Die Unberührbaren
Seinen martialischen Ausdruck fand die Teilung Deutschlands und Europas in
der Mauer. Doch gab es auch eine mentale Teilung, die nicht nur die beiden
deutschen Länder voneinander trennte, sondern ganz Europa. Unser Autor geht
hier den politischen und mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen nach - und
damit der Frage, wie sich die Welten jenseits und diesseits der Mauer
entwickelten. Schließlich war der Bruch der Mauer mehr noch als ein deutsches
ein europäisches Ereignis auf Grund von schwer vorraussehbaren Ereignisketten.
In seinem wunderbaren Buch Drei Stunden Null - gemeint waren die
Jahre 1945, 1968 und 1989 - schrieb Wolfgang Büscher, der den größten Teil seines
erwachsenen Lebens in Westberlin verlebt hat, über das eigentümlich
schwerelose, irgendwie derealisierte Leben in dieser ehemaligen Frontstadt vor
oder hinter der Mauer (je nach Perspektive):
»Die Mauer ging durch die
Stadt wie ein Gerücht ... Das Ding war hässlich gewesen, früher einmal, aber es
zog keinen Hass mehr auf sich - nur Kunst. Um 1427 malte ein junger Florentiner
die Heilige Dreifaltigkeit auf eine Kirchenwand. Als das Fresko enthüllt wurde,
löste es starke Verwunderung aus. Die Wand, die doch nur eine Wand war, öffnete
sich vor aller Augen tief in den Raum einer Kapelle hinein. Der Maler Masaccio
hatte die lange vergessene dritte Dimension der Bilder wiedergefunden, die
Passage in den Raum. In Berlin zeigte es sich, dass der Pfad der Wahrnehmung
auch zurückführt. Wie eine Kirchenwand ein Raum werden kann, kann ein
ausgesprochen räumlicher, die Stadt umgreifender, teilender Körper zur Tapete
schrumpfen. Man bemalt und besprüht das Ding so lange, bis es auf nichts mehr
verweist als auf sich selbst ... Nur noch ahnungslose Touristen stiegen auf die
Aussichtsplattformen des Kalten Krieges. Der aufgeklärte Maueranrainer wusste:
Es lohnt nicht nachzuschauen. Da ist nichts hinter der Wand.«
So ist es tatsächlich
gewesen: Für ein ständig wachsendes Segment der Westdeutschen und Westberliner
war gerade die DDR zu einem weithin unbekannten Land, oder vielmehr: zu einem
weißen Fleck auf der Netzhaut ihres Weltbildes geworden. Dieser im Nachhinein
schwer verständliche Umstand resultierte aber aus einem sozialpsychologischen
Prozess, der sich nicht allein aus der physischen Macht dieses schäbigen
Bauwerks oder der bloßen Gewöhnung an die Teilung erklären lässt. Immerhin
repräsentierte die Mauer ja nicht nur eine Teilung Berlins und Deutschlands,
sondern eine Teilung Europas, sogar eine Teilung der Welt. Aber gerade die
Westdeutschen - mit den Ostdeutschen verhielt es sich etwas, aber nicht völlig,
anders - hatten sich in dieser geteilten Welt eingerichtet, jede Generation
allerdings auf ihre eigene Art und Weise.
Natürlich waren die Linien
der Teilung sowohl Deutschlands wie Europas im Kern diejenigen, an denen die
Armeen am Ausgang des Zweiten Weltkriegs zum Stehen gekommen waren. Dennoch
griffe es zu kurz, die deutsche Teilung ausschließlich als ein Diktat der
Sieger und zwangsläufiges Ergebnis ihres Kalten Kriegs zu betrachten. Das war
sie zweifellos, aber es muss eben doch einiges in der gesellschaftlichen und
psychischen Verfassung der Nachkriegsdeutschen gegeben haben, das dem
entgegenkam.
Dazu ein paar Überlegungen: Deutschland war nie ein klassischer
Nationalstaat. Über Jahrhunderte lebten die Deutschen in der beschützenden
Sphäre einer kleinstaatlichen, pfahlbürgerlichen, »heimatlichen« Existenz -
oder sie strebten hinaus in die Sphäre eines erweiterten »Reichs«. So rückte
die Politik und Publizistik des eben erst konstituierten Wilhelminischen
Reiches die aufstrebenden Deutschen bereits in die Rolle eines »Weltvolks«, das
prädestiniert sei, die Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltkultur, Weltarbeit und
so weiter in einer noch tiefer greifenden Weise zu bestimmen als das insgeheime
Vorbild und der Hauptrivale Großbritannien. Dieses uferlose Oszillieren
zwischen Kontinental-, Kolonial- und Seemacht vor und während des Ersten
Weltkriegs überstieg bereits alle noch so überspannten nationalen Ambitionen.
Für das kontinentale Rassenimperium, das Hitler nach 1933 in Angriff nahm, galt
das natürlich erst recht. Hier hätten die Deutschen als Nation nur den Kern
eines arisch-indogermanischen Herrenvolks abgeben sollen, das im Feuer eines
allseitigen Versklavungs- und Vernichtungskriegs gehärtet und aus dem
vorhandenen Menschenmaterial erst noch herauszuzüchten war - eine hyperboräische Kriegerkaste von futuristischem Zuschnitt.
Eben deshalb konnte der
Nationalsozialismus als politisches und ideologisches System über diesen
Zweiten Weltkrieg hinaus nicht überleben. Die Deutschen hatten alles auf eine
Karte gesetzt, den totalsten aller Kriege geführt, kein Verbrechen gescheut und
sich die ganze Welt zum Feind gemacht. Gerade im Bezugssystem Hitlers, worin
das »Lebensrecht des Stärkeren« an erster Stelle rangierte, trug der
Zusammenbruch von 1945 Züge eines heidnischen Gottesurteils oder eines
geschichtlichen Fatums. Hitler und seine Paladine besiegelten mit ihrem Selbstmord
im Bunker das totale Scheitern ihres archaisch-modernen Rassenimperiums.
Totaler konnte keine Niederlage sein. Für Dolchstoßlegenden und Revanchepläne
wie nach dem Ersten Weltkrieg blieb kein Raum mehr. Das war in jedem Falle die
grundlegende psychisch-politische Ausgangslage.
Wenn man fragt, wie die
Deutschen sich von diesem tiefsten Punkt ihrer Geschichte in den Jahren nach
1945 so vergleichsweise rasch und reibungslos in einen neuen,
zivilgesellschaftlichen Zustand haben überführen lassen, wird man die Gründe
jedenfalls kaum in einer erfolgreichen alliierten Reeducation oder
sozialistisch-antifaschistischen Umerziehung und noch weniger in einer eigenen,
tiefgehenden politisch-moralischen Läuterung finden. Ein Faktor dessen war,
dass sich die beiden beschriebenen Komponenten der deutschen historischen
Existenz - das Pfahlbürgerliche und das Großreichsdenken - auf eine neue Weise
kombiniert haben. In Gestalt der westdeutschen Bundesrepublik wie der DDR kamen
einerseits die älteren, kleinstaatlichen, föderalen, »heimatlichen«
Existenzformen der Deutschen wieder zu ihrem Recht. Die Deutschen - um es
zuzuspitzen - waren durchaus teilbar, jedenfalls entlang bestimmter
historischer Bruchlinien, wie die Elbgrenze eine war. Die DDR, aber auch die
Bundesrepublik und die westdeutschen Bundesländer trugen viele Züge der alten
deutschen Kleinkönigreiche und Duodez-Fürstentümer. Andererseits war die neue
Nachkriegsordnung, die sich in zwei einander gegenüberstehenden Militärblöcken
materialisierte, im Kern um die beiden deutschen Staaten herum konstruiert,
jedenfalls in Europa. Das spielte ihnen beiden als Mit-Garanten des
europäischen Status quo eine Bedeutung zu, die weit über das hinausging, was
sie als Teilstaaten jeweils an politischem oder wirtschaftlichem Gewicht repräsentierten.
Insofern bot der 1947/48
ausgebrochene »Kalte Krieg« für die Bürger beider deutscher Staaten - in allen
traumatischen Härten und Risiken, und vielleicht gerade in Verbindung damit -
auch Tröstungen und Chancen. Indem sie für die eine oder die andere Siegermacht
optierten, brachten sie, die eben noch historisch-moralisch Schwerstbelasteten,
sich auf die Seite der Sieger und der Gerechten und standen auch gleich schon
in vorderster Frontlinie gegen die neuen, und wie sich nun herausstellte: die
eigentlichen Weltfeinde; hier die Kommunisten oder Sowjets, dort die
Kapitalisten und Imperialisten. Man schlüpfte also in eine neue demokratische
oder sozialistische Haut - und hatte sofort neue, weite Perspektiven. Die
»freie Welt« reichte bis Hawaii, das in den deutschen Schlagern der
Fünfzigerjahre unermüdlich besungen wurde, während das »Weltfriedenslager« bis
zum Amur und an den Jangtse reichte und ebenfalls mit russisch-schwermütigem
Timbre besungen wurde.
Natürlich war das in
vieler Hinsicht ein asymmetrisches Verhältnis. Man kann die DDR, wie es
Hans-Ulrich Wehler im letzten, dem fünften Band seiner Deutschen
Gesellschaftsgeschichte getan hat, als eine bloße »Satrapie« der UdSSR
abfertigen, ohne eigene Idee, Staatsräson und Kohäsion, eine »Fußnote der
Weltgeschichte«. Aber das heißt, die authochtonen Faktoren ihres
Beharrungsvermögens, die ja partiell sogar ihren Zusammenbruch überlebt haben,
etwas zu unterschätzen. Gewiss, die DDR als (semi-)totalitäre
Erziehungsdiktatur wie als sozialökonomisches Projekt litt unter einer
kontinuierlichen inneren Auszehrung, die nicht einmal durch den Bau der Mauer
1961 völlig unterbrochen werden konnte. Aber eben dadurch wurden auch viele
soziale Aufwärtsmobilisationen und Karrieren ermöglicht, die eigene Bindekräfte
entwickelten, am stärksten vielleicht durch die extrem hohe Berufstätigkeit der
Frauen, die recht und schlecht dann auch sozialpolitisch abgesichert werden
musste. Daraus entstanden Lebensformen, die stagnant, aber (anders als das
Staatswesen selbst) auch stabil waren und stellenweise dem älteren
deutsch-konservativen Ideal einer »machtgeschützten Innerlichkeit« (nach Thomas
Mann) recht nahekommen konnten - sofern man daran nicht erstickte.
Insgesamt waren die Jahre
von 1949 bis zum Mauerbau 1961 aber durch eine unaufhaltsame historische Drift
von Osten nach Westen gekennzeichnet - in Form einer anhaltenden
Fluchtbewegung, begleitet von einer zunehmenden Akkulturierung der Bundesbürger
an die christlich-abendländisch illuminierte und zugleich schon stark
amerikanisierte Lebenswelt Westeuropas. Diese mentalen und alltagskulturellen
Entwicklungen bildeten die eigentliche Grundlage der stets wachsenden
demokratischen Mehrheiten für die adenauersche Politik einer entschiedenen
Westintegration, einer Politik, die de facto eine Inkaufnahme der deutschen
Teilung auf unabsehbare Zeit bedeutete.
Eine andere, verschwiegenere Basis dieser zunehmenden Stabilisierung und
westlichen Akkulturierung war die Art und Weise, wie das Gros der
Bundesbürger die moralisch-politischen Hypotheken der jüngsten deutschen
Geschichte »bewältigte«. Auch dafür, so möchte ich behaupten, spielte die
deutsche Teilung eine zentrale Rolle.
Vielleicht ist das der
passende Moment, um noch einmal auf die psychohistorische Diagnose zurückzukommen,
die Alexander Mitscherlich zusammen mit Margarete Mitscherlich 1967 unter dem
eindrücklichen Titel Die Unfähigkeit zu trauern veröffentlicht hat. Im
Zentrum stand das Syndrom einer elementaren narzisstischen Kollektivkränkung:
durch den verlorenen Krieg sowie vor allem durch die völlige Entwertung der
Figur des »Führers«, in der das gescheiterte »Herrenvolk« sich selbst
idealisiert und ermächtigt hatte. Angesichts der katastrophalen Niederlage von
1945 und der ans Licht gekommenen Kriegsverbrechen hätten die Deutschen, so die
Mitscherlichs, ihr vormaliges Idol wie einen »Fremdkörper« aus ihrem
psychischen Haushalt ausgestoßen und alles, was sie selbst gesehen und getan
hatten, bis an den Rand einer »Bewusstseinsspaltung« verleugnet und
entwirklicht, um sich so vor dem Kollaps ihrer inflationierten
Selbstwertgefühle und dem fälligen depressiven Zusammenbruch zu schützen. Diese
manischen Abwehrreaktionen hätten es ihnen unmöglich gemacht, für die Opfer
ihrer Eroberungs- und Vernichtungszüge eine lebendige Anteilnahme aufzubringen,
oder auch nur um ihre eigenen Gefallenen und kulturellen Verluste in tieferer
Weise zu trauern. Der Preis dieser ausgebliebenen Trauerarbeit seien: eine
eigentümliche Gefühlsstarre, ein allgemeiner »psychischer Immobilismus« sowie eine
anhaltende Realitätsverleugnung, wie sie sich insbesondere in der
Nichtanerkennung der deutschen Teilung und der Gebietsverluste im Osten
manifestiere.
So plausibel diese
Diagnose im Jahr 1967 zunächst erschien, so illusorisch und problematisch waren
allerdings die Konsequenzen, die die Mitscherlichs daraus zogen. Tatsächlich
gingen sie davon aus, dass die Bundesrepublik angesichts der bereits erfolgten
»wirtschaftlichen Restauration« unter einem unheilvollen, fast unausweichlichen
»Wiederholungszwang« stehe - falls sie sich nicht doch noch zu einer späten
therapeutischen Durcharbeitung der eigenen Geschichte bereit finde. Da es eine
Therapie ohne Therapeuten natürlich nicht geben konnte, schon gar nicht für
»die Deutschen als Kollektiv« (an die der Text sich ausdrücklich wandte), lief
diese Intervention am Ende auf die alte Präzeptorenrolle der »Geistigen« oder,
moderner, der Intellektuellen hinaus. In vieler Hinsicht war Die Unfähigkeit
zu trauern eine vom Philosophischen ins Psychologische gewendete
Wiederaufnahme von Karl Jaspers - Die Schuldfrage von 1946, des wohl ernstesten und
meistdiskutierten Versuchs der unmittelbaren Nachkriegsjahre, die Deutschen zu
einer historisch-moralischen Selbsterforschung und Läuterung aufzurufen. Das
war eine Vorstellung von »Reinigung« durch »inneres Jasagen« zur »deutschen
Schuld« und tätige, bewusste »Wiedergutmachung« an den Opfern. »Demut
(humilitas) wird unser Wesen«, hieß es da etwa. Der »Weg der Reinigung« sollte
zu »Erhellung und Durchsichtigwerden im Aufschwung« führen. »Die Reinigung
macht uns frei.«
Von allen sprachlichen
Unbehaglichkeiten abgesehen, hört man aus der historischen Distanz deutlich
heraus, wie in so viel vorangetragener Demut auch Elemente eines neuen Hochmuts
liegen (konnten) und wie der Astralleib eines gereinigten Überdeutschen sich
darin als Wunschbild abzeichnete. Kaum nötig zu sagen, dass die geschichtliche
Wirklichkeit sehr viel profaner war. Man fühlt sich eher schon an Freuds
Bemerkung über das christliche Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«
erinnert, das er nicht nur für unerfüllbar hielt, sondern für eine potenziell
neurotisierende Überforderung. Freuds Vorstellung einer Zügelung des
menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebes beschränkte sich daher
ziemlich unemphatisch auf eine im materiellen Prozess der Zivilisation unter
steten Widerständen sich allmählich vollziehende Zähmung oder Domestizierung.
Der tatsächliche Prozess
der Umwandlung des hoch militarisierten und mobilisierten Gesellschaftskörpers
des Dritten Reichs in die bundesdeutsche Zivilgesellschaft dürfte diesem Modell
einer Zähmung oder Domestizierung der »blonden Bestie« sehr viel näherkommen,
als sich vom Standpunkt einer idealistisch geforderten und stets versagt
gebliebenen Selbstreinigung und kollektiven Trauerarbeit erkennen lässt.
Tatsächlich waren die
besiegten Deutschen den Siegern wie den rückkehrenden Emigranten schon auf eine
ganz andere Weise unheimlich, als sie erwartet hatten. Martha Gellhorn, die als
Reporterin mit den amerikanischen Truppen im April 1945 ins Rheinland vorstieß,
stellte verblüfft und erbittert fest: »Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je
einer gewesen ... Man fragt sich, wie die verabscheute Naziregierung, der
niemand Gefolgschaft leistete, es fertig brachte, diesen Krieg fünfeinhalb
Jahre lang so durchzuhalten.« Als Alfred Döblin Ende 1945 nach Stuttgart kam,
sah er die Menschen »wie Ameisen in einem zerstörten Haufen hin und her
rennen«. Dabei schien ihm, dass die »Zerstörung ... auf sie nicht deprimierend,
sondern als intensiver Reiz zur Arbeit« wirkt. Was ihn auf die hellsichtige
Vermutung brachte: »Wenn sie die Mittel hätten, die ihnen fehlen, sie würden
morgen jubeln, nur jubeln, dass man ihre alten, überalterten, schlecht
angelegten Ortschaften niedergelegt hat und ihnen Gelegenheit gab, nun etwas
Erstklassiges, ganz Zeitgemäßes hinzustellen.«
Hans Magnus Enzensberger,
der in seinem Buch »Europa in Trümmern« eine Reihe dieser Berichte noch einmal
zusammengestellt hat, schreibt: »(Man) begreift die rätselhafte Energie der
Deutschen nicht, wenn man sich gegen die Einsicht sträubt, dass sie ihren
Defekt zur Tugend erhoben haben. Die Bewusstlosigkeit war die Bedingung ihres
Erfolgs.«
Diese Diagnose könnte man
nun durchaus als eine Bestätigung der von der »Unfähigkeit zu trauern« nehmen.
Sie widerspricht ihr allerdings deutlich, was die Folgen anging. Denn kein
»psychischer Immobilismus«, der sich in einer notorischen »Unfähigkeit zu
Reformen« äußere, wie Mitscherlich annahm, war das Signum ihrer
Nachkriegskarriere - sondern fast das Gegenteil: eine chamäleonhafte
Wandlungsfähigkeit.
Dazu gehörte insbesondere
eben auch die Art und Weise, in der eine übergroße Mehrheit vor allem der
Westdeutschen die staatliche und politische Spaltung halbbewusst in Kauf
genommen hat, ohne sich allerdings dazu zu bekennen. Im Gegenteil, große
demoskopische Mehrheiten hielten über Jahrzehnte hinweg die »deutsche
Wiedervereinigung« als das Staatsziel Nr. 1 hoch. Jenseits dieses leeren
Anspruchs waren die Bundesbürger aber weit davon entfernt, irgendwelche
Konsequenzen zu ziehen. Diese scheinbar patriotisch motivierte Nichtanerkennung
der deutschen Teilung zeitigte zwangläufig paradoxe Resultate. Indem die real
existierende DDR die ganzen Fünfziger- und Sechzigerjahre hindurch als »Zone«
bezeichnet und bis in die frühen Achtzigerjahre hinein in den konservativen
Zeitungen, vor allem des Hauses Springer, nur in Gänsefüßchen genannt wurde,
rutschte sie als ein Nicht-Staat, eine Non-Entität, ein unbestimmtes »Drüben«
umso mehr aus dem Bewusstsein der Bundesbürger hinaus. Zwischen Sonntagsreden
und Alltagsbewusstsein entstand eine solche Kluft, dass man von einem chronisch
gespaltenen Bewusstsein sprechen muss.
Ich würde noch weiter
gehen und sagen, dass die Inkaufnahme der deutschen Teilung zu einem zentralen
Modus der »Vergangenheitsbewältigung« wurde. Man hatte für die Verbrechen des
Nationalsozialismus und einen von Deutschland entfesselten, mörderischen
Weltkrieg schließlich »bezahlt« - nicht nur durch die zerstörten Städte und
Millionen der eigenen Kriegs-, Bomben-, Vertreibungs- und Lageropfer, die
Wiedergutmachungsleistungen an Israel und an einige der jüdischen Überlebenden,
sondern auch noch in Gestalt der verlorenen Ostgebiete - und schließlich auch
der DDR, die als historische Konkursmasse stillschweigend abgeschrieben wurden.
Man hatte - wenn man es zuspitzen will - Geschichte gegen Territorium getauscht
und konnte danach neuen Ufern zustreben.
Den heute gern als Verderbern eines natürlichen gesamtdeutschen Patriotismus
blamierten »68ern« kann das zumindest nicht von Haus aus ins Sündenregister
geschrieben werden. Fast im Gegenteil: Die Außerparlamentarische Opposition in
der Bundesrepublik mit ihren intellektuellen Vorläufern aus der »58er«-Bewegung
hatte sich gerade auch gegen diese Doppelbödigkeit und Heuchelei der
offiziellen Politik und des gesellschaftlichen Bewusstseins gerichtet,
einschließlich der absehbaren Zementierung der deutschen Teilung durch die
Wiederbewaffnung und geplante Stationierung von Atomwaffen. Auch die
Nichtanerkennung des Godesberger Programms der SPD, die 1961 zum Ausschluss des
Kerns der späteren APO-Aktivisten, des SDS, geführt hatte, hatte sich nicht
zuletzt gegen die Wendung dieser größten Oppositionspartei zur Politik der
adenauerschen Westintegration gewendet. So waren die neuen Frontstellungen
zwischen APO und Establishment (um in den Begriffen dieser Jahre zu sprechen)
hochparadox.
Das lässt sich an keiner
Figur so deutlich diskutieren wie an der des kurz vor dem Mauerbau 1961 aus der
DDR abgehauenen Rudi Dutschke und seiner engeren Gefährten, etwa Bernd Rabehl.
Tatsächlich finden sich in Rabehls wie Dutschkes Texten aus den Jahren 1967/68,
etwa dem hunderttausendfach verkauften rororo-Band Rebellion der Studenten,
Zitate, die sich heute ziemlich erstaunlich lesen. Dutschke etwa sprach
wiederholt vom »Verrat der CDU an der deutschen Wiedervereinigung«. Und Rabehl
berichtete emphatisch über die Wochen nach dem 13. August 1961, als »die
gutgläubigen Studenten und die Arbeiterjugend«, darunter er selbst wie Dutschke,
die Mauer zu stürmen versucht hätten. »Die Ernüchterung folgte schnell und zog
die Erkenntnis nach sich, dass der Mauerbau mit Zustimmung der USA
stattgefunden hatte.« Die USA, so Rabehl weiter, hätten sich mit dieser
Neubestätigung der Weltordnung von Teheran, Jalta und Potsdam die Freiheit
erkauft, »ungestört die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu
zerschlagen«. Gleichzeitig habe die defensive Haltung der Westberliner und
bundesdeutschen Politiker klargemacht, »dass sie nicht zur - entscheidenden Tat
-
bereit waren«. Kurzum, »das Desinteresse der Westmächte und der Bundesregierung
an der deutschen Einheit« sei grundlegend für die Erfahrung und Einsicht der
jugendlichen Mauerkämpfer von 1961 gewesen, dass »die vergangenen und
gegenwärtigen Ereignisse in den Metropolen mit den Befreiungskriegen in der
Dritten Welt« zusammengedacht werden müssten. Das kann man dann wohl als den
Kerngedanken der Bewegung von 1968 ansehen - der emphatische Bezug auf eine
»Dritte Welt« als Ausbruch aus der zementierten Weltordnung. Das, so könnte man
wohl sagen, war die fixe Kernidee von 1968.
Nicht nur bei Dutschke gab
es - auch über das Jahr 1968 und das fast tödliche Attentat durch den ebenfalls
aus der DDR abgehauenen jungen Rechtsradikalen Josef Bachmann hinaus - den Phantomschmerz
eines unbestimmten »Leidens an Deutschland«, an »der Eigenartigkeit des
deutschen Volkes«, an seiner »Geschichtslosigkeit« und »Identitätslosigkeit«,
wie seine amerikanische Frau Gretchen voller Irritation bei ihrem Mann
beobachtet hat. Nur dass dieses »Leiden an Deutschland« sich je länger, je mehr
an der Ignoranz der eigenen, und vor allem der jüngeren westdeutschen Genossen
stieß, die nach 1968 dafür kein Organ mehr hatten. Auch sie strebten neuen,
allerdings ganz anderen Ufern zu, als es das Gros der Bundesbürger ohnehin tat.
So blieb die Welt hinter der Mauer für das Gros der bundesdeutschen Linken der
Siebzigerjahre ebenso imaginär wie das rote China oder Vietnam, Albanien oder
Kuba - alle diese fernen Projektionsflächen eines vermeintlich ganz »Anderen«,
das die Realität der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse transzendierte.
Es ist kein Zufall, dass
erst der Film eines Jüngeren, Oskar Roehlers Die Unberührbare, gezeigt
hat, welche unsichtbare Macht »die Mauer« auf die Köpfe dieser ersten
Nachkriegsgeneration ausgeübt hat. Der Film zeichnet ein Psychogramm seiner
Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, die ihn als Kind fortgegeben hatte,
um ihren Ekel an der Welt der Bundesspießer, der »Riesenzwerge« (so der Titel
ihres bekanntesten Romans) auszuleben und sich als eine kommunistische
Parteischriftstellerin und strenge, schöne Priesterin eines pharaonischen
Lenin-Privatkultes selbst völlig neu zu erfinden. Der Film zeigt ihre tiefe
Verstörung nach dem Mauerfall 1989 und endet (wie im wirklichen Leben) mit
ihrem Selbstmord. Was in den Begegnungen mit den real existierenden Menschen
der plötzlich in Auflösung übergegangenen DDR in ihr - so sagt die Heldin des
Films es an einer Stelle - »wie ein Bovist geplatzt« und »zu Staub geworden« sei,
war eben weniger eine tiefe politische Überzeugung, als vielmehr eine negative,
künstliche Identität, die der realen DDR niemals hatte näher treten wollen,
sondern sich ihrer nur als eines fiktiven Anderen und Gegenübers zur Welt der
Bundesrepublik bemächtigt hatte. Darin liegt die metaphorische Kraft dieser
wahren Geschichte.
Und - selbst - Für mich selbst könnte ich ja durchaus in Anspruch nehmen,
dass ich durch die intensive Beschäftigung mit der polnischen Arbeiter- und
Bürgerrechtsbewegung »Solidarität« seit 1980 und meine vielfältigen Kontakte
mit osteuropäischen und russischen Oppositionellen ein eher untypisches
Sensorium für die Unhaltbarkeit der (ost-)europäischen Nachkriegssituation
entwickelt hatte. In meinem Buch Der unerklärte Frieden von 1985
antizipierte ich unmittelbar vor dem Machtantritt Gorbatschows eine »große
Reform von oben« in der Sowjetunion, die mit Bemühungen Moskaus verbunden sein
könnte, die »deutsche Frage« als Hebel einer Öffnung und zugleich einer
Spaltung der westlichen Allianz ins Spiel zu bringen, etwa durch den Vorschlag
eines Friedensvertrags und einer deutsch-deutschen Konföderation. Im Sommer
1989 gründeten wir in Frankfurt das »Palais Jalta«, das sich das Ziel einer
demokratischen und kulturellen Überwindung der Teilung Europas aufs Panier
geschrieben hatte.
Und doch war ich, als ich
am 9. November in Berlin (eher zufällig) den Mauerfall als Researcher für einen
US-Fernsehsender »live« erlebte, völlig überrumpelt - vor allem durch die
undramatische, »undeutsche« Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der
sich das alles vollzog, so, als seien die von »driben« einfach durch eine
Tapetentür gegangen. Sodass man sich schon eine Minute später fragte, wie man
dieses absurde Nebeneinander Wand an Wand je hatte ignorieren und sich in
diesem Weltzustand hatte einrichten können?
Allerdings würde ich auch
heute behaupten, dass der Bruch der Berliner Mauer eher ein europäisches als
ein deutsches Ereignis war - auch wenn die demokratisch-fordernde Losung »Wir
sind das Volk« bald schon durch das patriotisch-appellative »Wir sind ein Volk«
ersetzt wurde. Es waren - im historischen Rückblick vielleicht noch deutlicher
erkennbar - weniger die heiße Sehnsucht der schmerzlich Getrennten »Hüben und
Drüben« und ihre machtvolle Forderung nach einer Wiedervereinigung, die die
Mauer zum Einsturz gebracht und den Eisernen Vorhang beiseite gefegt haben.
Sondern es war der sich sukzessiv aufbauende Druck einer von Osten nach Westen
verlaufenden Ereignisfolge, einer Kette von inneren Erschütterungen und
Erosionen des sowjetischen Machtblocks.
Diese Erschütterungen und
Erosionen hatten im Frühjahr 1989 beim Runden Tisch in Warschau und in den
halbfreien polnischen Wahlen im Sommer bereits erste entscheidende Durchbrüche
erzielt. Entsprechendes gilt für die Gedenkkundgebungen für die Toten von 1956
im Juli in Budapest und die anschließende Öffnung der Grenze nach Österreich,
die Durchfahrt der Prager DDR-Flüchtlinge und die großen Leipziger
Demonstration im Oktober. Und natürlich hing dies alles davon ab, dass die
sowjetische Führung unter Michael Gorbatschow, die in ihrer ganz eigenen
Bredouille steckte, es damals weder für opportun noch für machbar hielt, den
Weg des Massakers zu gehen, den die Pekinger Führung im Juni erst gegen die
Demonstranten auf dem Tiananmenplatz eingeschlagen hatte. Noch hätte allerdings
niemand (in Moskau wie im Westen) nur im Traum daran gedacht, dass die
Dominokette der Regierungsstürze in Osteuropa binnen weniger Monate auch die
Sowjetunion selbst erfassen und dass die vermeintliche zweite Supermacht dieses
Zeitalters im Jahr 1991 derart sang- und klanglos kollabieren könnte.
Wendet man auf diese
Ereigniskette der Jahre 1989-91 die leninsche Definition einer revolutionären
Situation an, die dann eintritt, wenn die Herrschenden nicht mehr können und
die Beherrschten nicht mehr wollen, dann handelte es sich zweifellos um eine
Kette von Revolutionen - die aber vor allem deshalb so relativ friedlich
verliefen, weil die Herrschenden selbst nicht mehr weiter wussten. Es waren also
- ohne den Mut der Streikenden in Danzig oder der Montagsdemonstranten in
Leipzig zu verkennen - doch eher Implosionen oder Involutionen als Aufstände
oder klassische Revolutionen. Wenn der Fall der Mauer diese lange Ereigniskette
tatsächlich irreversibel machte, dann vor allem deshalb, weil damit die
innerste Klammer der zementierten europäischen Nachkriegsordnung zersprungen
war. Das war die präzise historische Bedeutung des 9. November 1989 in Berlin,
die ihr insoweit schon den Rang eines Schlüsselereignisses gibt.
Dass der Fall der Mauer und die friedliche Revolution, die das bewirkt hat,
bis heute - allen routinierten medialen und staatspolitischen Seelenmassagen
zum Trotz - kein selbstverständlicher Teil eines republikanischen
Selbstbewusstseins und Selbstbilds der Bundesbürger Ost und West geworden ist,
hat freilich eigene, verschlungene Gründe, die von der Fortdauer des in diesem
Text beschriebenen Syndroms zeugen. Dass noch zwanzig Jahre nach der
Vereinigung die in ihrer Debilität umso bezeichnendere Rede von den »Wessis«
und den »Ossis« weiterhin gang und gäbe ist, ist ein mentalitätsgeschichtliches
Faktum, für das es kaum historische Parallelen gibt und das in Tatbeständen
einer realen oder angeblichen »sozialen Ungleichheit« schwerlich aufgeht.
Darin kann man eine
Bestätigung des Befundes sehen, wonach der Modus der Spaltung der Hauptmodus
der Bewältigung der eigenen Geschichte und Gegenwart der Nachkriegsdeutschen
gewesen - und offenbar geblieben - ist, einer inneren Spaltung wohlgemerkt, die
sich in einem latenten Misstrauen gegeneinander und gegen das Gesamtkollektiv
äußerte. Insofern hat Günter Grass zu dieser inneren Nachkriegsgeschichte das
gültige Postskriptum geliefert mit seinem denkwürdigen Ceterum censeo des
Jahres 1990: Dass die deutsche Teilung wegen der nicht abtragbaren Hypothek von
Auschwitz auf Dauer gestellt bleiben müsse. Das ließe sich, zumal mit Blick auf
die jüngsten biografischen Enthüllungen und Selbstinterpretationen des
deutschen Nobelpreisträgers, fast wie ein Appell lesen, einen
»Antifaschistischen Schutzwall« in sich selbst aufrechtzuerhalten.