Herbert Hönigsberger
Konservative Ignoranz der Macht
Bürger pro Demokratie
Mit hehren Worten hat es auch der regierende
Konservatismus. Doch hinter »Augenmaß«, »Schöpfung« und »christlichen Werten«
tut sich längst ein tiefer Abgrund lebensweltlicher Entfremdung im Verhältnis
zu großen Teilen der Bevölkerung auf. Die lebensfernen Eliten folgen einem struktur- konservativen Modernisierungspfad enthemmter
Kapitalverwertung. Viele Bürgerinnen und Bürger sind ihnen da voraus ? auf
einem anderen Modernisierungspfad.
Gibt man den Deutungen der notorischen Umfragemehrheiten diesseits der Union
den richtigen Dreh, landet man bei einem altbekannten Schluss: Diese seltsame
Regierung passt nicht so recht zur majoritären
Grundstimmung und zur Mehrheitsmentalität. Wenn
überhaupt, dann stimmt die These von der unzeitgemäßen Regierung zuallererst
für Merkels wunderliches Ensemble. Der globalisierungsgestählte common sense der Mehreren verharrt trotz oder
gerade wegen aller politischen Auf und Ab, aller Krisen und ökonomischen
Konjunkturen grosso modo
im sozialdemokratischen Ideenkosmos. Das Soziale ist wichtig wie eh und je,
ebenso das Demokratische, versetzt mit einem neuen Schuss der alten Idee von
der Volkssouveränität, dazu das Ökologische. Das Konglomerat aus Konservativen
und Liberalen dagegen werkelt weitab von den Befindlichkeiten der Nation. Der
Zustand des organisierten Liberalismus muss jeden Freund der Freiheit
beunruhigen. Keineswegs so beunruhigend, aber erstaunlich ist die Auszehrung
des regierenden Konservatismus. Die konservativen Machteliten können
authentischen Konservatismus nicht mehr.
Zur Erinnerung: Der
letzte Aufschwung der konservativen Parteien war Folge der überschwänglichen,
nun aber abschwellenden Globalisierungseuphorie nach dem Sieg des Westens im
Kalten Krieg. Die siegesbesoffenen ökonomischen Eliten haben die konservativen
Parteien in ihrem Sog mit hochgezogen. Das Ende des Kalten Krieges und die
Dominanz der Konservativen korrespondiert mit einem Niedergang der
Sozialdemokratie. Die Zeiten, in denen sie erfolgreich die
Kalte-Kriegs-Dividende für ihre Klientel reklamieren konnte, weil die
herrschenden Eliten deren Umpolung auf Kommunismus fürchteten, sind vorbei.
Dahin ist die komfortable Position der Sozialdemokratie als Anbieter eines dritten
Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Doch das Drama geht
noch tiefer. Knapp 150 Jahre nach Gründung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins gibt es weniger denn je eine grundlegende Alternative zum
sozialdemokratischen Sisyphus. Kaum ein sozialer
Fortschritt in Europa, an dem nicht die Sozialdemokratie mitgewirkt hätte. Und
doch ist die Gesamtbilanz ernüchternd ambivalent. Aus der Ökonomie des Westens
ist die Weltökonomie geworden. Die kapitalistische Globalisierung erscheint,
wenngleich nicht im Detail, so doch im Großen und Ganzen praktisch und
einstweilen auch theoretisch alternativlos. Einzelne Kapitale und das
Finanzsystem sind mächtiger denn je. Erreichte soziale Standards auch nur zu
halten, kostet unendliche Mühen. Auf dem Bild »Die Flucht des Sisyphus« des ostdeutschen Malers Wolfgang Mattheuer
(1927?2004) stürmt der Sagenheld mit großen Schritten vom legendären Hügel und
blickt nicht mehr zurück. Offenbar hat er die Schnauze voll und findet, er sei
genug gestraft. Beim sozialdemokratischen Sisyphus
hat man den Eindruck, er habe sich ermattet davongeschlichen und eine Auszeit
genommen. Nicht auszuschließen, dass er mit altem Schwung wiederkehrt, wenn er
neu nachgedacht hat, wie der Stein zu wälzen sei. Resümieren wir. Das
konservative Regime zehrt von den Schwächen anderer.
Nicht wenige Medien haben den jüngsten Karlsruher
CDU-Parteitag
hymnisch abgefeiert. Anlass war die PID-Debatte, einerseits ein zäher, weil
hochgradig wissenschaftshaltiger Stoff. Andererseits steht es der Demokratie gut
zu Gesicht, dem menschlichen Leben von seinem allerersten Anfang an bis zum
Ende unbedingte und unteilbare Würde zuzuerkennen. Aber den Konservativen
glaubt man das so wenig wie vieles andere. Der feinen Gesellschaft ist die
Menschenwürde umso wichtiger, je weniger Kommunikationsfähigkeit und soziale
Ausdrucksmöglichkeiten das Menschenleben in seinen frühen Stadien bis in den
Mikrokosmos hinein hat. Je mehr aber das zunächst kaum fassbare, quasi
abstrakte menschliche Leben zur konkreten Person heranreift, in die
Gesellschaft kommt, ein soziales Wesen wird und ins bildungsfähige, ins
arbeitsfähige, schließlich ins zu überhaupt nichts mehr fähige Alter eintritt,
oder gar außerhalb des Geltungsbereichs der deutschen Leitkultur gezeugt wurde,
desto mehr steht die Menschenwürde zur Disposition.
Wohl wissen wir alle,
wie schwer es unter dem obwaltenden Regime von Kapital und Konkurrenz fällt,
der unumschränkt geltenden Leitidee von der Unteilbarkeit der Menschenwürde
praktisch Geltung zu verschaffen. Doch niemand verstößt tagtäglich so ungerührt
und ungeniert dagegen wie die konservativen Eliten an der Macht. Dieselbe
Haltlosigkeit im Großen. Die Schöpfung bewahren ? aber mit Augenmaß. Die
Einlassung des neuen Unions-Vize Norbert Röttgen am
Rande des Parteitags bringt den konservativen Grundwiderspruch auf den Begriff.
Der Rekurs auf die christliche Ideologie wird schon im nächsten Halbsatz
zurückgenommen. Mit Augenmaß, das heißt bekanntlich, die Schöpfung so
weit erhalten, dass der Kapitalismus nachhaltig auf seine Kosten kommt. Und
diesen großen Ressourcenverschlinger gleich mit, denn
der ist irgendwie auch Teil der Schöpfung. Konsequenz des Konstrukts ist, die
Atommeiler länger laufen zu lassen, um die regenerativen Energien zu fördern.
Das ist ungefähr so logisch, wie den Herd heizen, um die Suppe zu kühlen.
Wenn es eine Konstante des Konservatismus an der Macht
gibt,
dann die: gnadenlos beliebige Umdeutung und Relativierung von Grundwerten ? und
seien es die eigenen ? nach Okkasion und Opportunität. Bekanntlich geben die
Unionschristen wertegebundene Politik als ihr Gütesigel aus. Vehement
postulieren sie bei jeder Gelegenheit die Wertedebatte, beschwören Geltung und
Gültigkeit christlicher Werte. Doch der eigentümliche Minimalismus in der
Wertedebatte, wenn sie denn tatsächlich stattfindet, die Diskrepanz zwischen
der vehementen Forderung nach dem niedrigen Explikationsgrad und Gehalt der
Werte, wenn sie wirklich zur Sprache kommen, zeugen eher von normativem
Desinteresse, normativer Beliebigkeit, ja Haltlosigkeit des elitären
Konservatismus an der Macht. Seine Wertorientierung ist die Doppelmoral. Die
normative Dimension ist allenfalls taktisches Werkzeug in
Machterhaltungskalkülen.
Wertebindung wird als
allgemeine Grundhaltung und vor allem für andere postuliert, aber kaum als
Prinzip des eigenen Handelns ernst genommen. Christliche Werte sollen
universell gelten. Doch an konservative Politik die Messlatte von
Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Mitleid oder gar der Bergpredigt anzulegen, wird
als realitätsfern abgekanzelt. Freiheit, (Chancen-)Gleichheit, Solidarität und
Gerechtigkeit kommen im Weltbild konservativer Politiker nur in Schwundformen
vor. Und wenn schon gelegentlich Werte expliziert werden, dann sind es
sekundäre altdeutsche Allerwelttugenden wie Fleiß,
Disziplin und Durchhaltevermögen. So hat die so lautstarke wie hohle
konservative Wertedebatte vor allem zweierlei Signalfunktion. Die eigenen Leute
soll die schiere Häufigkeit kalmieren, in der das
Reizwort Werte gestreut wird. Und die weltoffeneren Zielgruppen sollen
durch inhaltsleere normative Allerweltsformeln nicht
weiter beunruhigt werden.
Besonders manifest wird der desolate intellektuelle
Zustand
des regierenden Konservatismus in den Reaktionen auf den Widerstand in
Stuttgart und Gorleben. Dort geht es weder nur um einen Bahnhof noch nur
um Müllcontainer. Dort verteidigen Bürger ihre Heimat, ihre natürliche wie
bebaute Umwelt, ihre Lebensweise, was sie für sich geschaffen, was sie erreicht
haben, das Vertraute, das Gewohnte, einen halbwegs störungsfreien Alltag, den
Rückzugsraum, in dem die Turbulenzen der Globalisierung erträglich werden.
Dieser lebensweltliche Konservatismus ist praktisch, nicht ideologisch. Er hat
eine Wertedimension und eine strukturelle Dimension. Es geht um die Bewahrung von
Strukturen, die einem etwas wert sind. Aber die Bürger verteidigen weder
ungerechtfertigte Privilegien noch einen obsoleten sozialen Status.
Es ist genuiner
Konservatismus, der sich in den Widerstandshandlungen vor Ort artikuliert. Die
organisierten konservativen Eliten sind nicht mehr imstande, diese
lebensweltlichen konservativen Triebkräfte aufzugreifen. Genau das ist das
Zeichen an der Wand, das den Niedergang ihrer Machtausübung ankündigen könnte.
Die Stuttgarter Bürger wollen nicht einfach zurück zu einem Status quo ante, sondern plädieren ? dafür steht ganz unabhängig von
der Realisierbarkeit das Modell K1 ? für eine behutsame Modernisierung. In
Gorleben plädieren die Akteure nicht für ein Zurück zu einer präatomaren fossilen Energieversorgung mittels Öl und
Kohle, sondern für eine hochtechnologische postatomare auf Basis regenerativer
Energieträger.
Gegenüber stehen sich
zwei Modernisierungspfade: Modernisierung im entfesselten und im domestizierten
Kapitalismus. Die Modernisierungsstrategien, deren Symbole der Widerstand in
Stuttgart und Gorleben sind, sind hochmodern und konservativ zugleich. Sie
mühen sich um die Kompatibilität mit der Lebenswelt, also um gesellschaftliche
Akzeptanz. Die Strategien S 21 und Laufzeitverlängerung werden von lebensfernen
Eliten vorgetragen, die sich selbst zwar als konservativ apostrophieren, aber
längst in eine sich selbst überschlagende, von der kapitalistischen
Globalisierung erzwungenen Modernisierung eingespannt sind. Das macht diesen
Herrn Mappus beispielsweise so unfähig wie unwillig,
die spezifische Melange zwischen konservativen und
progressiven Motiven seiner Gegner überhaupt wahrzunehmen und zu verstehen, dass die eigene, von den S- 21-Gegnern als
rücksichtslos empfundene Modernisierung das Elixier des lebensweltlichen
Konservatismus ist.
Der
Konservatismus der
Machteliten erschöpft sich im Machterhalt, reduziert sich auf den harten Kern
des Strukturkonservatismus, auf den Erhalt von Strukturen für die enthemmte
Kapitalverwertung. Der Konservatismus spaltet sich nicht nur in Struktur- und
Wertkonservatismus. Er scheidet sich auch in einen Konservatismus des
Machterhalts der Protagonisten eines entfesselten und den lebensweltlichen
inspirierten Wert- und Strukturkonservatismus der Protagonisten eines domestizierten
Kapitalismus. Letzterer ist im demokratischen Lager zu Hause.
In diesem Geflecht der Widersprüche zwischen
Modernisieren und Bewahren schält sich die Demokratiefrage als Schlüsselfrage
heraus. Mit beiden Modernisierungsstrategien korrespondieren unterschiedliche
Haltungen zur repräsentativen Demokratie. Die repräsentative Demokratie zu
beleben, plebiszitäre Elemente einzubauen: das ist die Stuttgarter Lehre der
behutsamen Modernisierer. Die strukturkonservativen Machteliten krallen sich an
eine formalistisch reduzierte repräsentative Demokratie, mit der sie sich
ertragreich arrangiert haben. Abzusehen ist, dass sich diese Frage als ein,
wenn nicht der Kristallisationspunkt des demokratischen Lagers eignet. So wie
die Fronten verlaufen, hat es Aussicht auf Erfolg, da es in dieser Frage wie in
vielen anderen auf konservative Kontrahenten trifft, bei denen sich die
Arroganz mit der Ignoranz der Macht paart. Wer den parlamentarisch
beschlossenen Atomkonsens aufkündigt, kann kaum mit bedingungsloser Akzeptanz
der eigenen parlamentarischen Beschlüsse rechnen, ebenso wenig wie diejenigen,
die das demokratische Grundprinzip der Reversibilität von Entscheidungen mit
der angeblichen Irreversibilität von Verträgen aushebeln wollen. Und die
diversen Einwände gegen Volksabstimmungen sind in sachgerechten Konstruktionen
allesamt aufzufangen. Der Widerstand konservativer Eliten gegen eine
sachgerechte Aufwertung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie durch
plebiszitäre Elemente ist ein Rückzugsgefecht.
In Stuttgart kann man
die Folgen der Wissensgesellschaft wie des demografischen Wandels gleichermaßen
besichtigen. Eine aufgeklärte Bürgerschaft, die gegen millionenschwere
Planungen absolut konkurrenzfähige Expertise auf Basis ehrenamtlichen
Engagements mobilisieren kann. Und Senior Advisers im
Ruhestand, die die geballte Erfahrung ihres Berufslebens einspeisen können. Man
muss den emeritierten Vorsteher des Stuttgarter Bahnhofs, der gegen S 21 ist,
gesehen haben, wie der die praxisfernen DB-Oberen über die Kapazitäten seines
Kopfbahnhofs und andere Vorzüge belehrt hat. Der Partizipationswillen, der sich
in der Stuttgarter Schlichtung ? diesem demokratischen Prototyp (Geissler) ?
Bahn bricht, wird sich nicht beugen lassen. Die plebiszitäre Aufwertung der
repräsentativen Demokratie ist eine Fahne, hinter der sich das demokratische
Lager sammeln kann. Der einzige Vorsprung des konservativen gegenüber dem
demokratischen Lager ist nur noch der Wille zur Macht.