Gerd Koenen


Die Unberührbaren

Über die Teilung Deutschlands als innere und äußere Realität



Seinen martialischen Ausdruck fand die Teilung Deutschlands und Europas in der Mauer. Doch gab es auch eine mentale Teilung, die nicht nur die beiden deutschen Länder voneinander trennte, sondern ganz Europa. Unser Autor geht hier den politischen und mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen nach - und damit der Frage, wie sich die Welten jenseits und diesseits der Mauer entwickelten. Schließlich war der Bruch der Mauer mehr noch als ein deutsches ein europäisches Ereignis auf Grund von schwer vorraussehbaren Ereignisketten.


In seinem wunderbaren Buch Drei Stunden Null - gemeint waren die Jahre 1945, 1968 und 1989 - schrieb Wolfgang Büscher, der den größten Teil seines erwachsenen Lebens in Westberlin verlebt hat, über das eigentümlich schwerelose, irgendwie derealisierte Leben in dieser ehemaligen Frontstadt vor oder hinter der Mauer (je nach Perspektive):

»Die Mauer ging durch die Stadt wie ein Gerücht ... Das Ding war hässlich gewesen, früher einmal, aber es zog keinen Hass mehr auf sich - nur Kunst. Um 1427 malte ein junger Florentiner die Heilige Dreifaltigkeit auf eine Kirchenwand. Als das Fresko enthüllt wurde, löste es starke Verwunderung aus. Die Wand, die doch nur eine Wand war, öffnete sich vor aller Augen tief in den Raum einer Kapelle hinein. Der Maler Masaccio hatte die lange vergessene dritte Dimension der Bilder wiedergefunden, die Passage in den Raum. In Berlin zeigte es sich, dass der Pfad der Wahrnehmung auch zurückführt. Wie eine Kirchenwand ein Raum werden kann, kann ein ausgesprochen räumlicher, die Stadt umgreifender, teilender Körper zur Tapete schrumpfen. Man bemalt und besprüht das Ding so lange, bis es auf nichts mehr verweist als auf sich selbst ... Nur noch ahnungslose Touristen stiegen auf die Aussichtsplattformen des Kalten Krieges. Der aufgeklärte Maueranrainer wusste: Es lohnt nicht nachzuschauen. Da ist nichts hinter der Wand.«

So ist es tatsächlich gewesen: Für ein ständig wachsendes Segment der Westdeutschen und Westberliner war gerade die DDR zu einem weithin unbekannten Land, oder vielmehr: zu einem weißen Fleck auf der Netzhaut ihres Weltbildes geworden. Dieser im Nachhinein schwer verständliche Umstand resultierte aber aus einem sozialpsychologischen Prozess, der sich nicht allein aus der physischen Macht dieses schäbigen Bauwerks oder der bloßen Gewöhnung an die Teilung erklären lässt. Immerhin repräsentierte die Mauer ja nicht nur eine Teilung Berlins und Deutschlands, sondern eine Teilung Europas, sogar eine Teilung der Welt. Aber gerade die Westdeutschen - mit den Ostdeutschen verhielt es sich etwas, aber nicht völlig, anders - hatten sich in dieser geteilten Welt eingerichtet, jede Generation allerdings auf ihre eigene Art und Weise.

Natürlich waren die Linien der Teilung sowohl Deutschlands wie Europas im Kern diejenigen, an denen die Armeen am Ausgang des Zweiten Weltkriegs zum Stehen gekommen waren. Dennoch griffe es zu kurz, die deutsche Teilung ausschließlich als ein Diktat der Sieger und zwangsläufiges Ergebnis ihres Kalten Kriegs zu betrachten. Das war sie zweifellos, aber es muss eben doch einiges in der gesellschaftlichen und psychischen Verfassung der Nachkriegsdeutschen gegeben haben, das dem entgegenkam.


Dazu ein paar Überlegungen: Deutschland war nie ein klassischer Nationalstaat. Über Jahrhunderte lebten die Deutschen in der beschützenden Sphäre einer kleinstaatlichen, pfahlbürgerlichen, »heimatlichen« Existenz - oder sie strebten hinaus in die Sphäre eines erweiterten »Reichs«. So rückte die Politik und Publizistik des eben erst konstituierten Wilhelminischen Reiches die aufstrebenden Deutschen bereits in die Rolle eines »Weltvolks«, das prädestiniert sei, die Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltkultur, Weltarbeit und so weiter in einer noch tiefer greifenden Weise zu bestimmen als das insgeheime Vorbild und der Hauptrivale Großbritannien. Dieses uferlose Oszillieren zwischen Kontinental-, Kolonial- und Seemacht vor und während des Ersten Weltkriegs überstieg bereits alle noch so überspannten nationalen Ambitionen. Für das kontinentale Rassenimperium, das Hitler nach 1933 in Angriff nahm, galt das natürlich erst recht. Hier hätten die Deutschen als Nation nur den Kern eines arisch-indogermanischen Herrenvolks abgeben sollen, das im Feuer eines allseitigen Versklavungs- und Vernichtungskriegs gehärtet und aus dem vorhandenen Menschenmaterial erst noch herauszuzüchten war - eine hyperboräische Kriegerkaste von futuristischem Zuschnitt.

Eben deshalb konnte der Nationalsozialismus als politisches und ideologisches System über diesen Zweiten Weltkrieg hinaus nicht überleben. Die Deutschen hatten alles auf eine Karte gesetzt, den totalsten aller Kriege geführt, kein Verbrechen gescheut und sich die ganze Welt zum Feind gemacht. Gerade im Bezugssystem Hitlers, worin das »Lebensrecht des Stärkeren« an erster Stelle rangierte, trug der Zusammenbruch von 1945 Züge eines heidnischen Gottesurteils oder eines geschichtlichen Fatums. Hitler und seine Paladine besiegelten mit ihrem Selbstmord im Bunker das totale Scheitern ihres archaisch-modernen Rassenimperiums. Totaler konnte keine Niederlage sein. Für Dolchstoßlegenden und Revanchepläne wie nach dem Ersten Weltkrieg blieb kein Raum mehr. Das war in jedem Falle die grundlegende psychisch-politische Ausgangslage.

Wenn man fragt, wie die Deutschen sich von diesem tiefsten Punkt ihrer Geschichte in den Jahren nach 1945 so vergleichsweise rasch und reibungslos in einen neuen, zivilgesellschaftlichen Zustand haben überführen lassen, wird man die Gründe jedenfalls kaum in einer erfolgreichen alliierten Reeducation oder sozialistisch-antifaschistischen Umerziehung und noch weniger in einer eigenen, tiefgehenden politisch-moralischen Läuterung finden. Ein Faktor dessen war, dass sich die beiden beschriebenen Komponenten der deutschen historischen Existenz - das Pfahlbürgerliche und das Großreichsdenken - auf eine neue Weise kombiniert haben. In Gestalt der westdeutschen Bundesrepublik wie der DDR kamen einerseits die älteren, kleinstaatlichen, föderalen, »heimatlichen« Existenzformen der Deutschen wieder zu ihrem Recht. Die Deutschen - um es zuzuspitzen - waren durchaus teilbar, jedenfalls entlang bestimmter historischer Bruchlinien, wie die Elbgrenze eine war. Die DDR, aber auch die Bundesrepublik und die westdeutschen Bundesländer trugen viele Züge der alten deutschen Kleinkönigreiche und Duodez-Fürstentümer. Andererseits war die neue Nachkriegsordnung, die sich in zwei einander gegenüberstehenden Militärblöcken materialisierte, im Kern um die beiden deutschen Staaten herum konstruiert, jedenfalls in Europa. Das spielte ihnen beiden als Mit-Garanten des europäischen Status quo eine Bedeutung zu, die weit über das hinausging, was sie als Teilstaaten jeweils an politischem oder wirtschaftlichem Gewicht repräsentierten.

Insofern bot der 1947/48 ausgebrochene »Kalte Krieg« für die Bürger beider deutscher Staaten - in allen traumatischen Härten und Risiken, und vielleicht gerade in Verbindung damit - auch Tröstungen und Chancen. Indem sie für die eine oder die andere Siegermacht optierten, brachten sie, die eben noch historisch-moralisch Schwerstbelasteten, sich auf die Seite der Sieger und der Gerechten und standen auch gleich schon in vorderster Frontlinie gegen die neuen, und wie sich nun herausstellte: die eigentlichen Weltfeinde; hier die Kommunisten oder Sowjets, dort die Kapitalisten und Imperialisten. Man schlüpfte also in eine neue demokratische oder sozialistische Haut - und hatte sofort neue, weite Perspektiven. Die »freie Welt« reichte bis Hawaii, das in den deutschen Schlagern der Fünfzigerjahre unermüdlich besungen wurde, während das »Weltfriedenslager« bis zum Amur und an den Jangtse reichte und ebenfalls mit russisch-schwermütigem Timbre besungen wurde.

Natürlich war das in vieler Hinsicht ein asymmetrisches Verhältnis. Man kann die DDR, wie es Hans-Ulrich Wehler im letzten, dem fünften Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte getan hat, als eine bloße »Satrapie« der UdSSR abfertigen, ohne eigene Idee, Staatsräson und Kohäsion, eine »Fußnote der Weltgeschichte«. Aber das heißt, die authochtonen Faktoren ihres Beharrungsvermögens, die ja partiell sogar ihren Zusammenbruch überlebt haben, etwas zu unterschätzen. Gewiss, die DDR als (semi-)totalitäre Erziehungsdiktatur wie als sozialökonomisches Projekt litt unter einer kontinuierlichen inneren Auszehrung, die nicht einmal durch den Bau der Mauer 1961 völlig unterbrochen werden konnte. Aber eben dadurch wurden auch viele soziale Aufwärtsmobilisationen und Karrieren ermöglicht, die eigene Bindekräfte entwickelten, am stärksten vielleicht durch die extrem hohe Berufstätigkeit der Frauen, die recht und schlecht dann auch sozialpolitisch abgesichert werden musste. Daraus entstanden Lebensformen, die stagnant, aber (anders als das Staatswesen selbst) auch stabil waren und stellenweise dem älteren deutsch-konservativen Ideal einer »machtgeschützten Innerlichkeit« (nach Thomas Mann) recht nahekommen konnten - sofern man daran nicht erstickte.

Insgesamt waren die Jahre von 1949 bis zum Mauerbau 1961 aber durch eine unaufhaltsame historische Drift von Osten nach Westen gekennzeichnet - in Form einer anhaltenden Fluchtbewegung, begleitet von einer zunehmenden Akkulturierung der Bundesbürger an die christlich-abendländisch illuminierte und zugleich schon stark amerikanisierte Lebenswelt Westeuropas. Diese mentalen und alltagskulturellen Entwicklungen bildeten die eigentliche Grundlage der stets wachsenden demokratischen Mehrheiten für die adenauersche Politik einer entschiedenen Westintegration, einer Politik, die de facto eine Inkaufnahme der deutschen Teilung auf unabsehbare Zeit bedeutete.


Eine andere, verschwiegenere Basis dieser zunehmenden Stabilisierung und westlichen Akkulturierung war die Art und Weise, wie das Gros der Bundesbürger die moralisch-politischen Hypotheken der jüngsten deutschen Geschichte »bewältigte«. Auch dafür, so möchte ich behaupten, spielte die deutsche Teilung eine zentrale Rolle.

Vielleicht ist das der passende Moment, um noch einmal auf die psychohistorische Diagnose zurückzukommen, die Alexander Mitscherlich zusammen mit Margarete Mitscherlich 1967 unter dem eindrücklichen Titel Die Unfähigkeit zu trauern veröffentlicht hat. Im Zentrum stand das Syndrom einer elementaren narzisstischen Kollektivkränkung: durch den verlorenen Krieg sowie vor allem durch die völlige Entwertung der Figur des »Führers«, in der das gescheiterte »Herrenvolk« sich selbst idealisiert und ermächtigt hatte. Angesichts der katastrophalen Niederlage von 1945 und der ans Licht gekommenen Kriegsverbrechen hätten die Deutschen, so die Mitscherlichs, ihr vormaliges Idol wie einen »Fremdkörper« aus ihrem psychischen Haushalt ausgestoßen und alles, was sie selbst gesehen und getan hatten, bis an den Rand einer »Bewusstseinsspaltung« verleugnet und entwirklicht, um sich so vor dem Kollaps ihrer inflationierten Selbstwertgefühle und dem fälligen depressiven Zusammenbruch zu schützen. Diese manischen Abwehrreaktionen hätten es ihnen unmöglich gemacht, für die Opfer ihrer Eroberungs- und Vernichtungszüge eine lebendige Anteilnahme aufzubringen, oder auch nur um ihre eigenen Gefallenen und kulturellen Verluste in tieferer Weise zu trauern. Der Preis dieser ausgebliebenen Trauerarbeit seien: eine eigentümliche Gefühlsstarre, ein allgemeiner »psychischer Immobilismus« sowie eine anhaltende Realitätsverleugnung, wie sie sich insbesondere in der Nichtanerkennung der deutschen Teilung und der Gebietsverluste im Osten manifestiere.

So plausibel diese Diagnose im Jahr 1967 zunächst erschien, so illusorisch und problematisch waren allerdings die Konsequenzen, die die Mitscherlichs daraus zogen. Tatsächlich gingen sie davon aus, dass die Bundesrepublik angesichts der bereits erfolgten »wirtschaftlichen Restauration« unter einem unheilvollen, fast unausweichlichen »Wiederholungszwang« stehe - falls sie sich nicht doch noch zu einer späten therapeutischen Durcharbeitung der eigenen Geschichte bereit finde. Da es eine Therapie ohne Therapeuten natürlich nicht geben konnte, schon gar nicht für »die Deutschen als Kollektiv« (an die der Text sich ausdrücklich wandte), lief diese Intervention am Ende auf die alte Präzeptorenrolle der »Geistigen« oder, moderner, der Intellektuellen hinaus. In vieler Hinsicht war Die Unfähigkeit zu trauern eine vom Philosophischen ins Psychologische gewendete Wiederaufnahme von Karl Jaspers -  Die Schuldfrage von 1946, des wohl ernstesten und meistdiskutierten Versuchs der unmittelbaren Nachkriegsjahre, die Deutschen zu einer historisch-moralischen Selbsterforschung und Läuterung aufzurufen. Das war eine Vorstellung von »Reinigung« durch »inneres Jasagen« zur »deutschen Schuld« und tätige, bewusste »Wiedergutmachung« an den Opfern. »Demut (humilitas) wird unser Wesen«, hieß es da etwa. Der »Weg der Reinigung« sollte zu »Erhellung und Durchsichtigwerden im Aufschwung« führen. »Die Reinigung macht uns frei.«

Von allen sprachlichen Unbehaglichkeiten abgesehen, hört man aus der historischen Distanz deutlich heraus, wie in so viel vorangetragener Demut auch Elemente eines neuen Hochmuts liegen (konnten) und wie der Astralleib eines gereinigten Überdeutschen sich darin als Wunschbild abzeichnete. Kaum nötig zu sagen, dass die geschichtliche Wirklichkeit sehr viel profaner war. Man fühlt sich eher schon an Freuds Bemerkung über das christliche Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« erinnert, das er nicht nur für unerfüllbar hielt, sondern für eine potenziell neurotisierende Überforderung. Freuds Vorstellung einer Zügelung des menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebes beschränkte sich daher ziemlich unemphatisch auf eine im materiellen Prozess der Zivilisation unter steten Widerständen sich allmählich vollziehende Zähmung oder Domestizierung.

Der tatsächliche Prozess der Umwandlung des hoch militarisierten und mobilisierten Gesellschaftskörpers des Dritten Reichs in die bundesdeutsche Zivilgesellschaft dürfte diesem Modell einer Zähmung oder Domestizierung der »blonden Bestie« sehr viel näherkommen, als sich vom Standpunkt einer idealistisch geforderten und stets versagt gebliebenen Selbstreinigung und kollektiven Trauerarbeit erkennen lässt.

Tatsächlich waren die besiegten Deutschen den Siegern wie den rückkehrenden Emigranten schon auf eine ganz andere Weise unheimlich, als sie erwartet hatten. Martha Gellhorn, die als Reporterin mit den amerikanischen Truppen im April 1945 ins Rheinland vorstieß, stellte verblüfft und erbittert fest: »Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen ... Man fragt sich, wie die verabscheute Naziregierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertig brachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre lang so durchzuhalten.« Als Alfred Döblin Ende 1945 nach Stuttgart kam, sah er die Menschen »wie Ameisen in einem zerstörten Haufen hin und her rennen«. Dabei schien ihm, dass die »Zerstörung ... auf sie nicht deprimierend, sondern als intensiver Reiz zur Arbeit« wirkt. Was ihn auf die hellsichtige Vermutung brachte: »Wenn sie die Mittel hätten, die ihnen fehlen, sie würden morgen jubeln, nur jubeln, dass man ihre alten, überalterten, schlecht angelegten Ortschaften niedergelegt hat und ihnen Gelegenheit gab, nun etwas Erstklassiges, ganz Zeitgemäßes hinzustellen.«

Hans Magnus Enzensberger, der in seinem Buch »Europa in Trümmern« eine Reihe dieser Berichte noch einmal zusammengestellt hat, schreibt: »(Man) begreift die rätselhafte Energie der Deutschen nicht, wenn man sich gegen die Einsicht sträubt, dass sie ihren Defekt zur Tugend erhoben haben. Die Bewusstlosigkeit war die Bedingung ihres Erfolgs.«

Diese Diagnose könnte man nun durchaus als eine Bestätigung der von der »Unfähigkeit zu trauern« nehmen. Sie widerspricht ihr allerdings deutlich, was die Folgen anging. Denn kein »psychischer Immobilismus«, der sich in einer notorischen »Unfähigkeit zu Reformen« äußere, wie Mitscherlich annahm, war das Signum ihrer Nachkriegskarriere - sondern fast das Gegenteil: eine chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit.

Dazu gehörte insbesondere eben auch die Art und Weise, in der eine übergroße Mehrheit vor allem der Westdeutschen die staatliche und politische Spaltung halbbewusst in Kauf genommen hat, ohne sich allerdings dazu zu bekennen. Im Gegenteil, große demoskopische Mehrheiten hielten über Jahrzehnte hinweg die »deutsche Wiedervereinigung« als das Staatsziel Nr. 1 hoch. Jenseits dieses leeren Anspruchs waren die Bundesbürger aber weit davon entfernt, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Diese scheinbar patriotisch motivierte Nichtanerkennung der deutschen Teilung zeitigte zwangläufig paradoxe Resultate. Indem die real existierende DDR die ganzen Fünfziger- und Sechzigerjahre hindurch als »Zone« bezeichnet und bis in die frühen Achtzigerjahre hinein in den konservativen Zeitungen, vor allem des Hauses Springer, nur in Gänsefüßchen genannt wurde, rutschte sie als ein Nicht-Staat, eine Non-Entität, ein unbestimmtes »Drüben« umso mehr aus dem Bewusstsein der Bundesbürger hinaus. Zwischen Sonntagsreden und Alltagsbewusstsein entstand eine solche Kluft, dass man von einem chronisch gespaltenen Bewusstsein sprechen muss.

Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass die Inkaufnahme der deutschen Teilung zu einem zentralen Modus der »Vergangenheitsbewältigung« wurde. Man hatte für die Verbrechen des Nationalsozialismus und einen von Deutschland entfesselten, mörderischen Weltkrieg schließlich »bezahlt« - nicht nur durch die zerstörten Städte und Millionen der eigenen Kriegs-, Bomben-, Vertreibungs- und Lageropfer, die Wiedergutmachungsleistungen an Israel und an einige der jüdischen Überlebenden, sondern auch noch in Gestalt der verlorenen Ostgebiete - und schließlich auch der DDR, die als historische Konkursmasse stillschweigend abgeschrieben wurden. Man hatte - wenn man es zuspitzen will - Geschichte gegen Territorium getauscht und konnte danach neuen Ufern zustreben.


Den heute gern als Verderbern eines natürlichen gesamtdeutschen Patriotismus blamierten »68ern« kann das zumindest nicht von Haus aus ins Sündenregister geschrieben werden. Fast im Gegenteil: Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik mit ihren intellektuellen Vorläufern aus der »58er«-Bewegung hatte sich gerade auch gegen diese Doppelbödigkeit und Heuchelei der offiziellen Politik und des gesellschaftlichen Bewusstseins gerichtet, einschließlich der absehbaren Zementierung der deutschen Teilung durch die Wiederbewaffnung und geplante Stationierung von Atomwaffen. Auch die Nichtanerkennung des Godesberger Programms der SPD, die 1961 zum Ausschluss des Kerns der späteren APO-Aktivisten, des SDS, geführt hatte, hatte sich nicht zuletzt gegen die Wendung dieser größten Oppositionspartei zur Politik der adenauerschen Westintegration gewendet. So waren die neuen Frontstellungen zwischen APO und Establishment (um in den Begriffen dieser Jahre zu sprechen) hochparadox.

Das lässt sich an keiner Figur so deutlich diskutieren wie an der des kurz vor dem Mauerbau 1961 aus der DDR abgehauenen Rudi Dutschke und seiner engeren Gefährten, etwa Bernd Rabehl. Tatsächlich finden sich in Rabehls wie Dutschkes Texten aus den Jahren 1967/68, etwa dem hunderttausendfach verkauften rororo-Band Rebellion der Studenten, Zitate, die sich heute ziemlich erstaunlich lesen. Dutschke etwa sprach wiederholt vom »Verrat der CDU an der deutschen Wiedervereinigung«. Und Rabehl berichtete emphatisch über die Wochen nach dem 13. August 1961, als »die gutgläubigen Studenten und die Arbeiterjugend«, darunter er selbst wie Dutschke, die Mauer zu stürmen versucht hätten. »Die Ernüchterung folgte schnell und zog die Erkenntnis nach sich, dass der Mauerbau mit Zustimmung der USA stattgefunden hatte.« Die USA, so Rabehl weiter, hätten sich mit dieser Neubestätigung der Weltordnung von Teheran, Jalta und Potsdam die Freiheit erkauft, »ungestört die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu zerschlagen«. Gleichzeitig habe die defensive Haltung der Westberliner und bundesdeutschen Politiker klargemacht, »dass sie nicht zur - entscheidenden Tat - bereit waren«. Kurzum, »das Desinteresse der Westmächte und der Bundesregierung an der deutschen Einheit« sei grundlegend für die Erfahrung und Einsicht der jugendlichen Mauerkämpfer von 1961 gewesen, dass »die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse in den Metropolen mit den Befreiungskriegen in der Dritten Welt« zusammengedacht werden müssten. Das kann man dann wohl als den Kerngedanken der Bewegung von 1968 ansehen - der emphatische Bezug auf eine »Dritte Welt« als Ausbruch aus der zementierten Weltordnung. Das, so könnte man wohl sagen, war die fixe Kernidee von 1968.

Nicht nur bei Dutschke gab es - auch über das Jahr 1968 und das fast tödliche Attentat durch den ebenfalls aus der DDR abgehauenen jungen Rechtsradikalen Josef Bachmann hinaus - den Phantomschmerz eines unbestimmten »Leidens an Deutschland«, an »der Eigenartigkeit des deutschen Volkes«, an seiner »Geschichtslosigkeit« und »Identitätslosigkeit«, wie seine amerikanische Frau Gretchen voller Irritation bei ihrem Mann beobachtet hat. Nur dass dieses »Leiden an Deutschland« sich je länger, je mehr an der Ignoranz der eigenen, und vor allem der jüngeren westdeutschen Genossen stieß, die nach 1968 dafür kein Organ mehr hatten. Auch sie strebten neuen, allerdings ganz anderen Ufern zu, als es das Gros der Bundesbürger ohnehin tat. So blieb die Welt hinter der Mauer für das Gros der bundesdeutschen Linken der Siebzigerjahre ebenso imaginär wie das rote China oder Vietnam, Albanien oder Kuba - alle diese fernen Projektionsflächen eines vermeintlich ganz »Anderen«, das die Realität der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse transzendierte.

Es ist kein Zufall, dass erst der Film eines Jüngeren, Oskar Roehlers Die Unberührbare, gezeigt hat, welche unsichtbare Macht »die Mauer« auf die Köpfe dieser ersten Nachkriegsgeneration ausgeübt hat. Der Film zeichnet ein Psychogramm seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, die ihn als Kind fortgegeben hatte, um ihren Ekel an der Welt der Bundesspießer, der »Riesenzwerge« (so der Titel ihres bekanntesten Romans) auszuleben und sich als eine kommunistische Parteischriftstellerin und strenge, schöne Priesterin eines pharaonischen Lenin-Privatkultes selbst völlig neu zu erfinden. Der Film zeigt ihre tiefe Verstörung nach dem Mauerfall 1989 und endet (wie im wirklichen Leben) mit ihrem Selbstmord. Was in den Begegnungen mit den real existierenden Menschen der plötzlich in Auflösung übergegangenen DDR in ihr - so sagt die Heldin des Films es an einer Stelle - »wie ein Bovist geplatzt« und »zu Staub geworden« sei, war eben weniger eine tiefe politische Überzeugung, als vielmehr eine negative, künstliche Identität, die der realen DDR niemals hatte näher treten wollen, sondern sich ihrer nur als eines fiktiven Anderen und Gegenübers zur Welt der Bundesrepublik bemächtigt hatte. Darin liegt die metaphorische Kraft dieser wahren Geschichte.


Und - selbst - Für mich selbst könnte ich ja durchaus in Anspruch nehmen, dass ich durch die intensive Beschäftigung mit der polnischen Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung »Solidarität« seit 1980 und meine vielfältigen Kontakte mit osteuropäischen und russischen Oppositionellen ein eher untypisches Sensorium für die Unhaltbarkeit der (ost-)europäischen Nachkriegssituation entwickelt hatte. In meinem Buch Der unerklärte Frieden von 1985 antizipierte ich unmittelbar vor dem Machtantritt Gorbatschows eine »große Reform von oben« in der Sowjetunion, die mit Bemühungen Moskaus verbunden sein könnte, die »deutsche Frage« als Hebel einer Öffnung und zugleich einer Spaltung der westlichen Allianz ins Spiel zu bringen, etwa durch den Vorschlag eines Friedensvertrags und einer deutsch-deutschen Konföderation. Im Sommer 1989 gründeten wir in Frankfurt das »Palais Jalta«, das sich das Ziel einer demokratischen und kulturellen Überwindung der Teilung Europas aufs Panier geschrieben hatte.

Und doch war ich, als ich am 9. November in Berlin (eher zufällig) den Mauerfall als Researcher für einen US-Fernsehsender »live« erlebte, völlig überrumpelt - vor allem durch die undramatische, »undeutsche« Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der sich das alles vollzog, so, als seien die von »driben« einfach durch eine Tapetentür gegangen. Sodass man sich schon eine Minute später fragte, wie man dieses absurde Nebeneinander Wand an Wand je hatte ignorieren und sich in diesem Weltzustand hatte einrichten können?

Allerdings würde ich auch heute behaupten, dass der Bruch der Berliner Mauer eher ein europäisches als ein deutsches Ereignis war - auch wenn die demokratisch-fordernde Losung »Wir sind das Volk« bald schon durch das patriotisch-appellative »Wir sind ein Volk« ersetzt wurde. Es waren - im historischen Rückblick vielleicht noch deutlicher erkennbar - weniger die heiße Sehnsucht der schmerzlich Getrennten »Hüben und Drüben« und ihre machtvolle Forderung nach einer Wiedervereinigung, die die Mauer zum Einsturz gebracht und den Eisernen Vorhang beiseite gefegt haben. Sondern es war der sich sukzessiv aufbauende Druck einer von Osten nach Westen verlaufenden Ereignisfolge, einer Kette von inneren Erschütterungen und Erosionen des sowjetischen Machtblocks.

Diese Erschütterungen und Erosionen hatten im Frühjahr 1989 beim Runden Tisch in Warschau und in den halbfreien polnischen Wahlen im Sommer bereits erste entscheidende Durchbrüche erzielt. Entsprechendes gilt für die Gedenkkundgebungen für die Toten von 1956 im Juli in Budapest und die anschließende Öffnung der Grenze nach Österreich, die Durchfahrt der Prager DDR-Flüchtlinge und die großen Leipziger Demonstration im Oktober. Und natürlich hing dies alles davon ab, dass die sowjetische Führung unter Michael Gorbatschow, die in ihrer ganz eigenen Bredouille steckte, es damals weder für opportun noch für machbar hielt, den Weg des Massakers zu gehen, den die Pekinger Führung im Juni erst gegen die Demonstranten auf dem Tiananmenplatz eingeschlagen hatte. Noch hätte allerdings niemand (in Moskau wie im Westen) nur im Traum daran gedacht, dass die Dominokette der Regierungsstürze in Osteuropa binnen weniger Monate auch die Sowjetunion selbst erfassen und dass die vermeintliche zweite Supermacht dieses Zeitalters im Jahr 1991 derart sang- und klanglos kollabieren könnte.

Wendet man auf diese Ereigniskette der Jahre 1989-91 die leninsche Definition einer revolutionären Situation an, die dann eintritt, wenn die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen, dann handelte es sich zweifellos um eine Kette von Revolutionen - die aber vor allem deshalb so relativ friedlich verliefen, weil die Herrschenden selbst nicht mehr weiter wussten. Es waren also - ohne den Mut der Streikenden in Danzig oder der Montagsdemonstranten in Leipzig zu verkennen - doch eher Implosionen oder Involutionen als Aufstände oder klassische Revolutionen. Wenn der Fall der Mauer diese lange Ereigniskette tatsächlich irreversibel machte, dann vor allem deshalb, weil damit die innerste Klammer der zementierten europäischen Nachkriegsordnung zersprungen war. Das war die präzise historische Bedeutung des 9. November 1989 in Berlin, die ihr insoweit schon den Rang eines Schlüsselereignisses gibt.


Dass der Fall der Mauer und die friedliche Revolution, die das bewirkt hat, bis heute - allen routinierten medialen und staatspolitischen Seelenmassagen zum Trotz - kein selbstverständlicher Teil eines republikanischen Selbstbewusstseins und Selbstbilds der Bundesbürger Ost und West geworden ist, hat freilich eigene, verschlungene Gründe, die von der Fortdauer des in diesem Text beschriebenen Syndroms zeugen. Dass noch zwanzig Jahre nach der Vereinigung die in ihrer Debilität umso bezeichnendere Rede von den »Wessis« und den »Ossis« weiterhin gang und gäbe ist, ist ein mentalitätsgeschichtliches Faktum, für das es kaum historische Parallelen gibt und das in Tatbeständen einer realen oder angeblichen »sozialen Ungleichheit« schwerlich aufgeht.

Darin kann man eine Bestätigung des Befundes sehen, wonach der Modus der Spaltung der Hauptmodus der Bewältigung der eigenen Geschichte und Gegenwart der Nachkriegsdeutschen gewesen - und offenbar geblieben - ist, einer inneren Spaltung wohlgemerkt, die sich in einem latenten Misstrauen gegeneinander und gegen das Gesamtkollektiv äußerte. Insofern hat Günter Grass zu dieser inneren Nachkriegsgeschichte das gültige Postskriptum geliefert mit seinem denkwürdigen Ceterum censeo des Jahres 1990: Dass die deutsche Teilung wegen der nicht abtragbaren Hypothek von Auschwitz auf Dauer gestellt bleiben müsse. Das ließe sich, zumal mit Blick auf die jüngsten biografischen Enthüllungen und Selbstinterpretationen des deutschen Nobelpreisträgers, fast wie ein Appell lesen, einen »Antifaschistischen Schutzwall« in sich selbst aufrechtzuerhalten.


Der Artikel folgt einem Vortrag am Sigmund- Freud-Institut in Frankfurt am Main am 6. November 2009 und wurde für die vorliegende Fassung gekürzt und überarbeitet.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2009