Michael Ackermann
Der allseits beanspruchte Bürger
Bürger gegen Politik und Staat?
Die lange Geschichte umstrittener Großprojekte scheint in
der »Berliner Republik« fast vergessen. Anders ist kaum zu erklären, warum der
Widerstand gegen »Stuttgart 21« und die Aufhebung des Atomkompromisses so
hysterische Reaktionen in Medien und Politik ausgelöst hat. Doch gibt es gute
Gründe, von veränderten Frontbildungen in der Gesellschaft auszugehen. Sie
berühren auch das Verhältnis von Bürger und Staat. Womöglich jedoch anders, als
manche glauben.
Der Befund scheint
eindeutig: Ob die Proteste gegen das Projekt »Stuttgart 21«, die Blockaden der
Castor-Transporte im Wendland, die Zurückweisung eines Bildungsreformprojektes
oder die Verhinderung der Abräumung eines ganzen Viertels in Hamburg ? immer
stehen sich Bevölkerung und (Parteien-)Politik in Stadt, Land und Bund
gegenüber. Doch nicht erst wenn man die zornigen Debatten nach Thilo Sarrazins Auslassungen in Sachen Migration und Einwanderung
hinzunimmt, kommt das einheitliche Bild vom Aufstand der Bürgerinnen und Bürger
gegen den Staat oder die Politik ein bisschen ins Wabbeln. Denn
in dieses Wabbelbild gehen ganz unterschiedliche Betrachterstandpunkte ein. Der eine sieht im »Aufstand der
Bürger« eine Gefährdung demokratischer Prozesse und Entscheidungen. Der andere
meint, dass die Demokratie durch das Engagement der Citoyens gegen erstarrte
Politik und bevormundenden Staat erst richtig in Schwung kommt. Doch werden
diese Projektionen den Problemen wirklich gerecht?
Die blinden Flecken der »21-Projekte«
Zunächst einmal ist
die Geschichte der 21-Projekte in Frankfurt, München und Stuttgart die
Geschichte verkehrlicher und städtebaulicher
Hochfantasien im Planungshorizont der mittleren 1980er- bis frühen 1990er-Jahre.
Die Vorstellung von der Ersetzung von Sackbahnhöfen durch unterirdische
Durchgangsbahnhöfe beruhte dabei nicht allein auf verkehrstechnischen Annahmen.
Entscheidender waren ökonomische und standtortpolitische
Vorstellungen. Es wurde die Inwertsetzung ganzer
städtischer Räume durch neue Stadtteile projektiert. Die
Immobilienmarktfantasien gerieten allerdings schon Ende der 1990er-Jahre ins
Wanken. Die Projekte »München 21« und »Frankfurt 21« wurden im Juni 1996
vorgestellt und nach jahrelangen komplizierten Verhandlungen und Wendungen
schließlich zu den Akten gelegt.(1) Ein entscheidender
Punkt war in Frankfurt der Wandel auf den Immobilienmärkten. Die Hoffnungen auf
gigantische Vermarktungseffekte kamen schon nach dem Abriss des
Güterbahnhof-Gleisbettes für das Europa-Viertel ins Stocken.
Anders als in der
Bankenmetropole hielt man in Stuttgart jedoch an den Plänen fest. Hier war mit
einer »packenden Idee« schon 1994 auf Avantgarde gemacht worden. Eine spezielle
»Spätzle-Konnektion« spielte dabei eine wichtige
Rolle. Schon die kurzfristig anberaumte Pressekonferenz vom 18. April 1994 kam
einem Coup gleich. Der Slogan »Stuttgart, das neue Herz Europas« folgte einem
hochgestimmten Stadtmarketing jenseits erwartbarer
Entwicklungstendenzen. Auch die Immobilienpläne für einen neuen Stadtteil auf
der ehemaligen Gleisfläche stehen also in Stuttgart heute auf schwankendem
Boden. Hier läuft eine Wette mit großem Einsatz und hohen
Verlustwahrscheinlichkeiten.(2)
Andreas Zielcke hat in einem SZ-Artikel dargelegt, wie voluntaristisch
der Beschlussprozess von »Stuttgart 21« ablief. Geplant wurde in Stuttgart
nicht in Szenarien, sondern in einem statischen Projekthorizont. »Die
Volksvertreter haben abgesegnet, was sie selbst nie gegen Alternativen
abgewogen und was sie dem von ihnen vertretenen Volk nie zur Prüfung vorgelegt
haben.«(3)
Bezeichnend ist auch,
dass ein Modell wie »Stuttgart 21« in Paris und London, die über zahlreiche
Kopfbahnhöfe verfügen, nie wirklich in Erwägung gezogen wurde. Jüngst zeigt nun
das Beispiel Wien mit dem Umbau von zwei Kopfbahnhöfen zugunsten eines neuen
Zentralbahnhofs immanent die Fragwürdigkeit von »Stuttgart 21«. Denn der neue
Wiener Durchgangsbahnhof ist ein »Über-der-Erde- Projekt«, zehn Minuten vom
Zentrum der Innenstadt entfernt.(4)
Seit der
Privatisierung der deutschen Bahn werden die verkehrlichen Strategien von Prestigeprojekten dominiert,
deren Ergebnisse durchaus zweifelhaft sind. Die Erwartungen an die
Fahrgastzahlen auf den neuen Schnellstrecken wurden nicht erfüllt. Der von der
Bahn ungeliebte und reibungsreiche Regional- und Pendlerverkehr wächst dagegen
und bildet das eigentliche Rückgrat der verkehrlichen
Bahnerlöse. Die Potenziale des Güterverkehrs liegen weitgehend brach. »Der
Berliner Verkehrsexperte Michael Holzhey hat unlängst
in einem Gutachten für das Umweltbundesamt ausgerechnet, dass sich mit elf
Milliarden Euro die Transportleistung des Güterverkehrs auf der Schiene
verdoppeln würde.« Doch folgt die Bahnpolitik in
»Deutschland irrationalen Regeln. Sie produziert ein Stückwerk aus ewigen
Baustellen, Hochgeschwindigkeitstrassen und Langsamfahrstellen.
? Prestigeprojekte lassen sich allemal besser verkaufen als ein paar
langweilige, aber effiziente Oberleitungen, Überholgleise oder Lückenschlüsse.«(5)
Ein Gegenbeispiel ist
das große Schweizer Gotthard-Tunnel-Projekt. Im Gegensatz zu Stuttgart 21 zielt
es explizit auf die Verlagerung von Güterverkehr auf die Schiene und stellt
damit die Entlastung der Alpen-Transitwege ins Zentrum. Die »Neue
Eisenbahn-Alpentransversale (Neat)« wurde von der Schweiz als wahrlich
gigantisches Projekt vorangetrieben und wird ausgerechnet von den
Anrainer-Staaten, unter anderem von der deutschen Bahn- und
Infrastrukturpolitik, vernachlässigt. Damit wird die europäische Vernetzung
verlangsamt und die Entlastung der Transitstrecken verschoben.
Von Wutbürgern und falschen Maßstäben
Vor diesem
Hintergrund wirken die Proteste gegen das Projekt 21 in Stuttgart keineswegs
provinziell oder künstlich überhitzt. Gut nachvollziehbar wird die Gegnerschaft
in dem Band Stuttgart 21. Die Argumente.(6)
Gleichwohl stoßen die Proteste auf die Unnachgiebigkeit nicht nur in der
örtlichen Politik. Nach dem Schock der Polizeieinsätze versuchte es die
schwarz-gelbe Regierung mit einer Strategie der Spaltung zwischen Bürgern und
»Berufsprotestierern« und dem Vorwurf der Demokratieverachtung. Medial befeuert
wurde das dichotomische Bild vom Bürger versus Staat/Politik im Spiegel
von Dirk Kurbjuweit durch seinen antibürgerlichen
Reflex vom »Wutbürger«. »Der Wutbürger ? macht sich zur letzten Instanz und
hebelt dabei das ganze System aus. Er versteht nicht oder will nicht verstehen,
dass ein Sieg der Gegner von Stuttgart 21 jeden anderen Protest in Deutschland
beflügelt.«(7) Kurbjuweit
suggeriert, dass demokratische Entscheidungen vom Wutbürger leichtfertig außer
Kraft gesetzt werden. Auch die Bundeskanzlerin behauptete: Wenn Stuttgart 21
nicht kommt, ist in Deutschland kein Großprojekt mehr möglich.
Ergänzt wird die
Alternativlosigkeit des Projektes mit dem Vorwurf der Saturiertheit und
Anmaßung durch satte Bürger. Im speziellen Fall wird noch der schwäbische
Spießer Gassi geführt, der wider die Erfordernisse moderner Stadtumgestaltung
unverantwortlich handelt. Dabei stellt Stuttgart ein eklatantes Beispiel für
fehlgegangene städtische Umgestaltungen in der langen Nachkriegsgeschichte dar.
Der Projekt-21-Konflikt geht auf einen gewachsenen Unmut in der
Schwabenmetropole zurück. Statt diesen Hintergrund zu erläutern baut, Kurbjuweit nun folgenden Popanz auf: »Der Wutbürger macht
nicht mehr mit, er will nicht mehr. Er hat genug vom Streit der Parteien, von
Entscheidungen, die er nicht versteht und die ihm unzureichend erklärt werden.
Er will nicht mehr staatstragend sein, weil ihm der Staat fremd geworden ist.
Da hat sich etwas grundsätzlich gewandelt. Für den Bürger hat der Staat auch
den Charakter einer Burg. ? Die Burg wird nicht mehr gebraucht.«(8)
So wird der Konflikt
zwischen Bürgern und parlamentarischen Entscheidungen, Bürgern und politischer
Klasse prinzipialistisch zugespitzt. Diese Art
Konflikttypus wurde auch schon im Hamburger Schulreformstreit ausgemacht ?
allerdings mit einer genau umgekehrten Benotung. Die Gegner der Schulreform
werden durchweg medial geadelt und ihre bürgerliche Selbstbehauptung bejubelt.
Das Nein in Hamburg wird positiv als Durchsetzung gegen einen breiten
parlamentarischen Oktroi bewertet, während in Stuttgart oder Gorleben das Bild
vom wild gewordenen Kleinbürger ausgemalt und die Gefahr beschworen wird, dass
die Macht auf der Straße liegt. Dem Publizisten Gerd Held zufolge herrschen
dort der Kleingeist und ein ideologisierter Protest. Er folgert: »Die direkte
Demokratie, die vom unmittelbar Anschaulichen lebt, darf gerade in diesem
Moment ? der viel Stoff zum Protestieren gibt ? nicht die Macht bekommen.«(9) Held argumentiert zudem mit einem größeren Maßstab.
Der manifestiere sich in »Stuttgart 21« mit der Notwendigkeit einer zweiten,
südlichen Magistrale der Bahn jenseits der schon bestehenden nördlichen
Ost-West-Verbindung. Ohne auf die konkreten Bedingungen einzugehen, setzt Held
mit der Neubaustrecke nach Ulm auch die Verlegung des Hauptbahnhofs unter die
Erde als sakrosankt.
Helds Argument des
größeren Maßstabs richtet sich explizit gegen »Dezentralität« und kleine
Lösungen, wie er sie aus ökologischen und Umweltdiskussionen kennt, die für ihn
per se den kleineren Maßstab bilden. Wie Held geißelt auch Michael Miersch die Kleingeistigkeit und Konfliktscheu und zielt
damit auf den vermeintlichen Profiteur der Projektgegnerschaft: »Diese
biedermeierliche Sehnsucht nach Stillstand bedienen die Grünen. Nur keine neue
Technologien (außer Windräder und Solardächer), keine Großprojekte, die Baulärm
verursachen könnten.«(10) Die Grünen werden zur Partei des wohligen Stillstands
und einer immobilen, ängstlichen Mitte mit hohem Rentneranteil und Einkommen
erklärt. In einer Bündelung aus Kirchturmpolitik, Kleinmaßstäblichkeit
und Stillstandssehnsucht wird die Substanz grüner
Ideologie geortet und ihr Vordringungen
in die bürgerliche Mitte beklagt.
Der Bürger und seine Zumutungen
Während die
Entwicklung der Grünen gerade von einer intensiven Konflikthaftigkeit geprägt
ist, kommen ihre Kritiker ganz ohne die konflikthaften Erfahrungen in den
städtebaulichen und Umweltentwicklungen der letzten Jahrzehnte aus. Dabei ist
doch offensichtlich, dass die Geschwindigkeit der Umbrüche und Veränderungen in
der Gesellschaft durchaus rasanter geworden sind und den Bürgern in ihrem
Lebensalltag recht viel abverlangen. Der steten Rede von den Beharrungskräften
im Sozialen, in der Arbeitswelt oder in der Gestaltung öffentlicher Räume
stehen die realen Entwicklungen und Erfahrungen gegenüber. Während das Lob der
Freiheit und der freien Entscheidung immer lauter als eines von
Eigenverantwortung und Selbstoptimierung erklingt, nimmt die Zahl von
Entscheidungen, Prozessen und Entwicklungen zu, dem das Individuum subjektiv
und objektiv ausgesetzt ist. In den Entscheidungen über den Bau einer
Umgehungsstraße oder einer neuen Bahntrasse treffen neben rechtlichen
Einsprüchen mehr und mehr Vermittlungsverfahren und eine steigende Zahl
individueller und kollektiver Betroffenheiten
aufeinander. Die Halbwertzeiten parlamentarischer Entscheidungen schreiten
voran, die Veränderungsgeschwindigkeiten bei Planungen und Technologien nehmen
einerseits zu, andererseits werden die Planungshorizonte durch Rechtsförmigkeiten und sich verändernde politische
Mehrheiten jedoch auch wieder verlangsamt.
Das alles resultiert
weniger aus einem Mehr an purer Bürokratie und staatlicher Gängelung als aus
der stofflichen Mannigfaltigkeit einer gesellschaftlichen Entwicklung mit einer
ständig zunehmenden Prozesshaftigkeit im Mehrebenensystem
demokratischer Verhältnisse. Diese sind zudem mit einem rigiden
Privateigentumsbegriff verbunden. Wurden große öffentliche Strukturprojekte
früher umstandslos mit flächendeckenden Enteignungen durchgezogen, sind wir
heute von Gewalt- und Rechtsverhältnissen wie im Paris des zweiten
Kaiserreiches und ihrem Stadtplaner Baron Haussmann doch ein bisschen entfernt. An die Stelle von puren staatlichen
Willkürakten gegenüber Einzelnen oder ganzen Gruppen und Klassen sind komplexe
Amalgame aus demokratischen Beschlüssen, Evaluierungen, Rechtsentscheidungen,
anonymen Marktprozessen und interessengesteuerten Lobbyismen und Kapitalinteressen
getreten. Ihr jeweiliges Durchsetzungsvermögen ist nicht eindeutig. Aus dem
Amalgam sich überschneidender funktionaler Differenzierungen und Sphären
entspringt jedoch gleichwohl der Verdacht, »man« werde permanent
undurchsichtigen Entscheidungen »ausgesetzt« als auch die Sehnsucht nach
Komplexitätsreduzierung und Vereinfachung der Konfliktlagen.
Mit diesem
vereinfachten Weltbild gehen Leute wie Kurbjuweit,
Held oder Miersch auf dem hehren Pfad der Demokratie-
und Staatstreue spazieren. Auf dem gegenüberliegenden Pfad läuft ein anderer Vereinfacher. Peter Sloterdijk ist auf der Seite der Gegner
von Stuttgart 21 und sieht zum x-ten Male den Stolz der Bürger verletzt, die
sich nun gegen ihre »Ausschaltung« durch arrogante Politik und übermächtigen
Staat zur Wehr setzen.(11) Dabei steigert sich Sloterdijk in seiner
Verteidigung des Bürgerstolzes leider erneut in eine wüste Suada gegen den
Steuerstaat hinein. Dieser produziere eine »Kollektivschuldgruppe«, »die morgen
und bis zu ihrem letzten Atemzug für das bezahlen wird, was die
Bürgerausschalter von heute ihr aufbürden«. Wie allerdings eine hochkomplexe
Gesellschaft mit einem feudalen oder großbürgerlichen »Gabe-Charakter«
zusammengehalten werden soll, bleibt das Geheimnis des Philosophen. Jedenfalls
darf man Sloterdijks Appell an einen Aufstand der Bürger gegen die
»Bürgerausschalter« nicht mit dem Schrei vom »kommenden Aufstand« verwechseln,
der im Stile der früheren Situationistischen
Internationale von den französischen Vorstädten aus am liebsten die ganze kapitalistische
Bude zum Brennen bringen möchte.(12)
Die Legitimität von Entscheidungen
Die Spannweite der
Fantasien über die Dichotomie von Bürger versus Politik/Staat lässt vielleicht
erkennen, dass es nicht ganz leicht ist, die »Sache auf den Punkt zu bringen«,
sprich, säuberlich zwischen rechten oder linken, reaktionären oder
fortschrittlichen Auffassungen über Bürger, Staat und Demokratie zu
unterscheiden. Doch verfehlt die unterschiedliche Lust an der diskursiven und
ideologischen Zuspitzung der Stuttgarter Proteste eine grundlegende, allerdings
eher pragmatische Erkenntnis: Große Projekte benötigen mehr denn je weitaus
mehr als das Gütesiegel parlamentarischer Entscheidungen. Das Top-down-Modell,
wie es in Stuttgart durchgezogen wurde, ist politikpraktisch und -theoretisch
veraltet. »In Stuttgart bei den Schlichtungsgesprächen sitzt der ins
öffentliche Recht eingewanderte Bürger nun auf einmal am Tisch ? dem
Ministerpräsidenten und den gewählten Repräsentanten der repräsentativen
Demokratie gegenüber. Das ist nicht nur eine demokratietheoretische Sensation,
das ist eine ganz neue demokratische Praxis. Es handelt sich um einen Akt der
Integration«, notiert Heribert Prantl begeistert.(13)
Dass die Schlichtungsgespräche in Stuttgart deswegen zu einer Problemlösung
führen, ist trotzdem zweifelhaft. Die von Prantl benannte »Integration« stellt
jedoch kein isoliertes Stuttgarter Ereignis mehr dar. Unterhalb größerer
öffentlicher Wahrnehmung haben sich Partizipations- und Beteiligungsmodelle
herausgebildet, die versuchen, öffentliche Strukturentscheidungen und
Bauvorhaben unter Bürgerbeteiligung zu evaluieren.(14) Natürlich werden dadurch
Spannungen nicht ausgeräumt, die Entscheidungsprozesse und die Interessen
können jedoch zumindest offengelegt und kommunikativer bearbeitet werden.
Vor Kurzem sagte der
Mannheimer Bürgermeister Peter Kurz (SPD): »Wenn wir heute sagen, eine
parlamentarische Entscheidung ist eine demokratische Entscheidung und damit
bindend, ist das unzureichend.« Seine Auffassung
beruht auf Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung: »Beim Bau einer neuen
Straßenbahnlinie im Mannheimer Norden hat die Stadt erfolgreich versucht,
während des Planungsprozesses eine neue Partnerschaft zwischen Bürgerschaft und
Verwaltung zu etablieren. Sehr früh haben die Stadtbahngesellschaft und die
Verwaltung den Bürgern einen Dialog angeboten ? noch bevor das
Planfeststellungsverfahren begann, sind Vorbehalte und Ideen von Bürgern
berücksichtigt worden.«(15)
»Wie ein Tsunami
trifft Stuttgart 21 die Planungswelt«, hat der frühere Berliner Senator Volker
Hassemer auf dem Hochschultag zur nationalen Stadtentwicklungspolitik gesagt.
Darin liegt die Erkenntnis, dass es nicht einfach ist, Planungshorizonte,
Bürgerdiskussion, Durchführung und Entscheidung zusammenzubekommen. Wenn also
etwas von den hoch in Kurs stehenden Grünen zu erwarten ist, dann ist es die
Einsicht, dass sie das zweifellos vorhandene Bedürfnis nach Konsens nicht
unterkomplex befriedigen können. Ihre historische Erfahrung liegt ja auch nicht
in der Ruhigstellung, sondern in der Aufwühlung von Problemen. Insofern könnte
die Annahme von Georg Seeßlen, bei den Grünen handele
es sich mit ihrer Konsensorientierung um das neueste konservative
Parteiprojekt, doch eine ideologische Schimäre bleiben.(16)
Wahr ist allerdings,
dass aus den heiß laufenden Erregungskurven gewonnene politische Profite
verloren gehen können. Zumal wenn in der Sache keine Wege oder Auswege gefunden
werden. Wie der Mannheimer Bürgermeister sagt: »Sie können Großprojekte heute
nicht mehr durchsetzen und parlamentarische Entscheidungen absichern, ohne ein
neues Verständnis von Zivilgesellschaft zu entwickeln.«
Doch findet diese Suchbewegung eines neuen Verständnisses vor dem Hintergrund
des Schwindens einer differenzierenden politischen Öffentlichkeit und
Diskussionskultur statt. In einer momentförmig zentrierten und hysterisierten medialen Konfliktabbildung und Meinungsmache
sind politische Verständigungen nicht eben leicht zu haben. Was für die
Massenmedien nicht spektakulär genug ist, kommt auch nicht vor.
Unter diesen
Bedingungen ist das Instrument des Plebiszits kein einfach zu handhabendes
Instrument. Die Stärken des Plebiszits liegen in der Abwehr von
bestimmten Projekten oder Vorhaben, also in der Zurückweisung. Die
Schwäche des Plebiszits liegt bislang darin, dass mit einer Minderheit von
Abstimmenden (im Verhältnis zu den Abstimmungsberechtigten) sich »falsche
Mehrheiten« vergleichsweise leicht durchsetzen können. Ein weiteres Problem
kommt hinzu: Das Gefälle zwischen Meinungsführern, sprechstarken Bürgerinnen
und Bürgern und einer nicht unbedeutenden schweigenden Minderheit (siehe
Hamburg) wird in Plebisziten meist nicht aufgehoben, sondern eher noch
verstärkt. Es geht also darum, weitere Schnittstellen in der Struktur von
Entscheidungsprozessen auf den verschiedenen Ebenen zu finden. Nicht wegen
eines billigen Konsenses zwischen unterschiedlichen Interessen, sondern wegen
der Kenntnis und Entscheidung über ihre unterschiedlichen Gewichte. Eine
spannende Aufgabe auch für starke Grüne.
1
In Frankfurt erfolgte
die Einstellung der Pläne in Absprache mit der Bahn und dem Land Hessen 2002.
Das Ende dieser Pläne für »Frankfurt 21« hat 2003 den Weg für das Projekt
»Frankfurt Rhein-Main plus« frei gemacht. Dieses sieht einen schrittweisen
Ausbau des Kopfbahnhofs vor, sagt Hessens Verkehrsminister Dieter Posch (FDP).
Das 2009 aktualisierte Konzept gilt als Richtschnur für den Ausbau des
Bahnverkehrs im Großraum Frankfurt und wird von Land, Stadt, Region und Bahn
mitgetragen. ? »Die Landesregierung ist überzeugt, dass mit dem Projekt die
Belange mindestens genauso, wenn nicht besser erreicht werden als mit Frankfurt
21«, sagt Posch. »Im Ergebnis wurde Frankfurt 21 als zu teuer, extrem
schwierig, langwierig zu realisieren und technisch nicht vorteilhaft aufgegeben«,
erinnert er sich. Den von der Bahn vorgelegten Zahlen habe er damals nicht
geglaubt. ? Zitiert nach »Echo online«, 24.10.10.
2
»Zahl der Einwohner
in Stuttgart bis 2025 weitgehend stabil. Neue städtische Langzeit-Prognose
liegt vor«, Stadt Stuttgart, 21.12.09. ? In diese Stabilisierungserwartung geht
das Projekt 21 mit seinen neuen Wohnvierteln ein. Ob diese Erwartungsgrundlagen
zutreffend sind, bleibt fraglich.
3
»Geistige Kessellage.
?Der große Wurf? und das kleine Zeitfenster: Warum Stuttgart 21 an einem
unheilbaren Mangel leidet. Ein überfälliger Rückblick«, SZ, 19.10.10. ?
Auch in: Stuttgart 21. Die Argumente, Köln 2010. ? Zielcke
weist auch nach, dass die »Unterstellung, dem heutigen Konflikt sei ein
hinreichender Zeitraum demokratisch offener Entscheidungsfindung
vorausgegangen, historisch schlichtweg falsch ist«.
4
Auf der Website der
österreichischen Tageszeitung Der Standard werden die wesentlichen
Projektbedingungen in Beiträgen erläutert. Auch die Wiener Begleitumstände sind
wohl nicht frei von Planungsfehlern, Bürokratie und Verbandlungen bei der
Projektvergabe.
5
Sebastian Beck: »Die
Zukunft der Bahn«, SZ, 22.10.10.
6
Hintergründe und
Kritik des Projektes finden sich aufgearbeitet und gebündelt in: Wolfgang Schorlau (Hrsg.): Stuttgart 21. Die Argumente, Köln
(KiWi 1212) 2010.
7
Dirk Kurbjuweit: »Der Wutbürger«, Spiegel 41/10.
8
Ebenda.
9
»Worum es wirklich
geht«, weiß Gerd Held (Die Welt, 11.10.10) genau: »Jedem Anfang wohnt
eine Willkür inne. Doch gäbe es ohne diesen kritischen ersten Moment kein
größeres Projekt, das weit in Raum und Zeit ragt. Um über diese Schwelle
hinwegzukommen, braucht jede große Infrastruktur den Schutz des Rechtsstaates
unter Aufsicht des Parlaments.« Gerade diese Aufsicht
hat allerdings nicht stattgefunden.
10
Michael Miersch: »Utopie des Stillstands« (Die Welt,
22.10.10.) ? Miersch und Held sehen auch im
Widerstand gegen die Aufkündigung des Atomkompromisses eine Verkennung des
größeren Maßstabes und eine Beharrung auf den Stillstand. So werden die
erneuerbaren Energien zugleich in einen kleineren Maßstab verwandelt. Die
gewaltigen Folgekosten des Weiterlaufens der Atomanlagen werden von ihnen
ebenso wenig in die Kostenrechnungen einbezogen wie die einstige staatliche
Vorfinanzierung der Atomtechnologie. Sie rechnen so, wie es ihnen zupasskommt.
Interessant auch, dass der Vertragsbruch des rot-grünen Laufzeiten-Kompromisses
begrüßt wird, während ihnen bei »Stuttgart 21« schon die Überprüfung der
Vertragsgrundlagen als Zumutung erscheint.
11
»Der verletzte Stolz.
Über die Ausschaltung der Bürger in Demokratien«, Spiegel 45/10.
12
Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand, Hamburg (Edition
Nautilus) 2010. Das französische Original ist 2007 bzw. verändert 2009
erschienen. ? Die explizite Kritik eines französischen Nationalismus und
Staatsverständnisses erhellt den tiefen Graben zwischen den »anerkannten
Bürgern« und den »Anderen« aus den Vorstädten. Die suggestive Beschreibung der
niedrigen Instinkte der neoliberalen Lebenswelten, die durch einen »kommenden
Aufstand« ausgehend von den Vorstädten (nicht Paris!) hinweggefegt werden
sollen, kann bei allem sprachlichen Esprít jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein hoch verzweifeltes wie
selbsterhöhendes Dokument handelt.
13
Heribert Prantl: »Die Apfelbaum-Demokratie«, SZ, 18.10.10.
14
Siehe Anna Latsch:
»Bürgerhaushalt ? ein Mittel gegen Politikverdrossenheit«, Kommune 5/10,
S. 20.
15
FAZ, 22.10.10.
16
Georg Seeßlen: »Die Konsenspartei«,in: Freitag 45, 11.11.10. ? Seeßlen folgt hier, unter etwas veränderten Umständen, der
langen Traditionslinie vom »Verrat am
Klassenstandpunkt«.