Balduin Winter

 

Editorial

 

 

 

Deutschlands Bevölkerung geht zur christlichen Religion »offensiv auf Distanz«, wie Renate Köcher vom Allensbacher Institut in der FAZ (15.10.) darlegt. Nur noch eine Minderheit ist wirklich gläubig: »Dass Religion in ihrem Leben eine große Rolle spiele, beansprucht die Hälfte der älteren Generation für sich, aber nur 17 Prozent derer unter 30.« Eine Sache ist es, für diese immer noch recht große Minderheit einzustehen, wie es konfessionelle Parteien wie die CDU und ihre Vorsitzende Angela Merkel tun. Aber gleich bildlich die Rute auszupacken und alle für »fehl am Platze« in Deutschland zu erklären, die der christliche Glaube nicht überzeugt, ignoriert die multiethnische und multikulturelle Verfasstheit der Gesellschaft, religions- und kulturneutral austariert durch das Grundgesetz.

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf betont diese religiöse Neutralität und will das Grundgesetz »nicht taufen«. In den gegenwärtigen Zuschreibungen (»Islam«, »christlich- jüdisch«) erkennt er vor allem »politische Kampfbegriffe«. Die Gesellschaft ist in Bewegung geraten (siehe dazu die Artikel von Herbert Hönigsberger, Lothar Probst und Michael Ackermann im »Thema«). Aber lässt sie sich denn wirklich in groß angelegte Kulturkämpfe, gar Religionskriege führen? Zwar wurde die von Thilo Sarrazin angestoßene Integrationsdebatte mit einiger Wucht geführt. Kein Zweifel, es gibt da eine Reihe eklatanter Probleme (siehe Klaus-Peter Martin, S. 25). Und es mangelte nicht an Versuchen, aus deren Emotionalisierung politisches Kapital zu schlagen. Aber die Chiffren ziviler Bewegtheit sind Hamburg, Stuttgart, Gorleben. Hier hat die Regierung, hat die CDU echte Probleme. Sie gehen an die Substanz.

Denn den Christdemokraten geht es nicht gut. Sie werden zunehmend unbeliebt. Darüber kann die relativ gute Wirtschaftslage Deutschlands nicht hinwegtäuschen, zumal der nächste Sturm, so die Börsen-Zeitung, bereits im Anzug ist. In der Regierung hat die CDU mit der neoliberalen FDP ein teilweise chaotisches Jahr hinter sich. Als Partei hat sie ein ähnliches Abbröckeln zu befürchten, wie es die SPD schon erlebt hat. Sie mag traditionell keine Bewegungen ? wer sich bewegt, muss sich heute von ihr wegbewegen. Daher ist für sie kein Verlass mehr auf die kritisch (und grüner) gewordene »Mitte«, einst christdemokratische Kundschaft, die sich, seit Jahren von allen umworben, auch selbst in Wandlung befindet.

Aufgeschreckt von der Gefahr eines 20- Prozent-Potenzials für eine mögliche rechte Partei, die der Union schwer an die eigenen konservativen Wählerschichten gehen könnte, haben die Frontleute der CDU scharfe Töne losgelassen. Die Gangart wurde angezogen mit »Multikulti ist tot«, mit autoritären Maßnahmen gegen »Integrationsverweigerer«, mit dem Aufwärmen des alten Steckenpferdes »Leitkultur«, nunmehr »geprägt durch die jüdisch-christliche Tradition« (CDU-Parteitagsbeschluss »Verantwortung Zukunft«).

Der Zentralrat der Juden und zahlreiche Intellektuelle kritisierten massiv die »deutsche Leitkultur« der CDU-Ideologen, die angeblich »geprägt durch die jüdisch-christliche Tradition« sei, als »Lieblingskind der traumatisierten Deutschen« (so die Philosophin Almut Shulamit Bruckstein Coruh). In jüdischen Kreisen wurde ebenfalls mit Deutlichkeit auf das Grundgesetz hingewiesen, das 1945 sozusagen im Nachtrab, aber auf dem Boden jener europäischen Verfassungsgeschichte entstanden ist, auf dem sich oft der Geist der Aufklärung und der Geist der christlichen Religionen feindselig gegenüberstanden.

Doch CDU-Ideologen scheinen weitgehend kritikresistent. Nun steht dieser Zwitter zwischen Glauben und Bildungshuberei (»? die christlich-jüdische Tradition, die Philosophie der Antike, die Aufklärung und unsere historischen Erfahrungen ?«) zukunftsprägend im deutsch-christlichen CDU-Beschlussapparat. »Uns trägt der Glaube. Er gibt uns Kraft. Er gibt mir Kraft«, hat Angela Merkel in ihrer Rede vor dem CDU-Tag gesagt. Das sei ihr unbenommen und nicht weiter hinterfragt. Doch im öffentlichen Leben steht das Grundgesetz über dem Glauben, was ja auch den Muslimen mit Nachdruck eingetrichtert wird.

Nun wird gläubig mit der Leitkultur gefochten. Um, wie Horst Seehofer sagt, die »Lufthoheit über den Stammtischen« zurückzugewinnen? Für die Integration wird es ganz anderer Maßnahmen bedürfen, allein bei der Problemanalyse in Sachen Deutschkurse hat sich die Unionsfraktion wenig informiert erwiesen. Wie immer das christdemokratische Personal den von ihm proklamierten »Herbst der Entscheidungen« anpackt, die Entschlusskraft wirkt angespannt, immer ist der Blick auf den Stolperstein Stuttgart gerichtet. Seehofer will aber auch noch einen Einwanderungsstopp. Er sollte sich informieren. Die Bertelsmann-Stiftung hat unlängst eine Studie veröffentlicht, die die negative Bilanz bestätigt hat. Deutschland war in den letzten vier Jahren bereits ein Auswanderungsland. Schwerwiegend ist die steigende Auswanderung deutscher Hochqualifizierter. Zwar bleiben sie nicht auf Dauer, doch gehen immer mehr neue Hochqualifizierte ins Ausland, sodass der Negativsaldo wächst. Der Economist fragte schon, ob die Deutschen die ungeliebten Gastarbeiter von morgen sein werden. Ob sie sich dann auch an die jeweiligen »Leitkulturen« halten?

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2010