Klaus-Peter Martin
Am Ende der Skala
Ein Bündel von realen Problemen ?
Integrationsdefizite türkischer Jugendlicher
Es gibt kein generelles
Integrationsproblem, wodurch sich Deutschland abschafft. Aber es gibt ganz konkrete
Probleme, bei denen angesetzt werden muss. Sie zu erkennen und zu benennen ist
die Grundlage, Änderungen herbeiführen zu können. Unser Autor, erfahren in der
Jugendarbeit mit Migrationshintergrund, zeigt die spezifischen Probleme im
Bereich der türkischen Jugendlichen ? und eröffnet damit Interpretations- und
Handlungsmöglichkeiten jenseits von Stigmatisierung und Verharmlosung.
Familienministerin
Schröder wurde im Internet als »deutsche Schlampe« beschimpft. Das ist nicht
schön und gehört sich nicht; nicht nur, weil sie Ministerin ist. In einem
Fernsehinterview empörte sie sich darüber, dass auf den Schulhöfen
Beleidigungen wie »Kartoffel« und andere abfällige Äußerungen gegenüber
deutschen Schülerinnen und Schülern üblich seien. Tatsächlich gibt es
deutschfeindliche Beschimpfungen und Verunglimpfungen unter Jugendlichen.(1)
Mobbing ist in Schulen verbreitet, am stärksten in Hauptschulklassen, und es
trifft nicht nur deutsche Schülerinnen und Schüler.(2) Neben »Schlampe«,
»Schweinefresser« oder »Nazi« sind auch »Opfer« oder »schwul« gebräuchliche
Schimpfworte unter den Heranwachsenden, mitunter auch »Jude«.
Anfang
Oktober hat die GEW in Berlin einen Kongress organisiert, der den »Streit um
die sogenannte Deutschfeindlichkeit« aufgriff. Bereits vor einem Jahr hatten
zwei Kreuzberger Lehrer ihre Erfahrungen beschrieben und von schlimmen
Zuständen auf dem Schulhof an Berliner Brennpunktschulen berichtet. Deutsche
Schüler empfänden sich als »abgelehnte, provozierte, diskriminierte
Minderheit«, heißt es da.(3) Nun werden auch Schülerinnen und Schüler mit türkischem
Migrationshintergrund von Angehörigen der gleichen Community mitunter als
»Streber« gehänselt, was darauf hindeutet, dass schichtenspezifische und damit
soziale Probleme ebenfalls eine Rolle spielen, genauso wie dies schlicht mit
den Mehrheitsverhältnissen in der Schule zu tun hat. »Gemobbt werden die
Minderheiten«, kommentiert Christian Pfeiffer, »das war schon immer so.« Wenn allerdings Verniedlichungen und Entschuldigungen
vorgebracht werden, deutschfeindliche Äußerungen und Taten seien lediglich die
Übernahme ethnisierender Zuschreibungen und die
Rückgabe erlebter Diskriminierungen, dann erscheint dies grotesk und
wirklichkeitsfremd.(4)
Bedingungslose Solidarität schützt vor
Ehrverlust
Mobbing ist
verbreitet. Es fällt aber auf, dass türkischstämmige Jugendliche seltener Opfer
von Mobbing werden als ihre Altersgenossen aus deutschen und anderen
Herkunftsfamilien. Türkischstämmige Jugendliche können eher auf ihre Freunde
zählen und sie stehen im Ruf, schneller zuzuschlagen. Wenn ein
türkischstämmiger Jugendlicher um Hilfe bittet, dann werden seine Freunde zur
Stelle sein ? ohne nachzufragen. Aufgrund ihres Verständnisses von Freundschaft
und eines Ehrbegriffs, der die Männlichkeit des Jugendlichen infrage stellt,
sollte er in einem solchen Fall nicht bedingungslose Solidarität zeigen, laufen
die Jugendlichen Gefahr, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.(5)
Das ist einer
von einer ganzen Reihe von Gründen, warum türkischstämmige Jugendliche bei der
Gewaltkriminalität überproportional auffallen.(6) Tatsache ist, dass türkische
Jugendliche dreimal so häufig wie deutsche Jugendliche Gewaltdelikte verüben
und in Jugendstrafanstalten dreimal so viele türkische Jugendliche im Vergleich
zu ihrem Bevölkerungsanteil einsitzen.(7) Aber auch ansonsten ? was
Bildungsbeteiligung, Schulabschlüsse, Integration ins Erwerbsleben und anderes
mehr angeht ? ist die Bevölkerungsgruppe mit türkischem Hintergrund die mit
Abstand am schlechtesten integrierte.(8) Dies mag verwundern, da
türkischstämmige Migranten eine fast ein halbes Jahrhundert währende Geschichte
in Deutschland haben und zudem die zweitgrößte Gruppe von Migranten stellen.
Das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung weist darauf hin, dass
der Anteil von Personen ohne Bildungsabschluss und die Erwerbslosigkeit unter
den Jugendlichen türkischer Abstammung alarmierend hoch ist. In kaum einem
Bereich verlaufe die Integration dieser Herkunftsgruppe wirklich gut. »Vielmehr
verstärkt sich der Eindruck, dass sich ein Teil der türkischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger in eigene soziale Gemeinschaften zurückziehen.«(9)
Trotz Thilo Sarrazin, oder gerade wegen der Welle an
heftiger Zustimmung und Ablehnung die seine Thesen erfahren haben, lohnt es
sich, die vorhandenen Probleme unverblümt auszusprechen. Es ist allemal besser,
Dinge beim Namen zu nennen als zum Beispiel bei einer Schlägerei von
»südländisch aussehenden Beteiligten« zu sprechen und dann Rechtsextremisten
die Foren im Internet für ihre rassistischen Kommentare zu überlassen.
Türkische Jugendliche unzureichend
qualifiziert
6,7 Prozent
der deutschen Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss. Bei
Jugendlichen mit einem ausländischen Pass ist die Quote mehr als doppelt so
hoch. Von den türkischen Einwanderern im erwerbsfähigen Alter ? zwischen 20 und
64 Jahren ? haben laut Ausländerbericht der Bundesregierung 72 Prozent keinen
Schulabschluss. Auf der anderen Seite erreicht jeder zweite Schulabgänger mit
iranischer, afghanischer oder irakischer Herkunft das Abitur ? diese Quote
liegt höher als bei den Deutschen und widerlegt Sarrazins
These von der mangelnden Intelligenz und Bildungsfähigkeit der Muslime.
Erklärungsbedürftig
bleibt, warum bei den PISA-Studien die in Deutschland geborenen Jugendlichen türkischer
Abstammung noch schlechter abgeschnitten haben als zugewanderte. Warum gelingt
es dem deutschen Bildungssystem bis heute nicht, diese Jugendlichen
entsprechend zu fördern? Die 2. PISA-Studie 2003 hielt fest: »Besonders
alarmierend ist, dass über 50 Prozent der Jugendlichen türkischer Herkunft,
obwohl sie in Deutschland geboren sind, nur marginale Kompetenzen erreichen,
die nicht über die Stufe 1 hinausgehen.«(10) Im Moment werden gerade wieder
heftig das frühe Erlernen der deutschen Sprache und die individuelle Förderung
in der Schule beschworen. Dagegen ist nichts einzuwenden; es wird nur nicht die
hartnäckigen Problemstellungen auflösen. Die besten Förderansätze der Schulen
verpuffen ohne die Mitwirkung der Eltern. Was aber, wenn sie sich schämen,
Elternabende zu besuchen, weil sie selbst nur unzureichend Deutsch sprechen?
Oder der deutsche Lehrer/die deutsche Lehrerin in ihren Augen jegliche
Autorität dadurch verliert, weil er/sie offensichtlich selbst nicht mit ihrem
Kind zurande kommt? Oder wenn ein türkischstämmiger Schüler sich schlichtweg
weigert und die Schule, Lehrer und vor allem Lehrerinnen nicht
akzeptiert und nicht ernst nimmt? Kirsten Heisig schildert in ihrem Buch Das
Ende der Geduld einen solchen Fall aus eigener Erfahrung. Ein elfjähriges
Mädchen setzte sich dort gegen ihre Lehrerin zur Wehr, sie habe ihm gar nichts
zu sagen. Denn sie ? die Lehrerin ? sei Deutsche. Und Deutsche seien Freunde
der Juden, und die seien Feinde der Araber, und deshalb befolge es die
Anweisungen der Lehrerin nicht.(11)
Jenseits der Beschönigung ? türkische
Jugendliche
In der
jüngsten, in diesem Jahr veröffentlichen Schülerbefragung vom kriminologischen
Forschungsinstitut in Niedersachsen(12) sagten 33 Prozent der türkischen
Jugendlichen, dass für sie die »Segregation« die bevorzugte Form des
Zusammenlebens mit den Deutschen sei ? anstelle von »Integration« oder
»Assimilation«. Dieser Anteil lag doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller
anderen Migrationsgruppen. Auf die Frage nach dem deutschen Sprachgebrauch ?
mit den Eltern, mit Freunden, deutsches Fernsehen et cetera
? unterschieden sich die Jugendlichen türkischer Abstammung in allen Bereichen
signifikant von allen übrigen Migrantengruppen. Sie
benutzten durchweg die deutsche Sprache am wenigsten. Außer in der Schule haben
sie kaum Gelegenheit dazu, selbst in den Pausen suchen sie sich türkisch
sprechende Schulkameraden, nachmittags fehlen deutsche Freunde. Zuhause wird
nur Türkisch gesprochen und türkisches Fernsehen geschaut. So bleiben die
Deutschkenntnisse schwach, es fehlt die Übung und das wiederum macht dann noch
weniger Spaß, sich auf Deutsch zu unterhalten.
Auch bei der
Frage nach deutschen Freunden müssen Jugendliche mit türkischer Abstammung
oftmals passen. Sie befinden sich hinter allen anderen Migrantengruppen
auf dem letzten Platz, noch hinter Jugendlichen aus Ex-Jugoslawien und
Albanien.
Ähnliche
Ergebnisse liefern Fragen nach der Identifikation mit dem Land, in dem man
lebt, mit Deutschland. Wer fühlt sich als Deutscher, für wen ist Deutschland
Heimat, wer fühlt sich fremd, wer fühlt eher Verbundenheit? Überall landen die
befragten Jugendlichen mit türkischer Abstammung am Ende der Skala. Nur bei
einer Frage standen die türkischen Jugendlichen ? von denen fast 90 Prozent in
Deutschland geboren sind ? ganz oben: bei der Frage nach der
Deutschfeindlichkeit.
Dabei gibt es
? was nicht weiter verwundert ? einen engen Zusammenhang zwischen dem Grad der
Integration und der Gewaltbereitschaft. Geringe Integration erhöht die
Gewaltbereitschaft. So zählen nur 1,5 Prozent der als gut integriert geltenden
türkischen Jugendlichen zu den Mehrfachtätern, aber 11 Prozent der als schlecht
integriert anzusehenden Jugendlichen.
Integrationsdefizite und
Integrationsversäumnisse
Obwohl in dem
Artikel bewusst der Fokus auf die Eigenverantwortung der hier lebenden Personen
gerichtet ist, darf nicht vergessen werden, dass Deutschland sich bis vor zehn
Jahren geweigert hat, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen. »Deutschland
ist kein Einwanderungsland!«, hieß es seit den
1970er-Jahren, insbesondere von konservativer Seite. Die »Gastarbeiter« sind
nur zeitweilig hier in unserem Land, warum sollte man sich Gedanken um
Integrationsmaßnahmen machen, Deutschkurse anbieten, dafür sorgen, dass auch
die Kinder sich hier zurechtfinden und eine ordentliche Bildung erfahren? Dies
korrespondierte mit den Vorstellungen der Migranten der ersten Generation, die
selbst lange daran glaubten, »nur ein paar Jahre« in Deutschland zu bleiben.
Mit diesem Bewusstsein sah man wenig Grund, die fremde Sprache zu lernen und
sich intensiver um die Gesellschaft zu kümmern. Dieses Verhalten hielt jedoch
noch an, als die geplante Rückkehr immer wieder verschoben und dann völlig
unrealistisch geworden war ? bei manchen bis heute. Das Rotationsprinzip bei
den »Gastarbeitern« hat nicht funktioniert, vor allem hat die Wirtschaft
Einspruch dagegen erhoben, ständig neue Arbeitskräfte anlernen zu müssen. Der
Anwerbestopp 1973 hat dann im Ergebnis zum Gegenteil dessen geführt, was man
erreichen wollte, da der Familiennachzug nun als einzig legale Art verblieben
war, nach Deutschland einzureisen.
Die
nachgeholten oder mittlerweile hier geborenen Kinder kamen jedoch immer mehr
unter Druck des Arbeitsmarktes, weil sich die Wirtschaftsstruktur rasant
veränderte und Einfacharbeitsplätze massenhaft aus Deutschland abgezogen
wurden. Im Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sind die
wenig qualifizierten Jungen die Hauptverlierer. Die Bildungs- und Benachteiligtendebatte hat deshalb schon länger nicht mehr
das »katholische Mädchen vom Lande«, sondern den »großstädtischen Jungen mit
Migrationshintergrund« im Fokus. Mit der Wiedervereinigung kam hinzu, dass sich
viele Türken nun als nicht mehr gebraucht fühlten; die Deutschen waren mit sich
selbst beschäftigt. Dann brannten in Mölln und Solingen die Häuser; das hat
damals für sehr viel Unruhe und Wut in der türkischen Community geführt.
Cem Gülay ?
als »Türken-Sam« in der kriminellen Parallelwelt unterwegs ? erklärt: Die heute
15- bis 25-Jährigen ? er nennt sie die »Kinder der Generation Wut« ? sind
häufig mit Sozialhilfe und Hartz IV aufgewachsen. Während es für die Väter noch
in Ordnung war, wie sie hier lebten ? alles war besser als Anatolien, sie
konnten sich hier Wohlstand erarbeiten ?, geben sich die Kinder damit nicht
zufrieden. Sie vergleichen sich mit den gleichaltrigen Deutschen. Viele Eltern
haben es verpasst, auch in ihre Kinder zu investieren. Es kam zu einer
Entfremdung zwischen Eltern und Kindern; die Väter haben ihre Vorbildrolle verloren,
die Mütter wenig zu melden und zu viele Kinder, um sich intensiv um einzelne zu
kümmern. Die Kinder suchen sich andere Vorbilder und liegen oftmals mit ihren
Eltern heftig im Clinch; sie fordern persönliche Freiheiten ein, lehnen
traditionelle Erwartungen ab; und sie werfen den Vätern direkt, mehr aber noch
unterschwellig, vor, dass sie sich derart von den Deutschen haben behandeln
lassen.
Innerfamiliäre Gewalterfahrung und
autoritäre Prägungen
Viele türkische
Väter geben sich weiterhin äußerst streng, Erziehung erfolgt durch regelmäßige
Schläge, das heißt die innerfamiliäre Gewalt ist hoch, weitaus höher als in
deutschen Familien. Das hat Christian Pfeiffer inzwischen immer wieder
thematisiert, seine Untersuchungen auf Türkisch veröffentlicht, eine gemeinsame
Kampagne mit der Zeitung Hürriyet durchgeführt und anderes mehr. Eines
darf dabei als gesicherte Erkenntnis gelten: Wer als Kind selbst viel Gewalt
erlebt hat, für den ist auch die Anwendung von Gewalt etwas
Selbstverständliches. Die Raten aktiver jugendlicher Gewalttäter steigen mit
wachsender Häufigkeit und Intensität innerfamiliärer Gewalterfahrungen
systematisch an.
Andere
Forschungen weisen darauf hin, dass regelmäßig bei Einwandergruppen aus autoritär
bestimmten Gesellschaften die größten Integrationsprobleme auftauchen. Unter
türkischen Einwanderern ist die autoritäre Prägung signifikant höher als bei
anderen Gruppen. Typisch für sie ist, dass sie eigene Gruppenangehörige
bevorzugen und auf Gruppenfremde herabblicken.
Schließlich ?
und das ist immer wieder Thema bei Christian Pfeiffer ? verbringen türkische
Jugendliche sehr viel Zeit vor elektronischen Medien. Sie verplempern dort
nicht nur die Zeit, die für Schularbeiten und Lernen fehlt, sondern konsumieren
viel Gewalthaltiges in Film und PC-Spielen. Eltern können in der Regel bei den
Hausaufgaben nicht helfen. Das ist umso folgenreicher, weil 90 Prozent der
Eltern in Deutschland davon überzeugt sind, dass ihre Kinder ohne elterliche
Hilfe in der Schule scheitern würden. Drei Viertel von ihnen helfen gezielt vor
Klassenarbeiten, bei Referaten und Hausarbeiten. Wer hilft den türkischen
Kindern? Die nach wie vor von den hier aufgewachsenen türkischstämmigen Männern
aus Anatolien geholten Frauen, die wenig bis kein Deutsch sprechen und wenig
Bildung mitbringen? Die sogenannten Importbräute,(13) die das Problem immer
wieder reproduzieren?
Religion, Integration und auffälliges
Verhalten
Während
üblicherweise mit der intensiveren Zuwendung zur Religion die
Gewaltbereitschaft sinkt, ist das bei vielen Jugendlichen türkischer Abstammung
nicht der Fall. Sie weisen höhere Gewaltraten auf, akzeptieren häufiger
Männlichkeitsnormen und konsumieren häufiger Gewaltmedien. Beide Faktoren
erhöhen wiederum die Gewaltbereitschaft. Im Hinblick auf die Integration gilt,
so fasst Pfeiffer die Ergebnisse zusammen, dass sie bei jungen Muslimen umso
niedriger ausfällt, je mehr sie im Islam verankert sind. So haben die
nicht-religiösen unter ihnen beispielsweise zu über 43 Prozent deutsche
Freunde, die religiösen aber nur zu etwas über 20 Prozent. Man muss sich also
schon fragen, was teilweise in den Moscheen passiert, in welche Richtung eine
Beeinflussung stattfindet. Damit sind nicht die sicherlich nur wenigen »Hassprediger«
gemeint, sondern die vielen aus der Türkei hierher geschickten Imame, die
vorher noch nie in Deutschland waren, hiesige Lebensumstände nicht kennen und
in einer abgeschotteten Parallelwelt leben. »Prediger aus dem Ausland ohne
Kenntnisse der Lebenswirklichkeit hierzulande tragen erheblich zur schlechten
Integration junger deutscher Muslime bei«, so Christian Pfeiffer. Eine
interessante Studie hat Rauf Ceylan dazu vorgelegt, der Imame verschiedenster
Dachorganisationen interviewt hat. Er kommt zu der Auffassung, dass den Imamen
eine zentrale Rolle beim Integrationsprozess junger Muslime zukomme.(14) Dieser
Aufgabe seien aber die meisten aufgrund ihrer mangelhaften Ausbildung und
Vorbereitung auf die Aufgaben in Deutschland nicht gewachsen. Ceylan rechnet 75
Prozent von ihnen der Kategorie »traditionell-konservativ« zu, die weder mit
den erzieherischen Grundsätzen hier etwas anfangen können noch die soziale
Wirklichkeit in Deutschland verstehen, dafür aber ein enormes
Sendungsbewusstsein mitbringen.(15)
Integrationsunwillige und -verweigerer
Ein weiterer
wichtiger Erklärungsgrund für die Selbstethnisierung
und Abschottung eines Teils der türkischstämmigen Bevölkerung ist die Existenz
von ethnisch-nationalistischen Organisationen und islamistisch-fundamentalistische
Gruppierungen. Sie haben sich längst in der Bundesrepublik Deutschland
etabliert und inzwischen einen erheblichen Zuspruch und Rückhalt gerade unter Migrantenjugendlichen der zweiten und dritten Generation
gefunden. Sie werben teilweise sogar dafür, einen deutschen Pass zu beantragen.
Jedoch verbunden mit der Parole: »Werde Deutscher, bleibe Türke.«
Hier
versammelt sich der Kern der Integrationsumwilligen.
Es herrscht Verachtung gegenüber der einheimischen Kultur der »Ungläubigen« und
»Unreinen« und von hier stammt auch der Slogan »Wir haben doch alles, wir
brauchen die Deutschen nicht!« In diesen Milieus existiert ein inländerfeindliches
und gefährliches antisemitisches Gedankengut. Dies ist nichts als
Rassismus.(16) Integrierte Muslime und Angehörige der türkischen Mittelschicht
verstehen oftmals nicht die Ignoranz und Naivität der Deutschen diesen
nationalistischen, rassistischen Organisationen gegenüber.
Als
»Integrationsverweigerer« werden in der derzeit aufgeregten Debatte bei uns
schlicht diejenigen Migranten bezeichnet, die aus den verschiedensten Gründen
nicht an Sprach- und Integrationskursen teilnehmen oder diese abbrechen. Im
Umkehrschluss scheint derjenige, der ordentlich Deutsch lernt, bereits als
integriert. Dabei gibt es jede Menge Jugendliche, die problemlos mit der
deutschen Sprache umgehen (könnten) und die ich trotzdem zu den
»Integrationsunwilligen« rechne, die in ihrer eigenen Welt leben und sich sogar
mit Händen und Füßen dagegen wehren, als »Deutsche« bezeichnet zu werden, selbst
wenn sie einen deutschen Pass besitzen. Bushido
kolportiert, bringt deren Haltung so auf den Punkt: »So sehr, wie wir
Einwanderer euch auf der Nase rumtanzen in eurem eigenen Land, da können wir
uns nicht beschweren. Ist doch klar, dass wir Deutschland lieben. Wir ziehen
euch die Transferleistungen aus den Taschen und haben trotzdem keinen Respekt
vor euch Deutschen. Wir halten euch für Kartoffeln, für Opfer. So denken
manche.«(17)
Innovative Methoden und Erfolg
versprechende Projekte
Das Berliner
Institut für Bevölkerung und Entwicklung zählt außer der Bereitschaft die
Sprache zu beherrschen, Lernbereitschaft, den Willen zur ökonomischen
Eigenständigkeit, die Akzeptanz der Rechtsordnung, Flexibilität und den Respekt
vor kulturellen und sozialen Normen zu Kriterien der Integrationsbereitschaft.
Respekt und
Anerkennung sind Schlüsselbegriffe für den Umgang mit der Gruppe der
auffälligen Jugendlichen. Jugendliche Gewalttäter haben ein enormes Defizit an
Anerkennung. Wem diese Anerkennung verschlossen bleibt, für den erscheint
Gewalt als alternative Möglichkeit um sich Geltung zu verschaffen. In der
Jugendarbeit setzt sich seit einiger Zeit immer mehr die Erkenntnis durch, dass
die herkömmlichen Angebote und Methoden der offenen Jugendarbeit bei den Jugendlichen,
die »ein Leben auf der Straße« gewohnt sind, sich dort in ihren Cliquen bewegen
und den dort herrschenden Wertesystemen orientieren, nicht mehr »ankommen.«
Das ist der
Hintergrund, weshalb mancherorts unkonventionelle Projekte ausprobiert werden.
Sie werden von einer kritischen Diskussion begleitet, weil dabei in der Regel
Personen mit formell geringer oder fehlender pädagogischer Qualifikation damit
beauftragt werden auf die Jugendlichen zuzugehen, ihnen Angebote zu
unterbreiten, oft in Verbindung mit Sport ? insbesondere Kampfsport. Ihnen
gelingt der Zugang zu diesen Jugendlichen gerade deshalb, weil sie die »gleiche
Sprache« sprechen, aus derselben Community stammen und aufgrund eigener
Erfahrungen authentisch sind. Sie sind so lange erfolgreich, wie sie sich
Respekt verschaffen können und über ihre Hilfsangebote das Vertrauen der Jugendlichen
gewinnen. Teilweise haben sie erstaunliche Erfolge vorzuweisen. Am bekanntesten
ist das mehrfach ausgezeichnete »Boxcamp« von Lothar
Kannenberg; dazu zählen auch der »Boxclub Nordend« in
Offenbach, das Projekt »Box-Out« in Hamburg, oder der Einsatz von »Kiezläufern«
? später umbenannt in »Kiezworker« ? in Berlin, die
Angebote des inzwischen als Quartiersmanager arbeitenden Fadi Saad, des »großen
Bruders von Neukölln« oder das Engagement des »Freigeistes« Ibrahim Ismail in
Wuppertal. Ich selbst war am Aufbau eines solchen Projekts beteiligt, das im
Jahr 2008 den Landespräventionspreis des Landes Hessen erhalten hat. In unserem
Projekt arbeiten zwei junge Männer türkischer Herkunft sowie ein
Russlanddeutscher und ein in Südamerika geborener Mitarbeiter als
»Streetworker«. Sie haben ein »Café Zukunft« als Treffpunkt für Jugendliche in
den Abendstunden und am Wochenende zur Verfügung, und für die Migrantenjugendlichen sind vor allem ihre Sportangebote
attraktiv.
In
Berlin-Neukölln hat der Psychologe Kazim Erdogan eine Selbsthilfegruppe für
türkische Männer gegründet. Hier treffen sich jeden Montagabend Männer, die
unter den Problemen und Nöten eines Alltags leiden, der geprägt ist von
patriarchalischen Strukturen.(18)
»Stark!«,
heißt ein Mentorenprojekt, das Stipendien an Berliner
Hauptschüler vergibt ? finanziert von der Hertie-Stiftung.(19) Das ist deshalb
bemerkenswert, weil es nicht Einserabiturienten oder
sonstige herausragende Leistungen von Migranten auszeichnet, sondern die
Motivation und den Leistungswillen von Hauptschülern in den Vordergrund stellt.
Seit 2007
engagieren sich junge Migranten in Berlin in dem Projekt »Heroes«.
Sie machen sich stark gegen Unterdrückung im Namen der Ehre. Ihr Ausgangspunkt
ist, bewusst zu machen, dass in der eigenen Community etwas schief läuft. Es
geht also zunächst um ein Umdenken und Infragestellen.
Dazu führen integrierte Migranten Workshops durch und bilden weitere »Heroes« aus. Sie gehen in Schulen und reden mit jungen
Migranten über Gleichberechtigung und problematisieren dabei die Männerrolle im
Kontext der Ehrenunterdrückung von Mädchen und Frauen. Ziel ist es, Jungen und
jungen Männern die Möglichkeit zu geben, sich von diesen Machtstrukturen zu
distanzieren. Anstatt der Wahrnehmung von Defiziten und der Gewaltbereitschaft
jugendlicher männlicher Migranten stehen diejenigen im Vordergrund, »die bereit
sind, sich Respekt durch den Kampf gegen die Unterdrückung im Namen der Ehre zu
erarbeiten.«(20) Bisher ist dieses Projekt noch einmalig in Deutschland.
1
Nicola
Graef und Güner Balci haben zu dem Thema einen eindrucksvollen Dokumentarfilm
an einer Hauptschule in Essen gedreht. Er lief unter dem Titel Kampf im Klassenzimmer.
Deutsche Schüler in der Minderheit Mitte Juli in der ARD und im September
noch einmal im WDR.
2
»Mobbing
an Schulen nimmt seit den neunziger Jahren zu.« Das stellten Wissenschaftler im
Auftrag der WHO fest. 250.000 Schülerinnen und Schüler zwischen elf und 16
Jahren werden heute mehrfach in der Woche schikaniert, ausgegrenzt, abgewertet.
»Damit gehört Deutschland zu den Spitzenreitern, befand die WHO.« (Ulrike Demmer: »Szenen einer Gesellschaft. Aggressivität im
Alltag«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 8.
Frankfurt 2010, S. 192<|>ff).
3
Siehe
»Lehrer beklagen Mobbing gegen deutsche Kinder«, in: Tagesspiegel,
30.9.10.
4
Vgl. Yasemin Shooman, Evelin Lubig-Fohsel: »Unter Kartoffeln. Die Deutschfeindlichkeit nehme
zu, heißt es. Schon der Begriff verkehrt die Machtverhältnisse, um Deutsche per
se als Opfer zu stilisieren«, in: taz, 8.10.10. ? Dahinter steckt die
Behauptung, deutsche Jugendliche könnten gar keinem Rassismus ausgesetzt sein,
da Rassismus immer an eine Machtposition gekoppelt sei und Schüler mit
Migrationshintergrund seien prinzipiell nicht in einer solchen Position.
5
Vgl. Ahmet Toprak: »Ich bin eigentlich nicht aggressiv.«
Theorie und Praxis eines Anti-Aggressionskurses mit türkischstämmigen Jugendlichen,
Freiburg 2001.
6
Als
»Mehrfachtäter« der Gewalt werden Jugendliche bezeichnet, die fünf und mehr
Delikte innerhalb eines Jahres verübt haben. An erster Stelle liegen hier mit
11,2 Prozent muslimische Jugendliche aus dem früheren Jugoslawien; es folgen
türkische Jugendliche mit 8,8 Prozent. Deutsche und asiatische Jugendliche
weisen mit 3,3 Prozent bzw. 2,6 Prozent die niedrigsten Quoten auf. Siehe:
Christian Pfeiffer: »Nicht dümmer, aber gewalttätiger. Was wir über die
Integration muslimischer Jugendlicher wirklich wissen und wie man sie
verbessern kann«, in: FAZ, 27.9.10.
7
Güner
Yasemin Balci (Arabboy, Arabqueen),
Fadi Saad (Der große Bruder von Neukölln) oder Cem Gülay (Türken-Sam)
haben in ihren Büchern die Zustände in den Schulen, die Jugendkriminalität und
die Parallelgesellschaften drastisch beschrieben. Natürlich haben sie nicht die
Popularität von Sarrazin erreicht.
8
Zu
diesem Ergebnis kommt u. a. das Berliner Institut für Bevölkerung und
Entwicklung in der Studie »Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in
Deutschland«, Berlin 2009.
9
Ebd.,
S. 36.
10
PISA-Konsortium
Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand von Jugendlichen in
Deutschland ? Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs, Münster
2004, S. 264.
11
Kirsten
Heisig: Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter,
Freiburg 2010, S. 117.
12
KFN-Forschungsbericht Nr. 109: »Kinder und
Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum.
Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des
Inneren und des KFN«, Hannover 2010. Für diese Studie wurden fast
45<|>000 Jugendliche befragt.
13
Vgl.
zum Thema arrangierte Ehe ? Zwangsheirat: Heiner Bielefeldt: Zwangsheirat
und multikulturelle Gesellschaft. Anmerkungen zur aktuellen Debatte, Berlin
2005.
14
Ceylan
rechnet hoch, dass es keine Seltenheit ist, dass die 2000 Imame in Deutschland
bei den Freitagsgebeten an einem einzigen Tag 500.000 bis 600.000 Muslime erreichen.
Die Themen für die Freitagsgebete werden für die Imame der DITIB-Gemeinden aus
der Zentrale in Ankara vorgegeben. Die DITIB (Türkische-Islamische Union der
Anstalt für Religion e. <|>V.) ist der größte Verband in Deutschland und
unterhält über 800 Moschee- und Kulturvereine mit etwa 100.000 Mitglieder. Bei
der Auswahl der Bewerber für die lukrativen und begehrten Stellen als Imam im
Ausland spielt die Loyalität zur DITIB und zum türkischen Staat die zentrale
Rolle.
15
Siehe
Rauf Ceylan: Die Prediger des Islam. Imame ? wer sie sind und was sie
wirklich wollen, Freiburg 2010.
16
Siehe:
Kemal Bozay: »? ich bin stolz, Türke zu sein!« Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte im Zeichen der
Globalisierung, Schwalbach/Ts. 2005.
17
Interview
im Spiegel 28/2010. Nach seiner Aussage befürwortet er eine solche
Haltung nicht, sondern findet sie respektlos.
18
Siehe
Isabella Kroth: Halbmondwahrheiten. Türkische
Männer in Deutschland. Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft,
München 2010.
19
Siehe
Jan-Martin Wiarda: »Sie schaffen es. Das Projekt
?Stark!? unterstützt Einwandererkinder an Berliner
Hauptschulen«, in: Zeit, 22.7.10.
20
Siehe
den Internetauftritt der »Heroes«: www.heroes-net.de;
Mathias Haman: »Echte Helden gegen falsche Ehre«, in: Spiegel-online,
25.3.10; Kristina Maroldt: »Die Ehre des Propheten.
Schüler in Neukölln lernen Freiheit und Gleichberechtigung in Rollenspielen.
Den Workshop leiten junge Muslime«, in: FAZ, 13.6.09.