches Neuland betreten wurde, hat viel Geld in das Lagerfeuer der Virtualität geworfen. Und es gibt Parallelen zur jetzigen Wirtschafts- und Finanzkrise. Letztlich war diese »Blase« aber nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum jetzigen GAU des Finanzsystems. Das Problem: Alle hielten das Fiasko im Internet nur für einen Fremdschauplatz, weit abseits des realen ökonomischen Geschehens. Tatsächlich hat aber die technologische Entwicklung des Cyberspace die Forcierung des Finanzmarkts, die schwer kontrollierbare Hypergeschwindigkeit des Geld- und Warentransfers erst ermöglicht – mit der Konsequenz, dass die Virtualität dieses Raums die Fantasie der kleinen Marktstrategen und großen Phantasten in den Banken so sehr anregte, dass sie zwischen Hausse und Hasard nicht mehr unterscheiden konnten. Die Kredite, Zertifikate und anderen Finanzprodukte verloren immer mehr den Boden, auf denen sie stehen sollten. Sie waren – Datenströme = Geldströme – längst technisch geworden wie das Medium, in denen sie sich bewegten.

Und hier treffen sich die Netzlibertären mit den Marktliberalen: Es schert sie keine Legitimität außer der der Tat; jede Kontrolle schimpfen sie Teufelswerk (als wenn es nicht auch schon welche gäbe, z. B. bei der Adressvergabe im Netz); eine Ordnung für den Cyberspace denunzieren sie als Ende der Freiheit.

 

Am Anfang jeder großen Epoche steht eine große Landnahme.« Dieser Satz kann einem angesichts der Realität des Cyberspace in den Sinn kommen. Er steht in dem kleinen Bändchen Land und Meer, das Carl Schmitt seiner Tochter Anima widmete, damit sie erfahre, was die Welt bewegt. Es ist der Kampf der Land- gegen die Seemächte und der Kampf dieser untereinander um Vorherrschaft. Es geht um Macht, neue Märkte, um Eroberung aus Gier und Ruhmsucht – die alten Geschichten. Auch für den Weltraum scheint dies noch zu gelten, welcher der dritte Raum ist, der, nach Land und Meer, unsere Aufmerksamkeit und unsere Triebkräfte auf sich gezogen hat mit Satelliten, Space Shuttles und einer internationalen Raumstation. Allerdings überwiegt im Moment eher das wissenschaftliche Interesse, weil die ferne Landnahme weniger prestigeträchtig und die physische Ausbeute ungewiss ist und der Platz für kommerzielle Satelliten langsam knapp wird. Das Interesse am Weltraum erlahmt aber auch und vor allem, weil ein vierter Raum diesem dritten den Rang abgelaufen hat. Dieser vierte Raum ist der Cyberspace.

In den Anfängen der Neuzeit ist der Gegensatz von Land und Meer, von Land- und Seemächten konstitutiv für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit der Überwindung riesiger Naturräume und der militärischen Eroberung sowie der ökonomischen Erschließung ganzer Kontinente beginnt nach der zunächst rücksichtslosen Land- wie Seenahme die Kodifizierung internationaler Regeln. So galt zum Beispiel vor dem Utrechter Frieden von 1713 die Auffassung, das Meer sei für Recht und Ordnung unzugänglich und ein Raum freien und ungeregelten Kräftemessens. Tatsächlich ist erst danach die rechtliche Einhegung dieses Kräftemessens langsam gelungen, und mit dem temporären Kräftegleichgewicht entstand eine Raumordnung. Dieser »Nomos der Erde«, wie Schmitt ihn nennt, definiert nicht nur das Genommene (und setzt damit oftmals nachträglich Unrecht ins Recht), sondern auch die Verteilung des Genommenen, die Eigentumsordnung, wie auch die Nutzung des Genommenen. Das gilt für die Landnahme des Einzelnen wie für das der Staaten: Die »Nahme« geht dem Recht voraus.

Es ist der Akt des Nehmens, also des Aneignens, der die Realitäten verändert. Doch immer folgt ihm eine neue Ordnung.

So auch nach die Seenahme, die mit dem technischen Fortschritt der vergangenen Jahrhunderte den Gegensatz von Land und Meer auflöste, bis man von einer Weltnahme sprechen konnte, aus der das Völkerrecht wie auch die Regelungen zum Welthandel entstanden. Auch der Weltraum erhielt sein menschliches Recht in einem Weltraumvertrag. Das durch die technischen Errungenschaften ermöglichte Nehmen und Nutzen dieses Raums ist größtenteils geregelt, wenn auch nur knapp die Hälfte der Staaten dem entsprechenden Vertrag angehört.

Hat also bei der bisherigen Weltnahme die Technik neben den Interessen und Triebkräften eine nicht unwesentliche Rolle gespielt – nämlich die der beschleunigten Auflösung von Gegensätzen beziehungsweise der Angleichung der Weltenräume –, so ist der momentan letzte »Elementarbereich menschlicher Existenz«, der Cyberspace, selbst technisch, ist mithin – wie schon gesagt – die Technik selbst in ihm Raum geworden. Das macht ihn überlegen gegenüber den anderen Räumen. Anpassungen und Angleichungen stehen bislang unter seinem Diktat. Er inkorporiert einfach ganze Teile der Welt: Wissen, Geld, Kulturgüter. Sein einfaches Mittel heißt »Digitalisierung«, eine Art »Verflüssigung«, die die Welt unter den Bedingungen des vierten Raums brauchbar und das heißt für viele auch zum ersten Mal nutzbar macht. Die Verfahren sind in »Protokollen« und »Codes« festgeschrieben. Doch sie sichern in erster Linie Funktionalität und Effizienz des Raums und geben keine rechtliche Struktur vor. Die »Nahme« und Nutzung wird unter weitgehender Ausblendung von individuellen Eigentumsrechten vom »Recht des Stärkeren« bestimmt – und die Stärkeren, das sind auf der einen Seite einige clevere, freundliche, sehr große Firmen, die mit ihren Sendboten namens »Cookies« immer auf dem Laufenden sind über die Wünsche und Träume des Nutzers, und auf der anderen Seite der anonyme, durch die schiere Masse geschützte Nutzer, konditioniert von einer »User«-Kultur, die stark an den Cargo-Kult erinnert, dessen Jünger auch den Bezug zu den Bedingungen von Kreativität, Produktion, geistigem Eigentum und Erwerb verloren haben.

Die Vorzüge, die in der weltweiten Nutzung dieses Raums liegen, sollen hier nicht noch einmal im Einzelnen wiederholt werden. Es muss neben dem Besitzindividualismus auch eine Gemeingüterwirtschaft geben, um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse jedem zu ermöglichen. Das gilt vor allem für solche Güter der Erde wie Süßwasser, Luft und manchmal auch Land. Aber gilt das auch für die Güter des Menschen? Was ist das dem Menschen Eigene? Sind es nicht vor allem die Produkte seines Geistes? Warum sollen die Fertigkeiten des Kopfes anders behandelt werden als die der Hand? Warum? Ganz einfach: Weil es im Cyberspace durch die Digitalisierung möglich ist. Allein deswegen.

Und das ist kein legitimierender Grund. Der Einzelne wird von den Nutznießern a priori enteignet durch die Behauptung, die Grundlage unseres Denkens und Sprechens, die Sprache, gehöre allen – was stimmt; die Grundlage unseres Musizierens und Komponierens, die Töne, gehörten allen – was stimmt, und so weiter; weswegen auch alle Produkte aus Worten und Tönen allen gehören müssten – was ganz und gar nicht stimmt. Jeder Boden muss bestellt werden, so auch die Sprache und die Musik. Und es ist dieser Unterschied zwischen dem bestellten und dem unbestellten Boden, der aus Talent, Fleiß, Fertigkeiten und Arbeit besteht und nicht per se allen gehört. Die Musik macht den Mehrwert, der Mehrwert macht die Musik. Und wer auf diesen Wert verzichten will – aus welchen Gründen auch immer –, der wird das auch weiterhin tun und kostenfrei ins Netz stellen, zum Beispiel.

Es gehört zum Menschen, dass er nicht auf einen bestimmten Raum festgelegt ist, er ist »weltoffen«. Es gehört zum Wesen von Technik, dass sie in den meisten Fällen nicht auf einen Zweck festgelegt ist, sie ist »zweckoffen«. Nicht jeder Zweck ist daher vorhersehbar, und diese Zweckoffenheit hält beim Cyberspace an, sie geht wahrscheinlich sehr weit. Und doch ist auch der Cyberspace »begrenzt«, es gibt zumindest ein Innen und ein Außen. Dadurch entsteht im Cyberspace auch die Mentalität des »Frontierman«, mit der leisen Verachtung für die Zurückgebliebenen in den alten Räumen und der lieb gewonnenen Missachtung von Regeln. Aber auch der Cyberspace braucht eine richtige Ordnung, einen Nomos. Im Moment zeichnet sich eine Ordnung ab, in der das Recht des Stärkeren gilt. Stärke vermag aber kein gerechtes Recht zu schaffen. In einem langen Zivilisationsprozess haben demokratische politische Gemeinschaften immer wieder das Recht des Stärkeren durch ein legitimes Recht zu ersetzen versucht, das Freiheit und Gleichheit der Menschen wahrt, Solidarität fördert und Schwache schützt. Der Cyberspace muss diese legitime rechtliche Ordnung auch bekommen (auch wenn es schwer wird). Und es sollte bald sein. Denn es gibt für fast jede moderne Technik einen »Tipping Point«, einen Umschlagpunkt, an dem der Nachteil einer Technik den Vorteil – jedenfalls bis auf Weiteres – deutlich überwiegt. Wir könnten in unserem Fall an einem solchen Punkt angelangt sein.

 

Fassen wir in einer Unterscheidung zusammen: Der Cyberspace ist eine Welt des Besitzes. Die alten Räume bilden eine Welt des Eigentums. Und die Mentalität, die sich in der neuen Welt gebildet hat, beginnt sich schon in der alten auszuwirken und den bestehenden Nomos zu verändern. Ist das schlecht? Es ist von Nachteil, dass sich in der Welt des Cyberspace bereits etwas verfestigt hat, das man als ein »Recht des Stärkeren« bezeichnen muss da und eine Art Ordnung errichtet. Die neue Ordnung des Cyberspace aber muss diesem »Recht des Stärkeren« Grenzen setzen. Und dabei müssen das Recht und der Schutz des Einzelnen eine besondere Rolle spielen. Wieso? Weil wir nichts Besseres haben. Am Individuum sind die Würde des Menschen, seine Freiheit, etwas zu tun wie auch zu unterlassen, sein Wohlergehen festgemacht. An ihm lassen sich Datenschutz und Bürgerrecht, informationelle Selbstbestimmung und Informationsfreiheit ebenso fixieren wie der Schutz geistigen Eigentums, von dem nicht nur die skizzierte Kreativ-Klasse bislang profitiert, sondern die gesamte Gesellschaft. Das Recht auf Eigentum ist ein ganzes Rechtsbündel sowie als komplexes Rechtsinstitut mit vielen Einzelrechten versehen, die unter anderem den Gebrauch, die Einkommenserzielung, die Veräußerung sowie die Zuordnung zum Rechtssubjekt betreffen. Eigentum gibt Rechte und Pflichten und erzieht, durch die entsprechenden Entscheidungen, zur Verantwortung. Eigentum ist mehr als Besitz.

Die neu zu schaffende Ordnung des Cyberspace sollte als das dauernde Bemühen verstanden werden, Verfahren und Regeln zu entwickeln, um die Grundlagen unserer Existenz zu sichern – und damit auch die Aneignung, das Eigentum und die Nutzung des Raums zu regeln. Dabei geht es nicht nur um individuelle Rechte, sondern auch um die Kontrolle von Kontrolleuren, die Einschränkung von Spams und Phishing und um vieles mehr.

Diese Ordnung wird neue Ideen, Instrumente und Institutionen brauchen. Und sie wird aus drei Richtungen durchgesetzt werden: vom Staat durch staatliche Ordnungspolitik, also der Setzung und Durchsetzung von Recht und Gesetz, denn auf den Staat und Staatenbünde wird auch hier nicht verzichtet werden können, schließlich haben sie noch am ehesten die Macht, Rechtsnormen durchzusetzen (das Internet Governance Forum hat allerdings keine); und von unten aus der Zivilgesellschaft, zunächst einmal mit einem Manifest mit dem Charakter eines Kodex (solch eine »Innere Ordnung« bedeutete schon eine Zivilisierung des Netz-Verhaltens, an den sich natürlich nicht alle halten würden – wie im »richtigen« Leben –, und der trotzdem Wirkung entfaltete). Schließlich wird eine neue Ordnung durch Regulierungen der Institutionen zur Netzselbstorganisation und von den großen Netzbetreibern (durch Selbstverpflichtungen zum Beispiel) vorangetrieben.

Keine Ordnung wird und muss auch in Zukunft alle »Darkrooms« im Cyberspace verhindern. Auch das hiesige Leben kennt Steueroasen, Trieboasen. Ordnung heißt nicht Kontrolle. Ordnung heißt Regeln, Verfahren, Gesetze.

»Der alte Nomos freilich entfällt«, schreibt Carl Schmitt, »und mit ihm ein ganzes System überkommener Maße, Normen und Verhältnisse. Aber das Kommende ist darum doch noch nicht nur Maßlosigkeit oder ein nomosfeindliches Nichts. Auch in dem erbitterten Ringen alter und neuer Kräfte entstehen gerechte Maße und bilden sich sinnvolle Proportionen.«

Die wilde Zeit des Cyberspace aber geht ihrem Ende entgegen. Die neue Ordnung, die da entsteht, liegt noch hinterm Horizont, aber nicht mehr ferne.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009