Balduin Winter
USA ? Imperium in
Schräglage
Die Jagd ist vorbei, die Hunde bellen
weiter. Zu ebener
Erde spielte sich weniger ein Werben um politische Programme denn eine oft mit
schrillen Tönen geführte »Schlammschlacht« ab: Bei den »Midterms«
in den USA mit dem »erdrutschartigen Sieg der Republikaner« (The Nation,
8.11.) wurde Barack Obama von den Anhängern der Tea Party und ihrem
Wahlstrategen Karl Rove (der schon Bush jr. managte)
als »arroganter Kenianer« verhöhnt, Sarah Palin und
Christine O?Donnell mit Obszönitäten bedacht ? »Mama Grizzly« klang vergleichsweise sympathisch für die
Ex-Gouverneurin von Alaska. Gipfel oder Tiefpunkt der rechten Kampagne war aber
der Sticker mit Obama als Hitler (Sunday
Times, 6.11.).
In der ersten
Etage, in den Medien, herrschte »november fog«, so ein lakonischer Blogeintrag bei Mother Jones
(2.11.), in der reichlich und anonym fließende Spenden aus der »Plutokratie«
(Kraft Foods, Rupert Murdoch ?) als »Geldwäsche« bezeichnet werden. Auf der
»blauen« Seite, bei den Demokraten, wird teils beschönigt, teils scharfe Kritik
gegen die eigene Regierung erhoben (»zu wenig Reform, zu wenig Kampfgeist«, The
Root, 4.11.), zumal Obama, so Slate (10.11.), mit besten
Medienreferenzen angetreten, ein »überraschend feindliches Verhältnis zur
Presse hat wie kaum ein Präsident der Vergangenheit«. Das ist, man muss das Fox
News-Kampfprogramm nur fünf Minuten sehen, zumindest kein Henne-Ei-Problem.
Die feinere Klinge führt Charles Krauthammer im strammen The National Review
(5.11.), der mit coolem Zynismus »die Rückkehr zur Normalität« feststellt,
nachdem bei den letzten Wahlen 2006 und 2008 »historische Ereignisse« das Land
erschüttert haben: Kriegsmüdigkeit und die Krise. Nun käme einfach wieder alles
ins (republikanische) Lot, wie damals, 1946. So ist es, wenn sich ein Präsident
»nicht an die Spielregeln hält«. Die Spielmetapher erfreut sich einiger
Beliebtheit. Der Altliberale John B. Judis enthüllt
in The New Republik das üble Spiel republikanischer Präsidenten mit
Staatsbehörden wie der Klimaschutzorganisation (EPA), der beruflichen
Sicherheits- und Gesundheits-Verwaltung (OSHA), der Börsenaufsichtsbehörde
(SEC) und der Arbeitskraft- und Verbraucherschutz-Agentur (OIRA); Obamas
Restaurationsarbeiten seien eine »stille Revolution«, die allerdings unbelohnt
bliebe.
Dagegen malt
Robert Reich, unter Clinton Arbeitsminister, in der Novemberausgabe von The
American Interest die Tee-Apokalypse an die Wand, wenn er über den Wahlsieg
des Tea-Party-Kandidaten 2020 reportiert: »Die
Plattform der Unabhängigkeits-Partei ist klar und kompromisslos: Nulltoleranz
bei illegalen Immigranten; Einschränkung der legalen Immigration ? Erhöhte
Schutzzölle auf alle Importe; ein Verbot für amerikanische Firmen, die ihre
Betriebe in ein anderes Land verlegen oder ins Ausland auslagern. ? Amerika
tritt aus der UNO, aus der WTO, aus der Weltbank und aus dem IWF aus, beendet
alle Einsätze im Ausland, lehnt es ab, mehr Zinsen auf unsere Schulden in China
zu zahlen ...«
Hinter der Coolness und Bissigkeit
spürt man Verunsicherung.
Während der alte Stratege Krauthammer die alten Traditionen beschwört, wird
Reich in seiner »Science Fiction« deutlicher. Dazu gehört der Rückzug in den
konservativen Traum alter »Splendid Isolation« ? ein
reaktionäres Aufwärmen des 19. Jahrhunderts. Zumal sich die aktuellen Brüche
nicht mehr kitten lassen. Die allgemeine Unsicherheit darüber, welchen Platz
heute die Vereinigten Staaten einnehmen, sitzt tief und zeigt sich in
dauerhaften Spaltungslinien. Für die Demokraten ist es kein Trost, dass sich
die Republikaner de facto gespalten haben. Die Tea Party verfügt über 3000
ständige, mit festen Mitarbeitern besetzten, Büros und will zu den nächsten
Präsidentenwahlen mit eigenen Kandidaten antreten (Atlantic
Monthly, Nov. 2010). Die jüdische Zeitschrift Tikkun schlägt den Demokraten, ähnlich wie Thomas
Friedman in der New York Times (eine neue »Partei der radikalen Mitte«),
ebenfalls ein »Mehrparteiensystem« vor ?
Robert Reichs
anfängliches Pamphlet mausert sich dann doch noch zum veritablen Essay. Er
setzt bei »der Wirtschaft« an, aber nicht so kurzsichtig wie manche linke Demokraten,
die nun Obama heftig kritisieren, er habe sich zu sehr in sein »Luxusprojekt«,
die Gesundheitsreform, verstiegen und zu wenig gegen die Arbeitslosigkeit
getan. Wie etwa Eliot Spitzer, Exgouverneur von New York, der scharfe Angriffe
gegen Obama richtet (Slate, 3.11.), von 20 Prozent realer
Arbeitslosigkeit spricht, von Nachgiebigkeit gegenüber den »Wall
Street-Göttern« und von Fehlen von Wirtschaftskonzepten, deren Zentralpunkt die
Schaffung von Arbeitsplätzen sein müsste. Aber sein Sechs-Punkte-Programm ist
selbst konzeptlos: Wie soll die marode US-Wirtschaft plötzlich massenhaft
Arbeitsplätze schaffen?
»It?s the economy
?«, wurde bis zur Stupidität von allen Seiten vorgebetet. Aber zwanzig Jahre
nach Clinton ist die Wirtschaft eine andere geworden. Natürlich konnten über
sinkende Arbeitslosenraten Wahlen gewonnen werden, das dekliniert Robert Reich
an einigen Wahlen seit Ronald Reagan durch, doch ist dies kein durchgängiges
Muster; gerade die Bush-Ära fällt durch politische Leidenschaften auf.
Der Kreislauf
von Produktion und Konsumtion funktioniert nach Reich nicht mehr wie einst.
Früher konnten die USA aus dem Eigenen schöpfen, im Vergleich mit anderen
Ländern auf hohem Niveau ihren Binnenmarkt abschöpfen und noch exportieren.
Dabei gab es trotz allen Reichtums der Reichen noch ausgewogenere
Einkommensverhältnisse. Daher die hohe US-Konsumrate. Heute haben sich nicht
nur die Strukturen der Wirtschaft stark gewandelt, sondern auch das Verhältnis
von Reichtum und Armut: »Das Spielfeld ist gekippt«, denn die enorm gewachsene
Ungleichheit habe enorme Auswirkungen in allen Bereichen der Gesellschaft,
Lebenshaltung, Arbeit, Bildung, Gesundheit. Die Demokratie neige dazu, »sich in
eine Plutokratie zu verwandeln«. Die Politik arbeite der Wirtschaft zu. Nicht
nur entzögen sich die globalen Konzerne (»Räuberbarone«) jeder Kontrolle, auch
sei Wall Street eine große Geldwaschanlage geworden, dank der »opulenten«
Großzügigkeit der SEC, der Bankenaufsicht, und des politischen Lobbyismus: In
den Siebzigern waren »drei Prozent pensionierte Mitglieder des Kongresses
Washington-Lobbyisten. Doch 2009 machten aufgrund der enormen finanziellen
Anreize schon mehr als 30 Prozent diesen Job.« Weiter
zeigt Reich, dass der Konsum der Reichen kaum mehr in Investitionen, sondern
vorwiegend in Finanztransaktionen fließe, Anschub sowohl für die Finanzblase
2008 als auch für die 2009 schon wieder historisch einmaligen Risikogewinne.
Die Verwaltung in Washington diene als oberster Prügelknabe, obwohl doch ohne
ihre milliardenschweren Sicherheitsmaßnahmen Anarchie und Bürgerkrieg herrschen
würden.
Denn, das ist
Reichs springender Punkt, bisher war der Reichtum in den USA ein »den Ehrgeiz
anspornendes Element«. Das habe wesentlich mit den Leader-Perspektiven des
Landes zu tun. »Möglicherweise ist der härteste Verlust für Mittelstands-Amerikaner
die enttäuschte Erwartung, dass die Zukunft materiell besser wird. Wir sind an
persönlichen Aufstieg gewöhnt, übertreffen uns gegenseitig und schauen nach
oben. Mittelstands-Amerikaner haben lange angenommen, dass harte Arbeit eine
bessere Zukunft für sie selbst sicherstellt, besonders für ihre Kinder. Was
geschieht in einem Amerika, in dem Optimismus eine Art Nostalgie wird?«
Das beschäftigt schon seit Längerem im
Amerika-Haus die Etage
der Wissenschaftler und Intellektuellen. In den letzten Jahren ist dazu eine
reiche Literatur des US-amerikanischen Aufstiegs und Niedergangs erschienen.
Niall Ferguson hat im März dieses Jahres in Foreign
Affairs einen Essay »Komplexität und Kollaps.
Reiche am Rande des Chaos« publiziert, der einen historischen Abriss von
Theorien über die Karrieren von Großmächten gibt. Er nennt unter anderem Vico,
Hegel, Spengler und Toynbee. Sein Angelpunkt ist die 1987 erschienene Arbeit
Paul Kennedys, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Zahlreiche Autoren
zuvor gingen von einem zyklischen Verlauf einigermaßen gleichförmiger Phasen
aus. Mit seiner These des »imperial overstretch« als
ein allgemeingültiges Phänomen zeigte Kennedy jedoch eine andere Verlaufsform
auf. Komplexe Systeme können stabil erscheinen und dennoch plötzlich »abstürzen«,
und das erstaunlich schnell. Ferguson geht es um die Sichtweise auf Ereignisse:
Wie Historiker komplexen Prozessen im Nachhinein über die ohnehin schon
undurchschaubaren Vorgänge oft weit zurückreichende Deutungsmuster geben; wie
sie sozusagen über die Schroffheit jäher Brüche ihre Erzählung wie eine weich
zeichnende Folie darüberlegen. »Was«, fragt Ferguson, »wenn die Geschichte
nicht zyklisch und langsam, sondern arhythmisch ist ?
manchmal fast stationär, aber dann wieder fähig, plötzlich zu beschleunigen wie
ein Sportauto? Was, wenn ein Fall einige Jahrhunderte lang nicht zustande
kommt, dann aber plötzlich wie ein Dieb in der Nacht?«
Keine
beruhigende Antwort für die geplagte amerikanische Seele. Viele wenden sich da
lieber jenen zu, die ihnen einfache Botschaften vermitteln, den Predigern der
Tea Party, den Predigern der evangelikalen Kirchen.
Allerdings
gibt es auch einfache Wahrheiten, die niemand hören möchte. Die Amerikaner
leben über ihre Verhältnisse. Stephen King, Chefvolkswirt der HSBC Group (London)
charakterisiert die Situation der USA im Vergleich zu England: »Edward VII.,
englischer König, würde, die globale Szene zu Beginn des 20. Jahrhunderts
überblickend, sicher festgestellt haben, dass Großbritanniens dominierender
Status in der Weltwirtschaft absolut sicher sei. Er lag falsch damit.
Großbritanniens Ende war eine der größten Geschichten des 20. Jahrhunderts. Die
hervorragende Supermacht der Welt vor 100 Jahren ist jetzt eine verhältnismäßig
geringe ? Nation an den Rändern von Europa.« (Forbes,
16.10.) Heute verschieben sich die »politischen Kontinentalplatten« noch einmal,
die Weltmachtposition »gleite langsam weg«. Sichtbar in der wachsenden Schuldenabhängigkeit.
Den Abstieg könnten die USA nur durch Sparen hinauszögern.
In dieser Etage ist man immer auch für
den großen Überblick zuständig.
Den liefert Richard K. Betts im Novemberheft der Foreign
Affairs (»Konflikt oder Zusammenarbeit?«), wenn er die letzten zwanzig Jahre intellektuell Revue
passieren lässt. Drei große »Modelle der Zukunft« haben die US-Intellektuellen
Francis Fukuyama, Samuel Huntington und John Mearsheimer geliefert. In ihren drei Büchern kommt, so
Betts, der »Spannungsbogen der Volksweisheit« zum Ausdruck. Nach dem Ende der
großen ideologischen Konflikte präsentiert Fukuyama
mit dem Ende der Geschichte die optimistischste Vision. Für Betts ist Fukuyama, der oft
Fehlinterpretierte, der intellektuelle Vertreter des Sieges der liberalen
Demokratie auf dem ideologischen Schlachtfeld des 20. Jahrhunderts, auf dem die
Vereinigten Staaten eine konkurrenzlose Position erringen. Aber der »unipolar moment« erscheint schon für Huntington im Kampf der
Kulturen gefährdet. Reitet Fukuyama oben auf der
liberalen Welle, sieht Huntington den Wellenkamm mitten in einem Meer von
(religiös präformierter) Kulturen. Der momentane Sieg
könnte sich bald relativieren mit der »stufenweise Abnahme im Verhältnis zu
anderen Zivilisationen, besonders jenen in Asien«. Fared
Zakarias »Der Westen und der Rest der Welt« (in: Der
Aufstieg der Anderen, Berlin 2009) ist bei Huntington skeptisch vorformuliert,
allerdings nicht so appellhaft und optimistisch wie beim Newsweek-Herausgeber.
John Mearsheimer wiederum, Verfasser von The Tragedy of Great Power Politics,
»schüttet kaltes Wasser auf den Sieg im Kalten Krieg. Wider den landläufigen
Optimismus argumentiert er als klassischer Realist, dass in den internationalen
Beziehungen das alte Konkurrenzprinzip auch weiterhin die Grundlage der
Machtkämpfe sein wird«.
Im Ausblick
äußert sich Betts selbst eher pessimistisch. Alle drei genannten Autoren hatten
bestimmte Möglichkeiten einer doch eher mehr als weniger kooperativen Weltordnung
zu skizzieren versucht. Was US-amerikanische Wirtschaftsideen und die Außenpolitik
zu bieten haben, erscheint ihm nun zu kurzsichtig und tagespolitischen Opportunitäten
unterworfen. Aber »der Liberalismus à la Davos und der militante Neokonservatismus
sind heute überaus einflussreich« und verhindern vernünftige politische
Schlussfolgerungen zur schwierigen Lage, in der sich heute die USA befinden.
Dabei wäre »eine vierte Vision« gefragt.