Helmut Wiesenthal

 

Auf dem Weg in die Regierung?

 

Die Grünen vor der Bundestagswahl

  

Aus der Bundestagswahl 2013 könnte eine Regierung aus SPD und Grünen hervorgehen. Allerdings beruht diese Erwartung allein auf der gedanklichen Fortschreibung einer Entwicklung, die schon im Herbst 2011 ans Ende gelangt sein könnte – mit dem Dämpfer für die Berliner Grünen und dem Aufstieg der Piratenpartei. Doch zeigen Umfragen nach wie vor eine strukturelle Mehrheit des linken Parteienspektrums. Nur taugt sie nicht als Regierungsbündnis, weil ein Stimmenanteil zwischen 15 und 20 Prozent von Linkspartei und Piraten neutralisiert wird. Die nahe liegende Frage ist also, was könnten SPD und Grüne tun, um Ende 2013 eine gemeinsame Regierung zu bilden? Was müssten sie unternehmen oder unterlassen, um ihr noch unzulängliches Können zu verbessern?

 

1998 ist nicht wiederholbar

Die Erinnerung an die rot-grüne Regierung 1998–2005 hilft nicht. Sie war bekanntlich nur von den Grünen angestrebt worden, die SPD hatte auf eine Große Koalition gesetzt. Was zeitweise als »rot-grünes Projekt« deklariert wurde, beruhte auf der Arbeitsteilung zwischen Schröder-SPD und Fischer-Grünen. So durfte die grüne Agenda große Teile der ersten Legislaturperiode bestimmen, aber die Grünen hatten zu schlucken, was die SPD-Spitze in Sachen Unternehmenssteuerreform und Agenda 2010 für sinnvoll hielt – und letzten Endes der Koalition ein vorzeitiges Ende bereitete.

Ein neues Regierungsbündnis wird nicht noch einmal auf eine derartige Arbeitsteilung gegründet sein. Der Orientierungsrahmen für rot-grüne Politik ab 2014 muss von vornherein stärker auf den in der Öffentlichkeit dominierenden Problemhorizont abgestellt werden als auf parteipolitisch geprägte Forderungs- und Mobilisierungskataloge. Das verweist auf deutlich erhöhte Anforderungen an die kognitive und diskursive Kompetenz der Mandatsbewerber.

Es bedarf nur eines Blicks auf die Dynamik der weltwirtschaftlichen Entwicklung, um die radikale Umstülpung der aus dem 20. Jahrhundert vertrauten Ordnung zu erkennen. Das Schicksal Europas wird im Wesentlichen davon abhängen, ob man sich im Sinne ökonomischer und kultureller Offenheit als Teil und Mitgestalter des von den neuen Industrieländern weitergetriebenen Modernisierungsprozesses versteht oder sich, eingeschüchtert durch Tempo und Formen des Wandels, mit zwangsläufig unzulänglichen Mitteln von aller Veränderungsdynamik abzuschotten versucht. Gleichzeitig – und unter dem Druck globaler Ungleichzeitigkeiten – wird man sich (immer noch) befassen müssen: mit der fortdauernden Schuldenkrise, dem brüchig gewordenen Zusammenhalt der EU, der Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft, den Folgeproblemen der sich abzeichnenden Fiskal- und Transferunion und den Optionen für ein effektives Klimaregime.

Aber nicht nur der erweiterte Problemhorizont, sondern auch ein verändertes Parteiensystem widersprechen der Vorstellung, Grüne und SPD könnten an frühere Regierungsprogramme und -erfahrungen anknüpfen. Das deutsche Parteiensystem – seine Akteure, Themen und Wettbewerbsordnung – hat ein völlig neues Gesicht erhalten. Im neuen Fünf- (vielleicht auch: Sechs-)Parteiensystem lassen sich die aus den Wahlen hervorgehenden Regierungen kaum noch im Vorhinein kalkulieren. Die Vermehrung der rechnerisch möglichen Koalitionsoptionen, die parteienübergreifende Konvergenz der Themen und Politikkataloge sowie der schleichende Trend abnehmender Parteienbindung und zunehmender Politikverdrossenheit scheinen im Übrigen einstige Berührungsängste und Gegnerschaften abzumildern. Manches scheint möglich, was lange Zeit undenkbar war, womöglich sogar Schwarz-Grün. Die Chancen der Grünen, aus dieser Gemengelage heraus den Weg in die Bundesregierung zu finden, um dort die eigenen Politikpräferenzen zu realisieren, hängen allerdings immer noch von zwei Hauptfaktoren ab: der Fähigkeit, das eigene Wollen und Wirken rational zu steuern, auf der einen Seite, und von der Konstellation der Konkurrenten und ihren Strategien auf der anderen.

 

Parteiensystem im Umbruch

Es war die Gründung der bundesweit erfolgreichen Linkspartei aus PDS und WASG, der sich die vorletzte Metamorphose des Parteiensystems verdankt. Seit der Bundestagswahl 2009 konkurrieren also in Deutschland fünf Parteien um die Gunst einer zunehmend frustrierten Wählerschaft. Und sie konfrontieren Parteistrategen und spin doctors mit einer schwieriger gewordenen Machtarithmetik. 2011 hat sich das Bild nochmals verkompliziert. Wenngleich mancher FDP-Skandal, wie etwa die Mehrwertsteuersenkung für Hotelbetriebe, auch von der Union zu verantworten war, schien die FDP ihr 15-Prozent-Ergebnis von 2009 sogleich verspielt zu haben. Ihr allein wird der misslungene Start der schwarz-gelben Regierung zugeschrieben und mit dem drohenden Verschwinden unter die Fünfprozentmarke quittiert.

Gleichzeitig erlebten die Grünen in 2011 einen plötzlichen Aufstieg zur Mittelpartei, als sie Umfragewerte um 20 Prozent erzielten. Das verdankten sie nicht gerade eigenen Spitzenleistungen, aber zumindest der Vermeidung parteitypischer Fehler. Für die Chancen der Grünen, sich auf dem 15- bis 20-Prozent-Niveau zu etablieren, wird entscheidend sein, ob der relative Attraktivitätsverlust von FDP, aber auch von CDU/CSU und SPD, anhält. Natürlich zählt auch, wie rasch die Piraten ihren Zenit erreichen werden. Was zunächst nach einer Rückkehr des Vier-Parteien-Systems aussah, änderte sich mit dem überraschenden Einzug der Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus. Inspiriert vom neugierig-wohlwollenden Medienecho der Politikneulinge und beachtlichen Landtagswahlerfolgen herrscht nun große Unsicherheit, was die Bundestagswahl 2013 für die anschließende Regierungsbildung bringen mag.

Die Grünen erlebten ihren Beliebtheitsboom vor allem dank des Missgeschicks der drei »Altparteien« und der Aktualität einer Energiewende. Doch im Wahljahr 2013 könnte die Union schon wieder mit einer vergleichsweise günstigen Wirtschaftslage ihre Schwächen überstrahlen. Dafür sind die über 41 Millionen Beschäftigten von Ende 2011 kein schlechter Ausgangswert. Von einiger Bedeutung für die Unions-Wahlchancen dürften auch die wiederholten Updates der konservativen Agenda sein. Man mag den von Kanzlerin und Arbeitsministerin betriebenen Themenklau gegenüber der SPD als rein taktisch motiviert ansehen, das neue Gesamtbild der Union – mit Atomausstieg, Suspendierung der Wehrpflicht, Abkehr von der Hauptschule, Frauenquote für Aufsichtsräte, Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz und Offenheit für die Finanztransaktionssteuer – ist jedenfalls »Mitte pur«. Es beweist große Entschlossenheit, die SPD für eine dauerhafte Juniorrolle in Großen Koalitionen reif zu schießen. Und wie die interne Kritik an der Kita-Vermeidungsprämie »Betreuungsgeld« zeigt, wandelt sich ganz nebenbei auch das Selbstverständnis der CDU.

Vergleichsweise günstige Wahlchancen besitzt die Union nicht zuletzt dank des Amtsbonus der Kanzlerin. Ihr Management der Euro-Schuldenkrise nehmen viele Wähler keineswegs als erfolglos wahr. Ihre Zustimmungswerte liegen bei den Anhängern aller Parteien, auch von Grünen, Linken und Piraten, über 50 Prozent. Frau Merkel mag zwar nicht als Lichtgestalt erscheinen, aber ihr moderates Auftreten hebt sie deutlich von den innerparteilichen Konkurrenten ab. Noch ist nicht erkennbar, ob ihr Mangel an einer Langzeitperspektive fürs Krisenmanagement eher das Risiko der deutschen Steuerzahler, die Risiken der Schuldnerländer oder beider Risiken erhöht.

Hält man sich die konkurrierenden Ziele vor Augen – Vermeidung des Staatsbankrotts von Schuldnerländern, Aufrechterhaltung hinreichend starker Reformanreize und rasche wirtschaftliche Erholung –, so mag man angesichts der unklaren Langzeitfolgen noch von einer halbwegs geglückten Balance sprechen. Jedenfalls hat die hegemoniale Rolle der Kanzlerin im europäischen Krisentheater geholfen, die diversen Schwächen ihrer Regierung zu kaschieren. Ohne die Schuldenkrise wäre vor allem die deutsche Außenpolitik stärker in die Kritik geraten.

Andererseits könnte die Union aufgrund der personalpolitischen Kalamitäten an Ansehen verloren haben. Das allzu lange Festhalten am Schaumschläger Guttenberg und dem Prominachläufer Wulff hat der Parteiführung peinliche Scharten beigebracht. Weil ausgerechnet diese beiden Maulhelden so viel von Anstand, Offenheit und Glaubwürdigkeit gefaselt haben, können diese Werte kaum mehr als Ausweis konservativer Moral gelten. Von ähnlicher Peinlichkeit, aber wohl bald vergessen, ist die Plünderung des Bundeshaushalts um sechs Milliarden Euro Steuersenkung zu dem alleinigen Zweck, die Wiederwahlchancen der FDP aufzubessern.

Die Entschiedenheit, mit der die Union ihre aussterbenden altdeutsch-konservativen Anhänger durch liberal-sozial gesinnte Wähler aus der Mitte zu ersetzen versucht, ist nicht nur der Konkurrenz mit der SPD geschuldet. Es geht der Parteivorsitzenden auch darum, die Union für eine Zeit fit zu machen, in der die (multi-)kulturelle Modernisierung auch das letzte bayerische Bergdorf erreicht hat und es keine starke FDP mehr gibt, die die Regierungsmehrheit garantiert. Vielmehr muss sich mittlerweile auch die Unionsführung klarmachen, dass eine Dreierkoalition künftig die einzige Alternative zu Schwarz-Rot sein könnte. Was Merkel definitiv nicht will, ist Ministerin unter Gabriel und Nahles zu werden. Doch das ist seit dem Aufwind für die Piraten keine reale Gefahr mehr.

Die FDP war mit ihrem Bemühen gescheitert, den dramatischen Wählerschwund dadurch aufzuhalten, dass man bei möglichst vielen aktuellen Themen als Traditionswächter des altindustriellen und national-chauvinistischen Denkens agiert. Ihre Nachhutgefechte gegen Energiewende, Euro-Rettungsschirm und Finanztransaktionssteuer wie auch das überraschend unoriginelle Plädoyer für Wachstum um jeden Preis haben ihr nur geschadet und die abstrakte (Lindner-)Option einer Ampelkoalition zusätzlich entwertet. So beweist der Absturz der Liberalen bei der Sonntagsfrage, wie richtig die Union mit ihrem Profilwandel in Richtung Sozialdemokratie liegt. Doch deuten die Landtagswahlergebnisse in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen auf eine reelle Erholungschance. Wie sich eine mögliche Erneuerung über die Länder auf die Chancen der Partei im Bund auswirkt, bleibt abzuwarten. Für den Fall des Falles ist jedoch mit einer etwas gemilderten Bindung an die Union zu rechnen. Eine Wiederkehr der FDP kann der Kanzlerin also nicht zur Freude gereichen, denn sie muss, solange die FDP präsent ist, schwarz-gelbe Koalitionen auch wider besseres Wissen als »best choice« ausgeben.

Die SPD, die zeitweise schon unter die 30-Prozent-Marke gesunken war, scheint sich mit den Wahlsiegen in Hamburg und NRW von der Niederlage 2009 zu erholen. Doch kann von einem eigenen attraktiven Profil für die Bundespolitik nicht die Rede sein, geschweige denn von so etwas wie einem gemeinsamen rot-grünen. Das Eintreten der SPD für Eurobonds und großzügigere Hilfen an die Schuldnerländer wird die sozialdemokratischen Stammwähler schwerlich begeistern. So wartet man in bräsigem Selbstgefallen, dass die Union unachtsam wird und Themen aufbringt, die sich mit der Forderung nach mehr Gerechtigkeit kontern lassen. Bislang beruhen die Konsolidierung der Partei und das Ansehen ihres Vorsitzenden auf einer simplen Themen- und Profilverkürzung. Indem er es vermeidet, sich auf die tatsächliche Komplexität und Widersprüchlichkeit der Situation einzulassen, vermag Sigmar Gabriel zwar, das Wir-Gefühl der Partei zu pflegen. Aber die Erkenntnis, dass man anfangen müsste, in Sachen Kanzlerkandidat, Schattenkabinett, Koalitionsstil und Gegenprojekt zu Schwarz-Gelb offensiv zu werden, lässt auf sich warten.

Verliererin der Jahre 2010 und 2011 ist die Linkspartei. Trotz anfänglich respektabler Wahlergebnisse war sie nach 2009 nicht imstande, eigene Themen zu setzen und damit von ihrem ideologischen Schisma und den spätpubertären Anwandlungen mancher Spitzenpolitiker abzulenken. Auch fünf Jahre nach der Vereinigung von PDS und WASG ist die »Linke« eine mehrfach gespaltene und immobil gewordene Pseudo-Bewegungspartei. An die Stelle des alten Nebeneinanders von Ost- und Westmitgliedern ist nun der Gegensatz von Regierungs- und Oppositionsbefürwortern, von pragmatischen Ex-Sozialdemokraten und naiven Spätkommunisten sowie zwischen jenen geworden, die ihren Gegner in Schwarz-Gelb sehen, während die anderen (um Oskar Lafontaine) es vorziehen, den Erzfeind Rot-Grün zu bekämpfen. Schließlich hat noch ein unprofessioneller und politikblinder Vorstand mitgeholfen, dass die Hoffnung auf eine allmähliche Ausbildung von Koalitionsfähigkeit gründlich enttäuscht wurde. Auf eine Regierungsbeteiligung im Westen und im Bund besteht so bald keine Aussicht. 2013 interessiert allein, welchen Stimmenanteil die Linkspartei neutralisieren wird.

Ein weit schwierigeres Rätsel ist die Piratenpartei, deren Mitglieder selbst noch nicht zu wissen scheinen, was wohl ihre Identität und ihre Ziele sein mögen. Nach der Berlin-Wahl sah man in ihr die Vorboten und Verkünder einer Zeitenwende der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation, gewissermaßen die DNA der digitalisierten Informationsgesellschaft. Weniger euphorische Einschätzungen stellen auf weitere Besonderheiten ab: die extensive Internetnutzung und der Netzwerkcharakter der internen Kommunikation, die tendenzielle Überschätzung des Kommunikationsmediums gegenüber dem Kommunikationsinhalt, den Vorrang von individueller Freiheit vor Fragen gesellschaftlicher Verantwortung, die egalitär-anarchischen Momente des Organisationsverständnisses, die Geschichtslosigkeit und Policy-Indifferenz in den meisten Feldern sowie die beträchtliche ideologische Heterogenität – alles Merkmale, die eine längere Phase der Selbstfindung erwarten lassen.

Nach den Landtagswahlen im Frühjahr 2012 zeichnet sich eine neue, beunruhigende Deutung der Piraten ab. Dass es den Saar-Piraten auf Anhieb gelang, die Grünen zu überflügeln, beweist, wie sehr sich ihr Aufstieg den vom Parteileben völlig unabhängigen Fremdzuschreibungen verdankt. Der größte Teil ihrer Wähler sieht in ihnen die Repräsentanten eines politik- und institutionenkritischen Zeitgefühls, das von der Rede über Politikverdrossenheit und Parteienfrust inspiriert ist und dabei naiven Assoziationen huldigt, wie etwa der, dass sanfte Widerspruchsgesten schon irgendeine gute Wirkung haben werden. Das Abheben auf »moderne« Themen wie Webfreiheit und Transparenz erscheint unter diesem Fokus als weniger zentral, sondern stärker vom regionalen Umfeld und von Medienkonjunkturen abhängig. Wenn dieser Eindruck zutrifft, wird das inhaltliche Politikdefizit den Piraten kein Hindernis auf dem Weg zu weiteren Erfolgen werden, sondern ist eher eine Bedingung ihres Erfolgs: die Piraten als Nichtpartei neuen Typs, fern aller inhaltlichen Festlegungen und deshalb in der eigentümlichen Verfassung, ihr endgültiges Selbstbild zum guten Teil anhand der Fremdzuschreibungen zu bilden.

Damit wird verständlich, wieso es den Piraten gelingt, sich auf Kosten nahezu aller Parteien zu bereichern, mit leichter Präferenz für das Mitte-Links-Spektrum. Die Union ist etwas weniger von Wanderungsverlusten betroffen und schätzt sich glücklich, wenn SPD-geführte Regierungen umso unwahrscheinlicher werden, je mehr Stimmen auf die Piraten fallen. Es wird interessant sein zu beobachten, ob Politikstil und Inhaltsarmut der Piraten auf die Dauer tragen oder ob sich die Wähler nicht rasch wieder anderen Parteien zuwenden, wenn Richtungsentscheidungen sowie ein Machtwechsel anstehen. Deshalb kommt es für SPD und Grüne darauf an, eine kluge Konfliktstrategie mit hinreichend glaubwürdigen Alternativen vorzubereiten, wenn sie die Stimmenneutralisierung durch Piraten und Linke klein halten wollen.

Das impliziert unter günstigen Umständen, nämlich falls auch die Piraten die Abwahl der Regierung Merkel anstreben, eine weitere Koalitionsoption: SPD-Grüne-Piraten ist unter den gegebenen Bedingungen allemal einer Ampelkoalition oder der imaginären Alternative Rot-Rot-Grün vorzuziehen (und würde auch Selbstfindung und Kalkulierbarkeit der »Neuen« fördern). Sollte die Piratenpartei unschlüssig agieren, würde es helfen, ihren Wählern zu erklären, welche Regierungskonstellation sie sich einzuhandeln anschicken. Jedenfalls sollten die Grünen, wo immer sie mit den Piraten zusammen im Parlament sitzen, um ein wohlwollend-kritisches, der Form nach geschwisterliches Verhältnis zur neuen Protestpartei bemüht sein und versuchen, sie in Kooperationspläne einzubeziehen.

 

Die Grünen im Aufwind

Im Superwahljahr 2011 glänzten die Grünen als unbestrittener Gewinner. Sie erzielten in Hamburg 11,2 Prozent (+1,6 %), in Sachsen-Anhalt 7,1 (+3,5 %), in Baden-Württemberg 24,2 (+12,5 %), in Rheinland-Pfalz 15,4 (+10,8 %), in Bremen 22,5 (+6 %), in Mecklenburg-Vorpommern 8,7 (+5,3 %) und in Berlin 17,6 (+4,5 %). Daraus ergab sich die erste grün-rote Regierung in Baden-Württemberg, die rot-grüne Regierung in Rheinland-Pfalz, die Fortsetzung der rot-grünen Regierung in Bremen, aber auch die SPD-Alleinregierung in Hamburg.

Anfang 2012 war das Stimmungshoch der Grünen schon wieder vorbei. Die Sonntagsfrage im April lieferte nicht mehr Beliebtheitswerte um 20 Prozent wie ein Jahr zuvor, sondern nur mehr solche von 12 bis 14 Prozent. Was FDP und Linke gegenüber dem Bundestagswahlergebnis von 2009 eingebüßt haben (-11 bzw. -5 Prozentpunkte), ist weniger den Grünen (+3 Prozentpunkte) als vielmehr der Union und der SPD (+1 bzw. +5 Prozentpunkte), aber auch den Piraten (+10 Prozentpunkte) zugutegekommen.

Der unerwartete Beliebtheitsschock, der die Grünen 2011 ereilt hatte, war eine Seifenblase. Er verdankt sich dem zeitweiligen Höhepunkt des schleichenden Attraktivitätsverlusts der »Etablierten«: CDU/CSU, SPD und FDP. Gleichwohl bietet die beträchtliche Spannweite der grünen Wahlergebnisse von 2011 einige erhellende Einsichten. Erstens ist tatsächlich eine Niveauverschiebung gegenüber den früheren Landtagswahlergebnissen in der Größenordnung von fünf Prozentpunkten festzustellen. Der Ausnahmefall Hamburg (mit »nur« +1,6 %) hat eine sehr spezielle Ursache in der von Schwarz-Grün so unglücklich betriebenen Schulreform. Zweitens können die Grünen endlich ihre vollständige Etablierung in den östlichen Bundesländern registrieren, wo Umfragen und Landtagswahlergebnisse einen ähnlichen Niveauanstieg belegen wie im Westen und Süden.

Drittens spiegeln sich in den Stimmengewinnen von 2011 vier regionale Sonderkonjunkturen. In Baden-Württemberg war es der fokale Konflikt um Stuttgart-21, zu dessen Bearbeitung allein die Grünen überzeugende Alternativen anboten: ein faires Plebiszit und einen honorigen Ministerpräsidenten. Im benachbarten Rheinland-Pfalz profitierte man vom generellen Glaubwürdigkeitsverlust der FDP und der Chance, die SPD-Alleinregierung zu beenden. Der beträchtliche Gewinn der Bremer Grünen (von 16,5 auf 22,5 %) ist als Bestätigung einer erfolgreichen rot-grünen Regierung und als Ausdruck des bundesweiten Reputationsgewinns der Grünen zu werten.

Etwas komplexer sind die Ursachen des Berliner Wahlergebnisses. Das grüne Plus (+4,5 %) liegt im Bundestrend, auch wenn die Ambitionen des Landesverbandes enttäuscht worden waren. Hatte man doch Renate Künast als Kandidatin für das Amt des Regierungschefs gewonnen und einen personenzentrierten Wahlkampf geführt. Aber zum Pech der Grünen fehlte es in Berlin an einem zugespitzten Konflikt, in dem man die bessere Alternative hätte präsentieren können. Die schließlich zum Streitthema stilisierte Verlängerung der Startautobahn taugte nicht annähernd dafür, sondern spielte nur dem Amtsinhaber in die Hände, der eine Große Koalition vorzog. Eher unglücklich war wohl auch ein Wahlkampfstil, der den konkurrierenden Piraten das große Segment unkonventioneller Wähler überließ.

Dass in Berlin trotz überschießender Ambitionen und strategischer Fehler ein immer noch beachtlicher Gewinn erzielt wurde, belegt, dass die Grünen von einem deutlich erweiterten Wählerpotenzial ausgehen können. Dieses mag unter günstigen Umständen auch noch im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 vorhanden sein. Das hängt einerseits von den zukünftigen Fehlern und Erfolgen der anderen Parteien, andererseits vom Agieren der Grünen in den nächsten 15 Monaten ab. Eine andere Sache ist allerdings, wie das gewachsene Wählerpotenzial zur tatsächlichen Stimmabgabe für die Grünen motiviert werden kann.

Worauf lässt sich die Zunahme des Wählerpotenzials um fünf Prozentpunkte zurückführen? Zum übergroßen Teil handelt es sich um eine Reaktion der Wähler auf akute Probleme und Glaubwürdigkeitsverluste der Mitbewerber. Da ist zunächst die Profilunschärfe der SPD. Man vernimmt die Plädoyers von Sigmar Gabriel und Andrea Nahles für soziale Gerechtigkeit, aber hat nicht vergessen, wer an der Ausarbeitung der Agenda 2010 maßgebend beteiligt war (Ex-Kanzleramtschef Steinmeier) und wer bis zum Ende der Großen Koalition Distanz zu den Gewerkschaften wahrte (Ex-Arbeitsminister Müntefering). Da die Linkspartei lange Zeit nur durch internen Streit und obskure Themen (etwa ihren Weg zum Kommunismus) auf sich aufmerksam machte, während Profil und Kompetenz der Piratenpartei noch weitgehend unklar sind, rutschten die Grünen fast von allein in die Rolle der Meinungsführerschaft im Mitte-links-Spektrum.

Die wichtigste Leistung der Grünen in den vergangenen Jahren war die kontinuierliche und weitgehend konfliktlose Konsolidierung in einem umfassenden Kompetenzspektrum. Von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik über viele spezielle Politikbereiche bis zur Finanz- und Europapolitik glänzen die Grünen mit einer ganzen Palette sachkundigen und kommunikationsfähigen Personals. Jürgen Trittin, mittlerweile als Spitzenpolitiker weithin anerkannt, lässt seltener als früher den Eindruck aufkommen, es gehe ihm mehr um Selbstpräsentation als um Politikintervention. Dennoch sollte man sich bewusst sein, dass die vier grünen Spitzenpolitiker – spätestens nach dem Siegeszug der Piraten – etwas altbacken und allzu überraschungsfrei wirken. Es dürfte wohl das letzte Mal sein, dass sie das Außenbild der Partei bestreiten können. Offensichtlich fehlt auf Bundesebene ein Kretschmann-Pendant.

Weil es den Grünen in Zeiten gehäufter Politikskandale gelang, eigene Fehlleistungen zu vermeiden, konnten sie ihre Kompetenz-, Berechenbarkeits- und Glaubwürdigkeitsreputation weiter ausbauen. Der grüne Stern strahlt heute über die Mittellinie bis weit ins konservativ-liberale Spektrum. Ein hohes Niveau politischer Professionalität wird nicht nur den Mitgliedern der Bundestagsfraktion, sondern mehreren Landtagsfraktionen, etwa in Baden-Württemberg, Bremen, Hessen und NRW, sowie einer Reihe grüner Bürgermeister zugeschrieben – ohne damit die Rolle vieler Ehrenamtlicher ohne Mandat zu schmälern. Neben den Mandatsträgern und dem unauffälliger agierenden Bundesvorstand hat sich die Heinrich-Böll-Stiftung Reputation erworben. Der grüne Think tank nimmt inzwischen einen Spitzenplatz auf dem Veranstaltungsmarkt der politischen Stiftungen ein. Seine in- und ausländischen Aktivitäten sowie die Veranstaltungsthemen und Publikationen gelten als originell und wegweisend. Nachdem sich die grüne Partei über zwei Jahrzehnte die Kritik und Selbstkritik vieler Unzulänglichkeiten gefallen lassen musste, sind die Erfolge der Organisationsentwicklung nicht mehr zu übersehen. Gelingt es, diesen Markenkern auch in den Turbulenzen der kommenden Wahlkämpfe intakt zu halten, bestehen beste Aussichten, der Favorit einer wachsenden Zahl Populismus-averser und zukunftsbesorgter Wähler zu bleiben.

 

Vor- und Nachwahlarithmetik

Nimmt man die Umfragewerte aus März 2012 als Kalkulationsgrundlage, so sieht man, dass Union und SPD vor dem gleichen Dilemma stehen. Ihre Wahlchancen haben sich gegenüber 2009 etwas verbessert. Aber die Chance, mit dem jeweils bevorzugten Juniorpartner regieren zu können, ist so schlecht wie 2005. Ohne die unwahrscheinliche Erholung der FDP bleibt der Union nur eine Einladung an die Grünen oder eine Große Koalition mit der SPD. Und die SPD, die mit großer Zuverlässigkeit sieben bis zehn Prozentpunkte hinter der Union liegt, behält die vage Aussicht auf ein rot-grünes Regierungsbündnis nur, wenn die Grünen mehr als 15 Prozent schaffen. Was die Genossen wollen, ist jedenfalls klar: Sie haben sich für Rot-Grün entschieden. Wenn es dafür nicht reicht, bliebe SPD wie Grünen noch die Option, mit der Union zu koalieren. Die SPD muss und wird diese Option realisieren. Sollten sich also nicht auch die Grünen darauf vorbereiten? Nein.

Während die Union im Wahlkampf einen übersichtlichen Frontverlauf vor sich hat – nämlich ohne jede Rücksicht auf mögliche Partner so stark wie möglich zu werden –, leiden die Sozialdemokraten unter dem Druck zweier gegensätzlicher Optionen. Um ihrer Präferenz für Rot-Grün zu genügen, müssten sie auf möglichst starke Grüne setzen, das heißt die Grünen als »besten Freund« akzeptieren und mit ihnen, wo immer es zweckmäßig ist, Wahlabsprachen gegen die Union treffen. Doch unglücklicherweise widerspricht diese Taktik dem Ziel, selbst möglichst stark zu werden, um sich im Falle des Falles einer Großen Koalition um die Führung zu bewerben. Weil aber Sozialdemokraten anders als die Unionschristen keinen Draht zu höheren Wesen haben, die ihnen verraten, was die Zukunft bringt, bleiben sie in diesem Dilemma gefangen. Sie werden also tun, was sie immer taten: Einige werden im Wahlkampf mit sanfter Zunge Rot-Grün beschwören, andere massiv auf die Grünen eindreschen; und gemeinsam wird man behaupten, SPD zu wählen, sei allemal die beste Option.

Deshalb ist klar: Trotz ihrer Präferenz für Rot-Grün werden die Grünen nicht von der SPD geschont, sondern von beiden Seiten in einen harten Wahlkampf verwickelt werden. Damit droht die spieltheoretische Gleichgewichtslösung der gegebenen Konfliktlage zur Realität zu werden: Der wahrscheinlichste Ausgang ist Schwarz-Rot – wie 2005. Was folgt daraus für die Grünen? Um ihren Anspruch auf politische Gestaltung durchzusetzen, müssen sie konsequent die einzige für sie akzeptable Option verfolgen, nämlich eine Ablösung der Regierung durch Rot-Grün. Auch dann, wenn die GenossInnen nervös werden und anfangen, blind um sich zu schlagen, dürfen sie ihre Koalitionspräferenz nicht offen lassen oder gar der Versuchung unterliegen, ernsthaft von Schwarz-Grün zu schwärmen. Die Aussicht auf Schwarz-Grün würde die Grünen wesentlich mehr WählerInnen aus dem Mitte-Links-Spektrum kosten, als sie aus dem Mitte-Rechts-Spektrum gewinnen könnten. Schlimmer noch, sie würden eine Vielzahl treuer Stammwähler weit über den Wahltag hinaus enttäuschen, um sich schließlich auf einer Stufe mit der alten Wende-FDP wiederzufinden.

Nach der französischen Präsidentschaftswahl haben die deutschen Parteien eine Chance, ohne eigenes Risiko die Tauglichkeit beziehungsweise Impraktikabilität »linker« Policy-Alternativen zu studieren. Womöglich bringt der Regierungswechsel in Paris sogar der SPD einen Feldvorteil. Falls sich Hollande-Sozialisten und SPD über einen vernünftigen Europakurs verständigen und die neue französische Regierung gleichzeitig hellsichtig genug ist, von allzu kostspieligen Experimenten à la Mitterand Abstand zu nehmen –, dann könnte Rot-Grün 2013 nicht nur an den französischen Linksschwenk anschließen, sondern von Berlin und Paris aus ein Kurswechsel der EU eingeleitet werden. Mitte-Links-Regierungen in Frankreich und Deutschland erlaubten den lang ersehnten Test auf die (Um‑)Steuerbarkeit des europäischen Staatenbundes. Sollte aber das Ergebnis des französischen Politikwechsels schon nach einem Jahr problematisch wirken, wird die SPD ihre Hollande-Begeisterung womöglich mit einem Unionssieg bezahlen müssen.

Der Weg der Grünen zurück an die Regierung und die Wahrung des über viele Jahre aufgebauten Kompetenzprofils können nur mit einer eindeutigen Ausrichtung an den Chancen für (und von) Rot-Grün gelingen. So war es ein taktischer Fehler der Berliner Grünen, lange Zeit so zu tun, als sei man für alle Seiten offen, um erst kurz vor dem Wahltermin in einem Anflug von Panik zu verkünden, man wolle doch mit der SPD zusammengehen. Verweise auf Eigenständigkeit, Unabhängigkeit oder gar Äquidistanz sind dem Wortsinn nach banal, in ihren strategischen Implikationen dagegen fatal. Befürworter von Schwarz-Grün können ja gerne abwarten, ob die Union nach der Wahl ein unwiderstehliches Angebot machen wird. Doch es besteht wenig Grund anzunehmen, dass Angela Merkel ihrer Partei für eine »kleine« Koalition mehr zumuten würde als es für eine Große Koalition mit der SPD notwendig wäre. Im Gegenteil, es wären die Grünen, die einen Preis für die Vermeidung der ungeliebten Alternative Schwarz-Rot entrichten müssten – um anschließend, als Juniorpartner der Union im Bund, in eine ernste Existenzkrise zu stürzen, sowohl im Verhältnis zu ihren Wählern als auch den Mitgliedern.

 

Policy-Kompetenz

Die Aussicht auf eine rot-grüne Regierung 2013 hängt in besonderem Maße von den Wahlchancen der Grünen ab. Und die Chancen der Grünen beruhen vor allem auf ihrer Überzeugungskraft und ihrer sich in Sympathiewerten spiegelnden Attraktivität. Um die Koalitionspräferenz Rot-Grün in eine reale Option umzumünzen, sind mehr als Programmkataloge und die üblichen Wahlkampfmittel nötig. Es bedarf einer weiteren Profilschärfung und deren kluge Vermittlung in die Rezeptionssphären der Medien.

Es geht um glaubhafte Signale, dass die Wähler am ehesten bei den Grünen ein hinreichend differenziertes Problemverständnis für die zentralen Politikthemen erwarten können. Mit der Qualität ihres Situationsverständnisses und der für die Policy-Wahl herangezogenen Kriterien gilt es zu demonstrieren, dass Grüne mit komplexen Problemen auf gesamtgesellschaftlich verantwortbare Weise umzugehen wissen. Wobei komplexe Probleme in mehrfacher Hinsicht »schwierig« sind. Weil wichtige Ursachenfaktoren mit Unsicherheit belastet sind und man oft nicht genau weiß, was der Fall ist. Weil es regelmäßig an notwendigen Ressourcen und Zeit für eine optimale Problembearbeitung mangelt. Weil bei den meisten Sachverhalten mehrere, nicht selten widersprüchliche Ziele und Rationalitätsstandards zu berücksichtigen sind. Und weil man es oft mit Gegenspielern zu tun hat, die sich nicht an die Spielregeln halten und der Verfolgung eines geradlinigen Kurses im Wege stehen.

Zwei exemplarische Fälle, die aus der Sicht von Wählern eine überzeugendere Problembearbeitung verdienen, seien im Folgenden umrissen.

 

Mehr Europa – aber wie?

Angesichts der Unzulänglichkeit der von der Regierung (mit-)geschaffenen Rettungsschirme plädieren SPD und Grüne mit Entschiedenheit für »mehr Europa«. Sie werben für die Schaffung einer Fiskalunion der Euro-Länder und einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung, für eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und Interventionen in die nationalen Haushalte sowie die gemeinschaftliche Kostenträgerschaft bei der Finanzierung übermäßiger Staatsschulden durch sogenannte Eurobonds. Alles in allem wird eine umfangreiche Stärkung der Brüsseler Exekutivmacht gegenüber den Regierungen der Mitgliedsstaaten gefordert. Dafür werden den südeuropäischen Schuldnerländern mehr Unterstützung beim Schuldendienst, großzügigere Transferzahlungen und der sichere Verbleib im EWS – im Austausch gegen moderate Sozial- und Wirtschaftsreformen – in Aussicht gestellt.

Weil die Zentralisierung von Kontrollen und Entscheidungen mit den von den Grünen ansonsten hochgehaltenen Prinzipien der Entscheidungspartizipation und Subsidiarität kollidiert, soll sie mit einem Demokratisierungsschub kombiniert werden, welcher allerdings den von den Finanzmärkten erzwungenen Souveränitätsverlust der nationalen Parlamente kaum verschleiern, geschweige denn kompensieren kann. Darunter werden mehr Rechte des Europäischen Parlaments (EP) gegenüber der Kommission verstanden, die Zulassung europäischer Parteien und transnationaler Wahllisten sowie größere Betätigungsfelder für Bürgerinitiativen. Dies alles, wohlgemerkt, vor dem Hintergrund einer Entwicklung, in der die Zuständigkeiten von Kommission und EP mehr und mehr durch intergouvernementale Verabredungen unterlaufen werden, während Inhalte und Tempo der angestrebten Reformen wesentlich von den Finanzmärkten bestimmt sind.

Was den Reformvorschlägen für eine vertiefte politische Integration fehlt, ist eine ernsthafte Reflexion darauf, wie die BürgerInnen in den Mitgliedsstaaten auf ihre Entmächtigung und deren vermeintliche Kompensation durch ein lediglich formal »gestärktes« Europaparlament reagieren werden. Wir haben bereits erlebt, wie sehr die Griechen von Zorn über diejenigen erfüllt sind, die ihrer Regierung mit Beistandszahlungen unter die Arme greifen und im Gegenzug auf Ausgabenkürzungen bestehen, während es gleichzeitig die Bürger der Slowakei befremdet, dass sie Solidaritätsopfer zugunsten von Ländern mit deutlich höherem Pro-Kopf-Einkommen bringen sollen. Wer mag noch glauben, dass der Unmut über solche Transaktionen verfliegt, sobald die Menschen hören, dass die ihnen auferlegten Zumutungen nicht in der Hauptstadt ihres Landes, sondern in Straßburg oder Brüssel beschlossen worden sind?

Mit noch weniger Verständnis für den nationalen Souveränitätsverlust ist zu rechnen, wenn frühzeitige Eingriffe der EU-Exekutive in die nationale Haushalts-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik drohen, um einen sich abzeichnenden Bedarf an finanzieller Hilfe rechtzeitig zu kontrollieren. Weil jede Form externer Intervention zumindest vorübergehende soziale Kosten bedingt, wird sich der Volkszorn immer gegen die Helfer, aber kaum gegen die Verursacher der Hilfsbedürftigkeit richten. Die dadurch bedingte Verkehrung der Konfliktlage beeinträchtigt die Reformfähigkeit des Landes. Diese Gemengelage resultiert aus dem Verstoß gegen das Prinzip, dass Entscheider sich nicht gänzlich von den Folgen ihrer Entscheidungen abkoppeln dürfen. Aber genau das würde passieren, wenn Regierungen die Folgen von Misswirtschaft auf Straßburg abwälzen oder das Europa-Parlament seine soziale Gesinnung in fiskalische Pflichtprogramme einzelner Länder ummünzen würde. Vielleicht sollte man sich erinnern, dass der Realsozialismus unter anderem an einer derartigen Entkopplung von Entscheidungsmacht, Verantwortung und Betroffenheit zugrunde gegangen ist.

Es ist bemerkenswert, dass es gerade Grüne sind, die in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Einheit Europas schwindet und die Skepsis gegenüber EU-Gremien wächst, auf eine Politik des Souveränitätsverzichts und der Entscheidungszentralisierung setzen. Weil es als Folge der Zentralisierung immer negativ betroffene Mitgliedsstaaten geben wird, die den Souveränitätsverlust und die Unterwerfung unter einen Steuerungszentralismus à la Sowjetunion für unerträglich halten, werden solche Reformen die Einheit Europas ernstlich gefährden. Das gilt schon für vermeintlich so harmlose Eingriffe in die Lebensverhältnisse, wie sie die EU mit der Regelung der Betriebszeiten europäischer Flughäfen vornimmt. Denn nichts rechtfertigt die Annahme, dass nationale Regierungen, die restriktive EU-Auflagen umzusetzen haben, dauerhaft mehr Loyalität mit ihren EU-Partnern aufbringen werden als mit ihren wahlberechtigten Bürgern. Und was mag wohl die Bürger des einen Mitgliedsstaats zur »Solidarität« mit Regelverletzern in der Regierung eines anderen Mitgliedsstaats motivieren, egal ob sie sich dazu vom Europäischen Rat, von der Kommission oder vom Europäischen Parlament aufgefordert sehen?

Wer trotz der absehbaren Schwierigkeiten am Projekt der Souveränitätsdelegation festhält, muss viel deutlicher als bisher machen, wie den offenkundigen Bedenken Rechnung getragen werden kann. Weil das die Befürworter von »mehr Europa« bislang versäumt haben, dürften sie bald, und gewiss auch in der nächsten Bundestagswahl, auf Widerspruch stoßen. Sie sollten sich frühzeitig darauf einstellen, dass die Folgeprobleme der Souveränitätsdelegation nicht durch immer größere Schritte in Richtung eines machtvollen europäischen Zentralstaats bewältigt werden können. Vielmehr bedarf es eines neuen, ausgewogenen und plausiblen Leitbildes für die Governance-Struktur der europäischen Fiskalunion.

Der einzig gangbare Weg, die finanz- und fiskalpolitisch notwendige Vergemeinschaftung krisenfest zu machen, liegt in der glaubwürdigen Selbstbeschränkung der Zentralsteuerung auf solche Themen und Politiken, die einheitliche Regeln zwingend erfordern oder bei denen die Vorteile der zentralen Regulierung ubiquitär und unmittelbar wahrnehmbar sind. Aller anderen Regulierungs- und Entscheidungsthemen sollte sich die Union enthalten. Mit anderen Worten: Wer heute noch, das heißt nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, auf politische Zentralisierung setzt, muss nicht nur deren allseitige Vorteile belegen, sondern gleichzeitig der Peripherie hinreichend große Sphären garantierter Autonomie und Selbstverantwortung einräumen. Im Klartext: Eine Europäische Union, die ihren Mitgliedern weniger Autonomie und fiskalische Selbstverantwortung zubilligt, als sie die (sprachlich und kulturell besser integrierten) Einzelstaaten der USA genießen, ist mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt.

Folglich bedarf jede weitere Souveränitätsdelegation kompensatorischer Mechanismen auf den Ebenen nationaler, regionaler und/oder lokaler Demokratie, auf denen es keine derart große Kluft zwischen Entscheidern und Betroffenen gibt wie in einem fiskalisch vereinten Europa. Dieser Kompensationsbedarf lässt sich nicht mit (schein-)demokratischen Innovationen auf oder unterhalb der EU-Ebene neutralisieren. Notwendig ist vielmehr eine sorgfältige Evaluierung und Korrektur aller EU-Zuständigkeiten gemäß dem Gebot der Selbstbescheidung und Duldung von Differenzen, die nicht unmittelbar gemeinschafts- oder gemeinwohlgefährdender Art sind.

Von der Notwendigkeit, mit Autonomie, Selbstverantwortung und echter Subsidiarität ernst zu machen, dürfen insbesondere die »grünen« Befürworter von »mehr Europa« nicht länger schweigen. Denn die akute Bestandsgefährdung der Union geht heute nicht mehr von den Warnern und Bedenkenträgern aus, sondern von den emphatischen Befürwortern einer »immer engeren«, »immer tieferen« und immer hierarchischer betriebenen Integration. Folglich werden es in den bevorstehenden Wahlkämpfen auch nicht die fragilen Vorteile der angestrebten Zentralisierung sein, mit denen sich besorgte Wähler beruhigen lassen, sondern allein die glaubwürdige und konzeptionell unterlegte Zusicherung, dass aus einem sachlich begrenzten Souveränitätsverlust kein universeller werden wird.

 

Das Solarstrom-Desaster

Die Solarstrom-Umlage, die als selektive Förderung einer ineffizienten Energiequelle zunehmend auf Kritik stößt, ist im Begriff, zum Glaubwürdigkeitstest der Grünen zu werden. Die Kritik gilt erst in zweiter Linie dem beträchtlichen Fördervolumen und seiner strompreistreibenden Wirkung. Vielmehr steht die Fähigkeit politischer Parteien infrage, einen Irrtum in ihrer regulativen Politik einzuräumen und die Korrektur offenkundiger Fehlentwicklungen zu akzeptieren. Demgegenüber gleicht die derzeitige Position der Grünen zur Solarstromförderung ziemlich exakt der Situation von Goethes Zauberlehrling in jener Phase der Ballade, in dem er von seiner Machtfülle berauscht ist und noch nicht erkennt, was er angerichtet hat.

Es steht zu befürchten, dass im Interesse der Profiteure und Lobbyisten des Solarstroms zusätzliche Investitionen in erheblichem Umfang (für den überdimensionierten Ausbau von Stromnetzen und Energiespeichern) getätigt werden, deren einziger Zweck es ist, die losgetretene Kostenlawine nachträglich zu rechtfertigen. Deshalb ist es, ungeachtet des Protestes gegen die Kürzung der Einspeisevergütung, Zeit für eine Positionsberichtigung, nicht zuletzt um die drohende Diskreditierung jeglicher erneuerbaren Energien als bloße Lobby-Projekte zu verhindern. So könnten die Grünen als Miturheber des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) die Verschwendungsdebatte schadlos überstehen, in die sie über kurz oder lang verwickelt sein werden. Denn an den Fakten ist schwerlich zu rütteln.

In 2010 hatten alle erneuerbaren Energien zusammengenommen 16,4 Prozent Anteil an der Bruttostromerzeugung in Deutschland. Der Anteil der Photovoltaik betrug 1,9 Prozent. Der vergleichsweise geringe Anteil der Photovoltaik hat nur teilweise mit der installierten Kapazität zu tun; er resultiert vor allem aus der begrenzten Sonnenscheindauer, dem flacheren Einfallswinkel der Wintersonne und dem Ausfall bei Nacht und Schneefall.

Gleichwohl verursachte das EEG einen regelrechten Solarstrom-Boom. Allein in 2010 wurden (laut Bundesumweltamt) 19,5 Milliarden Euro in Photovoltaik-Anlagen investiert. Das entspricht 73,3 Prozent aller Investitionen in erneuerbare Energien. Auf Wasserkraft, Geothermie, Solarthermie, Biomasse und Windenergie, die zusammen 83 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien bestreiten, entfielen lediglich Investitionen von 7,1 Milliarden Euro. Vergleicht man den volkswirtschaftlichen Nutzen der einzelnen erneuerbaren Energiearten, so zeigt sich ein ähnliches Bild. Von der Gesamtsumme der wirtschaftlichen Impulse aus dem Anlagenbetrieb erneuerbarer Energien von insgesamt 11,1 Milliarden Euro (in 2010) entfallen auf die Photovoltaik nur 0,74 Milliarden, entsprechend 6,7 Prozent. Biomasse bringt es auf 7,9 Milliarden, entsprechend 71,3 Prozent, die Windenergie auf 1,3 Milliarden, Wasserkraft, Erd- und Umweltwärme zusammen auf knapp eine Milliarde Euro.

Dank der zunächst sehr großzügig bemessenen, später schrittweise, jüngst etwas kräftiger reduzierten Einspeisevergütung und beschleunigt durch sinkende Importpreise der Solarmodule wurde Deutschland zum Solarstromland Nummer eins. Denn die geballte Förderung, die außer der Einspeisevergütung für 20 Jahre auch KfW-Zuschüsse und Steuervorteile umfasst, machte Investitionen in Photovoltaik zur bevorzugten Kapitalanlage für betuchte Eigenheimbesitzer, Landwirte und Unternehmer. Die Zeitschrift Finanztest bescheinigt Investoren regelmäßig Kapitalrenditen zwischen vier und zwölf Prozent. Der (abgezinste) Gegenwartswert der von 2000 bis 2010 aufgebrachten Subventionen wird auf 85 Milliarden Euro beziffert. Der jährliche Subventionsumfang beträgt circa neun Milliarden Euro. Und die schon feststehenden Subventionsverpflichtungen des nächsten Jahrzehnts belaufen sich auf rund 65 Milliarden Euro. Weil die Kosten von allen Haushalten aufgebracht werden müssen, aber die Subvention nur einer Minderheit von Investoren die Taschen füllt, wird in der Presse vom »unsozialsten (Förder-)Programm Deutschlands« gesprochen (NZZ, 14.2.12).

Für die überdimensionierte Solarstromförderung werden zwei Begründungen angeboten. Die eine, industriepolitische Argumentation zielt auf die Markteinführung von Produkten, die sich erst beim Absatz von großen Stückzahlen lohnen. Als selbstverständlich wurde unterstellt, dass die Förderung auch vermehrte Forschungsanstrengungen auslösen würde, sodass die Solarstromtechnologie bald eine rentable Energiequelle würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die deutsche Solarstrombranche weist unterdurchschnittliche F&E-Ausgaben auf und selbst Befürworter der erneuerbaren Energien räumen ein, dass eine rentable Solarstromerzeugung nördlich des Mittelmeeres illusorisch ist (Gregor Czisch in Kommune 6/2011). Besser hätte man die enormen Subventionen in die Entwicklung von Speichertechnologien gesteckt: Sorry, shit happens.

Die andere Rechtfertigung ist klimapolitischer Natur. Immerhin errechnet das Umweltbundesamt eine Verminderung der Emission von CO2-äquivalenten Treibhausgasen um 7,9 Millionen Tonnen durch die Photovoltaik. Der Entlastungseffekt steht aber nur auf dem Papier. Denn die Gesamtmenge der Emissionsrechte bleibt vom Ausbau der erneuerbaren Energien unberührt. Weder Solarstrom noch andere erneuerbare Energien bewirken eine tatsächliche Verminderung der CO2-Emissionen, sondern tragen vielmehr dazu bei, dass der Preis der Emissionszertifikate auf unter zehn Euro pro Tonne CO2 gesunken ist und sich Anstrengungen zur Emissionsvermeidung deshalb noch weniger lohnen.

Aber selbst für den Fall, dass der Anteil der Photovoltaik am gesamten deutschen Primärenergieverbrauch auf das Dreifache (d. h. auf 0,9 %) steigen und anders als heute eine effektive Emissionsverminderung bewirken würde, verringerte sich das Niveau der weltweiten CO2-Emissionen maximal um lediglich 0,0234 Prozent, das heißt um weniger als drei Zehntausendstel. Der klimapolitische Wert der Solarstromförderung ist ebenso unerheblich wie der energiepolitische Nutzen.

Die Verschwendung der über den Strompreis eingesammelten Fördermilliarden ist umso peinlicher, als gleichzeitig die Kohleverstromung auf Jahrzehnte hinaus fortgeschrieben wird, obwohl sie eine enorme Belastung der CO2-Bilanz darstellt und mittels anderer erneuerbarer Energien als ausgerechnet der Photovoltaik in rascheren Schritten eindämmbar wäre. Auf den klimapolitischen Skandal der Verschwendung derart umfangreicher Mittel und den sozialpolitischen Skandal ihrer regressiven Umverteilung haben SPD und Grüne bislang mit beschwichtigenden, nicht selten absichtlich irreführenden Behauptungen reagiert. Das zeigte sich auch an ihrem Protest gegen die jüngste Senkung der Einspeisevergütungen.

So offenbart sich im Solarstrom-Desaster die fatale Tendenz von Großorganisationen, an einem einmal eingeschlagenen Weg auch dann festzuhalten, wenn er sich aufgrund von Kontextveränderungen oder im Lichte neuer Erkenntnisse als falsch, hochgradig verschwenderisch und der eigenen Glaubwürdigkeit abträglich erwiesen hat. Die Grünen täten gut daran, im Rahmen eines optimierten Gesamtkonzepts der Energiewende einen baldigen Ausstieg aus der Solarstromförderung vorzusehen.

 

Bedingungen der Handlungsfähigkeit

Um ihre günstigen Chancen für die Bundestagswahl 2013 auszuschöpfen, werden die Grünen gewiss bemüht bleiben, ihr akkumuliertes Vertrauenskapital in Sachen Fachkompetenz, Professionalität und Glaubwürdigkeit weiter auszubauen. Als politische Organisation mit einem großen Anteil sozial und ökologisch engagierter, aber auch zur rationalen Abwägung befähigter Individuen werden sie darüber hinaus weitere »windfall profits« an politischer Unterstützung erzielen, wenn ihren Konkurrenten Kommunikationsfehler unterlaufen oder sie mit Skandalen aufwarten. Die Häufigkeit solcher »externen« Faktoren dürfte dank unsicherer Wahlergebnisse und unerwarteter Entscheidungsanlässe noch zunehmen. Um unter diesen Bedingungen handlungsfähig zu bleiben, sind ein hohes Maß von Aufmerksamkeit, (Selbst-)Kritikfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstkorrektur von Vorteil. Auch lohnt es sich, der Versuchung zur Dogmatisierung von selbstgefälligen Ansichten und zur Verklärung vergangener Fehlentscheidungen zu widerstehen.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 3/2012