Lothar Probst

 

Volkspartei der modernen Mitte?

 

Das ökologische Gewissen oder: Wo jenseits von Trends die stabile Basis der Grünen liegen könnte

 Die Grünen im Hoch ? das ist nicht nur einer kurzen Konjunktur als »Wohlfühlpartei« geschuldet, nur schnell vergängliche Ernte einer Enttäuschung über aktuelles Regierungsversagen. Unser Autor verweist auf den längerfristigen elektoralen Trend vor allem in den Ballungsräumen der neuesten Moderne. Und auf Fähigkeiten der Grünen in Bezug auf Themen, Teamwork und Offenheit, die gegenüber erstarrtem Traditionalismus anderer Parteien glaubwürdig wirken.

 

Wenn die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und der Spiegel auf mehreren Seiten ihre Titelgeschichten dem gegenwärtigen Höhenflug der Grünen widmen, dann kann man getrost davon ausgehen, dass die Grünen in der öffentlichen Wahrnehmung gegenwärtig einen herausragenden Platz einnehmen. Tatsächlich scheinen die Grünen im Moment vor Kraft nur so zu strotzen. Seit mehreren Wochen erreichen sie in Umfragen Spitzenwerte von 20 Prozent, und in einigen Bundesländern nähern sie sich sogar der 30-Prozent-Marke. Schon wird über die Grünen als neue »Volkspartei« diskutiert.

Obwohl die Grünen solche Zuschreibungen von sich weisen, hört man neue Töne von ihnen. So sagte Renate Künast jüngst in einem Interview: »Dass wir die linke Mitte sind, heißt nicht, das wir allein die kurzfristigen Interessen der Mitte vertreten. Sondern uns geht?s ums Ganze, wir machen Politik fürs ganze Land. Wir sind eigenständig, aber unsere Fenster und Türen sind offen, und wir scheuen uns nicht, da auch durchzuschauen und zu sehen, was in welcher Konstellation am besten geht. Unsere inhaltlichen Schnittmengen sind mit der SPD am größten, aber wer mit uns zusammenarbeiten will, wird dies auf gleicher Augenhöhe tun müssen. Eigenständig heißt, im entscheidenden Moment auch mal Nein sagen zu können (Welt, 24.6.10)

Die Rede von der »neuen grünen Volkspartei« korrespondiert in den Medien zugleich mit der skeptischen Frage, ob es sich bei dem Stimmungshoch der Grünen nicht um eine künstliche »Blase« handele, die bei nächster Gelegenheit genauso schnell platzen könne, wie der elektorale Höhenflug der FDP bei der Bundestagswahl 2009 nach ihrem Regierungseintritt in sich zusammengebrochen sei. Die Grünen würden als »Wohlfühlpartei« vor allem von der allgemeinen Enttäuschung über die schwarz-gelbe Regierungskoalition sowie den aufflammenden Protesten gegen die Atomzeitverlängerungspläne der Regierung profitieren. Kurzfristige Analysen und Diagnosen dieser Art tun so, als sei der demoskopische Höhenflug der Grünen vom Himmel gefallen und hätte im Prinzip keine substanzielle Unterfütterung in der Wählerschaft. Ohne Zweifel spielen auch konjunkturelle Faktoren wie die internen Konflikte der Regierungskoalition, die Schwäche der SPD, die immer noch an den Folgen der Großen Koalition laboriert, die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 und die wiederbelebte Anti-Atomkraft-Bewegung den Grünen in die Hände, aber als Erklärung für das Stimmungshoch greifen sie zu kurz.

 

Stabiler elektoraler Trend nach oben

»Konjunkturelle« Erklärungen blenden aus, dass sich die gegenwärtigen Umfragewerte für die Grünen in einen stabilen Trend einreihen, der ihnen bereits seit Längerem in bestimmten Bevölkerungssegmenten und Regionen Ergebnisse um die 20 Prozent und mehr beschert. Obwohl Europawahlen wegen der geringen Wahlbeteiligung eine nachgeordnete Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielen, sind sie ein guter Gradmesser für die elektoralen Stärken der Grünen. Besonders bei diesen Wahlen gelingt es ihnen, ihre gebildete und europapolitisch interessierte Wählerschaft im Unterschied zu allen anderen Parteien optimal zu mobilisieren und in Universitäts- und Großstädten Ergebnisse zwischen 20 und 30 Prozent zu erzielen.

Überhaupt sind urbane und entwickelte Regionen mit einer starken bevölkerungspolitischen Verdichtung und Durchmischung, Universitäten, vielfältigen Bildungseinrichtungen, Kulturzentren sowie einem hohen Anteil der sogenannten Kreativwirtschaft die Hochburgen der Grünen. Hier konkurrieren sie nicht nur bei Europawahlen in verschiedenen Stadtvierteln mit den Volksparteien fast auf gleicher Augenhöhe. Bei der Bürgerschaftswahl 2007 in Bremen erzielten die Grünen selbst in den traditionell bürgerlichen Wohn- und Villenvierteln Bremens 20 Prozent Stimmenanteile. In Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen und Konstanz stellen die Grünen den Bürgermeister, und in Stuttgart verpasste Cem Özdemir bei der letzten Bundestagswahl mit 29,9 Prozent nur knapp das Direktmandat (also längst bevor Stuttgart 21 ein öffentliches Protestthema wurde).

Aber selbst in vielen kleineren und mittleren Städten der bundesdeutschen Flächenstaaten zeigen die Wahlergebnisse für die Grünen inzwischen Ausschläge zwischen 10 und 20 Prozent. Überdurchschnittlich gut sind des Weiteren die Wahlergebnisse bei den gebildeten und besserverdienenden Wählern sowie in den jüngeren Alterskohorten. Unter Hochschulabsolventen und Wählern mit Hochschulreife beträgt der Wähleranteil 18 sowie 16 Prozent. In der Altersgruppe der beruflich etablierten und erfolgreichen 45- bis 59-Jährigen erfahren die Grünen mehr Zuspruch als CDU und SPD. Bei den 18- bis 45-Jährigen schließlich lag das durchschnittliche Wahlergebnis der Grünen bei der letzten Bundestagswahl bei circa 14 Prozent.

Die von der Parteien- und Wahlforschung noch vor einigen Jahren vertretene These vom »Ergrauen der Grünen« und von einer nachlassenden elektoralen Unterstützung unter jüngeren Wählern hat sich also nicht erfüllt. Im Gegenteil: das »Ergrauen« hat unter Wählern noch gar nicht richtig eingesetzt. Gerade das unterdurchschnittliche Abschneiden bei den über 60-Jährigen, die aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft einen immer größeren Teil der Wählerschaft stellen werden und darüber hinaus häufiger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen als jüngere Alterskohorten, drückt die Grünen bisher bei Wahlen noch nach unten. Da aber ein Teil der grünen Wählerschaft langsam in die Altersgruppe der über 60-Jährigen aufrückt, werden sich die Wahlergebnisse hier zukünftig eher verbessern.

Alles in allem haben sich die Grünen über 30 Jahre fest in verschiedenen Milieus und Bevölkerungssegmenten verankern und ihre elektorale Basis erweitern können. Gleichwohl sind sie von einer klassischen Volkspartei, die alle Schichten der Bevölkerung anspricht, noch weit entfernt. Ihre Kernwähler rekrutieren sich aus Beamten, Angestellten und zunehmend auch Selbstständigen, die überwiegend aus dem Bereich der sogenannten kreativen Berufe und der Humandienstleistungen kommen, während Arbeiter deutlich unterrepräsentiert sind. Da der Typus der klassischen Volkspartei, die sich auf historisch gewachsene gesellschaftliche Milieus stützt, angesichts der Erosion dieser Milieus immer stärker unter Druck gerät und an Substanz verliert, könnte man die Grünen angesichts der Konzentration ihrer Wählerschaft in der Mitte der Gesellschaft mit etwas Wohlwollen als »Volkspartei der modernen Mitte« bezeichnen.

Obwohl der gegenwärtige Höhenflug der Grünen auf einer soliden elektoralen Ausgangsbasis beruht, lässt er sich angesichts eines von den Umfrageinstituten gemessenen Stammwähleranteils zwischen 8 und 10 Prozent nur unter Zuhilfenahme weiterer Faktoren erklären.

 

Die Grünen als Teamplayer

Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist die Art und Weise, in der sich gegenwärtig die grüne Parteielite präsentiert. Als Joschka Fischer 2005 die politische Bühne verließ, sah es zunächst so aus, als würden sich die Grünen in Führungskämpfe verstricken. Aber im Laufe der Legislaturperiode gelang es, die Konkurrenz in geordnete Bahnen zu lenken und stattdessen Teambildung zu betreiben. Renate Künast und Jürgen Trittin einigten sich auf eine gemeinsame Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl 2009, und auch der Übergang an der Parteispitze von Reinhard Bütikofer zu Cem Özdemir verlief reibungslos. Heute präsentieren sich die Grünen an der Spitze als eine Partei mit vielen Köpfen, die durch ihre unterschiedlichen Profile verschiedene Wählersegmente ansprechen: Claudia Roth als »bunter Vogel«, die auch die emotionale Seite der Politik repräsentiert, Cem Özdemir, der als »türkischer Schwabe« die Attraktivität der Grünen (nicht nur) für Migranten widerspiegelt, Renate Künast, die die Partei in Richtung bürgerliche Mitte weiter geöffnet hat und mit ihrer forschen Art zu punkten weiß, sowie Jürgen Trittin, der mit zunehmendem Alter seine strategischen Fähigkeiten mit größerer Ruhe und Gelassenheit in die Waagschale wirft.

Gleichzeitig haben die Grünen ihre Parteistrukturen professionalisiert und mit dem Parteirat ein relativ überschaubares Gremium geschaffen, mit dem aufkommende Konflikte bereinigt sowie Grundsatzfragen im kleinen Kreis vordiskutiert werden können. Strömungskonflikte haben insgesamt an Bedeutung verloren und werden schon im Vorfeld durch die interne Kommunikation der Parteielite untereinander entschärft. Vor diesem Hintergrund heben sich die Grünen als Teamplayer tatsächlich positiv von den anderen Parteien ab, die gegenwärtig alles andere als teamfähig aussehen.

 

Koalitionspolitische Öffnung und Offenheit

Auch neue Wege in der Koalitionspolitik seit der Bundestagswahl 2005 haben den Grünen Kredit in der gesellschaftlichen Mitte eingebracht. Die Bildung der schwarz-grünen Koalition in Hamburg (und ihre bewusste Fortsetzung nach dem Rücktritt von Ole von Beust) sowie der Jamaika-Koalition im Saarland haben deutlich gemacht, dass die Grünen gewillt sind, sich koalitionspolitisch neue Optionen zu erschließen. Daran haben auch der Ausgang der NRW-Wahl, der den von den Medien immer wieder ins Spiel gebrachten zukünftigen schwarz-grünen Koalitionsphantasien schlagartig den Boden zu entziehen schien, sowie die Aufstellung von Joachim Gauck als gemeinsamer Kandidat zur Bundespräsidentenwahl wenig geändert.

Am 11. August, wenige Wochen nach der Bundespräsidentenwahl, führte die taz ein Interview mit dem SPD-Parteivorsitzenden Gabriel, in dem dieser die Grünen frontal angriff: »Die Grünen (müssen) irgendwann ? die Frage beantworten, wofür sie am Ende stehen wollen. Die von den Grünen immer wieder beschriebene Äquidistanz, der gleiche Abstand zu SPD und CDU, lässt diese Frage offen. Wollen sie eine rechtsliberale Politik, bei der sie Gemeinsamkeiten mit den Konservativen im Naturschutz und in der Umweltpolitik suchen, dafür aber sozial- und gesellschaftspolitisch nichts durchsetzen können Und auf die Frage der taz, ob er den Grünen Opportunismus vorwerfe, antwortete Gabriel: »Nein. Aber zu sagen ?wir wollen regieren ? egal mit wem? führt sicher nicht dazu, dass sich Menschen wieder mehr für Politik interessieren.« Außerdem warf er den Grünen vor, sich nur für »vermeintliche Wohlfühlthemen« zuständig zu fühlen.

Die Antwort der Grünen auf dieses Interview ließ nicht lange auf sich warten. Der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, konterte bereits einen Tag später, als er in der taz (12.8.10) sagte: »Sigmar Gabriel hat genug damit zu tun, das sozialdemokratische Schiff auf Kurs zu bringen, bevor er anderen die Richtung weisen kann.« Außerdem führte er aus, dass die SPD zwar inhaltlich den Grünen näher stehe als die CDU, dass es aber auch weiterhin keinen Koalitionsautomatismus geben werde. Schließlich stehe die SPD für die Abwrackprämie ohne jegliche ökologische Lenkungswirkung, für Kohlekraftwerke und für das Milliardengrab Stuttgart 21 in Baden-Württemberg.

Dass hinter dieser Einstellung durchaus kein kurzfristiges Abgrenzungskalkül der Grünen steht, um sich auf Kosten der SPD zu profilieren, sondern eine Haltung, die das gewachsene Selbstbewusstsein der Grünen und ihre gestärkte Stellung im Parteiensystem reflektiert, machte vor Kurzem auch Ralf Fücks, Vorsitzender der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitglied des Parteirats der Grünen, deutlich, als er sagte: »(Die Grünen) definieren sich über ihre politischen Projekte, nicht über Koalitionen. Die Grünen sind heute eine eigenständige politische Strömung, die sich von der Sozialdemokratie ebenso unterscheidet wie von den Christdemokraten und dem Liberalismus Marke FDP. So können sie gelassen koalitionspolitische Optionen prüfen ? was nicht heißt, dass alles geht.«

 

Die Grünen als Repräsentanten des ökologischen Gewissens der Gesellschaft

In dem Puzzle zur Erklärung des gegenwärtigen grünen Höhenflugs darf ein Punkt nicht fehlen: Die Fähigkeit der Grünen, das ökologische Gewissen der Gesellschaft zu repräsentieren, ohne die Wähler mit fundamentalen Zumutungen in Bezug auf ihre Lebensweise zu verschrecken. In den Medien werden die Grünen in diesem Zusammenhang häufig ein wenig abfällig als »Zeitgeist-Partei« charakterisiert, und auch hinter der Etikettierung der Grünen als »Wohlfühlpartei«, die »immer da sind, wo es warm rauskommt« (Stefan Mappus in der FAS, 14.11.10) steckt der Vorwurf, dass die Grünen eigentlich nur an der software der Gesellschaft herumschrauben, sich aber drücken, wenn es um die hardware geht. Der Spiegel (15.11.10) treibt diesen Vorwurf auf die Spitze, wenn es über die Grünen heißt: »Dagegen sein und sonst im Ungefähren bleiben«.

Die Grünen mühen sich redlich, diesen Vorwurf zu entkräften und verweisen auf den Green New Deal, der viele konkrete Maßnahmen zum ökologischen Umbau der Industriegesellschaft enthält. Tatsächlich sind die Grünen programmatisch und konzeptionell heute sehr viel weiter als 1998, als sie ziemlich unbedarft in die Bundesregierung hineingestolpert sind.

Gleichwohl steckt in den Vorwürfen der Medien und der politischen Gegner auch ein Körnchen Wahrheit: Ihre Vorschläge zur ökologischen Modernisierung der Gesellschaft kommen heute in verträglichen Dosierungen daher. Die 1998 von einem Parteitag beschlossene Forderung, die Benzinpreise durch eine entsprechende Besteuerung auf 5 DM anzuheben, würde heute keinen Parteitag der Grünen mehr passieren. In der Präambel des Bundestagswahlprogramm 2009 heißt es zwar: »Wir können nicht länger so tun, als ob alles nichts mit der Art und Weise, wie wir wirtschaften und leben, zu tun hat. Die Krise ist Ausdruck einer Denkweise, die kurzfristige Profitinteressen über alles andere gestellt hat. Viele Gesellschaften haben über ihre Verhältnisse gelebt und mehr konsumiert, als es ihre eigene Leistungsfähigkeit eigentlich erlaubte.« Wenn es allerdings darum geht, Konsequenzen für die individuelle Lebensweise aus dieser Diagnose zu formulieren, bleiben die Grünen im Vagen. Schließlich gehören die Wähler der modernen Mitte, auch wenn sie im Bio-Supermarkt einkaufen gehen, zu den Teilen der Bevölkerung, denen individuelle Selbstverwirklichung und globale Mobilität eine Herzensangelegenheit sind. Gleichzeitig hat aber die Finanz- und Wirtschaftskrise in weiten Teilen der Gesellschaft die Zweifel an einer Politik des bloßen Weitermachens genährt und den traditionellen Fortschritts- und Wachstumsdiskurs zumindest unterminiert.

Die Stärke des Green New Deal liegt vor diesem Hintergrund nicht unbedingt in den verschiedenen Vorschlägen zum Umbau der Industriegesellschaft, die erst noch einen Realitäts- und Tauglichkeitstest bestehen müssten, sondern in der tröstlichen Botschaft, dass eine Versöhnung von Ökologie und Marktwirtschaft prinzipiell möglich ist. Oder, um noch einen Schritt weiter zu gehen: Die ökologische Modernisierung ist die Voraussetzung und der Schlüssel für ökonomische Innovation und die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den globalen Märkten. Insofern treffen die Grünen mit der Trias aus ökologischer Modernisierung, ökonomischer Vernunft und kultureller Liberalität gegenwärtig genau den Nerv der modernen Mitte. Es kann ihnen also letzten Endes egal sein, ob andere diese Verknüpfung unter dem Topos »Wohlfühlthemen« abhandeln. Solange sie die Ambivalenz einer Gesellschaft, die ihr ökologisches Gewissen beruhigen will, ohne ihre ökonomische Potenz und auf individuelle Selbstverwirklichung orientierte Lebensweise aufzugeben, glaubwürdig repräsentieren, wird dieser Vorwurf auch in Zukunft an ihnen abprallen und ihren Höhenflug kaum bremsen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2010