Die Ordnung der Räume
Der Cyberspace braucht neue Ideen, Instrumente und Institutionen. Denn
derzeit ist der »neue Raum«, von den Menschen selbst erfunden, ungezügelter »Nahme«
ausgesetzt. Das »neue Jerusalem« eröffnet zwar zuvor ungeahnte Möglichkeiten,
aber es hat seine Tücken. Es geht, wie der Disput um das Urheberrecht im Netz
zeigt, um Aneignung und Einverleibung, die Regeln benötigen. Diese wird am
ehesten staatliche Ordnungspolitik setzen können, die Zivilgesellschaft kann
auf eine Zivilisierung des Netzverhaltens einwirken. Geschieht dies nicht,
erweist sich die vermeintliche Netzfreiheit der Sozialisierung geistigen
Gemeinguts als blanke Enteignung kreativer Produzenten. Die Ordnung des
Cyberspace bedeutet also kein Ende der Freiheit, sondern ihre Gestaltung.
Seit rund 15 Jahren prägt der Computer unser Leben. Diese Prägung ist
schleichend vonstatten gegangen: Am Anfang war er nicht mehr als ein besserer
Schreibmaschinenersatz, dann ließ sich auch immer besser damit Setzen und
Layouten (was man bis zu einem gewissen Punkt auch selber tat), man »vernetzte«
sich und schickte E-Mails, statt zum Telefonhörer zu greifen, sendete Texte und
Fotos um die Welt, buchte sich zwischendurch eine Flugreise und bestellte fair
gehandelten Tee, zwei DVDs und einen Zauberer für den Kindergeburtstag, bevor
man in die virtuelle Haut einer anderen Identität schlüpfte, um im Web 2.0 ein
weiteres Leben zu führen.
Die Veränderung durch den
Computer, die hier nur angedeutet werden kann, ist nur ein Aspekt unter den
alltäglichen Veränderungen, die unser Leben formen. Ständig kommt eine weitere
hinzu. Den Gebrauch eines Löffels muss man nur einmal erlernen, aber jedes neue
Update auf unserem Handy oder Computer ist wie eine Initiation, mit der wir in
einen Kreis von Eingeweihten aufgenommen werden, der seine Abhängigkeit von der
neuen und neuesten Technik mit glänzenden Augen und geröteten Wangen feiert – oder
mit Resignation zur Kenntnis nimmt. Die Technik ist revolutionär und evolutionär
geworden. Wir sind ihren Triebkräften ausgeliefert. Sie ist unser Schicksal.
Davon war Günther Anders
schon in den 1940er-Jahren überzeugt. Er identifizierte angesichts der
zunehmenden und verfeinerten technischen Apparate ein »Scham-Motiv« bei den
Menschen; er nannte dieses Motiv: »prometheische Scham«. Grund für diese Scham
sei ein Makel des Sich-Schämenden, nämlich »geworden, statt gemacht zu sein«.
Er sah dahinter das Begehren des Menschen, ein »selfmade man« zu sein, der,
unabhängig von Gott, Göttern und Natur, sich selbst erschafft, besser: sich
selbst herstellt, um der Perfektion seiner Produkte mindestens nahe zu kommen –
und der Reproduzierbarkeit. Nun hat sich diese Scham stark verändert: Sie ist
wegen des großen Genusses, den die Befriedigung des Begehrens mit sich bringt,
in Schamlosigkeit umgeschlagen, was den Menschen kühner macht, seine eigene
Evolution vorantreiben, und das heißt: beschleunigen, sich von seinen
produzierten Vorbildern ablösen und ihn nach dem dauerhaften Gefühl und dem
immerwährenden Status auf dem Olymp streben lässt. Kaum jemand, der daran
mitarbeitet, würde dies je bejahen. Die Rede ist vielmehr immer von den
sozialen Vorteilen, die eine Erfindung mit sich bringt: Krankheiten werden
besiegt, Hunger gestillt, Träume erfüllt. Der Blick geht immer auf den »utopischen
Gehalt« einer jeden Erfindung. Und warum? Weil wir gerne Verheißungen hören und
Hoffnungen brauchen? Darum auch. Vor allem aber, weil tatsächlich Krankheiten besiegt,
Hunger gestillt und Träume erfüllt wurden und werden. Und weil die Möglichkeiten,
die »Potenziale«, die in einer neuen Sache stecken, gleich ob Glühbirne oder Serum,
immer grandios und begeisternd sind.
Das ist beim Cyberspace
beziehungsweise dem Internet nicht anders.
»Mit der Entwicklung der
elektronischen Medien ist die Bewusstseins-Industrie zum Schrittmacher der
sozioökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden. Sie
infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr
Steuerungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden
Technologie. … Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die
massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten
produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der
Massen selbst befinden.«
Machen wir es
uns ein wenig
einfacher: Klopfen wir die marxistische Sprachschlacke ab und ersetzen
die
Wörter »Medien« durch »Internet«, bald das
Hauptmedium unserer Zeit, und
»Massen« durch »Menschheit« oder
»Gesellschaft«, eventuell auch
»Zivilgesellschaft«.
Im Kursbuch Nummer 20
vom März 1970 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger seinen langen Essay
»Baukasten zu einer Theorie der Medien«, aus dem das Zitat stammt. Der
»Baukasten« ist eine Fortführung seiner Gedanken zur »Bewusstseins-Industrie«.
Enzensberger wendet sich gegen das orwellsche »Schreckbild« dieser Industrie
als monolithischen Apparat der Überwachung. Seine Argumentation ist einfach: Ab
einer gewissen Größe sei ein »Kommunikationszusammenhang« nicht mehr kontrollierbar;
seine »Undichtigkeit« erfordere einen Monitor, der größer sein müsste als das
zu überwachende System selbst. Das Regime erlebte letztlich eine Überforderung
und könnte sich nur noch durch polizeiliche oder militärische Mittel helfen.
»Der Ausnahmezustand ist also die einzige Alternative zur Undichtigkeit der
Bewusstseins-Industrie. Er kann aber nicht auf längere Sicht festgehalten
werden.« Die Sachzwänge dieser Industrie, die auf Informationsaustausch fußt,
kehrten sich immer wieder gegen ihre Kontrolleure. Wenn auch Enzensberger bei
den »Medien« noch an Nachrichtensatelliten, Funk, Fernsehen und Telefon,
Kopierer und Datenbanken dachte, so liest sich diese Theorie doch wie eine
Vorhersage der heutigen Möglichkeiten des Internet, aber auch der seiner
fleißigen Kontrolleure wie in den Regimes Chinas und Irans. Hier zeigt sich
eine Schwäche dieser Theorie: Eine Kontrolle ist sehr wohl partiell und
temporär technisch möglich – den Rest erledigt die virtuelle Guerilla des
Regimes durch Manipulation, sprich: gezielte Falschinformation. Doch – und da
dürfte Enzensberger recht haben – auf Dauer wird sich die totale Kontrolle
dieses Mediums Internet nicht ermöglichen lassen.
Nach der marxistischen
Theorie müssen die Produktivkräfte nur selbst revolutionär werden, und schon
lassen sich auch die schlechten Verhältnisse ändern. Dies kann natürlich nur
dann gelingen, wenn diesen Kräften auch der richtige, also ein positiver Gehalt
innewohnt. Enzensberger behauptet diesen Gehalt nachdrücklich. Damit ihn auch
seine Genossinnen und Genossen erkennen und mit aller Macht nutzen und somit
den Fortschritt voranbringen können, muss er zunächst die Irrtümer in den
Köpfen der Linken beseitigen. Vehement wehrt er sich daher gegen die
defätistische »Manipulations-These«, wonach die Medien in erster Linie dazu
dienen können, die Massen zu manipulieren. Enzensberger vermutet als wahren
Urheber hinter dieser linken resignativen Erfahrung den »bürgerlichen
Klassenhintergrund« ihrer Exponenten. »Oft scheint es nämlich gerade an ihren
progressiven Möglichkeiten zu liegen, dass die Medien als bedrohliche Übermacht
erfahren werden: daran, dass sie die bürgerliche Kultur und damit die Privilegien
der bürgerlichen Intelligenz zum ersten Mal von Grund auf in Frage stellen ...«
Nein, Resignation ist
Enzensberger Sache nicht. Er betont die Vorteile der neuen Medien, ihren
wahrhaft revolutionären Charakter: »Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach
egalitär.« Sie seien zudem aktions- und augenblicksorientiert. »Sie lösen
›geistiges Eigentum‹ schlechthin auf« und sind nicht nur Konsumtions-, sondern
zugleich Produktionsmittel – und zwar »sozialisierte Produktionsmittel«. Das
entscheidende Charakteristikum der avanciertesten Medien sei aber ihre –
kollektive Struktur! Aus ihren Kommunikationsnetzen ergäben sich schließlich
Modelle der Selbstorganisation. Vor allem darin liege das emanzipatorische
Moment der neuen Technik.
Dies ist nun, rund vierzig
Jahre später, alles eingetreten. Es ist im Internet und der massenhaften
Nutzung von Personalcomputern und internetfähigen Handys wahr, und das heißt:
alltägliche Praxis geworden. Ihre Protagonisten feiern es in den Blogs und den
sozialen Netzwerken, in den Tauschbörsen und den anonymen Welten des Web 2.0.
Sie nennen sich Nutzer und treffen sich unter dem Banner fröhlicher Piraten.
Die digitalen Spatzen zwitschern es von allen virtuellen Dächern: Die
Kulturrevolution ist da. Der Fortschritt. Die Gleichheit. Die Emanzipation. Das
neue Jerusalem.
Ein neues Jerusalem? Ja.
Denn wird diese neue Technik von vielen nicht wie ein neuer, ein quasi heiliger Ort empfunden, ein lebendiger
Raum aus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Dieser neue Ort ist der
Cyberspace. Er wird hier als die Gesamtheit der virtuellen Räume verstanden,
insbesondere aber als seine unendliche Kathedrale, das Internet.
Es ist von vornherein etwas
Bemerkenswertes an diesem neuen Raum: Er wurde vom Menschen selbst geschaffen.
Er ist nicht von der Natur gegeben, nicht per se vorhanden, keine breitbrüstige
Gaia gebar ihn, auch ist er nicht das von Gott zur Verfügung gestellte Terrain,
in das der Mensch geworfen oder verbannt wurde. Er ist ein Raum menschlichen
Geistes, ein Produkt seiner Kreativität, dieser Raum ist paraphysisch, und er
ist scheinbar unermesslich. So ähnelt er doch seinem Schöpfer, dem menschlichen
Geist, der, im Bewusstsein zu Hause und unkörperlich, von seinen physischen
Grundlagen abhängig ist. Doch zunächst ist er ein Raum von Möglichkeiten, und
jeder, der sich in ihn hineinbegibt, steht wie ein Einwanderer am Rande, am
Anfang dieses Raums: befeuert von den Geschichten derer, die schon dort waren;
ungewiss, was ihn alles erwartet; unschlüssig, was er selbst dort alles machen
will; neugierig, welche Möglichkeiten sich auftun; entschlossen, sich seinen
eigenen Claim abzustecken in diesem neuen Reich.
Aber das wirklich Besondere
am Cyberspace ist seine Technikexistenz – er ist selbst technisch, die Technik
ist in ihm selbst Raum geworden. Daraus bezieht er seinen besonderen
Kraftimpuls und wird so zu einem unvergleichlichen Feld menschlicher Energie,
Aktivität und Leistung. Er vergrößert seinen Umfang ständig, gleich dem sich
ständig ausdehnenden Weltraum, verbessert seine Infrastruktur, gewinnt immer
neue Nutzer hinzu, die sich zudem auf die eine oder andere Weise aus dem einen
oder anderen Motiv vernetzen, und bleibt für jeden beinahe jederzeit erreich-
und das heißt: verfügbar. Durch seine materiellen Grundlagen bleibt er aber an
die »alten« Räume angeschlossen, der realen Welt; vor allem aber: Er wirkt auf
diese Räume und alle ihre Gegebenheiten – Wirtschaft, Politik, Gesellschaft,
Kultur, Mensch – ein und verändert diese. Wie geschieht das?
Dies geschieht vor allem
zunächst durch Anschauung. Wir werden – und tun dies zu einem guten Teil schon
heute – die anderen Räume, die unsere bisherige Welt ausmachten (Land, Meer und
All), aus dem Cyberspace betrachten. Unser Blick aus dem Weltraum auf die Erde
zum Beispiel hat unser Verständnis über den blauen Planeten gehörig verändert
(wenn auch unser Verhalten nur allmählich): wir haben seine Einmaligkeit wie
auch seine Zerbrechlichkeit begriffen. Auch der Blick aus dem Cyberspace wird unseren
Blick auf die Welt verändern – weil wir in diesem neuen Raum einige neue Bedingungen
vorfinden. Dazu gehören die sogenannte »Echtzeit«, in der weltumspannend alles
getan werden kann; der weitgehende Zugriff auf große Mengen an vielfältigen –
oder sollte man besser sagen: unvorstellbaren – Informationen; die unaufwändige
Möglichkeit der Verbindung mit allen und jedem, also auch wildfremden Personen;
die scheinbar unaufhörliche Verzweigung und gleichzeitige Ausdehnung dieses
Raums. Dies alles ist neu und konnte mit den alten Mitteln nicht hergestellt
werden. Aber es ist so neu und so potent durch seine technologische Kraft, die
auf beeindruckende Weise Kommunikation, Informationsgewinnung,
Wissensgenerierung und das Spiel mit dem eigenen Ich in einem Medium bündelt –
und zwar so, dass es unsere Weltanschauung ändert. Wie das neue Weltbild
aussieht, das dann entsteht, kann niemand vorhersagen. Aber es zeichnen sich
bereits Konturen ab.
Historische Weggabelungen
wie die Reformation oder die amerikanische Revolution haben rund 20 Jahre
gebraucht, bis sie sich durchsetzten. Man kann die Entstehung und Entwicklung
des Cyberspace bis zu einem gewissen Punkt tatsächlich mit der Situation in
Nordamerika Ende des 18. Jahrhunderts vergleichen. Die Siedler Neuenglands
hatten neue Räume für sich erobert und urbar gemacht. Unter welchen
menschlichen und allgemeinen Opfern das geschah, wissen wir. Es entstand ein
Selbstbewusstsein, das sich mit neuen Gedanken von Selbstbestimmung, Freiheit
und Menschenwürde mischte und eine revolutionäre Stimmung erzeugte. Für viele
war Amerika das gelobte Land, frei von Verfolgung und – in weiten Teilen – frei
von Gesetzen. Die Verheißung fruchtbaren, unendlichen Landes beseelte immer
neue Siedler. Schließlich, wie in der Reformation, gab ein zentrales Dokument,
das Ethos mit Pathos verband und zum Vermächtnis wurde, den neuen,
weltverändernden Weg vor. Dieses Dokument gibt es für den Cyberspace bislang
nicht. Es gibt zwar eine verbindende Sprache, aber keine Sprachgewalt. Es gibt
Informationen zuhauf, aber keine wirklich tragende Idee. »Warum auch?«, werden
die Netz-Begeisterten sagen, »es gibt doch die Technologie«.
Zunächst walten auch in
neuen Räumen immer noch die alten Überzeugungen und Anschauungen, müssen noch
die alten Kämpfe weitergekämpft werden: Wer ist der eigentliche, der bessere
Weltbeweger – die Masse oder das Individuum? Welches ist die bessere Form der
Einflussnahme und Selbstbestimmung – die direkte oder die repräsentative? Wem
gehört die Welt – allen Menschen zugleich oder den Einzelnen?
Es ist auffallend, dass sich
die Kombattanten in diesen Kämpfen scheinbar nach den alten und neuen Räumen
verteilen, wie weiland nach alter und neuer Welt. Im Cyberspace tummeln sich
nämlich, laut trommelnd, die Kämpfer mit der Überzeugung, dass Menschenmassen
den Fortschritt in die Welt bringen, Weisheit und Kreativität eher bei den
Vielen (zum Beispiel als »Schwarmintelligenz«) denn beim Einzelnen zu finden
sind, die Selbstregierung am besten durch direkte Partizipation möglich ist,
alles von Wert in Gemeingüter umzuwandeln sei. In der realen Welt hausen dann
die Reaktionäre, jeder ein König Georg III. Ihnen zufolge stehen die Denkmäler
für Dichter, Denker und Erfinder zu Recht an allen Ecken, wird allein durch
Repräsentation in der modernen Massendemokratie Verantwortung ausgeübt und
ziviler Umgang garantiert, bringt die private Verfügung über die
Produktionsmittel (gleich ob Fabrik oder die eigenen Fertigkeiten) erst den
freien und unabhängigen Bürger hervor.
Der alte »Weltbürger« kann
in diesem Kampf als stärkstes Argument einige Tatsachen aufbieten: Jeder möge
in seinem Bücherregal nachschauen, wie viele Bücher darin von mehreren Autoren
entstanden sind (da hilft es den »Schwärmern« auch nicht, wenn sie Homer und
Shakespeare ob deren undeutlichen Biografien mal einfach so zu Gruppennamen
umetikettieren); das Repräsentationsmodell hat in der Politik schließlich auch
Entlastung von der Politik gebracht und in der Öffentlichkeit eine höhere
Professionalisierung; das Recht auf Eigentum – und dazu gehört auch das Urheberrecht
– hat Wohlstand und einen selbstbewussten Mittelstand hervorgebracht, der
weltweit die Stütze für funktionierende Demokratien bildet. (Vorher war alles
Thron und Altar unterworfen.)
Aber auch der neue
»Cybercitizen« kann Unbezweifelbares in die Waagschale werfen. Viele
Entwicklungen im Maschinenbau zum Beispiel (bis hin zur Robotik) sind Teamarbeit,
und anders gar nicht mehr denkbar. Das Direkte, Unmittelbare, vor allem aber
die Kommunikationsstruktur des Internet schafft neue Foren des Austauschs,
Möglichkeiten der politischen Organisation und Beteiligung, der
Kampagnenführung, des Journalismus. Ein Weltgut wie Wissen darf (wie Wasser)
nicht künstlich verknappt werden, sodass die Befriedigung des entsprechenden
elementaren Bedürfnisses unerschwinglich wird – und Wissen wird immer mehr zu einem
elementaren Bedürfnis.
Der Cybercitizen hat zwei
Vorteile gegenüber dem Weltbürger alter Prägung: Er weiß um die Schlagkraft des
neuen Mediums und sein utopisches Potenzial, das er jeden Tag aufs Neue erlebt
(der Gebrauch gleicht manchmal dem begeisternden Gefühl, auf einer Welle zu
reiten); und er hat die Entwicklung schlichtweg auf seiner Seite, im Moment jedenfalls.
Der alte Weltbürger gleicht dagegen eher einem »Entgeisterten« – er hat ein
paar gute Argumente, große schweigende Bataillone und viel Geld hinter sich,
ein paar bewährte Institutionen und Geschäftsmodelle, aber er spürt auch, dass
er eine Entwicklung verschlafen hat und die bisherige Wertschöpfung schwieriger
wird.
Ein Problem liegt in den
Missverständnissen: Die Cyberspace-Begeisterten glauben, auf Dauer eine Boston
Tea Party feiern zu können und sich den Blick auf die realen – und das heißt
auch im Netz zuallererst: die ökonomischen – Verhältnisse die meiste Zeit zu
ersparen. Sie sehen das Internet und ihr Tun isoliert, Kritik lassen sie mit
der Behauptung abperlen, der Kritiker verstehe nichts vom Netz. Das ist eine
Sektenargumentation, ein Anzeichen politischer und moralischer Separierung, die
gegen jede Kritik feit, sie als illegitim denunziert, Anzeichen einer
Abschottung gegen das reale Leben und Ausdruck eines selbstverliebten
Eskapismus. Auf der anderen Seite sollten die »Entgeisterten« nicht glauben,
sie könnten sich einfach nur unter einen staatlichen Schutzschirm begeben,
quasi ein ökonomisches Reservat, das Einnahmen nach alten Modellen und damit
das Fortbestehen des Unternehmens garantiert. Es wird deutlich: Vom Netz reden,
heißt: vom Geld reden.
Denn es geht im Kern um
eins: um Aneignung. Der
Disput um das Urheberrecht im Internet hat es noch einmal deutlich gemacht,
dieser Streit hatte etwas Exemplarisches und Klärendes. Bei jedem Produkt,
jedem kreativen Werk gibt es einen Schöpfer oder Urheber, oftmals einen
Werkvermittler oder Rechteverwerter, häufig einen Nutzer. Der Streit der
letzten Zeit wurde meist zwischen Vermittlern/Rechteverwertern auf der einen
Seite und Nutzern auf der anderen Seite geführt, beide Seiten wurden verstärkt
durch Kreative als Urheber. »Zum Verschenken unseres Eigentums ohne vorherige
Zustimmung möchten wir … nicht gezwungen werden«, haben die großen deutschen
Verlagshäuser in einer Resolution konstatiert. Die wesentlichen Streitpunkte
des aktuellen Kulturkampfs finden sich in diesem Satz wieder, man beachte nur
die Worte »Verschenken«, »Eigentum«, »Zustimmung«, »gezwungen«. Auch hier geht
es in erster Linie um Aneignung. Die Vermittler eignen sich ein Werk an, indem
sie dem Urheber das Recht zur Vervielfältigung abkaufen. Auch die Nutzer eignen
sich das Werk an, meist eine Kopie davon. Früher haben sie in der Regel dafür einen
festgelegten Preis bezahlt; im Netz neigen große Gruppen dazu, sich kostenfreie
Kopien herzustellen oder »herunterzuladen«. Die kommerziellen Werkvermittler
wie auch die individuellen Urheber haben meist etwas dagegen, denn dieses
Verhalten, diese Aneignung, die zur schleichenden Enteignung wird, untergräbt,
im großen Stil durchgeführt, schlichtweg ihre Existenz. Eine Binsenweisheit.
Die aber gesagt sein muss. Doch warum zählt sie nicht?
Es gibt viele Gründe.
Zunächst einmal ist es sehr einfach, im Netz kostenfreie Kopien herzustellen –
das ist verführerisch und macht gedankenlos; zudem wird alles und jedes wie
eine Information behandelt, die frei (und das heißt auch: ohne Absender) im
Netz flottiert – es gibt so kaum Knappheit, die Wert zumessen kann.
Daneben gibt es immer ein
Heer von Kreativen, die niemals eine kommerzielle Werkvermittlung erhoffen können,
weil die etablierten Häuser sich von anderen Kreativen mehr versprechen und
Kreativität – anders als behauptet – oft ein schwieriges Gut ist: meist ohne
Buchwert, mit schlechten Gewinnerwartungen, die Cash-Burn-Rate ist enorm. Die
zurückgewiesenen Kreativen, die nichts zu verlieren haben außer ihrer Ruhmlosigkeit,
werden die unvermittelte, mit Hoffnungen und Träumen aufgeladene, doch sehr
wahrscheinlich brotlose Existenz im Netz dem ausschließlich privaten Künstlernirvana
vorziehen. Das Internet bietet für Urheber oder Schöpfer, die sich auf keinen
Vertrag mit Rechteverwertern einlassen können oder wollen, neue Möglichkeiten
und auch Freiheiten – geschützt sind ihre Rechte in diesem Raum der Freiheiten
aber kaum.
Die kommerziellen
Werkvermittler selbst haben auch hierzulande durch Knebelverträge, sogenannte
Total-buy-out-Verträge, mit denen zum Beispiel Autoren und Fotografen die
Rechte an ihren Texten inhaltlich, räumlich und zeitlich unbeschränkt abgeben,
inklusive also das Recht, diese Rechte an andere abzugeben, die Urheber quasi
auch enteignet, denn das Urheberrecht ist ohne das (Verfügungs-)Recht,
Nutzungs- und also Verwertungsrechte zu vergeben, nicht viel wert, und
mit diesen Verträgen werden die kreativen Mündel letztlich gegen ihre ökonomischen
Fürsprecher auf dem Markt von diesen selbst aufgebracht.
Dann ist da noch die mit
viel Verve und Chuzpe betriebene Bewegung der Netz-Piraten, die sich vor allem
die Produkte der Multis der Bewusstseinsindustrie als Prise ausgeguckt haben
und den Nutzern beim kostenlosen Herunterladen – sprich: Aneignen – mit Erfolg
(und letztlich eigenem Gewinn!) jedes schlechte Gewissen ausreden, wenn es
überhaupt notwendig ist, denn irgendwie gilt Piraterie gegen Multis per se als
»hip«. Da wird leicht und gerne verdrängt, dass diese Auseinandersetzung auf
den Schultern der Urheber ausgetragen wird, die zwar das wichtigste, aber auch
das schwächste Glied in dieser Kette »Urheber – Rechteverwerter – Nutzer« sind.
Ein weiterer Grund für
dieses Verhalten liegt auch in der von den großen Unternehmen mitgeschaffenen
Kultur der Kostenlosigkeit, schließlich gab es zum Beispiel schon vor dem
Internet Umsonstzeitungen, die die Preise verdarben. Und der Mangel an Bezahlmodellen
kann nicht den Nutzern in die Schuhe geschoben werden. Doch langsam dämmert die
Erkenntnis: Auch in den digitalen Vertriebskanälen müssen jenseits der Werbung
Erträge fließen.
Ein weiterer wichtiger Grund
trägt ideellen Charakter: Zwei eigentlich gute Initiativen – Creative Commons
und Open Access –, mit denen Wissensverbreitung erleichtert werden kann, sind
vielerorts von der Idee zur Ideologie mutiert. Und wie alle Ideologen glauben
viele ihrer Protagonisten, dass allein an diesen Konzepten die Welt genesen
wird, und deshalb muss Widerspenstigen mit Zwang begegnet werden. Besonders widerspenstig
können Urheber sein, die auf ihre Rechte für das von ihnen Geschaffene pochen.
Dabei kann es sie eigentlich gar nicht geben! Wenn es allein nach der
Creative-Commons-Bewegung ginge. Denn in ihren Kreisen hat sich der Gedanke als
richtungs- und handlungsweisend durchgesetzt, wonach es so etwas wie ein
besonderes Eigentumsrecht an schöpferischen Werken gar nicht geben kann, weil
sie aus etwas stammten, das für jeden verfügbar, denn immer schon da sei:
Sprache und Musik. Und daher könne eigentlich nichts individuell Geschaffenes
daraus entstehen. – Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Bis dahin sollten wir einmal
versuchen, uns vorzustellen, wie wir Herrn von Goethe in seinem Haus am
Frauenplan in Weimar überzeugen könnten, dass sein Faust (Teil 1 und 2)
gefälligst unter einer Creative-Commons-Lizenz zu veröffentlichen sei, da er
sich einer alten Volkslegende bedient habe und daher bei seinem Stück nicht von
einem Werk gesprochen werden könnte, an dem er besondere Rechte genießen dürfe.
Nun, wenn wir Glück haben, wird er mit einer boshaften Xenie in den Horen
auf unser Ansinnen antworten, wenn wir Pech haben, bekommen wir seinen
Federkiel ohne viel Aufhebens und Erregung in den Hals gerammt.
Gegenwärtig scheint es, als
würden die Grundlagen des Internet – weitgehend unkontrollierte Datenströme und
schwer identifizierbare Nutzer – sowie die oben genannten Gründe die
Bedingungen diktieren, zu denen schöpferische Werke zu haben sein werden. Wie
gesagt: schöpferische Werke. Das Netz verändert nur mittelbar die Welt der
Betongießer oder Friseure; es ist vor allem die Welt der »Kreativen«, die sich
vollkommen ändert, weil sich ihre ökonomischen wie schöpferischen Bedingungen ändern
und es Rechtstitel nur »weich«, nämlich durchsetzungsschwach gibt. Enzensberger
sprach davon, dass die Neuen Medien die anderen Bereiche »infiltrieren«. Der Cyberspace
verändert aber vor allem dadurch, dass er sich andere Bereiche einverleibt.
Ein gutes Beispiel dafür ist
die Entwicklung auf dem Zeitungsmarkt, die der Öffentlichkeit durch den
Konflikt zwischen Zeitungsjournalisten und Bloggern deutlich wurde. Während die
Zeitungen an Auflage verlieren, steigt die Zahl der Blogger und damit der
selbst ernannten Online-Journalisten. Es findet zweifellos ein Strukturwandel
der Öffentlichkeit statt, der unsere Aufmerksamkeit verdient – schließlich
erfüllen die Medien als »vierte Gewalt« in der Demokratie eine nicht
unerhebliche Kontrollfunktion. Auch hier steht das Modell der Repräsentation –
eine große Zahl von gut ausgebildeten Journalisten im Printbereich und im
Fernsehen, die den Bürgern Reportagen, Nachrichten, Informationen, Meinungen,
Kommentare liefern – dem Modell einer »direkten« und kommunikativen
Öffentlichkeit durch Blogger gegenüber. Auch im Online-Journalismus haben sich
einige feste Größen etabliert, die, von ihren alten Häusern »freigesetzt«, die
Seiten gewechselt oder sich von vornherein im Netz hochgearbeitet haben. Gewiss
genießen sie ihre Reputation, ihre Unabhängigkeit, das Gefühl, zu einer
Avantgarde zu gehören. Aber genießen sie auch ein relevantes Einkommen? Das
sichert auf lange Sicht die Unabhängigkeit und damit den Ruf und auch die
Funktion der vierten Gewalt. Einen qualitätsvollen Journalismus, ob »online«
oder »print«, wird es ohne Einkünfte auf Dauer nicht geben. Es wäre auch zum
Nachteil jeder Demokratie, denn schließlich soll und kann guter Journalismus,
»zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft« (Habermas) anleiten, indem er zum
Beispiel gut recherchierte Reportagen oder versierte Leitartikel liefert. Welcher
Verleger bezahlt denn Blogger?
Bislang jedenfalls macht das
Netz fast alle zu besitzlosen Künstlerexistenzen.
Aber es ist nicht allein die
Einkommensfrage, die sich bei diesem Strukturwandel stellt. Nach dem Übergang
von der literarischen zur bürgerlichen und nun zu einer digitalen
Öffentlichkeit werden wir es eine Zeit lang mit einer weiteren, einer stärkeren
Zersplitterung von Öffentlichkeit zu tun haben. Wir dürfen auch nicht
vergessen, dass der Zeitungsmarkt im Printbereich zu rund 70 Prozent aus
Regionen mit nur einem Lokalblatt besteht, das weit davon entfernt ist, den
einfachsten Ansprüchen von Qualitätsjournalismus zu genügen; außerdem sind in
letzter Zeit viele Redaktionen geradezu kaputtgespart worden, um die Rendite zu
erhöhen. Auch die vierte Gewalt ist eine Angelegenheit von wenigen, und es
würde ihr gewiss nicht schaden, wenn es ein paar mehr wären. Selbst jetzt, da
die Diskutanten durch das Internet und die Globalisierung der Probleme
(Beispiel »Klimawandel«) an Zahl mehr werden, führen – gleich ob lokal oder global
– nur einige wenige Prozent der Bevölkerung die wichtigen Diskussionen. Und
diese teilen sich im Gebrauch der Medien auf. Noch ist das Internet nicht das
Leitmedium für die Diskussionen der Republik. Doch das wird es werden. Bis
dahin haben wir es mit mehreren, fast gleichrangigen Medien der Öffentlichkeit
zu tun, aber nur die wenigsten Personen werden in allen zu Hause sein. Die
»Betriebsblindheit«, die viele ergriffen hat, dürfte schon ein Indiz dafür sein,
so wie die beliebten »Bauchnabeldiskussionen«. Doch eine funktionierende
»demokratische Öffentlichkeit« ist etwas anderes als ein Pool von nebeneinander
existierenden »Szenen« oder »Sphären«. Die Platzhirsche der einzelnen Szenen
und Sphären werden ihre Foren für die anderen öffnen müssen. Die hybride
Öffentlichkeit, die daraus entsteht, muss nicht die uninteressanteste sein.
Der Cyberspace ist vor allem
das Spielfeld des letzten individuellen Kapitals: des Geistes. Aber er kennt,
ohnehin eine Aktie aus dem Pennystock-Bereich, im Moment nur die Existenz in
einer prekären Subsistenzwirtschaft, wo Schmalhans Küchenchef ist und jeder
Traum vergesellschaftet. Der Kreativ-Klasse steht eine Pauperisierung
ins Haus, die sie noch nicht begriffen hat, weil in der Avantgarde die Armut so
schick ist wie das abgegriffene Notebook. Aber irgendwann wird aus dem
Magenknurren des digitalen Tagelöhners ein Murren, und schließlich entsteht das
Gefühl von Resignation oder Rebellion. Doch dann ist schon eine ganze
Generation von Kreativen im Cyberspace vernutzt worden. Länder Asiens haben
jahrzehntelang durch Produktpiraterie versucht, zu Wohlstand zu kommen. Dies
gelingt ihnen erst, seit sie sich weitgehend auf die eigenen kreativen
Potenziale verlassen. Für die sie ihren Wert kennen und ihren Preis nehmen.
Auch in der Kreativgesellschaft des Internet müssen sich Werke und Ideen rechnen!
Nun gibt es einige Modelle
jenseits der unsicheren und nicht in jedem Fall gewünschten Finanzierung durch
Werbung, mit denen das bewerkstelligt werden könnte: etwa eine
»Kultur-Flatrate« (die allerdings dem Urheber ein eigenes Leistungsschutzrecht
nimmt); eine Rechteagentur für digitale Buchinhalte (in den USA geplant: Book
Rights Registry, in Deutschland könnte das die VG Wort übernehmen, was den
Verlagshäusern aber nicht gefällt); Bezahlabos für Zeitungen oder für
Nachrichtenagenturen, die aus der Gesamtheit des Cyberspace Texte zu bestimmten
Themen periodisch oder in Einzelfällen zusammenstellen, also eigentlich
spezielle Suchmaschinen oder Filter für Blogs und Zeitungen (das wäre eine
Dienstleistung, die dem Dienstleister wie dem Verfasser der Beiträge Geld
erbringen könnte, deren Einrichtung im Moment aussichtslos scheint, weil die
Predigten der Netzideologen in eine andere Richtung gehen und der Leidensdruck
der Kreativen noch nicht groß genug ist, und doch wird sich das Angebot bald
ändern; niemand, der sich vom Chinesen um die Ecke ein Chop Suey nach Hause
bringen lässt, erwartet, dass dieser das umsonst tut); eine Art iTunes für literarische
Texte wäre ein weiteres Modell. Die Direktvermarktung könnte in diesem Bereich
zunehmen, schließlich stehen mit Firmen wie PayPal, ClickandBuy und so weiter
schon genug funktionierende Bezahlmöglichkeiten zur Verfügung. Die
traditionelle Ökonomie könnte also weiter Einzug halten im Cyberspace – und sie
wird es, weil sie auch den Schöpfern von Werken, Ideen, Produkten Vorteile
bringt. Aber sie wird immer mit kostenlosen Angeboten und einer neuen
Netz-Ökonomie konkurrieren müssen, die sich auf »Generative« (wie Kevin Kelly
sie nennt) stützt, also Leistungen, die immer wieder neu erbracht werden. Das
kann sie immer noch durch Qualität.
Aber es könnte auch anders
kommen, indem nämlich die Monopolstrukturen im Netz die Überhand gewännen. Zur
Pauperisierung der Kreativ-Klasse träte dann eine digitale Feudalisierung
der Öffentlichkeit und des Markts für kulturelle Güter durch solch geniale,
rücksichtslos expandierende Firmen wie Google. Es ist jedenfalls interessant zu
beobachten, wie nach dem Knockout für die alten Speichermedien Marke CD
(weitere werden folgen) und dem Ausbau des Internet zu einem Metaspeicher im Internet
selbst nun privat bewirtschaftete Megaspeicher entstehen sollen. Das Bild vom
Gedächtnis der Menschheit bekommt Kontur – aber anders, als man es sich lange
vorgestellt hatte. Und es ist auch umso überraschender, weil es trotz der
Bedrohung durch Filesharing geschieht. Dahinter steckt die wirtschaftliche
Potenz eines Giganten, der es sich nicht leisten kann, stehen zu bleiben, und
der danach strebt, ein »Komplettangebot« für alle kulturellen Güter zu
schaffen. Das wird für den Nutzer hilfreich und angenehm sein. Aber es wird ihn
auch abhängig machen. Und es wird alle mittelständischen Firmen auf den
Märkten, die Google für sich als vielversprechend erachtet, auslöschen. So
etwas wie »Konkurrenz« wird es dann nicht mehr geben.
Betrachtet man die
ökonomische Entwicklung des Cyberspace, so fällt der Blick irgendwann auch auf
die sogenannte »Internet-Blase« vom Anfang dieses Jahrtausends. Der Optimismus,
mit dem damals kreditgebläht ökonomisches Neuland betreten wurde, hat viel Geld
in das Lagerfeuer der Virtualität geworfen. Und es gibt Parallelen zur jetzigen
Wirtschafts- und Finanzkrise. Letztlich war diese »Blase« aber nur eine
Zwischenstation auf dem Weg zum jetzigen GAU des Finanzsystems. Das Problem:
Alle hielten das Fiasko im Internet nur für einen Fremdschauplatz, weit abseits
des realen ökonomischen Geschehens. Tatsächlich hat aber die technologische
Entwicklung des Cyberspace die Forcierung des Finanzmarkts, die schwer
kontrollierbare Hypergeschwindigkeit des Geld- und Warentransfers erst
ermöglicht – mit der Konsequenz, dass die Virtualität dieses Raums die Fantasie
der kleinen Marktstrategen und großen Phantasten in den Banken so sehr anregte,
dass sie zwischen Hausse und Hasard nicht mehr unterscheiden konnten. Die
Kredite, Zertifikate und anderen Finanzprodukte verloren immer mehr den Boden,
auf denen sie stehen sollten. Sie waren – Datenströme = Geldströme – längst
technisch geworden wie das Medium, in denen sie sich bewegten.
Und hier treffen sich die
Netzlibertären mit den Marktliberalen: Es schert sie keine Legitimität außer
der der Tat; jede Kontrolle schimpfen sie Teufelswerk (als wenn es nicht auch
schon welche gäbe, z. B. bei der Adressvergabe im Netz); eine Ordnung für den
Cyberspace denunzieren sie als Ende der Freiheit.
Am Anfang jeder großen
Epoche steht eine große Landnahme.«
Dieser Satz kann einem angesichts der Realität des Cyberspace in den Sinn
kommen. Er steht in dem kleinen Bändchen Land und Meer, das Carl Schmitt
seiner Tochter Anima widmete, damit sie erfahre, was die Welt bewegt. Es ist
der Kampf der Land- gegen die Seemächte und der Kampf dieser untereinander um
Vorherrschaft. Es geht um Macht, neue Märkte, um Eroberung aus Gier und
Ruhmsucht – die alten Geschichten. Auch für den Weltraum scheint dies noch zu
gelten, welcher der dritte Raum ist, der, nach Land und Meer, unsere
Aufmerksamkeit und unsere Triebkräfte auf sich gezogen hat mit Satelliten,
Space Shuttles und einer internationalen Raumstation. Allerdings überwiegt im
Moment eher das wissenschaftliche Interesse, weil die ferne Landnahme weniger
prestigeträchtig und die physische Ausbeute ungewiss ist und der Platz für
kommerzielle Satelliten langsam knapp wird. Das Interesse am Weltraum erlahmt
aber auch und vor allem, weil ein vierter Raum diesem dritten den Rang
abgelaufen hat. Dieser vierte Raum ist der Cyberspace.
In den Anfängen der Neuzeit
ist der Gegensatz von Land und Meer, von Land- und Seemächten konstitutiv für
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit der Überwindung riesiger Naturräume
und der militärischen Eroberung sowie der ökonomischen Erschließung ganzer
Kontinente beginnt nach der zunächst rücksichtslosen Land- wie Seenahme die
Kodifizierung internationaler Regeln. So galt zum Beispiel vor dem Utrechter
Frieden von 1713 die Auffassung, das Meer sei für Recht und Ordnung unzugänglich
und ein Raum freien und ungeregelten Kräftemessens. Tatsächlich ist erst danach
die rechtliche Einhegung dieses Kräftemessens langsam gelungen, und mit dem
temporären Kräftegleichgewicht entstand eine Raumordnung. Dieser »Nomos der Erde«,
wie Schmitt ihn nennt, definiert nicht nur das Genommene (und setzt damit
oftmals nachträglich Unrecht ins Recht), sondern auch die Verteilung des
Genommenen, die Eigentumsordnung, wie auch die Nutzung des Genommenen. Das gilt
für die Landnahme des Einzelnen wie für das der Staaten: Die »Nahme« geht dem
Recht voraus.
Es ist der Akt des Nehmens,
also des Aneignens, der die Realitäten verändert. Doch immer folgt ihm eine
neue Ordnung.
So auch nach die Seenahme,
die mit dem technischen Fortschritt der vergangenen Jahrhunderte den Gegensatz
von Land und Meer auflöste, bis man von einer Weltnahme sprechen konnte, aus
der das Völkerrecht wie auch die Regelungen zum Welthandel entstanden. Auch der
Weltraum erhielt sein menschliches Recht in einem Weltraumvertrag. Das durch
die technischen Errungenschaften ermöglichte Nehmen und Nutzen dieses Raums ist
größtenteils geregelt, wenn auch nur knapp die Hälfte der Staaten dem
entsprechenden Vertrag angehört.
Hat also bei der bisherigen
Weltnahme die Technik neben den Interessen und Triebkräften eine nicht
unwesentliche Rolle gespielt – nämlich die der beschleunigten Auflösung von
Gegensätzen beziehungsweise der Angleichung der Weltenräume –, so ist der momentan
letzte »Elementarbereich menschlicher Existenz«, der Cyberspace, selbst technisch,
ist mithin – wie schon gesagt – die Technik selbst in ihm Raum geworden. Das
macht ihn überlegen gegenüber den anderen Räumen. Anpassungen und Angleichungen
stehen bislang unter seinem Diktat. Er inkorporiert einfach ganze Teile der
Welt: Wissen, Geld, Kulturgüter. Sein einfaches Mittel heißt »Digitalisierung«,
eine Art »Verflüssigung«, die die Welt unter den Bedingungen des vierten Raums
brauchbar und das heißt für viele auch zum ersten Mal nutzbar macht. Die
Verfahren sind in »Protokollen« und »Codes« festgeschrieben. Doch sie sichern
in erster Linie Funktionalität und Effizienz des Raums und geben keine
rechtliche Struktur vor. Die »Nahme« und Nutzung wird unter weitgehender
Ausblendung von individuellen Eigentumsrechten vom »Recht des Stärkeren«
bestimmt – und die Stärkeren, das sind auf der einen Seite einige clevere,
freundliche, sehr große Firmen, die mit ihren Sendboten namens »Cookies« immer
auf dem Laufenden sind über die Wünsche und Träume des Nutzers, und auf der anderen
Seite der anonyme, durch die schiere Masse geschützte Nutzer, konditioniert von
einer »User«-Kultur, die stark an den Cargo-Kult erinnert, dessen Jünger auch
den Bezug zu den Bedingungen von Kreativität, Produktion, geistigem Eigentum
und Erwerb verloren haben.
Die Vorzüge, die in der
weltweiten Nutzung dieses Raums liegen, sollen hier nicht noch einmal im
Einzelnen wiederholt werden. Es muss neben dem Besitzindividualismus auch eine
Gemeingüterwirtschaft geben, um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse jedem
zu ermöglichen. Das gilt vor allem für solche Güter der Erde wie Süßwasser,
Luft und manchmal auch Land. Aber gilt das auch für die Güter des Menschen? Was
ist das dem Menschen Eigene? Sind es nicht vor allem die Produkte seines
Geistes? Warum sollen die Fertigkeiten des Kopfes anders behandelt werden als
die der Hand? Warum? Ganz einfach: Weil es im Cyberspace durch die
Digitalisierung möglich ist. Allein deswegen.
Und das ist kein
legitimierender Grund. Der Einzelne wird von den Nutznießern a priori enteignet
durch die Behauptung, die Grundlage unseres Denkens und Sprechens, die Sprache,
gehöre allen – was stimmt; die Grundlage unseres Musizierens und Komponierens,
die Töne, gehörten allen – was stimmt, und so weiter; weswegen auch alle Produkte
aus Worten und Tönen allen gehören müssten – was ganz und gar nicht stimmt.
Jeder Boden muss bestellt werden, so auch die Sprache und die Musik. Und es ist
dieser Unterschied zwischen dem bestellten und dem unbestellten Boden, der aus
Talent, Fleiß, Fertigkeiten und Arbeit besteht und nicht per se allen gehört.
Die Musik macht den Mehrwert, der Mehrwert macht die Musik. Und wer auf diesen
Wert verzichten will – aus welchen Gründen auch immer –, der wird das
auch weiterhin tun und kostenfrei ins Netz stellen, zum Beispiel.
Es gehört zum Menschen, dass
er nicht auf einen bestimmten Raum festgelegt ist, er ist »weltoffen«. Es
gehört zum Wesen von Technik, dass sie in den meisten Fällen nicht auf einen
Zweck festgelegt ist, sie ist »zweckoffen«. Nicht jeder Zweck ist daher vorhersehbar,
und diese Zweckoffenheit hält beim Cyberspace an, sie geht wahrscheinlich sehr
weit. Und doch ist auch der Cyberspace »begrenzt«, es gibt zumindest ein Innen
und ein Außen. Dadurch entsteht im Cyberspace auch die Mentalität des »Frontierman«,
mit der leisen Verachtung für die Zurückgebliebenen in den alten Räumen und der
lieb gewonnenen Missachtung von Regeln. Aber auch der Cyberspace braucht eine
richtige Ordnung, einen Nomos. Im Moment zeichnet sich eine Ordnung ab, in der
das Recht des Stärkeren gilt. Stärke vermag aber kein gerechtes Recht zu
schaffen. In einem langen Zivilisationsprozess haben demokratische politische
Gemeinschaften immer wieder das Recht des Stärkeren durch ein legitimes Recht
zu ersetzen versucht, das Freiheit und Gleichheit der Menschen wahrt,
Solidarität fördert und Schwache schützt. Der Cyberspace muss diese legitime
rechtliche Ordnung auch bekommen (auch wenn es schwer wird). Und es sollte bald
sein. Denn es gibt für fast jede moderne Technik einen »Tipping Point«, einen
Umschlagpunkt, an dem der Nachteil einer Technik den Vorteil – jedenfalls bis
auf Weiteres – deutlich überwiegt. Wir könnten in unserem Fall an einem solchen
Punkt angelangt sein.
Fassen wir in einer
Unterscheidung zusammen: Der
Cyberspace ist eine Welt des Besitzes. Die alten Räume bilden eine Welt des
Eigentums. Und die Mentalität, die sich in der neuen Welt gebildet hat, beginnt
sich schon in der alten auszuwirken und den bestehenden Nomos zu verändern. Ist
das schlecht? Es ist von Nachteil, dass sich in der Welt des Cyberspace bereits
etwas verfestigt hat, das man als ein »Recht des Stärkeren« bezeichnen muss da
und eine Art Ordnung errichtet. Die neue Ordnung des Cyberspace aber muss
diesem »Recht des Stärkeren« Grenzen setzen. Und dabei müssen das Recht und der
Schutz des Einzelnen eine besondere Rolle spielen. Wieso? Weil wir nichts
Besseres haben. Am Individuum sind die Würde des Menschen, seine Freiheit,
etwas zu tun wie auch zu unterlassen, sein Wohlergehen festgemacht. An ihm
lassen sich Datenschutz und Bürgerrecht, informationelle Selbstbestimmung und
Informationsfreiheit ebenso fixieren wie der Schutz geistigen Eigentums, von
dem nicht nur die skizzierte Kreativ-Klasse bislang profitiert, sondern die
gesamte Gesellschaft. Das Recht auf Eigentum ist ein ganzes Rechtsbündel sowie
als komplexes Rechtsinstitut mit vielen Einzelrechten versehen, die unter
anderem den Gebrauch, die Einkommenserzielung, die Veräußerung sowie die
Zuordnung zum Rechtssubjekt betreffen. Eigentum gibt Rechte und Pflichten und
erzieht, durch die entsprechenden Entscheidungen, zur Verantwortung. Eigentum
ist mehr als Besitz.
Die neu zu schaffende Ordnung
des Cyberspace sollte als das dauernde Bemühen verstanden werden, Verfahren und
Regeln zu entwickeln, um die Grundlagen unserer Existenz zu sichern – und damit
auch die Aneignung, das Eigentum und die Nutzung des Raums zu regeln. Dabei
geht es nicht nur um individuelle Rechte, sondern auch um die Kontrolle von
Kontrolleuren, die Einschränkung von Spams und Phishing und um vieles mehr.
Diese Ordnung wird neue
Ideen, Instrumente und Institutionen brauchen. Und sie wird aus drei Richtungen
durchgesetzt werden: vom Staat durch staatliche Ordnungspolitik, also der
Setzung und Durchsetzung von Recht und Gesetz, denn auf den Staat und
Staatenbünde wird auch hier nicht verzichtet werden können, schließlich haben
sie noch am ehesten die Macht, Rechtsnormen durchzusetzen (das Internet Governance
Forum hat allerdings keine); und von unten aus der Zivilgesellschaft, zunächst
einmal mit einem Manifest mit dem Charakter eines Kodex (solch eine »Innere Ordnung«
bedeutete schon eine Zivilisierung des Netz-Verhaltens, an den sich natürlich
nicht alle halten würden – wie im »richtigen« Leben –, und der trotzdem Wirkung
entfaltete). Schließlich wird eine neue Ordnung durch Regulierungen der
Institutionen zur Netzselbstorganisation und von den großen Netzbetreibern
(durch Selbstverpflichtungen zum Beispiel) vorangetrieben.
Keine Ordnung wird und muss
auch in Zukunft alle »Darkrooms« im Cyberspace verhindern. Auch das hiesige
Leben kennt Steueroasen, Trieboasen. Ordnung heißt nicht Kontrolle. Ordnung
heißt Regeln, Verfahren, Gesetze.
»Der alte Nomos freilich
entfällt«, schreibt Carl Schmitt, »und mit ihm ein ganzes System überkommener
Maße, Normen und Verhältnisse. Aber das Kommende ist darum doch noch nicht nur
Maßlosigkeit oder ein nomosfeindliches Nichts. Auch in dem erbitterten Ringen
alter und neuer Kräfte entstehen gerechte Maße und bilden sich sinnvolle
Proportionen.«
Die wilde Zeit des
Cyberspace aber geht ihrem Ende entgegen. Die neue Ordnung, die da entsteht,
liegt noch hinterm Horizont, aber nicht mehr ferne.