Balduin Winter


Editorial



Die Verwaltung des Offensichtlichen mag der Versuch sein, an noch vorhandenen festen Formen der Moderne zu verharren. Den Mächten des Marktes haben Staat und  Politik, so Zygmunt Bauman, ohnehin schon weitgehende Souveränität über die neuen »flüssigen und gasförmigen Formen« überlassen. Politische Einflussnahme in das Leben als Konsum – so das neue Buch von Bauman – wird als Störung der Markt- und individueller Konsumfreiheit erlebt. Der politischen Klasse scheint in diesem Epochenumbruch Hannah Arendts Diktum, der Sinn der Politik sei Freiheit (siehe Antonia Grunenberg, S. 63) aus dem Blick gerückt zu sein; »Freiheit« kann nur im sozialen Raum der res publica, des demokratischen Gemeinwesens gemeint sein. Wie unterschiedlich dieser Begriff heute verwendet wird, spiegeln einige Beiträge dieses Heftes, voran die Auseinandersetzung mit den elitären Attacken Peter Sloterdijks auf den Sozialstaat. Dessen Grundaufgabe ist die Sicherung der Demokratie und der Bürgerrechte, doch »Freiheitskämpfer« Sloterdijk erklärt ihm den »Steuerkrieg« (siehe Martin Altmeyer, S. 6).

In der fluiden Gesellschaft der »flüchtigen Moderne« hat Googles Zugriff auf geistiges Eigentum im Internet Kräfte über Lagergrenzen hinweg aufgerüttelt. Die Freiheit im virtuellen Raum ist eben keine grenzenlose, hier geht es jenseits von Information, kreativer Arbeit und unendlich viel Trash um Geld, Macht – und Ordnung, meint Bernd Rheinberg (siehe S. 74). Es geht um Regeln für die Nutzung des neuen »Raumes«, um Eigentum, Arbeit, Kontrolle. Zivilgesellschaft und Staat sowie Staatenwelt sind gefordert. Politik sollte nicht nur als Nutzer, sondern als Gestalter in der Netz-Anarchie auftreten. Denn der Cyberspace ist keine Privatsache individueller User, sondern immer unentbehrlicheres Instrument gesellschaftlicher Prozesse. Bürgerliche Initiativen, die den Lagerbegriff unterlaufen, gibt es. Regierungsinitiativen?

Auch hier treffen inklusive und exklusive Meinungen aufeinander. Zygmunt Bauman und Frank Schirrmacher sind sich einig, dass ein Leben ohne Computer nahezu undenkbar ist. Bauman schließt die sozialen Kriterien ein, Mensch im sozialen Feld und Warenwelt, wobei er im Verlauf seiner Analyse zu einer »Kolonisierung des Individuums durch Konsummärkte« kommt. Er untersucht den Konsumismus, der auf einer Ökonomie des Überflusses und der »Täuschung« basiert. Anonymisierte Marktmacht bedient sich der Warenvielfalt inklusive der Konsumenten und der Technologien und der Marktprozesse zwischen den beiden. Die neuen Medien spielen eine große Rolle, sind jedoch nie eine über dem gesellschaftlichen Geschehen stehende Kraft. Schirrmacher fokussiert sein Buch Payback auf ein Phänomen des Marktprozesses, nämlich die Wirkungen der neuen Technologien auf »den User«. Bezüge der Technologien, ihrer Produktion, ihrer soziopolitischen Einbettung stellt er außer Frage. Sie sind Fortschritt, sie sind mächtig, sie sind gut. Nur droht in seinem cartesianischen Weltbild wegen Daten-Überfütterung der Gau: Das Denken »wandert aus«, Maschinen diktieren das Denken, eine neue Intelligenz wird geformt. Alles spielt sich im Hirn ab.

Bauman zeigt die Herausbildung einer »neuen Subjektivität« in der Gesellschaft, sucht sie mit umwälzenden Veränderungen auf den Arbeitsmärkten und bei Jugendlichen zu belegen. Schirrmacher fasziniert die »Informationsexplosion«. Technik ist toll in der »Ära der sanften Herrscher«, nur »die Anpassung müssen wir selbst in die Hand nehmen«, um die Kontrolle über das Denken zurückzugewinnen. Und wie? Politik hat hier nichts verloren. Mit einem Schwarm von Gelehrten werden Probleme der Technologie komplex erklärt. Doch die Problembewältigung bleibt seltsam karg. Appellativ klingt von weitem Sloterdijks »Du musst dein Leben ändern« an. Wo es aber um Menschen, Werte, Soziales geht, fallen Schirrmacher adäquate Begrifflichkeiten schwer. Sie bleiben Sache des epochal bedrängten und trotzdem rundum freien Individuums. Es ist ein exklusiver Freiheitsbegriff: der Markt wird mystifiziert als Ort der »Wunder«; im Internet eine anarchische Freiheit, in der User wie seinerzeit die Hippies umherziehen; vorpolitisch unter Exklusion des sozialen Raumes; historisch sich in jene widersprüchliche deutsche Tradition fügend, die Gerd Koenen als »beschützende Sphäre einer kleinstaatlichen, pfahlbürgerlichen, ›heimatlichen‹ Existenz« beschreibt (siehe S. 84).

Nicht exklusiv ist dieser Freiheitsbegriff samt Variationen in seiner Verbreitung. Er ist populär, pflegeleicht, erspart ein Nachdenken über die Tiefenschichten der Gesellschaft, wie Bauman es vorschlägt. Er ist nutzerfreundlich, lädt zu Konsum und Fortschritt ein; und, in Abwandlung von Jaroslav Hasek, zum selbstständigen Denken im Rahmen des Konsums. Aber nicht viel weiter. Bauman zufolge hat er dazu geführt, dass Politik viele Gestaltungs- und Handlungsfreiheiten an »den Markt« abgetreten hat. Jüngst war sogar »die Wirtschaft« über die Ideenarmut der neuen Regierung des »bürgerlichen Lagers« indigniert. Schon die Verwaltung des Offensichtlichen bereitet ihr zunehmend Mühe. Projekte, Visionen? Der Wachstumspfad soll es richten.

 

Frank Eckardt beendet seine »Briefe aus den Niederlanden«. Er ist beruflich und privat nach Weimar übersiedelt und beginnt im nächsten Heft eine neue Kolumne: »Aus der Mitte Deutschlands«.


In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009