Helmut Wiesenthal
Auf dem Weg in die
Regierung?
Die Grünen vor der Bundestagswahl
Aus der Bundestagswahl 2013 könnte
eine Regierung aus SPD und Grünen hervorgehen. Allerdings beruht diese
Erwartung allein auf der gedanklichen Fortschreibung einer Entwicklung, die
schon im Herbst 2011 ans Ende gelangt sein könnte – mit dem Dämpfer für die
Berliner Grünen und dem Aufstieg der Piratenpartei. Doch zeigen Umfragen nach
wie vor eine strukturelle Mehrheit des linken Parteienspektrums. Nur taugt sie
nicht als Regierungsbündnis, weil ein Stimmenanteil zwischen 15 und 20 Prozent
von Linkspartei und Piraten neutralisiert wird. Die nahe liegende Frage ist
also, was könnten SPD und Grüne tun, um Ende 2013 eine gemeinsame Regierung zu
bilden? Was müssten sie unternehmen oder unterlassen, um ihr noch
unzulängliches Können zu verbessern?
1998 ist
nicht wiederholbar
Die
Erinnerung an die rot-grüne Regierung 1998–2005 hilft nicht. Sie war
bekanntlich nur von den Grünen angestrebt worden, die SPD hatte auf eine Große
Koalition gesetzt. Was zeitweise als »rot-grünes Projekt« deklariert wurde,
beruhte auf der Arbeitsteilung zwischen Schröder-SPD und Fischer-Grünen. So
durfte die grüne Agenda große Teile der ersten Legislaturperiode bestimmen,
aber die Grünen hatten zu schlucken, was die SPD-Spitze in Sachen
Unternehmenssteuerreform und Agenda 2010 für sinnvoll hielt – und letzten Endes
der Koalition ein vorzeitiges Ende bereitete.
Ein neues
Regierungsbündnis wird nicht noch einmal auf eine derartige Arbeitsteilung
gegründet sein. Der Orientierungsrahmen für rot-grüne Politik ab 2014 muss von
vornherein stärker auf den in der Öffentlichkeit dominierenden Problemhorizont
abgestellt werden als auf parteipolitisch geprägte Forderungs- und
Mobilisierungskataloge. Das verweist auf deutlich erhöhte Anforderungen an die
kognitive und diskursive Kompetenz der Mandatsbewerber.
Es bedarf nur
eines Blicks auf die Dynamik der weltwirtschaftlichen Entwicklung, um die
radikale Umstülpung der aus dem 20. Jahrhundert vertrauten Ordnung zu erkennen.
Das Schicksal Europas wird im Wesentlichen davon abhängen, ob man sich im Sinne
ökonomischer und kultureller Offenheit als Teil und Mitgestalter
des von den neuen Industrieländern weitergetriebenen Modernisierungsprozesses
versteht oder sich, eingeschüchtert durch Tempo und Formen des Wandels, mit
zwangsläufig unzulänglichen Mitteln von aller Veränderungsdynamik abzuschotten
versucht. Gleichzeitig – und unter dem Druck globaler Ungleichzeitigkeiten –
wird man sich (immer noch) befassen müssen: mit der fortdauernden
Schuldenkrise, dem brüchig gewordenen Zusammenhalt der EU, der Verbesserung von
Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft, den Folgeproblemen der sich
abzeichnenden Fiskal- und Transferunion und den Optionen für ein effektives
Klimaregime.
Aber nicht
nur der erweiterte Problemhorizont, sondern auch ein verändertes Parteiensystem
widersprechen der Vorstellung, Grüne und SPD könnten an frühere
Regierungsprogramme und -erfahrungen anknüpfen. Das deutsche Parteiensystem –
seine Akteure, Themen und Wettbewerbsordnung – hat ein völlig neues Gesicht
erhalten. Im neuen Fünf- (vielleicht auch: Sechs-)Parteiensystem lassen sich
die aus den Wahlen hervorgehenden Regierungen kaum noch im Vorhinein
kalkulieren. Die Vermehrung der rechnerisch möglichen Koalitionsoptionen, die
parteienübergreifende Konvergenz der Themen und Politikkataloge sowie der
schleichende Trend abnehmender Parteienbindung und zunehmender
Politikverdrossenheit scheinen im Übrigen einstige Berührungsängste und
Gegnerschaften abzumildern. Manches scheint möglich, was lange Zeit undenkbar
war, womöglich sogar Schwarz-Grün. Die Chancen der Grünen, aus dieser
Gemengelage heraus den Weg in die Bundesregierung zu finden, um dort die
eigenen Politikpräferenzen zu realisieren, hängen allerdings immer noch von
zwei Hauptfaktoren ab: der Fähigkeit, das eigene Wollen und Wirken rational zu
steuern, auf der einen Seite, und von der Konstellation der Konkurrenten und
ihren Strategien auf der anderen.
Parteiensystem
im Umbruch
Es war die
Gründung der bundesweit erfolgreichen Linkspartei aus PDS und WASG, der sich
die vorletzte Metamorphose des Parteiensystems verdankt. Seit der
Bundestagswahl 2009 konkurrieren also in Deutschland fünf Parteien um die Gunst
einer zunehmend frustrierten Wählerschaft. Und sie konfrontieren
Parteistrategen und spin doctors mit einer schwieriger gewordenen
Machtarithmetik. 2011 hat sich das Bild nochmals verkompliziert. Wenngleich
mancher FDP-Skandal, wie etwa die Mehrwertsteuersenkung für Hotelbetriebe, auch
von der Union zu verantworten war, schien die FDP ihr 15-Prozent-Ergebnis von
2009 sogleich verspielt zu haben. Ihr allein wird der misslungene Start der
schwarz-gelben Regierung zugeschrieben und mit dem drohenden Verschwinden unter
die Fünfprozentmarke quittiert.
Gleichzeitig
erlebten die Grünen in 2011 einen plötzlichen Aufstieg zur Mittelpartei, als
sie Umfragewerte um 20 Prozent erzielten. Das verdankten sie nicht gerade
eigenen Spitzenleistungen, aber zumindest der Vermeidung parteitypischer
Fehler. Für die Chancen der Grünen, sich auf dem 15- bis 20-Prozent-Niveau zu
etablieren, wird entscheidend sein, ob der relative Attraktivitätsverlust von
FDP, aber auch von CDU/CSU und SPD, anhält. Natürlich zählt auch, wie rasch die
Piraten ihren Zenit erreichen werden. Was zunächst nach einer Rückkehr des
Vier-Parteien-Systems aussah, änderte sich mit dem überraschenden Einzug der
Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus. Inspiriert vom
neugierig-wohlwollenden Medienecho der Politikneulinge und beachtlichen
Landtagswahlerfolgen herrscht nun große Unsicherheit, was die Bundestagswahl
2013 für die anschließende Regierungsbildung bringen mag.
Die Grünen
erlebten ihren Beliebtheitsboom vor allem dank des Missgeschicks der drei
»Altparteien« und der Aktualität einer Energiewende. Doch im Wahljahr 2013
könnte die Union schon wieder mit einer vergleichsweise günstigen
Wirtschaftslage ihre Schwächen überstrahlen. Dafür sind die über 41 Millionen
Beschäftigten von Ende 2011 kein schlechter Ausgangswert. Von einiger Bedeutung
für die Unions-Wahlchancen dürften auch die wiederholten Updates der
konservativen Agenda sein. Man mag den von Kanzlerin und Arbeitsministerin
betriebenen Themenklau gegenüber der SPD als rein taktisch motiviert ansehen,
das neue Gesamtbild der Union – mit Atomausstieg, Suspendierung der
Wehrpflicht, Abkehr von der Hauptschule, Frauenquote für Aufsichtsräte,
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz und Offenheit für die
Finanztransaktionssteuer – ist jedenfalls »Mitte pur«. Es beweist große
Entschlossenheit, die SPD für eine dauerhafte Juniorrolle in Großen Koalitionen
reif zu schießen. Und wie die interne Kritik an der Kita-Vermeidungsprämie
»Betreuungsgeld« zeigt, wandelt sich ganz nebenbei auch das Selbstverständnis
der CDU.
Vergleichsweise
günstige Wahlchancen besitzt die Union nicht zuletzt dank des Amtsbonus der
Kanzlerin. Ihr Management der Euro-Schuldenkrise nehmen viele Wähler keineswegs
als erfolglos wahr. Ihre Zustimmungswerte liegen bei den Anhängern aller
Parteien, auch von Grünen, Linken und Piraten, über 50 Prozent. Frau Merkel mag
zwar nicht als Lichtgestalt erscheinen, aber ihr moderates Auftreten hebt sie
deutlich von den innerparteilichen Konkurrenten ab. Noch ist nicht erkennbar,
ob ihr Mangel an einer Langzeitperspektive fürs Krisenmanagement eher das Risiko
der deutschen Steuerzahler, die Risiken der Schuldnerländer oder beider Risiken
erhöht.
Hält man sich
die konkurrierenden Ziele vor Augen – Vermeidung des Staatsbankrotts von
Schuldnerländern, Aufrechterhaltung hinreichend starker Reformanreize und rasche
wirtschaftliche Erholung –, so mag man angesichts der unklaren Langzeitfolgen
noch von einer halbwegs geglückten Balance sprechen. Jedenfalls hat die
hegemoniale Rolle der Kanzlerin im europäischen Krisentheater geholfen, die
diversen Schwächen ihrer Regierung zu kaschieren. Ohne die Schuldenkrise wäre
vor allem die deutsche Außenpolitik stärker in die Kritik geraten.
Andererseits
könnte die Union aufgrund der personalpolitischen Kalamitäten an Ansehen
verloren haben. Das allzu lange Festhalten am Schaumschläger Guttenberg und dem Prominachläufer Wulff hat der
Parteiführung peinliche Scharten beigebracht. Weil ausgerechnet diese beiden
Maulhelden so viel von Anstand, Offenheit und Glaubwürdigkeit gefaselt haben,
können diese Werte kaum mehr als Ausweis konservativer Moral gelten. Von
ähnlicher Peinlichkeit, aber wohl bald vergessen, ist die Plünderung des
Bundeshaushalts um sechs Milliarden Euro Steuersenkung zu dem alleinigen Zweck,
die Wiederwahlchancen der FDP aufzubessern.
Die
Entschiedenheit, mit der die Union ihre aussterbenden altdeutsch-konservativen
Anhänger durch liberal-sozial gesinnte Wähler aus der Mitte zu ersetzen
versucht, ist nicht nur der Konkurrenz mit der SPD geschuldet. Es geht der
Parteivorsitzenden auch darum, die Union für eine Zeit fit zu machen, in der
die (multi-)kulturelle Modernisierung auch das letzte bayerische Bergdorf
erreicht hat und es keine starke FDP mehr gibt, die die Regierungsmehrheit
garantiert. Vielmehr muss sich mittlerweile auch die Unionsführung klarmachen, dass
eine Dreierkoalition künftig die einzige Alternative zu Schwarz-Rot sein
könnte. Was Merkel definitiv nicht will, ist Ministerin unter Gabriel und Nahles zu werden. Doch das ist seit dem Aufwind für die
Piraten keine reale Gefahr mehr.
Die FDP war
mit ihrem Bemühen gescheitert, den dramatischen Wählerschwund dadurch
aufzuhalten, dass man bei möglichst vielen aktuellen Themen als
Traditionswächter des altindustriellen und national-chauvinistischen Denkens
agiert. Ihre Nachhutgefechte gegen Energiewende, Euro-Rettungsschirm und
Finanztransaktionssteuer wie auch das überraschend unoriginelle
Plädoyer für Wachstum um jeden Preis haben ihr nur geschadet und die abstrakte
(Lindner-)Option einer Ampelkoalition zusätzlich entwertet. So beweist der
Absturz der Liberalen bei der Sonntagsfrage, wie richtig die Union mit ihrem
Profilwandel in Richtung Sozialdemokratie liegt. Doch deuten die
Landtagswahlergebnisse in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen auf eine
reelle Erholungschance. Wie sich eine mögliche Erneuerung über die Länder auf
die Chancen der Partei im Bund auswirkt, bleibt abzuwarten. Für den Fall des
Falles ist jedoch mit einer etwas gemilderten Bindung an die Union zu rechnen.
Eine Wiederkehr der FDP kann der Kanzlerin also nicht zur Freude gereichen,
denn sie muss, solange die FDP präsent ist, schwarz-gelbe Koalitionen auch
wider besseres Wissen als »best choice«
ausgeben.
Die SPD, die
zeitweise schon unter die 30-Prozent-Marke gesunken war, scheint sich mit den
Wahlsiegen in Hamburg und NRW von der Niederlage 2009 zu erholen. Doch kann von
einem eigenen attraktiven Profil für die Bundespolitik nicht die Rede sein,
geschweige denn von so etwas wie einem gemeinsamen rot-grünen. Das Eintreten
der SPD für Eurobonds und großzügigere Hilfen an die Schuldnerländer wird die
sozialdemokratischen Stammwähler schwerlich begeistern. So wartet man in
bräsigem Selbstgefallen, dass die Union unachtsam wird und Themen aufbringt,
die sich mit der Forderung nach mehr Gerechtigkeit kontern lassen. Bislang
beruhen die Konsolidierung der Partei und das Ansehen ihres Vorsitzenden auf
einer simplen Themen- und Profilverkürzung. Indem er es vermeidet, sich auf die
tatsächliche Komplexität und Widersprüchlichkeit der Situation einzulassen,
vermag Sigmar Gabriel zwar, das Wir-Gefühl der Partei zu pflegen. Aber die
Erkenntnis, dass man anfangen müsste, in Sachen Kanzlerkandidat,
Schattenkabinett, Koalitionsstil und Gegenprojekt zu Schwarz-Gelb offensiv zu
werden, lässt auf sich warten.
Verliererin
der Jahre 2010 und 2011 ist die Linkspartei. Trotz anfänglich respektabler
Wahlergebnisse war sie nach 2009 nicht imstande, eigene Themen zu setzen und
damit von ihrem ideologischen Schisma und den spätpubertären Anwandlungen
mancher Spitzenpolitiker abzulenken. Auch fünf Jahre nach der Vereinigung von
PDS und WASG ist die »Linke« eine mehrfach gespaltene und immobil gewordene
Pseudo-Bewegungspartei. An die Stelle des alten Nebeneinanders von Ost- und
Westmitgliedern ist nun der Gegensatz von Regierungs- und
Oppositionsbefürwortern, von pragmatischen Ex-Sozialdemokraten und naiven
Spätkommunisten sowie zwischen jenen geworden, die ihren Gegner in Schwarz-Gelb
sehen, während die anderen (um Oskar Lafontaine) es vorziehen, den Erzfeind
Rot-Grün zu bekämpfen. Schließlich hat noch ein unprofessioneller und
politikblinder Vorstand mitgeholfen, dass die Hoffnung auf eine allmähliche
Ausbildung von Koalitionsfähigkeit gründlich enttäuscht wurde. Auf eine
Regierungsbeteiligung im Westen und im Bund besteht so bald keine Aussicht.
2013 interessiert allein, welchen Stimmenanteil die Linkspartei neutralisieren
wird.
Ein weit
schwierigeres Rätsel ist die Piratenpartei, deren Mitglieder selbst noch nicht
zu wissen scheinen, was wohl ihre Identität und ihre Ziele sein mögen. Nach der
Berlin-Wahl sah man in ihr die Vorboten und Verkünder einer Zeitenwende der
gesellschaftlichen und politischen Kommunikation, gewissermaßen die DNA der
digitalisierten Informationsgesellschaft. Weniger euphorische Einschätzungen
stellen auf weitere Besonderheiten ab: die extensive Internetnutzung und der
Netzwerkcharakter der internen Kommunikation, die tendenzielle Überschätzung
des Kommunikationsmediums gegenüber dem Kommunikationsinhalt, den Vorrang von
individueller Freiheit vor Fragen gesellschaftlicher Verantwortung, die
egalitär-anarchischen Momente des Organisationsverständnisses, die
Geschichtslosigkeit und Policy-Indifferenz in den
meisten Feldern sowie die beträchtliche ideologische Heterogenität – alles
Merkmale, die eine längere Phase der Selbstfindung erwarten lassen.
Nach den
Landtagswahlen im Frühjahr 2012 zeichnet sich eine neue, beunruhigende Deutung
der Piraten ab. Dass es den Saar-Piraten auf Anhieb gelang, die Grünen zu
überflügeln, beweist, wie sehr sich ihr Aufstieg den vom Parteileben völlig
unabhängigen Fremdzuschreibungen verdankt. Der größte Teil ihrer Wähler sieht
in ihnen die Repräsentanten eines politik- und institutionenkritischen Zeitgefühls, das von der Rede über
Politikverdrossenheit und Parteienfrust inspiriert ist und dabei naiven
Assoziationen huldigt, wie etwa der, dass sanfte Widerspruchsgesten schon
irgendeine gute Wirkung haben werden. Das Abheben auf »moderne« Themen wie
Webfreiheit und Transparenz erscheint unter diesem Fokus als weniger zentral,
sondern stärker vom regionalen Umfeld und von Medienkonjunkturen abhängig. Wenn
dieser Eindruck zutrifft, wird das inhaltliche Politikdefizit den Piraten kein
Hindernis auf dem Weg zu weiteren Erfolgen werden, sondern ist eher eine
Bedingung ihres Erfolgs: die Piraten als Nichtpartei neuen Typs, fern aller
inhaltlichen Festlegungen und deshalb in der eigentümlichen Verfassung, ihr
endgültiges Selbstbild zum guten Teil anhand der Fremdzuschreibungen zu bilden.
Damit wird
verständlich, wieso es den Piraten gelingt, sich auf Kosten nahezu aller Parteien
zu bereichern, mit leichter Präferenz für das Mitte-Links-Spektrum. Die Union
ist etwas weniger von Wanderungsverlusten betroffen und schätzt sich glücklich,
wenn SPD-geführte Regierungen umso unwahrscheinlicher werden, je mehr Stimmen
auf die Piraten fallen. Es wird interessant sein zu beobachten, ob Politikstil
und Inhaltsarmut der Piraten auf die Dauer tragen oder ob sich die Wähler nicht
rasch wieder anderen Parteien zuwenden, wenn Richtungsentscheidungen sowie ein
Machtwechsel anstehen. Deshalb kommt es für SPD und Grüne darauf an, eine kluge
Konfliktstrategie mit hinreichend glaubwürdigen Alternativen vorzubereiten,
wenn sie die Stimmenneutralisierung durch Piraten und Linke klein halten
wollen.
Das
impliziert unter günstigen Umständen, nämlich falls auch die Piraten die Abwahl
der Regierung Merkel anstreben, eine weitere Koalitionsoption:
SPD-Grüne-Piraten ist unter den gegebenen Bedingungen allemal einer
Ampelkoalition oder der imaginären Alternative Rot-Rot-Grün vorzuziehen (und
würde auch Selbstfindung und Kalkulierbarkeit der »Neuen« fördern). Sollte die
Piratenpartei unschlüssig agieren, würde es helfen, ihren Wählern zu erklären,
welche Regierungskonstellation sie sich einzuhandeln anschicken. Jedenfalls
sollten die Grünen, wo immer sie mit den Piraten zusammen im Parlament sitzen,
um ein wohlwollend-kritisches, der Form nach geschwisterliches Verhältnis zur
neuen Protestpartei bemüht sein und versuchen, sie in Kooperationspläne
einzubeziehen.
Die Grünen
im Aufwind
Im
Superwahljahr 2011 glänzten die Grünen als unbestrittener Gewinner. Sie
erzielten in Hamburg 11,2 Prozent (+1,6 %), in Sachsen-Anhalt 7,1 (+3,5 %), in
Baden-Württemberg 24,2 (+12,5 %), in Rheinland-Pfalz 15,4 (+10,8 %), in Bremen
22,5 (+6 %), in Mecklenburg-Vorpommern 8,7 (+5,3 %) und in Berlin 17,6 (+4,5 %).
Daraus ergab sich die erste grün-rote Regierung in Baden-Württemberg, die
rot-grüne Regierung in Rheinland-Pfalz, die Fortsetzung der rot-grünen
Regierung in Bremen, aber auch die SPD-Alleinregierung in Hamburg.
Anfang 2012
war das Stimmungshoch der Grünen schon wieder vorbei. Die Sonntagsfrage im
April lieferte nicht mehr Beliebtheitswerte um 20 Prozent wie ein Jahr zuvor,
sondern nur mehr solche von 12 bis 14 Prozent. Was FDP und Linke gegenüber dem
Bundestagswahlergebnis von 2009 eingebüßt haben (-11 bzw. -5 Prozentpunkte),
ist weniger den Grünen (+3 Prozentpunkte) als vielmehr der Union und der SPD
(+1 bzw. +5 Prozentpunkte), aber auch den Piraten (+10 Prozentpunkte)
zugutegekommen.
Der
unerwartete Beliebtheitsschock, der die Grünen 2011 ereilt hatte, war eine
Seifenblase. Er verdankt sich dem zeitweiligen Höhepunkt des schleichenden
Attraktivitätsverlusts der »Etablierten«: CDU/CSU, SPD und FDP. Gleichwohl
bietet die beträchtliche Spannweite der grünen Wahlergebnisse von 2011 einige
erhellende Einsichten. Erstens ist tatsächlich eine Niveauverschiebung
gegenüber den früheren Landtagswahlergebnissen in der Größenordnung von fünf
Prozentpunkten festzustellen. Der Ausnahmefall Hamburg (mit »nur« +1,6 %) hat
eine sehr spezielle Ursache in der von Schwarz-Grün so unglücklich betriebenen
Schulreform. Zweitens können die Grünen endlich ihre vollständige Etablierung
in den östlichen Bundesländern registrieren, wo Umfragen und
Landtagswahlergebnisse einen ähnlichen Niveauanstieg belegen wie im Westen und
Süden.
Drittens
spiegeln sich in den Stimmengewinnen von 2011 vier regionale
Sonderkonjunkturen. In Baden-Württemberg war es der fokale Konflikt um
Stuttgart-21, zu dessen Bearbeitung allein die Grünen überzeugende Alternativen
anboten: ein faires Plebiszit und einen honorigen Ministerpräsidenten. Im
benachbarten Rheinland-Pfalz profitierte man vom generellen
Glaubwürdigkeitsverlust der FDP und der Chance, die SPD-Alleinregierung zu
beenden. Der beträchtliche Gewinn der Bremer Grünen (von 16,5 auf 22,5 %) ist
als Bestätigung einer erfolgreichen rot-grünen Regierung und als Ausdruck des
bundesweiten Reputationsgewinns der Grünen zu werten.
Etwas
komplexer sind die Ursachen des Berliner Wahlergebnisses. Das grüne Plus (+4,5 %)
liegt im Bundestrend, auch wenn die Ambitionen des Landesverbandes enttäuscht
worden waren. Hatte man doch Renate Künast als Kandidatin für das Amt des
Regierungschefs gewonnen und einen personenzentrierten Wahlkampf geführt. Aber
zum Pech der Grünen fehlte es in Berlin an einem zugespitzten Konflikt, in dem
man die bessere Alternative hätte präsentieren können. Die schließlich zum
Streitthema stilisierte Verlängerung der Startautobahn taugte nicht annähernd
dafür, sondern spielte nur dem Amtsinhaber in die Hände, der eine Große
Koalition vorzog. Eher unglücklich war wohl auch ein Wahlkampfstil, der den
konkurrierenden Piraten das große Segment unkonventioneller Wähler überließ.
Dass in
Berlin trotz überschießender Ambitionen und strategischer Fehler ein immer noch
beachtlicher Gewinn erzielt wurde, belegt, dass die Grünen von einem deutlich
erweiterten Wählerpotenzial ausgehen können. Dieses mag unter günstigen
Umständen auch noch im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 vorhanden sein. Das
hängt einerseits von den zukünftigen Fehlern und Erfolgen der anderen Parteien,
andererseits vom Agieren der Grünen in den nächsten 15 Monaten ab. Eine andere
Sache ist allerdings, wie das gewachsene Wählerpotenzial zur tatsächlichen
Stimmabgabe für die Grünen motiviert werden kann.
Worauf lässt
sich die Zunahme des Wählerpotenzials um fünf Prozentpunkte zurückführen? Zum
übergroßen Teil handelt es sich um eine Reaktion der Wähler auf akute Probleme
und Glaubwürdigkeitsverluste der Mitbewerber. Da ist zunächst die
Profilunschärfe der SPD. Man vernimmt die Plädoyers von Sigmar Gabriel und
Andrea Nahles für soziale Gerechtigkeit, aber hat
nicht vergessen, wer an der Ausarbeitung der Agenda 2010 maßgebend beteiligt
war (Ex-Kanzleramtschef Steinmeier) und wer bis zum Ende der Großen Koalition
Distanz zu den Gewerkschaften wahrte (Ex-Arbeitsminister Müntefering). Da die
Linkspartei lange Zeit nur durch internen Streit und obskure Themen (etwa ihren
Weg zum Kommunismus) auf sich aufmerksam machte, während Profil und Kompetenz
der Piratenpartei noch weitgehend unklar sind, rutschten die Grünen fast von
allein in die Rolle der Meinungsführerschaft im Mitte-links-Spektrum.
Die
wichtigste Leistung der Grünen in den vergangenen Jahren war die
kontinuierliche und weitgehend konfliktlose Konsolidierung in einem umfassenden
Kompetenzspektrum. Von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik über viele spezielle
Politikbereiche bis zur Finanz- und Europapolitik glänzen die Grünen mit einer
ganzen Palette sachkundigen und kommunikationsfähigen Personals. Jürgen
Trittin, mittlerweile als Spitzenpolitiker weithin anerkannt, lässt seltener
als früher den Eindruck aufkommen, es gehe ihm mehr um Selbstpräsentation als
um Politikintervention. Dennoch sollte man sich bewusst sein, dass die vier
grünen Spitzenpolitiker – spätestens nach dem Siegeszug der Piraten – etwas
altbacken und allzu überraschungsfrei wirken. Es dürfte wohl das letzte Mal
sein, dass sie das Außenbild der Partei bestreiten können. Offensichtlich fehlt
auf Bundesebene ein Kretschmann-Pendant.
Weil es den
Grünen in Zeiten gehäufter Politikskandale gelang, eigene Fehlleistungen zu
vermeiden, konnten sie ihre Kompetenz-, Berechenbarkeits- und
Glaubwürdigkeitsreputation weiter ausbauen. Der grüne Stern strahlt heute über
die Mittellinie bis weit ins konservativ-liberale Spektrum. Ein hohes Niveau
politischer Professionalität wird nicht nur den Mitgliedern der
Bundestagsfraktion, sondern mehreren Landtagsfraktionen, etwa in
Baden-Württemberg, Bremen, Hessen und NRW, sowie einer Reihe grüner
Bürgermeister zugeschrieben – ohne damit die Rolle vieler Ehrenamtlicher ohne
Mandat zu schmälern. Neben den Mandatsträgern und dem unauffälliger agierenden
Bundesvorstand hat sich die Heinrich-Böll-Stiftung Reputation erworben. Der
grüne Think tank nimmt inzwischen einen Spitzenplatz auf dem
Veranstaltungsmarkt der politischen Stiftungen ein. Seine in- und ausländischen
Aktivitäten sowie die Veranstaltungsthemen und Publikationen gelten als
originell und wegweisend. Nachdem sich die grüne Partei über zwei Jahrzehnte
die Kritik und Selbstkritik vieler Unzulänglichkeiten gefallen lassen musste,
sind die Erfolge der Organisationsentwicklung nicht mehr zu übersehen. Gelingt
es, diesen Markenkern auch in den Turbulenzen der kommenden Wahlkämpfe intakt
zu halten, bestehen beste Aussichten, der Favorit einer wachsenden Zahl Populismus-averser und zukunftsbesorgter Wähler zu bleiben.
Vor- und
Nachwahlarithmetik
Nimmt man die
Umfragewerte aus März 2012 als Kalkulationsgrundlage, so sieht man, dass Union
und SPD vor dem gleichen Dilemma stehen. Ihre Wahlchancen haben sich gegenüber
2009 etwas verbessert. Aber die Chance, mit dem jeweils bevorzugten
Juniorpartner regieren zu können, ist so schlecht wie 2005. Ohne die
unwahrscheinliche Erholung der FDP bleibt der Union nur eine Einladung an die Grünen
oder eine Große Koalition mit der SPD. Und die SPD, die mit großer
Zuverlässigkeit sieben bis zehn Prozentpunkte hinter der Union liegt, behält
die vage Aussicht auf ein rot-grünes Regierungsbündnis nur, wenn die Grünen
mehr als 15 Prozent schaffen. Was die Genossen wollen, ist jedenfalls klar: Sie
haben sich für Rot-Grün entschieden. Wenn es dafür nicht reicht, bliebe SPD wie
Grünen noch die Option, mit der Union zu koalieren. Die SPD muss und wird diese
Option realisieren. Sollten sich also nicht auch die Grünen darauf vorbereiten?
Nein.
Während die
Union im Wahlkampf einen übersichtlichen Frontverlauf vor sich hat – nämlich
ohne jede Rücksicht auf mögliche Partner so stark wie möglich zu werden –,
leiden die Sozialdemokraten unter dem Druck zweier gegensätzlicher Optionen. Um
ihrer Präferenz für Rot-Grün zu genügen, müssten sie auf möglichst starke Grüne
setzen, das heißt die Grünen als »besten Freund« akzeptieren und mit ihnen, wo
immer es zweckmäßig ist, Wahlabsprachen gegen die Union treffen. Doch
unglücklicherweise widerspricht diese Taktik dem Ziel, selbst möglichst stark
zu werden, um sich im Falle des Falles einer Großen Koalition um die Führung zu
bewerben. Weil aber Sozialdemokraten anders als die Unionschristen keinen Draht
zu höheren Wesen haben, die ihnen verraten, was die Zukunft bringt, bleiben sie
in diesem Dilemma gefangen. Sie werden also tun, was sie immer taten: Einige
werden im Wahlkampf mit sanfter Zunge Rot-Grün beschwören, andere massiv auf
die Grünen eindreschen; und gemeinsam wird man behaupten, SPD zu wählen, sei
allemal die beste Option.
Deshalb ist
klar: Trotz ihrer Präferenz für Rot-Grün werden die Grünen nicht von der SPD
geschont, sondern von beiden Seiten in einen harten Wahlkampf verwickelt
werden. Damit droht die spieltheoretische Gleichgewichtslösung der gegebenen
Konfliktlage zur Realität zu werden: Der wahrscheinlichste Ausgang ist
Schwarz-Rot – wie 2005. Was folgt daraus für die Grünen? Um ihren Anspruch auf
politische Gestaltung durchzusetzen, müssen sie konsequent die einzige für sie
akzeptable Option verfolgen, nämlich eine Ablösung der Regierung durch
Rot-Grün. Auch dann, wenn die GenossInnen nervös
werden und anfangen, blind um sich zu schlagen, dürfen sie ihre
Koalitionspräferenz nicht offen lassen oder gar der Versuchung unterliegen,
ernsthaft von Schwarz-Grün zu schwärmen. Die Aussicht auf Schwarz-Grün würde
die Grünen wesentlich mehr WählerInnen aus dem
Mitte-Links-Spektrum kosten, als sie aus dem Mitte-Rechts-Spektrum gewinnen
könnten. Schlimmer noch, sie würden eine Vielzahl treuer Stammwähler weit über
den Wahltag hinaus enttäuschen, um sich schließlich auf einer Stufe mit der
alten Wende-FDP wiederzufinden.
Nach der
französischen Präsidentschaftswahl haben die deutschen Parteien eine Chance,
ohne eigenes Risiko die Tauglichkeit beziehungsweise Impraktikabilität
»linker« Policy-Alternativen zu studieren. Womöglich
bringt der Regierungswechsel in Paris sogar der SPD einen Feldvorteil. Falls
sich Hollande-Sozialisten und SPD über einen
vernünftigen Europakurs verständigen und die neue französische Regierung
gleichzeitig hellsichtig genug ist, von allzu kostspieligen Experimenten à la
Mitterand Abstand zu nehmen –, dann könnte Rot-Grün 2013 nicht nur an den
französischen Linksschwenk anschließen, sondern von Berlin und Paris aus ein
Kurswechsel der EU eingeleitet werden. Mitte-Links-Regierungen in Frankreich
und Deutschland erlaubten den lang ersehnten Test auf die (Um‑)Steuerbarkeit
des europäischen Staatenbundes. Sollte aber das Ergebnis des französischen
Politikwechsels schon nach einem Jahr problematisch wirken, wird die SPD ihre Hollande-Begeisterung womöglich mit einem Unionssieg
bezahlen müssen.
Der Weg der
Grünen zurück an die Regierung und die Wahrung des über viele Jahre aufgebauten
Kompetenzprofils können nur mit einer eindeutigen Ausrichtung an den Chancen
für (und von) Rot-Grün gelingen. So war es ein taktischer Fehler der Berliner
Grünen, lange Zeit so zu tun, als sei man für alle Seiten offen, um erst kurz
vor dem Wahltermin in einem Anflug von Panik zu verkünden, man wolle doch mit
der SPD zusammengehen. Verweise auf Eigenständigkeit, Unabhängigkeit oder gar Äquidistanz sind dem Wortsinn nach banal, in ihren
strategischen Implikationen dagegen fatal. Befürworter von Schwarz-Grün können
ja gerne abwarten, ob die Union nach der Wahl ein unwiderstehliches Angebot
machen wird. Doch es besteht wenig Grund anzunehmen, dass Angela Merkel ihrer
Partei für eine »kleine« Koalition mehr zumuten würde als es für eine Große
Koalition mit der SPD notwendig wäre. Im Gegenteil, es wären die Grünen, die
einen Preis für die Vermeidung der ungeliebten Alternative Schwarz-Rot
entrichten müssten – um anschließend, als Juniorpartner der Union im Bund, in
eine ernste Existenzkrise zu stürzen, sowohl im Verhältnis zu ihren Wählern als
auch den Mitgliedern.
Policy-Kompetenz
Die Aussicht
auf eine rot-grüne Regierung 2013 hängt in besonderem Maße von den Wahlchancen
der Grünen ab. Und die Chancen der Grünen beruhen vor allem auf ihrer
Überzeugungskraft und ihrer sich in Sympathiewerten spiegelnden Attraktivität.
Um die Koalitionspräferenz Rot-Grün in eine reale Option umzumünzen, sind mehr
als Programmkataloge und die üblichen Wahlkampfmittel nötig. Es bedarf einer
weiteren Profilschärfung und deren kluge Vermittlung in die Rezeptionssphären
der Medien.
Es geht um
glaubhafte Signale, dass die Wähler am ehesten bei den Grünen ein hinreichend
differenziertes Problemverständnis für die zentralen Politikthemen erwarten
können. Mit der Qualität ihres Situationsverständnisses und der für die Policy-Wahl herangezogenen Kriterien gilt es zu
demonstrieren, dass Grüne mit komplexen Problemen auf gesamtgesellschaftlich
verantwortbare Weise umzugehen wissen. Wobei komplexe Probleme in mehrfacher
Hinsicht »schwierig« sind. Weil wichtige Ursachenfaktoren mit Unsicherheit
belastet sind und man oft nicht genau weiß, was der Fall ist. Weil es
regelmäßig an notwendigen Ressourcen und Zeit für eine optimale
Problembearbeitung mangelt. Weil bei den meisten Sachverhalten mehrere, nicht
selten widersprüchliche Ziele und Rationalitätsstandards zu berücksichtigen
sind. Und weil man es oft mit Gegenspielern zu tun hat, die sich nicht an die
Spielregeln halten und der Verfolgung eines geradlinigen Kurses im Wege stehen.
Zwei
exemplarische Fälle, die aus der Sicht von Wählern eine überzeugendere
Problembearbeitung verdienen, seien im Folgenden umrissen.
Mehr
Europa – aber wie?
Angesichts
der Unzulänglichkeit der von der Regierung (mit-)geschaffenen Rettungsschirme
plädieren SPD und Grüne mit Entschiedenheit für »mehr Europa«. Sie werben für
die Schaffung einer Fiskalunion der Euro-Länder und einer gemeinsamen
Wirtschaftsregierung, für eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und
Interventionen in die nationalen Haushalte sowie die gemeinschaftliche Kostenträgerschaft
bei der Finanzierung übermäßiger Staatsschulden durch sogenannte Eurobonds.
Alles in allem wird eine umfangreiche Stärkung der Brüsseler Exekutivmacht
gegenüber den Regierungen der Mitgliedsstaaten gefordert. Dafür werden den
südeuropäischen Schuldnerländern mehr Unterstützung beim Schuldendienst,
großzügigere Transferzahlungen und der sichere Verbleib im EWS – im Austausch
gegen moderate Sozial- und Wirtschaftsreformen – in Aussicht gestellt.
Weil die
Zentralisierung von Kontrollen und Entscheidungen mit den von den Grünen
ansonsten hochgehaltenen Prinzipien der Entscheidungspartizipation und
Subsidiarität kollidiert, soll sie mit einem Demokratisierungsschub kombiniert
werden, welcher allerdings den von den Finanzmärkten erzwungenen Souveränitätsverlust
der nationalen Parlamente kaum verschleiern, geschweige denn kompensieren kann.
Darunter werden mehr Rechte des Europäischen Parlaments (EP) gegenüber der
Kommission verstanden, die Zulassung europäischer Parteien und transnationaler
Wahllisten sowie größere Betätigungsfelder für Bürgerinitiativen. Dies alles,
wohlgemerkt, vor dem Hintergrund einer Entwicklung, in der die Zuständigkeiten
von Kommission und EP mehr und mehr durch intergouvernementale Verabredungen
unterlaufen werden, während Inhalte und Tempo der angestrebten Reformen
wesentlich von den Finanzmärkten bestimmt sind.
Was den
Reformvorschlägen für eine vertiefte politische Integration fehlt, ist eine
ernsthafte Reflexion darauf, wie die BürgerInnen in den Mitgliedsstaaten auf
ihre Entmächtigung und deren vermeintliche
Kompensation durch ein lediglich formal »gestärktes« Europaparlament reagieren
werden. Wir haben bereits erlebt, wie sehr die Griechen von Zorn über
diejenigen erfüllt sind, die ihrer Regierung mit Beistandszahlungen unter die
Arme greifen und im Gegenzug auf Ausgabenkürzungen bestehen, während es
gleichzeitig die Bürger der Slowakei befremdet, dass sie Solidaritätsopfer
zugunsten von Ländern mit deutlich höherem Pro-Kopf-Einkommen bringen sollen.
Wer mag noch glauben, dass der Unmut über solche Transaktionen verfliegt,
sobald die Menschen hören, dass die ihnen auferlegten Zumutungen nicht in der
Hauptstadt ihres Landes, sondern in Straßburg oder Brüssel beschlossen worden
sind?
Mit noch
weniger Verständnis für den nationalen Souveränitätsverlust ist zu rechnen,
wenn frühzeitige Eingriffe der EU-Exekutive in die nationale Haushalts-,
Sozial- oder Wirtschaftspolitik drohen, um einen sich abzeichnenden Bedarf an
finanzieller Hilfe rechtzeitig zu kontrollieren. Weil jede Form externer
Intervention zumindest vorübergehende soziale Kosten bedingt, wird sich der
Volkszorn immer gegen die Helfer, aber kaum gegen die Verursacher der
Hilfsbedürftigkeit richten. Die dadurch bedingte Verkehrung der Konfliktlage
beeinträchtigt die Reformfähigkeit des Landes. Diese Gemengelage resultiert aus
dem Verstoß gegen das Prinzip, dass Entscheider sich nicht gänzlich von den
Folgen ihrer Entscheidungen abkoppeln dürfen. Aber genau das würde passieren,
wenn Regierungen die Folgen von Misswirtschaft auf Straßburg abwälzen oder das
Europa-Parlament seine soziale Gesinnung in fiskalische Pflichtprogramme
einzelner Länder ummünzen würde. Vielleicht sollte man sich erinnern, dass der
Realsozialismus unter anderem an einer derartigen Entkopplung von Entscheidungsmacht,
Verantwortung und Betroffenheit zugrunde gegangen ist.
Es ist
bemerkenswert, dass es gerade Grüne sind, die in einer Zeit, in der das
Vertrauen in die Einheit Europas schwindet und die Skepsis gegenüber EU-Gremien
wächst, auf eine Politik des Souveränitätsverzichts und der
Entscheidungszentralisierung setzen. Weil es als Folge der Zentralisierung
immer negativ betroffene Mitgliedsstaaten geben wird, die den
Souveränitätsverlust und die Unterwerfung unter einen Steuerungszentralismus à
la Sowjetunion für unerträglich halten, werden solche Reformen die Einheit
Europas ernstlich gefährden. Das gilt schon für vermeintlich so harmlose
Eingriffe in die Lebensverhältnisse, wie sie die EU mit der Regelung der
Betriebszeiten europäischer Flughäfen vornimmt. Denn nichts rechtfertigt die
Annahme, dass nationale Regierungen, die restriktive EU-Auflagen umzusetzen
haben, dauerhaft mehr Loyalität mit ihren EU-Partnern aufbringen werden als mit
ihren wahlberechtigten Bürgern. Und was mag wohl die Bürger des einen Mitgliedsstaats
zur »Solidarität« mit Regelverletzern in der
Regierung eines anderen Mitgliedsstaats motivieren, egal ob sie sich dazu vom
Europäischen Rat, von der Kommission oder vom Europäischen Parlament
aufgefordert sehen?
Wer trotz der
absehbaren Schwierigkeiten am Projekt der Souveränitätsdelegation festhält,
muss viel deutlicher als bisher machen, wie den offenkundigen Bedenken Rechnung
getragen werden kann. Weil das die Befürworter von »mehr Europa« bislang
versäumt haben, dürften sie bald, und gewiss auch in der nächsten
Bundestagswahl, auf Widerspruch stoßen. Sie sollten sich frühzeitig darauf
einstellen, dass die Folgeprobleme der Souveränitätsdelegation nicht durch
immer größere Schritte in Richtung eines machtvollen europäischen Zentralstaats
bewältigt werden können. Vielmehr bedarf es eines neuen, ausgewogenen und
plausiblen Leitbildes für die Governance-Struktur der
europäischen Fiskalunion.
Der einzig
gangbare Weg, die finanz- und fiskalpolitisch
notwendige Vergemeinschaftung krisenfest zu machen, liegt in der glaubwürdigen
Selbstbeschränkung der Zentralsteuerung auf solche Themen und Politiken, die
einheitliche Regeln zwingend erfordern oder bei denen die Vorteile der
zentralen Regulierung ubiquitär und unmittelbar wahrnehmbar sind. Aller anderen
Regulierungs- und Entscheidungsthemen sollte sich die Union enthalten. Mit
anderen Worten: Wer heute noch, das heißt nach dem Zusammenbruch des
Realsozialismus, auf politische Zentralisierung setzt, muss nicht nur deren
allseitige Vorteile belegen, sondern gleichzeitig der Peripherie hinreichend
große Sphären garantierter Autonomie und Selbstverantwortung einräumen. Im
Klartext: Eine Europäische Union, die ihren Mitgliedern weniger Autonomie und
fiskalische Selbstverantwortung zubilligt, als sie die (sprachlich und
kulturell besser integrierten) Einzelstaaten der USA genießen, ist mit
Sicherheit zum Scheitern verurteilt.
Folglich
bedarf jede weitere Souveränitätsdelegation kompensatorischer Mechanismen auf
den Ebenen nationaler, regionaler und/oder lokaler Demokratie, auf denen es
keine derart große Kluft zwischen Entscheidern und Betroffenen gibt wie in
einem fiskalisch vereinten Europa. Dieser Kompensationsbedarf lässt sich nicht
mit (schein-)demokratischen Innovationen auf oder unterhalb der EU-Ebene neutralisieren.
Notwendig ist vielmehr eine sorgfältige Evaluierung und Korrektur aller
EU-Zuständigkeiten gemäß dem Gebot der Selbstbescheidung und Duldung von
Differenzen, die nicht unmittelbar gemeinschafts- oder gemeinwohlgefährdender
Art sind.
Von der
Notwendigkeit, mit Autonomie, Selbstverantwortung und echter Subsidiarität
ernst zu machen, dürfen insbesondere die »grünen« Befürworter von »mehr Europa«
nicht länger schweigen. Denn die akute Bestandsgefährdung der Union geht heute
nicht mehr von den Warnern und Bedenkenträgern aus, sondern von den
emphatischen Befürwortern einer »immer engeren«, »immer tieferen« und immer
hierarchischer betriebenen Integration. Folglich werden es in den
bevorstehenden Wahlkämpfen auch nicht die fragilen Vorteile der angestrebten
Zentralisierung sein, mit denen sich besorgte Wähler beruhigen lassen, sondern
allein die glaubwürdige und konzeptionell unterlegte Zusicherung, dass aus
einem sachlich begrenzten Souveränitätsverlust kein universeller werden wird.
Das
Solarstrom-Desaster
Die
Solarstrom-Umlage, die als selektive Förderung einer ineffizienten
Energiequelle zunehmend auf Kritik stößt, ist im Begriff, zum
Glaubwürdigkeitstest der Grünen zu werden. Die Kritik gilt erst in zweiter
Linie dem beträchtlichen Fördervolumen und seiner strompreistreibenden Wirkung.
Vielmehr steht die Fähigkeit politischer Parteien infrage, einen Irrtum in
ihrer regulativen Politik einzuräumen und die Korrektur offenkundiger
Fehlentwicklungen zu akzeptieren. Demgegenüber gleicht die derzeitige Position
der Grünen zur Solarstromförderung ziemlich exakt der Situation von Goethes
Zauberlehrling in jener Phase der Ballade, in dem er von seiner Machtfülle
berauscht ist und noch nicht erkennt, was er angerichtet hat.
Es steht zu
befürchten, dass im Interesse der Profiteure und Lobbyisten des Solarstroms
zusätzliche Investitionen in erheblichem Umfang (für den überdimensionierten
Ausbau von Stromnetzen und Energiespeichern) getätigt werden, deren einziger
Zweck es ist, die losgetretene Kostenlawine nachträglich zu rechtfertigen.
Deshalb ist es, ungeachtet des Protestes gegen die Kürzung der
Einspeisevergütung, Zeit für eine Positionsberichtigung, nicht zuletzt um die
drohende Diskreditierung jeglicher erneuerbaren Energien als bloße
Lobby-Projekte zu verhindern. So könnten die Grünen als Miturheber
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) die Verschwendungsdebatte schadlos
überstehen, in die sie über kurz oder lang verwickelt sein werden. Denn an den
Fakten ist schwerlich zu rütteln.
In 2010
hatten alle erneuerbaren Energien zusammengenommen 16,4 Prozent Anteil an der
Bruttostromerzeugung in Deutschland. Der Anteil der Photovoltaik betrug 1,9
Prozent. Der vergleichsweise geringe Anteil der Photovoltaik hat nur teilweise
mit der installierten Kapazität zu tun; er resultiert vor allem aus der
begrenzten Sonnenscheindauer, dem flacheren Einfallswinkel der Wintersonne und
dem Ausfall bei Nacht und Schneefall.
Gleichwohl
verursachte das EEG einen regelrechten Solarstrom-Boom. Allein in 2010 wurden
(laut Bundesumweltamt) 19,5 Milliarden Euro in Photovoltaik-Anlagen investiert.
Das entspricht 73,3 Prozent aller Investitionen in erneuerbare Energien. Auf
Wasserkraft, Geothermie, Solarthermie, Biomasse und
Windenergie, die zusammen 83 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien
bestreiten, entfielen lediglich Investitionen von 7,1 Milliarden Euro.
Vergleicht man den volkswirtschaftlichen Nutzen der einzelnen erneuerbaren
Energiearten, so zeigt sich ein ähnliches Bild. Von der Gesamtsumme der
wirtschaftlichen Impulse aus dem Anlagenbetrieb erneuerbarer Energien von
insgesamt 11,1 Milliarden Euro (in 2010) entfallen auf die Photovoltaik nur
0,74 Milliarden, entsprechend 6,7 Prozent. Biomasse bringt es auf 7,9
Milliarden, entsprechend 71,3 Prozent, die Windenergie auf 1,3 Milliarden,
Wasserkraft, Erd- und Umweltwärme zusammen auf knapp eine Milliarde Euro.
Dank der
zunächst sehr großzügig bemessenen, später schrittweise, jüngst etwas kräftiger
reduzierten Einspeisevergütung und beschleunigt durch sinkende Importpreise der
Solarmodule wurde Deutschland zum Solarstromland Nummer eins. Denn die geballte
Förderung, die außer der Einspeisevergütung für 20 Jahre auch KfW-Zuschüsse und
Steuervorteile umfasst, machte Investitionen in Photovoltaik zur bevorzugten
Kapitalanlage für betuchte Eigenheimbesitzer, Landwirte und Unternehmer. Die
Zeitschrift Finanztest bescheinigt Investoren regelmäßig Kapitalrenditen
zwischen vier und zwölf Prozent. Der (abgezinste)
Gegenwartswert der von 2000 bis 2010 aufgebrachten Subventionen wird auf 85
Milliarden Euro beziffert. Der jährliche Subventionsumfang beträgt circa neun
Milliarden Euro. Und die schon feststehenden Subventionsverpflichtungen des
nächsten Jahrzehnts belaufen sich auf rund 65 Milliarden Euro. Weil die Kosten
von allen Haushalten aufgebracht werden müssen, aber die Subvention nur einer
Minderheit von Investoren die Taschen füllt, wird in der Presse vom
»unsozialsten (Förder-)Programm Deutschlands« gesprochen (NZZ, 14.2.12).
Für die
überdimensionierte Solarstromförderung werden zwei Begründungen angeboten. Die
eine, industriepolitische Argumentation zielt auf die Markteinführung von
Produkten, die sich erst beim Absatz von großen Stückzahlen lohnen. Als
selbstverständlich wurde unterstellt, dass die Förderung auch vermehrte Forschungsanstrengungen
auslösen würde, sodass die Solarstromtechnologie bald eine rentable
Energiequelle würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die deutsche Solarstrombranche
weist unterdurchschnittliche F&E-Ausgaben auf und selbst Befürworter der
erneuerbaren Energien räumen ein, dass eine rentable Solarstromerzeugung
nördlich des Mittelmeeres illusorisch ist (Gregor Czisch in Kommune
6/2011). Besser hätte man die enormen Subventionen in die Entwicklung von
Speichertechnologien gesteckt: Sorry, shit happens.
Die andere
Rechtfertigung ist klimapolitischer Natur. Immerhin errechnet das
Umweltbundesamt eine Verminderung der Emission von CO2-äquivalenten
Treibhausgasen um 7,9 Millionen Tonnen durch die Photovoltaik. Der
Entlastungseffekt steht aber nur auf dem Papier. Denn die Gesamtmenge der
Emissionsrechte bleibt vom Ausbau der erneuerbaren Energien unberührt. Weder
Solarstrom noch andere erneuerbare Energien bewirken eine tatsächliche
Verminderung der CO2-Emissionen, sondern tragen vielmehr dazu bei,
dass der Preis der Emissionszertifikate auf unter zehn Euro pro Tonne CO2
gesunken ist und sich Anstrengungen zur Emissionsvermeidung deshalb noch
weniger lohnen.
Aber selbst
für den Fall, dass der Anteil der Photovoltaik am gesamten deutschen
Primärenergieverbrauch auf das Dreifache (d. h. auf 0,9 %) steigen und anders
als heute eine effektive Emissionsverminderung bewirken würde, verringerte sich
das Niveau der weltweiten CO2-Emissionen maximal um lediglich 0,0234
Prozent, das heißt um weniger als drei Zehntausendstel. Der klimapolitische
Wert der Solarstromförderung ist ebenso unerheblich wie der energiepolitische
Nutzen.
Die
Verschwendung der über den Strompreis eingesammelten Fördermilliarden ist umso
peinlicher, als gleichzeitig die Kohleverstromung auf Jahrzehnte hinaus
fortgeschrieben wird, obwohl sie eine enorme Belastung der CO2-Bilanz
darstellt und mittels anderer erneuerbarer Energien als ausgerechnet der
Photovoltaik in rascheren Schritten eindämmbar wäre.
Auf den klimapolitischen Skandal der Verschwendung derart umfangreicher Mittel
und den sozialpolitischen Skandal ihrer regressiven Umverteilung haben SPD und
Grüne bislang mit beschwichtigenden, nicht selten absichtlich irreführenden
Behauptungen reagiert. Das zeigte sich auch an ihrem Protest gegen die jüngste Senkung
der Einspeisevergütungen.
So offenbart
sich im Solarstrom-Desaster die fatale Tendenz von Großorganisationen, an einem
einmal eingeschlagenen Weg auch dann festzuhalten, wenn er sich aufgrund von
Kontextveränderungen oder im Lichte neuer Erkenntnisse als falsch, hochgradig
verschwenderisch und der eigenen Glaubwürdigkeit abträglich erwiesen hat. Die
Grünen täten gut daran, im Rahmen eines optimierten Gesamtkonzepts der
Energiewende einen baldigen Ausstieg aus der Solarstromförderung vorzusehen.
Bedingungen
der Handlungsfähigkeit
Um ihre
günstigen Chancen für die Bundestagswahl 2013 auszuschöpfen, werden die Grünen
gewiss bemüht bleiben, ihr akkumuliertes Vertrauenskapital in Sachen
Fachkompetenz, Professionalität und Glaubwürdigkeit weiter auszubauen. Als
politische Organisation mit einem großen Anteil sozial und ökologisch
engagierter, aber auch zur rationalen Abwägung befähigter Individuen werden sie
darüber hinaus weitere »windfall profits«
an politischer Unterstützung erzielen, wenn ihren Konkurrenten
Kommunikationsfehler unterlaufen oder sie mit Skandalen aufwarten. Die
Häufigkeit solcher »externen« Faktoren dürfte dank unsicherer Wahlergebnisse
und unerwarteter Entscheidungsanlässe noch zunehmen. Um unter diesen
Bedingungen handlungsfähig zu bleiben, sind ein hohes Maß von Aufmerksamkeit,
(Selbst-)Kritikfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstkorrektur von Vorteil. Auch
lohnt es sich, der Versuchung zur Dogmatisierung von selbstgefälligen Ansichten
und zur Verklärung vergangener Fehlentscheidungen zu widerstehen.