Jörg-Michael Vogl

 

Die »andere Gesellschaft«

 

Eine mögliche Geschichte

Immer durchscheinender wird die Unvernünftigkeit der Utopie der kapitalistischen Unendlichkeitsproduktion, insbesondere da der Wachstumszwang an die ökologischen Grenzen stößt. Denkbar ist eine »andere Gesellschaft«, für die schon heute zahlreiche Voraussetzungen gegeben sind. Ihr zentrales Element, so unser Autor, ist eine Ökonomie der Befähigung, über deren grundlegenden Ziele in Marktwahlen entschieden werden sollte.

 

Ein Bekannter, der früher ebenso wie seine Frau nach dem Job noch Taxi gefahren ist, hat sich jetzt als Rentner einen 65.000 Euro teuren Mercedes gekauft. Unter anderem, darauf weist er hin, kann er aus der eingebauten Sauerstoffpatrone die Luft im Innenraum verbessern.

 

Mit der Finanzkrise seit 2008 haben sich die sozialen und politischen Krisen verdichtet, wir leben in einer vorrevolutionären Situation – diese Sicht wird nicht nur zur Hauptsendezeit im deutschen Fernsehen vertreten; bis in die Chefetagen wird die Vorstellung der sozialen Revolution wiederbelebt, die aus unserer heutigen Gesellschaftsform, die wieder als Kapitalismus bezeichnet wird, hinausführe in eine neue Gesellschaft. Eine neue Massenbewegung habe sich nicht zuletzt mithilfe neuer, internetbasierter Mittel ausgebreitet, entstanden ausgerechnet im lange starren arabischen Raum, genau deswegen ein Hoffnungsschimmer für die westlichen Gesellschaften und ein Antrieb für neue Parteibildungen. In theoretischen Analysen trifft dies alles zusammen: eine revolutionäre Situation und ihre Handlungssubjekte. Das »Ereignis 1968« (Alain Badiou)(1) kann sich wiederholen. Also »Revolution« …?!

Dieser Begriff ist allerdings ganz besonders aufgeladen mit Bedeutungen, die im Nachdenken mitschwingen und es verunklaren, sodass sich zunächst empfiehlt, das Problem so genau wie möglich und so neutral wie möglich zu formulieren: Wie kann man eine in allen Gesellschaftsbereichen zutiefst verwurzelte, in den Einzelnen habitualisierte Struktur des Wirtschaftens, die zudem weltweit verbreitet ist, zum Teil freiwillig als orientierendes Vorbild übernommen wurde, zum Teil mit allen Formen ökonomischer, politischer und militärischer Macht durchgesetzt, wie kann man ein solches globales System ablösen durch ein anderes? Klar ist, dass die Beantwortung der Frage wesentlich davon abhängt, wie dieses System analysiert wird und entsprechend, wie man sein Gegenbild versteht.

Die folgenden Überlegungen beruhen auf Feststellungen, die zuerst der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi getroffen hat: dass nicht der Kapitalismus ein System der konsequenten Marktwirtschaft ist, sondern dass er Marktmechanismen politisch herstellt auch für Lebensbereiche, in denen sie nicht funktionieren können, nämlich für Boden, Arbeit und Kapital. Ihre Einsetzung durch Gesetze und ihre allmähliche Habitualisierung mit einer Fülle realer institutioneller Umsetzungen betreiben damit eine Utopie:(2) Sie streben nach einer immer umfassenderen Marktmaschine, die nach Setzung der staatlichen Rahmenbedingungen am besten ohne jede Beeinflussung funktioniere und deren Ergebnis immer steigender Wohlstand sei. Die neoliberale »Revolution von oben« seit den 1980er-Jahren hat diese Utopie erneuert und radikalisiert umzusetzen versucht – mit den bekannten Folgen, die oben angedeutet wurden. Die Bewegung zur »anderen Gesellschaft« kann offensichtlich nur dadurch entstehen, dass diese Utopie als Ganzes in Frage gestellt wird. Wie kann aber aus einer Gesellschaft heraus, die alles umfasst, sie selbst grundlegend infrage gestellt werden?

Mit dieser Frage wird – auch das muss man sich klar machen – an eine traditionsreiche wissenschaftlich-politische Diskussion angeknüpft: Hegels Idee, in der Geschichte selbst ein Gesetz zu erkennen, das bei Marx fleischgewordene Akteure durchsetzen, später, nach den Niederlagen des Hoffnungsträgers »Proletariat« die Entdeckung bei Gramsci, dann Foucault, dass diese Strukturen nichts Äußerliches sind, sondern durch alle Köpfe und Körper gehen, dort mit getragen und reproduziert werden bis zur derzeitigen Debatte, dass die Vielheit der Subjektivierungen, also die machtbesetzte Herstellung von unterworfenen Subjekten, die strategisch entscheidende Ebene der Kampfes sein müsse.(3)

Eine Lösungsmöglichkeit, die bei der Anrufung der »Revolution« mitschwingt, verbietet sich also: Konzepte, die die Lösung den Prozessen überlassen wollen, die von »revolutionären Subjekten« getragen werden, führen zu nichts. Die derzeitige Verdichtung der Krisen in den klassischen Zentren der Weltökonomie, ein allgemeines Gefühl der tiefen Verunsicherung, die globale Neugewichtung mit der rasanten Aufwertung Chinas, Indiens und anderer Staaten bei anhaltender, insbesondere militärischer US-Hegemonie, die derzeitige Infragestellung des europäischen Hegemonieversuchs – alle diese einschneidenden Veränderungen führen von sich aus zu nichts. Dies ist wörtlich gemeint: Die Krise an sich, auch wenn sie komplexer und tiefgreifender ist als viele in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus, gibt weder alternative Ziele noch Wege vor. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, von denen eine am wahrscheinlichsten ist: den Pfad der bisherigen kapitalistischen Geschichte nach einer Neuformierung der gesellschaftlichen Kräfte aus dem Geflecht ihrer Macht heraus weiterzugehen. Denn für diese Perspektive liegt eine Fülle von institutionalisierten Konzepten vor, einschließlich solcher, die die natürlichen Begrenzungen des Wirtschaftens zum Anlass nehmen, eben diese Natürlichkeit zu überwinden, bis hin zu Vorstellungen von optimierten Mensch-Maschine-Symbiosen in synthetischen Umgebungen.(4)

Auch auf der Ebene globaler Machtpolitik lassen sich keine ermutigenden Tendenzen erkennen. Erwartet werden muss eine US-amerikanisch-chinesisch beherrschte Konstellation: Weil ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung exportiert wird, wesentlich nach China, weil China ebenso wie die USA wichtiger Kapitalimporteur nach Deutschland ist, ergeben sich Handlungsbedingungen, die eine deutsche Politik nicht umgehen kann. Chinesische Nachfragemacht kann so den Horizont europäischer Handlungsmöglichkeiten in entsprechender Weise definieren, wie noch im 20. Jahrhundert die US-Nachfragemacht bestimmend war. Die Grundsituation der sozialen Sicherheit, die in Zentraleuropa bis Mitte des 20. Jahrhunderts Massenbasis der kapitalistischen Entwicklung war, ist mit dieser globalen Verschiebung infrage gestellt. Zwar ist die penetrante Predigt von der Notwendigkeit der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes erhört worden, das beweisen die langfristigen Reallohnsenkungen. Genau dadurch wird allerdings diese Unsicherheit der globalen Position der Lohnabhängigen weiter gefördert, genauso wie die ökologischen Grundlagen weiter untergraben werden: Die in Deutschland erzeugten Kapitalerträge werden weltweit dort angelegt, wo die höchsten zukünftigen Erträge zu erwarten sind, wenn nur die Kapitalfreiheit gewährleistet wird, also die zukünftige Möglichkeit, das Kapital wiederum dort einzusetzen, wo die höchsten Kapitalerträge zu erwarten sind. Und sie werden nicht nur in der Realwirtschaft, sondern je nach Verzinsung auch in der Finanzindustrie angelegt, einer Anlageform, deren Sicherheit gerade europolitisch hergestellt wird. Der lebensprägende Zwang, den die Lohnabhängigkeit bedeutet, wird zynischer, die uneingeschränkte Abhängigkeit vom Prozess der inhaltlich beliebigen Kapitalvermehrung tritt hervor.

 

Die zweite These dieses Textes: Trotz dieses Geflechtes der Macht, das sich an der Perspektive der unendlichen Marktmaschine orientiert, liegt die Entstehung einer anderen Gesellschaft nahe, einige zentrale Strukturen haben sich bewährt und deren Vertreter arbeiten schon lange. Noch schärfer: Die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft ist objektiv jetzt gegeben – weil die Möglichkeit, dass sich menschliches Dasein im normalen kapitalistischen Prozess global selbst vernichtet, offensichtlich geworden ist. Zwar war die gesamte kapitalistische Entwicklung wesentlich durch psychische, soziale, ökologische, ökonomische Zerstörungen geprägt, neu ist jedoch, dass diese Zerstörung mit dem Klimawandel globale Ausmaße hat. Man muss sich an die ersten Anfänge der kapitalistischen Entwicklung erinnern: Sie waren begründet mit dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung. Rousseau ist der Erste, der so etwas wie »Gesellschaft« entdeckt. Seine Annahme: Menschen können sich befähigen, aus jeder selbst, das heißt von der Gesellschaft, zu verantwortenden Unmündigkeit aufzubrechen. Sie erreichen dies nicht im Vollzug ihrer vereinzelten Willen, sondern indem sie die Gesellschaft, die sie zu dem macht, was sie sind, umbauen und sich aus dem Wesentlichen heraus, was in allen Menschen angelegt ist, in der verpflichtenden Übereinkunft der anderen Gesellschaft binden. Diese bei Rousseau ursprünglich noch fast intuitive philosophische Entdeckung war nach Cassirers Darstellung für Kants ganzes Denken wesentlich.(5) Die Blindstelle dieser philosophischen Entdeckung ist heute sichtbar, dass uns nämlich die Verfassung unseres Wirtschaftens an Unmündigkeit auch angesichts der Möglichkeit der Selbstvernichtung bindet.

Unter den kapitalistischen Machstrukturen entstehen allerdings immer wieder neue demokratische Bewegungen. Sie verschwinden, wenn das objektive Problem, aus dem sie entstehen, nicht repräsentiert wird, also – in der doppelten Bedeutung des Wortes – dargestellt und vertreten wird: So wie das unvollständige Projekt der Emanzipation der Lohnabhängigen in den westeuropäischen Ländern in den Arbeiterparteien repräsentiert war, so geht es heute zunächst darum, das Projekt der Orientierung des Wirtschaftens an Zielen insbesondere in einer »Partei« zu repräsentieren.(6)

Während der kurzen Anfangsphase der Selbstklärung waren »Die Grünen« und ihre politische Umwelt auf dem Weg, diese Partei zu werden. Sie blieben stehen bei dem Punkt, die Ökologie als Problem überhaupt wahrzunehmen. Ein Beispiel dafür, wie erfolgreich sie waren: Im Kleingarten nebenan hängt am Eingang seit ein paar Jahren ein Kasten mit der Frage: Wer ist verantwortlich für die Umwelt? Wenn man die Klappe öffnet, auf der dies steht, erblickt man sich selbst im Spiegel. Zurzeit geben immer mehr der alt gewordenen Pächter ihre Gärten ab, die neuen pflanzen weniger Gemüsebeete, stattdessen werden ganze Gärten zu Rasenflächen, auf denen Spielgeräte für die Kinder stehen oder Partys gefeiert werden. Statt das Auto auf dem allgemeinen Parkplatz abzustellen, wird über die Gehwege direkt bis zum Garten gefahren. Der sehr aktive Vereinsvorsitzende organisiert neben den verpflichtenden Gemeinschaftsarbeiten Kinderfeste und Frauenfahrten, weist immer wieder auf die Regeln des Kleingartens hin, dass zum Beispiel die Rasenfläche einen bestimmten Anteil nicht überschreiten darf, und erlässt schließlich ein grundsätzliches Fahrverbot für die Anlage. Ohne dass er weiß, auf welche allgemeingültigen Gründe er sein Verhalten beziehen kann, kann er nicht erfolgreich handeln: Verantwortlichkeit des Menschen für seine Umwelt eben.

Soziologisch gesprochen: Das Feld der Möglichkeiten des Handelns musste verschoben sein, damit überhaupt das »Problem der Umwelt« auch nebenan Bedeutung erreichen konnte, das neue Problem musste dauerhaft, institutionalisiert repräsentiert worden sein. Die Menschen spielen das »kapitalistische Spiel« perfekt, seine Regeln sind habitualisiert. Manchmal spielen sie auch nach anderen Regeln. Dieser Widerspruch, den vielleicht der Wissenschaftler erkennt, diese Inkonsequenz ihres Handelns ist für sie vollkommen ohne Bedeutung, sie ist noch nicht einmal in Worte zu fassen.(7)

Und dennoch: Auch alltäglich kann jemand für etwas eintreten, was »vernünftig« geworden ist, nachdem diese neue Vernünftigkeit der herrschenden Unvernünftigkeit des kapitalistischen »Weiter so« institutionell entgegengesetzt ist. Das Gegenbild zur kapitalistischen Utopie der Unendlichkeit ist das an konkreten Zielen orientierte Wirtschaften. Welche Chancen dieses ökologische Projekt hat, hängt ausschließlich davon ab, wie die »Partei«, das Bündnis, das es trägt, institutionelle Strukturen setzen kann. Selbstverständlich sind bei diesem Prozess der Durchsetzung massive Widerstände jeder Art zu erwarten, die möglichen Akteure und die Kampflinien in Deutschland, Europa und weltweit könnte man benennen. Die Kämpfe werden jedoch darum gehen müssen, diese Konfliktlinien aufzulösen: Die Perspektive der Selbstvernichtung im alltäglichen Gang der Dinge betrifft alle, die gesellschaftliche Setzung von Zielen des Wirtschaftens würde alle Menschen demokratisch handlungsfähig machen, sie erst kann die strukturelle Unsicherheit, die jeden Alltag prägt, beenden.

Über den Übergang in die andere Gesellschaft und deren Grundmuster kann man daher noch mehr sagen: Das bisherige System, dessen Geschlossenheit von der Utopie der Unendlichkeitsproduktion hergestellt wird, kann nur aufgelöst werden in Geschichte, die die Menschen selbst machen, durch gesellschaftliche Festlegungen, wodurch sich nicht nur das Wirtschaften verändert, sondern zuerst die Menschen selbst und die Gemeinschaften, in denen sie leben, nicht durch Vereinzelte oder Gruppen, die in irgendeiner Weise »aussteigen«, sondern nur in einem institutionell verankerten Streit um das Ganze, das Wirtschaften und die ihm entsprechende politische Form des Staatlichen: Ein System wird abgelöst durch Geschichte.

Die Frage des Übergangs in eine grundlegend andere Gesellschaft ist deshalb die nach einer möglichen Geschichte. Viele, auch unheilvolle Verläufe der zukünftigen Geschichte sind realistisch, für ihre Verwirklichung wird wie bei der Geschichte der Entstehung der kapitalistischen »Great Transformation« (Karl Polanyi) und der folgenden Umwandlung der Welt (Jürgen Osterhammel) immer ein Bündel von Faktoren entscheidend sein. Die erste, grundlegende Voraussetzung der Durchsetzung der anderen Gesellschaft besteht allerdings darin, dass über sie nachgedacht, diskutiert und gestritten wird. Das Netz, das sich dabei bildet, indem es diese Diskussion vorantreibt, könnte man mit einem klassischen Begriff als den »organischen kollektiven Intellektuellen« (A. Gramsci) der neuen »Partei« bezeichnen, die Bewegung formend durch die Herausarbeitung des objektiv gegebenen Zieles. Und ein, allerdings sehr unterschiedlich artikuliertes Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir die Hilflosigkeit des »Weiter so« überwinden müssen, ist so weit verbreitet, wie schon lange nicht mehr. Auch in den Wirtschaftswissenschaften, die konzeptionell, institutionell und personell am dichtesten mit den utopischen Unendlichkeitsfantasien verfilzt sind, werden theoretische Positionen bedeutsam, die die heutige ökonomische Krise in den Rahmen der ökologischen stellen. Welchen Ausblick auf eine andere Gesellschaft bieten sie?

 

Eine Ökonomie der Befähigung ...

Die Einführung der realen Endlichkeit in die Wirtschaftswissenschaft der Unendlichkeit wird seit Längerem unter dem Begriff der Postwachstumstheorie diskutiert, also der Möglichkeit eines Wirtschaftens, das ohne allgemeines Wachstum auskommt. Mit einem Buch von Tim Jackson,(8) das als Beitrag der britischen Politikberatung entstand, versuchen Parteien und Bewegungen auch in Deutschland die Diskussion voranzubringen. Jacksons Argumentationsfaden in aller Kürze: Im zukünftigen Wirtschaften müsse eine Abkopplung vom Ressourcen- und Senkengebrauch erreicht werden. Eine anteilige, also relative Reduzierung der Ressourcen- und Senkenbelastung werde typischerweise durch Mengenausweitungen zunichte gemacht, weshalb eine absolute Reduzierung unumgänglich sei. Dabei bilde die ständig steigende Produktivität den Kern des Problems, gesucht werden müsse daher nach einer ökologisch orientierten »Aschenbrödel-Ökonomie«, in der insbesondere personenbezogene und soziale Dienstleistungen ausgeweitet werden.

Seine Argumentation stützt er auf eine ältere, einflussreiche Wohlstandsdefinition von Amartya Sen,(9) der wegen der viel diskutierten Mängel konventioneller Konzepte Wohlstand als Fähigkeit zum Gedeihen definiert, was bedeutet, in einem gegebenen Umfeld sein Leben erfolgreich gestalten zu können. Jackson verschärft Sens Definition, wenn er feststellt, dass über die reine Möglichkeit hinaus die reale Umsetzung der Fähigkeiten zum Gedeihen im Zentrum stehen müsse, weil gerade die Ausübung der Freiheiten amoralisch sein könne, insbesondere wenn sie die Fähigkeiten zukünftiger Generationen nachhaltig einschränke.

Damit vollzieht Jackson mit Sen einen wesentlichen Schritt: Er schiebt ins Zentrum der ökonomischen Debatte, dass das Erreichen von Zielen das Herzstück des Wirtschaftens ist. Damit ist eine unabdingbare Voraussetzung erfüllt, der herkömmlichen ziellosen Struktur des kapitalistischen Wirtschaftens die Grundlage zu entziehen. Denn diese beruht darauf, einem als blind, taub und stumm gedachten Markt nicht nur die Erzeugung, sondern auch die Bewertung des Wohlstandes zu überlassen. Jackson zeigt anhand verschiedener Indizes, dass Gesellschaften bestimmte, allgemein anerkannte Ziele tatsächlich unterschiedlich gut erreichen: Arme Länder wie Kuba sieht er danach in sozialer Hinsicht als vorbildlich, reiche wie Südkorea in ökologischer, das neoliberal überformte Großbritannien bewertet er in vielerlei Hinsicht schlecht. Ein wesentlicher Schritt bleibt bei Jackson aber aus: Über die Tatsache dieser Unterschiede geht er nicht hinaus, förderliche Strukturen werden über den bloßen Verweis auf »den Staat« hinaus nicht erörtert.

Diese Hoffnung auf »den Staat« hätte sich zunächst mit dem grundsätzlichen Argument auseinanderzusetzen gehabt, dass die ökologische Gefährdung nicht vom nationalen, sondern vom Wachstum im globalen Durchschnitt ausgeht. Für britische Unternehmen des beginnenden 21. Jahrhunderts wie Vodafone ist es schon lange irrelevant, ob sie ihre Gewinne nach dem Kauf des Netzes von Mannesmann in Deutschland oder in Indien oder Ostafrika oder sonst wo machen: Das irgendwann in Großbritannien geschaffene Kapital ist schon lange weltweit unterwegs, regt Wachstum an, indem es die Nachfrage nach Arbeitskräften und Ressourcen erhöht – und ist insofern überall hochwillkommen. Aber genau die Vielfalt solcher alltäglichen, von Vielen getragenen Prozesse erhöht die ökologische Gefährdung der Menschen – genauso wie ihre soziale Gefährdung, insbesondere durch das Auseinanderreißen von sozialen Netzen. Übrigens weist Jackson in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die nur scheinbare »Dematerialisierung« des westlichen Wirtschaftens hin: Bildlich gesprochen war die europäische »Werkbank« seit den 1960er-Jahren gewissermaßen »verlängert« worden in die »schmutzigen« Ökonomien der asiatischen und afrikanischen Länder, die »sauberen« Anteile der Produktion blieben hier. Diese Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte wird, hier war die globale Krise nach 2008 entscheidend, mit der Aufwertung der Ländergruppe der G-20 anerkannt, die, von Argentinien über Indonesien bis zu den USA, insgesamt 80 Prozent des weltweiten BIP, drei Viertel des Welthandels und zwei Drittel der Weltbevölkerung repräsentieren. Eine solche politische Anerkennung ökonomischer Bedeutung war schon in den 1970er-Jahren durch den Reichtum der arabischen Ölförderländer unvermeidbar geworden, eine erste Verstörung traditionell westlicher Selbstverständlichkeiten – und eine Quelle etlicher finanzwirtschaftlicher Crashs seitdem.

 

Sowohl in dieser Unterschätzung des Gewichtes der neuen »global Player« als auch in seiner Überschätzung der Möglichkeiten staatlicher Wirtschaftspolitik ist Jackson typisch: Untersuchungen der neoklassischen Schule bilden Typen staatlichen Handelns, die sich als förderlich oder hinderlich für Marktfreiheit und ökonomisches Wachstum erwiesen haben. Er dreht diese Wertung nur um und bleibt damit im Dualismus von Markt und Staat, also in der Vorstellung, es gebe so etwas wie einen autonomen Mechanismus, der unsere Gesellschaft im Kern bestimmt – in dem Maße jedenfalls, in dem der gegenüberstehende Staat nicht eingreift. »Markt« wie »Staat« sind jedoch als komplexe Institutionalisierungen der Gesellschaft zu verstehen. Nur über staatliche Institutionalisierungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hat sich das kapitalistische Modell etablieren und immer wieder erneuern können: Wie Polanyi zeigt, wurde die freie Lohnarbeit in Großbritannien nach einem langen Meinungsstreit erst durch Gesetze geschaffen.(10) Bei der Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert(11) sind staatliche und wirtschaftliche Handlungen unauflöslich verflochten. Großbritannien unter Thatcher war in den 1980er-Jahren für andere Länder das Muster massivsten staatlichen Eingreifens geworden, nicht nur bei der Zerschlagung der Gewerkschaften, sondern auch bei der Gestaltung neuer Chancen für Unternehmen – immer unter der marktutopischen Losung der »Zurückdrängung des Staates zugunsten des Marktes«. Offensichtlich muss auch über einen anderen Staat nachgedacht werden, wenn das kapitalistische Konzept der Herstellung von unendlichem Reichtum angegriffen werden soll.

Hans Christoph Binswangers Kritik (siehe Kasten) ist grundsätzlicher. Weil er einer der führenden Finanzwissenschaftler ist und aus dem Horizont konventioneller theoretischer Modellbildungen heraus argumentiert, wird seine Theorie der »Wachstumsspirale« dennoch breit wahrgenommen. Als Ergebnis seines geldtheoretischen Wirtschaftsmodells weist Binswanger einen »Wachstumszwang« nach, der insbesondere einen »haushälterischen« Umgang mit den real knappen Ressourcen strukturell verhindert: Aus diesem Wachstumszwang heraus kann der real nutzbare Anteil, die »Reserven«, im Verhältnis zu den prinzipiell vorhandenen Ressourcen sogar steigen, wenn nämlich Technologien sich ändern und/oder die für die Gewinnung vertretbaren Kosten sich erhöhen. Sein allgemeines Modell einer wachsenden Wirtschaft schließt er mit der Berechnung des minimalen Wachstumsfaktors ab: Bei global gesehen weniger als 1,8 Prozent Wachstum beginne ein Schrumpfungsprozess. Mit dieser ökonomischen Sicht, die sich nicht hinter den Gleichgewichtsmodellen versteckt, müssten die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Perspektiven der Menschheit »aber als Determinanten einer richtungsgebenden – auch politisch wirksamen – Auseinandersetzung über die sinnvolle Ausrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung zugelassen werden«. Man müsse Wege suchen, den immer erweiterten Spirallauf des Wirtschaftens in einen Kreislauf zu überführen.

Halten wir fest: Bei Binswanger ist nicht der Markt das Problem und nicht das Verhalten des Unternehmens oder die Bedürfnisse der Haushalte, sondern eine sich spiralig erweiternde Wachstumsstruktur, die er aus dem Geld, genauer aus der Möglichkeit der Giralgeldschöpfung, sowie seiner Verwendung als Kapital erklärt, das vermehrt werden muss. Diesem Wachstumszwang stehen Staaten nicht »gegenüber«, sie können ihn eher mehr oder weniger gut bedienen. Binswanger analysiert jedoch dieses Wirtschaften als historische Gesamtheit und begründet so seine Veränderbarkeit. In Interviews führt er seine Argumentation ins Politische weiter und nennt institutionelle Ideen für die Zukunft: Um das Wachstum zu beschränken, könne zunächst die Giralgeldschöpfung der Banken zugunsten der Zentralbank beschnitten werden. Aktiengesellschaften könnten durch die Umwandlung eines Teils der Aktien in nicht handelbare Namensaktien vom kurzfristigen Renditedruck entlastet werden, Unternehmen sollten als Stiftungen oder in genossenschaftlicher Form betrieben werden, damit ihr Ziel sich von dem der Gewinnerzielung zu dem der Versorgung mit Produkten wandelt.

Binswanger ist skeptisch, ob überhaupt global ein Wirtschaften ohne Wachstum erreicht werden könne. Wesentlich ist jedoch, dass er konventionelles Wirtschaften als eines modelliert, dem strukturell, von seiner Logik her, die ökologische Begrenztheit ausgetrieben wird. Bei Jackson fehlt dieser Gedanke der strukturellen Geschlossenheit unseres heutigen Wirtschaftens, er präzisiert jedoch, wie man sich Ziele des Wirtschaftens vorstellen kann. Beide Ansätze zeigen ausgehend von der konventionellen Wirtschaftswissenschaft, also im Herzen der Hegemonie, die Aufgabe: nach einer Struktur des Wirtschaftens zu suchen, deren Kern in der Befähigung zum verantwortlichen Handeln besteht.(12) Aus der Kritik am Konzept eines blinden, tauben und stummen Prozesses, wie ihn das utopische Gedanken-Modell des kapitalistischen Marktes mit seinem unendlichen Kapitalwachstum vorgab, ergibt sich damit der Umriss der neuen Ökonomie. Im geschichtlichen Rückblick erweist sich die Analogie: So wie die mittelalterliche Marktökonomie der »caritas«(13) von der modernen Marktökonomie des unendlichen Kapitals abgelöst worden war, alles andere als strukturlos, aber in einem allmählichen, umkämpften Prozess, nicht nach einem großen Plan und ohne dass allen Beteiligten ihr Einsatz klar war, verdichtet in bestimmten politisch-rechtlichen Entscheidungen – so zeichnet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur die Struktur der neuen Ökonomie ab, auch ihre Institutionen und Stützpunkte lassen sich erkennen. Dies muss allerdings erklärt werden.

 

Erinnern wir uns zunächst an die neoliberale Revolution: Was als »mehr Markt und »weniger Staat« gefasst wurde, erwies sich überall als ein politisch-staatliches Wegräumen von Behinderungen, mit denen große Unternehmen vorher zu rechnen hatten, als eine Erweiterung ihrer Spielräume, sich um nichts als ihren Gewinn zu kümmern und die Organisation neuer Geschäftsfelder durch Privatisierung. Genau darin war Großbritannien unter Thatcher modellhaft. Aber auch an die deutsche Teil-Privatisierung der Renten sei erinnert, begründet aus einer vorgeblich unausweichlichen »Notwendigkeit«, hier des »demografischen Wandels«. Sie erweist sich als Teil des durchgreifenden Versuchs, in einem Kernland der Weltwirtschaft das quantitative Wirtschaftswachstum uneingeschränkt in den Mittelpunkt der Politik zu stellen und gewerkschaftliche Macht einzuhegen. Die Senkung der Lohnnebenkosten, mit der man ab den 1990er-Jahren die deutsche Exportposition weiter stärkte, wurde auch durch die Senkung der Renten erreicht. Begleitet wird dies – auch nach der Finanzkrise – durch den Druck der Finanzmärkte und der Rating-Agenturen, die wegen steigender Rentneranteile eine Abstufung der Kreditwürdigkeit verschiedener Staaten ankündigen. Diese Bewertung bildet wiederum ein existenzielles Problem für staatliches Handeln, weil – wiederum im Vollzug der neoliberalen Vorstellung, man müsse die Märkte von allem befreien, was die Gewinnmaximierung behindere – die Staaten sich ebenso wie die Unternehmen ihre Kredite auf den Kapitalmärkten besorgen müssen. Die zusätzliche Privatrente wird darüber hinaus mit massiven staatlichen Zuschüssen gefördert. Die privaten und öffentlichen Einzahlungen schufen für Banken und Versicherungen ebenso neue Geschäftsfelder wie die Kreditvergabe an Staaten: Aus den Kundeneinlagen entwickelt sich ein Vielfaches an Wert – ein globaler Wachstumsimpuls. Die Privatrentner erwarten daher mit Recht, an diesem als ewig gedachten Wachstum im Alter zu partizipieren. Konsequenterweise enthalten die Standardformulare die Berechnung der voraussichtlichen Rente bei 4 oder 6 oder 8 oder 10 Prozent Rendite. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise Europas und der USA ab dem Jahr 2008 ist diese Struktur des blinden Optimismus infrage gestellt – wie vorher schon mehrmals. Aber ihre institutionellen Stützen sind stabil.

Eine solche staatlich organisierte Koordination unternehmerischer Strategien erweist sich als Normalfall, die Geschichte unserer Konsumgüter ist durch sie geprägt. Exemplarisch sei erinnert an den Kampf in den 1980er-Jahren um drei sich gegenseitig ausschließende Videoformate: Beta aus Japan, Video2000 aus Deutschland und VHS aus den USA, der aufgrund größerer Macht und mit nationalstaatlicher Unterstützung der entsprechenden Hersteller schließlich von VHS entschieden wurde. Beim hochauflösenden Fernsehen später gab es ähnliche Kämpfe um die Gestaltung der Märkte, noch einschneidender heute bei der Abwicklung der ursprünglichen Idee des für alle Programme offenen Computers durch ausschließende »Apps«. Im Rahmen der deutschen Energiewende und angesichts »Peak oil« bieten Elektromobilität und Biotreibstoffe strategische Chancen, die deutsche industrielle Kernstruktur, die PKW-Produktion, zu erneuern. Dezentrale Energiegewinnung und Trassenausbau würden vermutlich schon anders diskutiert, wenn sich dagegen die Elektroindustrie mit ihren Plänen eines oberleitungsgeführten LKW-Verkehrs durchsetzen würde. Der Rückgang der Artenvielfalt aufgrund der schnellen Zunahme des Anbaus von Energiemais oder das Verschwinden von traditionellen Landschaftsbildern sind bei diesen Strategie-Rangeleien ohne Bedeutung. Jedenfalls: Im Erfolgsfall war Marktgestaltung immer verbunden mit Extragewinnen, die wiederum zur Befestigung von Marktmacht eingesetzt wurden.

Was in den Einzelunternehmen schon immer betrieben wurde, wird in letzter Zeit zunehmend in großzügig ausgestatteten Abteilungen der »Corporate Foresight« institutionalisiert, deren Teams ein Planungshorizont von 15 bis 20 Jahren vorgegeben ist. In den Worten eines Vorstandsvorsitzenden: »… mit einem neuen Denken entwickeln Ingenieure und Chemiker überall auf der Welt Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. … Wir brauchen im 21. Jahrhundert einen neuen Blick auf die Welt. Die naturwissenschaftliche ›Brille‹ ist dabei besonders geeignet, den Fokus auf neue Chancen zu lenken Wo diese Chancen aus der Sicht eines Spezialchemieherstellers zu finden sind, wird für das Jahr 2050 projektiert: Man werde in durchsichtigen Flugzeugen fliegen, CO2 unter Hitze in Bioschlamm binden, in 600 Meter hohen Gebäuden Urban Farming betreiben, Fremdsprachen mit Neurochips lernen, die Autos mit intelligenten Navigationsgeräten sicher machen und autarke Gebäudesysteme herstellen, die schnell überall aufgebaut werden können, insbesondere vor den vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Megacitys.(14)

Der Erfindungsreichtum kennt keine Grenzen, solange die Möglichkeit der Alternative zum strukturellen Wachstumszwang nicht institutionell repräsentiert ist. In strategischen Planungen werden nicht nur Märkte hergestellt, sondern das Humankapital ganzer Gesellschaften optimiert, wie in den deutschen Bildungsreformen der letzten Dekade, nach der kapitalistischen Überformung der Erde wird jetzt in biologische Grundvorgänge eingegriffen,(15) bis hin zu konkreten Utopien von Mensch-Maschine-Interfaces jeder Art.(16) Dabei wirkt nicht ein automatischer Markt, sondern ein Geflecht von mächtigen Akteuren – allerdings im Namen des anonymen Marktes oder des »technischen Fortschritts« oder der produktiven Zerstörung zugunsten des immer Neuen oder der permanenten Steigerung des Reichtums, jedenfalls immer ohne dass das Problem der demokratischen Legitimierung dieser Entscheidungen, die Gesellschaften wie Umwelten umstürzen, auch nur gesehen wird. In dieser Situation wurde in der Bankenkrise ab 2008 der Nihilismus des herkömmlichen Wirtschaftens noch auf die Spitze getrieben: Private Unternehmen wurden zu ihren Konditionen öffentlich unterstützt, weil sie »too big to fail« seien, das Wirtschaften wurde ausdrücklicher denn je als auch für große Staaten unbeeinflussbares Naturverhältnis dargestellt, gegen das – wie bei Sturmfluten – manchmal nur unzureichender Schutz möglich sei. Dass diese Gemengelage gerade Intellektuelle aller Lager verstören muss, bis tief in die hegemonialen, wirtschaftsnahen Kreise hinein, ist kein Wunder. Auch auf der politischen Ebene liegt heute nahe: Die strategische Zielgebung, ohne die Wirtschaften nicht denkbar ist, muss explizit, öffentlich, demokratisch geschehen, nicht im Gemauschel von »Entwicklungsnotwendigkeiten«, »globalisierter Konkurrenz«, also faktisch im Machtgeflecht der einflussreichsten Akteure.(17)

Die »Partei«, die dieses Projekt vorantreibt, gibt es nicht. Sie muss als abgetrennte Organisation vielleicht auch nicht entstehen, falls sich ein intensiver organisatorischer Zusammenhang anders ergibt. Allerdings wäre erst mit der »Partei«, die für eine demokratische Festlegung grundlegender Ziele des Wirtschaftens eintritt, mit deren »Umfeldorganisationen«, sympathisierenden »organischen Intellektuellen« in allen Bereichen des Lebens, das objektive Problem und seine naheliegende Lösung repräsentiert. Wie diese »Partei« sich zu den vorhandenen verhielte, ist in Umrissen klar: Die Grünen haben erfolgreich das Thema der Umwelt zum Problem gemacht und dabei festgestellt, dass es quer zu den traditionellen politischen Konfliktlinien liegt. Genau deswegen ist es inzwischen Teil aller Parteiprogramme. Weil im alten Projekt der Emanzipation der Lohnabhängigen die Frage einer »Neuen Gesellschaft« mit enthalten war, gekennzeichnet durch den Wunsch einer grundlegend anderen Machtverteilung, dem Ziel der Lebensqualität für alle, durch »mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt) auch im Alltag, wären auch Linke sicher ein wesentlicher Teil. Niemanden, der in der Tradition der Stärkung des Einzelnen steht, kann es unberührt lassen, wenn mächtige internationale Medienkonzerne bis in die Privatsphäre Macht gewinnen und schon beim ersten grünen Aufbruch war klar, wie deutlich die Schnittmengen zu originär konservativen oder christlich bewahrenden politischen Strömungen zu sehen sind.

Das objektiv gegebene Problem der gesellschaftlichen Festlegung zentraler Ziele des Wirtschaftens steht quer zu diesen Traditionen und betrifft alle.

 

… und ihre Institutionalisierung

Die Frage der Institutionalisierung einer »richtungsgebenden – auch politisch wirksamen – Auseinandersetzung über die sinnvolle Ausrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung« (Binswanger) ist die nach einer neuen Verfassung für das Wirtschaften. Wie jede Verfassung aus vielen, je nach Land und Tradition sehr unterschiedlich einander zugeordneten Bausteinen besteht, in der geschichtlichen Entwicklung mit Leben gefüllt, mit einem Kern allerdings: dass nämlich das Volk über Wahlen sich selbst regiert, so kann man auch den Kerngedanken einer anderen Verfassung für unser Wirtschaften prüfen: Wie kann man sich eine gesellschaftliche Festlegung bei zentralen wirtschaftlichen Strukturentscheidungen vorstellen? Die Hinweise, die Binswanger gibt, richten sich auf die Unternehmensebene, würden also eher ermöglichen, schon getroffene Entscheidungen auch umzusetzen. Braucht man nicht Wahlen im eigentlichen Sinn? Lassen sich dann Bereiche der demokratischen Abstimmung über wirtschaftliche Grundfragen organisieren? Wie lassen sie sich insbesondere abgrenzen vom Geschehen, das primär von den Marktteilnehmern selbst geregelt wird? Diese Frage lässt sich wiederum auffächern: Wie wären Wahlkämpfe vorstellbar? Geht es in ihnen immer um Strukturen oder ist auch die Abstimmung über Einzelfragen zumindest zulässig? Wie können komplexe ökonomische Zusammenhänge einerseits dargestellt und andererseits in komprimierter Form zur Abstimmung gestellt werden? Wer erarbeitet Programmalternativen zu den zur Abstimmung vorgelegten ökonomischen Strukturfragen und wer informiert über sie? Wer darf in welchem institutionellen Rahmen sein Programm zur Wahl stellen? Wie kann insbesondere verhindert werden, dass Unternehmen mit ihren finanziellen Ressourcen einen Abstimmungsprozess verzerren?

Als zweiter Fragenbereich leitet sich daraus ab: Wie kann das Ergebnis dieser Abstimmung in verbindliche Vorgaben umgesetzt werden? Bei dieser Frage könnte die Fülle der Erfahrungen mit der Umsetzung politischer Entscheidungen ausgewertet werden, von der Raumordnung über den Naturschutz zum Aktienrecht, von steuerlichen Instrumenten über Qualitätsnormen bis hin zu Subventionen. Diese Erfahrungen müssten nur gemäß den anderen Gesichtspunkten einer Ökonomie der Befähigung, die gesellschaftlich zentrale Ziele des Wirtschaftens festlegt, ausgewertet werden. Im Folgenden kann deshalb der Schwerpunkt auf die erste Frage gelegt werden.

Zunächst muss man sich klarmachen, dass es bestimmte »Auseinandersetzungen über die sinnvolle Ausrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung« schon gibt: Die Entscheidungen individueller Verbraucher haben – gestützt durch die ökologische Bewegung, ihrer vielfältigen Verankerung bis in örtliche Initiativen, einer vielfältigen Aufklärungsliteratur, begleitender Berichterstattung in den Medien und so weiter – die landwirtschaftliche Produktionsstruktur und den Einzelhandel qualitativ verändert: Die Möglichkeit, Bio-Produkte zu kaufen, gibt es inzwischen bei allen Discountern, und die Nachfrage steigt noch immer. Ebenso steigt der Anteil des Fair-Trade-Handels, einer Institutionalisierung der Dritte-Welt-Bewegungen, ständig weiter. Diese Wege der Durchsetzung einer Zielorientierung des Wirtschaftens sind im Hinblick auf die Komplexität ihrer Entstehungsvoraussetzungen, aber auch hinsichtlich ihrer Grenzen exemplarisch: Alle Produktionsumstellungen mit hohem Kapitalbedarf sind auf diesem Weg ausgeschlossen, insbesondere die Ausweitung des öffentlichen Verkehrssystems oder die Regionalisierung der Produktion und des Verbrauchs, erst recht so etwas wie ein genügsameres Wirtschaften (Suffizienz). Durch individuelle Kaufentscheidungen ist ferner nicht entscheidbar, ob ein Produkt die Form eines Gemeingutes haben soll oder nicht: Bezüglich sauberer Luft oder gesellschaftlicher Stabilität oder einer artenreichen Umwelt ist keine Summe individueller Kaufakte denkbar, die diese wirtschaftlichen Ziele als Gemeingüter erhält, wohl aber solche, die sie zerstören. Vor allem aber: Biohandel und FairTrade laden zur Diskussion über Ziele des Wirtschaftens ein – und zum Preisvergleich, was im Kunden all das zum Klingen bringt, was er als kapitalistisches Spiel habitualisiert hat. Sie zeigen die Möglichkeit der Verantwortung, repräsentieren aber nicht die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Verallgemeinerung.

Man kann sich vorstellen, dass bestehende Parteien sich für – vielleicht vereinfachte – wirtschaftsstrukturelle Ziele einsetzen, die bei den herkömmlichen Wahlen gewissermaßen nebenbei mit abgestimmt und je nach Mehrheiten dann in verbindliche Strukturvorgaben umgesetzt werden. Der Atomausstieg hätte zum Beispiel zum Wahlthema gemacht werden können, statt ihn einfach zu »verkünden«, was auch in der Regierungspartei kritisiert wurde. Die Bedingungen dafür, nämlich eine breite und gründliche Information der Wähler, waren gerade hier gegeben. Der CDU-Wirtschaftsrat forderte zu Recht eine Volksabstimmung, weil die Konsequenzen so umfassend und tiefgreifend seien. Die prinzipielle Perspektive einer solchen Abstimmung über Wirtschaftsstrukturen wurde sofort gesehen und führte zum Abbruch der Debatte.(18) Sie aufzugreifen wäre also eine der Aufgaben der »Partei«, die die andere Gesellschaft anstrebt. Sie könnte eine Volksabstimmung über eine strategische Grundsatzfrage anstreben, in der sich die Machtverhältnisse in besonderer Weise verknoten, bei der aber die Aussichten auf Erfolg besonders hoch sind. Dies könnte zunächst auch ohne eine gesetzliche Grundlage in einer außerparlamentarischen Bewegung angestrebt werden. Schon in der ersten, noch nicht in die Verfassung aufgenommenen Form müsste jedoch das Ganze der anderen Gesellschaft sichtbar gemacht werden können: eine Ökonomie der Befähigung zur Verantwortung. Ihre Perspektive wäre die Einrichtung eines Institutionensystems der »Marktwahlen« (Michael Jäger(19)), in dem über zentrale strategische Alternativen entschieden werden kann.

Eine dieser Fragen könnte sein, ob der bisherige Entwicklungspfad des individuellen PKW-Verkehrs weiter verfolgt werden soll oder durch den Ausbau gemeinschaftlichen Verkehrs, vom ÖPNV über Car sharing bis zu Sammeltaxen, der Flächen-, Ressourcen- und Energieverbrauch reduziert werden soll. Die »Partei«, die eine solche strukturelle Frage zur Abstimmung stellt, muss nachweisen, dass sie das Ganze der anderen Gesellschaft repräsentiert: Sie stellt nicht andere Arbeitsplätze in Aussicht, sondern sinnvolle Arbeit und ein Einkommen, das zur Teilhabe befähigt, nicht ökologischen Verzicht, sondern eine für viele ungeahnte Ausweitung ihrer persönlichen Befähigung. Sie geht davon aus, dass Menschen prinzipiell zur Übernahme von Verantwortung für sich und ihre Nachkommen bereit sind. Alle Menschen, eben auch diejenigen, deren Beispiel diesem Text vorangestellt sind, sind als möglicher Teil dieser Bewegung zu betrachten.(20) Jedes Gegenargument wäre unverzichtbarer Teil der Geschichte dieser Bewegung, zu fürchten hätte sie den Zusammenschluss derjenigen, die Menschen und ihren Gemeinschaften die Freiheit der Entscheidung grundsätzlich nicht zugestehen.

Insbesondere aus dem Unternehmenslager würde dieser Prozess zunächst sicher überwiegend feindlich kommentiert werden, weil seine Konsequenzen unklar sein mögen. Aber auch im unternehmerischen Lager gibt es vielfältige Strömungen. Allmählich könnte akzeptiert werden, dass mit der breiten gesellschaftlichen Diskussion der unternehmerische Entscheidungsprozess nur erleichtert würde. Man darf nicht vergessen: In vielen Unternehmen ist man schon heute daran gewöhnt, intensiv die chinesischen Debatten über die Ausgestaltung der Fünf-Jahres-Pläne zu verfolgen. So wie heute große Unternehmen Märkte machen, könnten Marktwahlen diese Funktion übernehmen – mit dem Effizienzvorteil größerer Transparenz und Zuverlässigkeit, der gerade kleinen und mittleren Unternehmen neue Chancen bietet.

 

Der Gedanke der Marktwahlen erweist sich als Kern der Bewegung zur anderen Gesellschaft. Aus ihr heraus müsste für neue Schulbücher gestritten werden, die die Gleichsetzung von Kapitalismus und Marktwirtschaft beenden, sollte Social statt Science Fiction geschrieben werden, müsste der gesamte Bereich, in dem gesellschaftlich notwendige Arbeit geleistet wird, auch durch ein Grundeinkommen gewürdigt werden und so weiter. Ihr Zusammenhang, das, was in ihr schon die andere Gesellschaft zeigt, wäre die gesellschaftliche Bestimmung zentraler wirtschaftlicher Ziele. Der Gedanke, sie zu wählen, würde die Diskussionen anregen, die die wirtschaftliche Verfassung der anderen Gesellschaft klären. Einige institutionelle Fragen sollen wenigstens exemplarisch angesprochen werden: Klar ist, dass es bei Marktwahlen nur um relativ übersichtliche Fragen sowie deutliche Alternativen gehen kann. Debattiert werden muss über bestimmte rechtliche Vorgaben für die Form der Abstimmung, damit populistische Abstimmungen ohne eine solide Erörterung der Zusammenhänge und Konsequenzen vermieden werden. Differenzierte Pfadanalysen sind unverzichtbar, müssen aber für die Abstimmung in eine kompakte Form gebracht werden. Wie kann aber eine populistische Abstimmung möglichst verhindert werden? Und: Dürfte auch ein bestimmtes Produkt oder Produktionsverfahren verboten werden? In Deutschland könnte dies zum Beispiel die sogenannte grüne Gentechnologie betreffen. Gerade hier zeigt sich übrigens die Relevanz gesellschaftlicher Debatten schon vor ihrer Institutionalisierung: Ein führender Konzern hat die entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten deshalb aus Deutschland in die USA verlagert. Klar ist, dass hier auch Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit betroffen sein können, dass also neue Verfahren rechtlicher Normenkontrolle mit bedacht sein müssen.

An einem historisch noch relativ »frischen« Beispiel der Gestaltung von Märkten, am Beispiel des Aufbaus des Mobilfunks in Ländern, die schon mit einem komfortablen Festnetz ausgestattet waren, kann man überlegen, ob und wie man »Schwellen« definieren muss, jenseits derer Unternehmen neue Produkte nicht von sich aus, sondern erst nach der Zulassung in einer Marktwahl anbieten dürften. Wesentlich dabei könnte der quantitative »Wirkungsgrad« sein, also einerseits der Verteilungsgrad der Produkte, andererseits ihr spezifischer Eingriff in die Rohstoff- oder Abfallbilanz. Auch qualitative Kriterien wie mögliche soziale oder gesundheitliche Konsequenzen könnten berücksichtigt werden. Gerade die Einführung des Mobiltelefonsystems bewirkt einen massiven Eingriff in die Rohstoffressourcen der Erde. Coltan zum Beispiel, das hauptsächlich im Kongo vorkommt und dessen Verkauf dort verschiedene Machthaber und deren Privatarmeen finanzierte, war von vornherein knapp. Mit dem Aufbau des privaten Mobilnetzes verschwand das Netz der öffentlichen Telefone, gleichzeitig wurde ein flächendeckendes Netz von Sendern auf Hochhäusern oder eigens errichteten Masten notwendig. Das öffentliche Telefonsystem wurde so ohne eine demokratische Diskussion faktisch privatisiert, ohne dass über die sogenannten externen Kosten entschieden worden war: Zumindest ein Teil der Bevölkerung leidet unter gesundheitlichen Beschwerden wegen der erhöhten Strahlenbelastung. Als noch eingreifender erweisen sich aber massive gesellschaftliche Veränderungen, von der historisch noch nie da gewesenen Möglichkeit permanenter räumlicher Überwachung jedes Einzelnen, die nicht zuletzt durch die Möglichkeit des Drohneneinsatzes zur Aufweichung herkömmlicher Regeln der Kriegsführung führt, bis hin zur Notwendigkeit, Scanner an den Prüfungsräumen aller Universitäten, Schulen und so weiter einzurichten, um Täuschungsversuche zu verhindern. Aus dieser Skizze ergibt sich die nächste Frage: Können wenigstens die wesentlichen Folgen einer wirtschaftlichen Strukturentscheidung überhaupt vorhergesehen werden?

Um die entsprechenden Analysen systematisiert zu erstellen, muss das Netz wissenschaftlicher Institutionen, die grundlegende Alternativen und ihre Auswirkungen durchrechnen können, ausgeweitet werden. Sie hätten eine ähnlich zentrale Stellung wie heute die Rating-Agenturen, allerdings unter demokratischer Kontrolle. Eine breite Palette von Analyseinstrumenten ist in der Praxis schon erprobt (Indexbildungen zur Bewertung, wie sie z.<|>B. Jackson oder Sen verwenden, Produktlinienanalysen, ökologischer »Rucksack« oder »Fußabdruck« usw.).(21)

Um die Gefahr der populistischen Entscheidung zu verringern, müssten die Informationen der Forschungsinstitute in allen Medien breit diskutiert werden. Insbesondere für die privaten Fernsehsender könnte dies einen Einschnitt bedeuten. Ein Netz institutionalisierter Orte sowie Zeiten der Informationsmöglichkeit, wie auch immer konkret ausgestaltet, ist jedenfalls Voraussetzung dafür, dass die Institution der Marktwahl Wirkung entfalten kann. Auch hier wiederholt sich übrigens eine klassische Debatte, wie nämlich Wahlen bei allgemeinem Wahlrecht möglichst durch den optimal informierten, abwägenden Bürger, nicht den Pöbel entschieden werden können. Und wie bei klassischen Wahlen wird es bei Marktwahlen sicher unterschiedliche Lösungen geben.

Auch die Umsetzung der Wahlergebnisse kann institutionelle Änderungen erfordern. Man kann dies als alleinige Aufgabe der traditionellen Exekutive sehen, man kann aber auch überlegen, inwiefern ein eigener »Wirtschaftsrat« als neue Kammer eingerichtet werden sollte, mit Mitwirkungsrechten bei Gesetzen, die die wirtschaftsstrukturelle Wahlentscheidung mit betreffen. Jedenfalls müssten die Zentralbanken deutlich neue Aufgaben übernehmen. Binswanger weist darauf hin, dass die Geldschöpfung der Banken minimiert werden müsse. Gleichzeitig sind Vorschläge im politischen Raum, dem Geldschöpfungsprozess inhaltliche Ziele zu geben, zum Beispiel durch eine variabel gestaltete Refinanzierung der Banken bei der Zentralbank je nach der Erwünschtheit der Projekte, die sie finanzieren.(22)

Dass die »Great Transformation« von der kapitalistischen in eine andere Gesellschaft auch die Unternehmenskultur verändern wird, liegt auf der Hand. Hervorgehoben werden muss auch hier die Vielfalt der Ansätze, auf die diese Debatte zurückgreifen kann. Nicht nur gibt es in den europäischen Ländern die, unterschiedlich stark ausgeprägte, gemeinwirtschaftliche Tradition der Betriebswirtschaft, ein Genossenschaftswesen oder gewerkschaftliche »Mitbestimmung« in den Betrieben. Unter dem Slogan der Corporate Social Responsibility sind inzwischen ganze Unternehmensabteilungen gegründet worden mit der Aufgabe, die Unternehmung als – verantwortlichen – Teil ihrer Umgebung zu sehen. In dem Ausmaß, in dem der Kern unternehmerischer Tätigkeit nicht mehr in der als unausweichlich gedachten Unendlichkeitsproduktion besteht, kann diese Aufgabe ernsthaft betrieben werden. Die Qualität des Managements wird darin bestehen, die Unternehmung produktiv auf potenzielle Einschnitte durch Marktwahlen vorzubereiten. Dies bedeutet eine neue Flexibilisierung von Produktions-, Lieferanten- und Absatzstrukturen, die technologisch durch numerische Steuerung der Produktion und Einführung der EDV lange vorbereitet ist.

Wenn das Geld nicht mehr Kapital sein soll, also aus Geld über die Herstellung und den Verkauf von Waren in einem unendlichen Prozess nichts als nur mehr Geld erzeugt werden soll (Marx), bedeutete dies zunächst nichts weiter, als dass eine Geldanlage nur nach dem Kriterium der Sicherheit, nicht mehr nach dem der Rendite beurteilt werden kann. Dies hat weitreichende Folgen. Insbesondere wäre damit das Ende aller fondsbasierten Altersvorsorgesysteme notwendig: Faktisch ist die Versorgung der Alten immer eine Frage des gesellschaftlichen Reichtums; wenn die »Wachstumsspirale« sich nicht weiter dreht, platzt die Fiktion einer »individuellen« Alterssicherung, weil die individuell angesparten Renten real weniger wert sind als die eigenen Einzahlungen. Mit der Auflösung der Pensionsfonds wäre dem Wachstumszwang gleichzeitig global eine wesentliche Institution entzogen. Dies kann natürlich nicht in deutschen oder europäischen Marktwahlen entschieden werden. Umlagen- oder steuerfinanzierte Rentensysteme in Europa könnten jedoch im besten Fall anregende Vorbilder sein, vielleicht eher für die chinesische Diskussion als für die US-amerikanische. Strukturell gesehen müssten für das Kapital der Staatsfonds der Ölförderländer, der US-Pensionsfonds, der Anlagefonds der Superreichen und so weiter, neue Anlageformen gefunden werden, die mehr oder weniger konkret an bestimmte Vorhaben gebunden und allenfalls gering verzinst wären.(23)

Was im 19., erst recht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen der Gleichsetzung von »national« und »staatlich« nicht denkbar war, könnte auf der Grundlage dieses erneuerten Kreditmarktes irgendwann alltägliches Geschäft werden: Die großen internationalen Organisationen würden Kredite dann absichern, wenn sie bestimmten, politisch festgesetzten Zielen entsprechen, sodass bestimmte Regionen für ihre Projekte genauso direkt Kredite aufnehmen könnten wie transnationale Projekte. Einen Projektestau gibt es ja schon lange im weiten Bereich der »Entwicklungshilfe«. Aber man kann sich auch vorstellen, dass die Linux-Community ohne territorialen Bezug mit solchen Krediten Open-source-Software und ein werbefreies Internet zum neuen Standard macht. Die Geschichte der anderen Gesellschaft wäre durch ein Nebeneinander der unterschiedlichen Skalen des Politischen, vom Lokalen zum Transnationalen geprägt.

 

Auch wenn dies Möglichkeiten sind, die erst nach einer Kette von Kämpfen und Entscheidungen realisierbar sind, so wird doch deutlich, dass die andere Gesellschaft keineswegs alles Bestehende umwälzt. Im Gegenteil: Eine Fülle von Gedanken und Erfahrungen ist schon gemacht, viele Projekte wurden schon begonnen, institutionelle Lösungen liegen nahe – ihnen fehlt allerdings der gesellschaftliche Prozess, der ihren Zusammenhang klärt und das Ganze der anderen Gesellschaft schon heute zu zeigen beginnt. Dies ist der Kampf um die institutionelle Verankerung der Frage, wie wir leben wollen, genauer: wie wir denen gegenüber, die gleichzeitig mit uns leben oder nach uns leben werden, verantworten können zu leben. Dieser Prozess verwandelt die kapitalistische in die andere Gesellschaft. Erst eine Repräsentation dieser Abwendung von der kapitalistischen Zentrierung um das inhaltsleere Nichts, die Institutionalisierung des Endes der nihilistischen Utopie setzt die sehr unterschiedlichen Hoffnungen frei, die neben den kapitalistischen Traditionen in den Alltagskulturen immer bestanden. Eine solche Erneuerung der europäischen Aufklärung erwiese sich als wesentliche Voraussetzung einer neuen europäischen Glaubwürdigkeit, auch als Voraussetzung dafür, dass das kleine Europa global seine Stimme nicht verliert.

Man kann zuspitzen, dass dies so lange nicht geschehen kann, wie die Struktur der kapitalistischen Unendlichkeitsperspektive den Handlungshorizont vorgibt, Geldreichtum, der auf nichts als immer vermehrten Geldreichtum abzielt und daraus quasi göttliche Allmacht ableitet. In dieser Struktur gehen manche Theoretiker bis zur Propagierung der Ersetzung menschlichen Lebens durch seine »Reinkarnation« in Computern oder als Teil einer ultraintelligenten Wolke von Mikroben, beides offensichtlich nicht absurd genug, um nicht auch von den Praktikern der »corporate foresight« wahrgenommen zu werden. Die Durchsetzung einer Ökonomie der Befähigung führt dagegen zu der Gesellschaftsverfassung, die einlöst, was seit Rousseau gedacht werden kann: dass kein übermenschliches Gesetz in irgendeiner Form, sondern alleine die Menschen in ihrer Vereinigung die Verantwortung für ihre Welt tragen. Die andere Gesellschaft hätte schließlich die Säkularisierung der Gesellschaft und ihrer Verantwortung für sich durchgesetzt.

 

1

Karin Priester kritisiert die zentrale Stellung der Entscheidung bei Badiou und verwandten Theoretikern und verweist auf Bezüge zu reaktionären Denkern, in: »Die Stunde der Entscheidung. Radikale Linke im Geiste Carl Schmitts«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr.6/12, S. 108<|>ff. Bei denen, die unsere Gesellschaft als geschlossene Struktur sehen, bietet sich dieser theoretische Ausweg allerdings an.

2

Diesen Gedanken habe ich ausgearbeitet in: »Kapitalismus als Utopie oder: Der Kaiser ist nackt«, in: Kommune 1/12, S. 57 ff.

3

Diese extrem knapp skizzierte Entwicklung lässt sich genauer nachlesen bei Silke van Dyk: »Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik«, in: Prokla 167, Juni 2012, S. 185 ff.

4

Die Endlichkeit der irdischen Ressourcen bewegt zum Beispiel Google dazu, zukünftig bestimmte Metalle im Weltraum zu schürfen (FAZ, 13.8.12). Eine Fülle von biotechnologischen Strategien, die die Strategie der irdischen Beschränkung konterkarieren, beschreiben Barbara Unmüßig, Wolfgang Sachs und Thomas Fatheuer: »Green Economy: Der Ausverkauf der Natur, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/12, S. 55 ff.

5

Nach Ernst Cassirer: Über Rousseau (Hrsg. und Nachwort von G. Kreis), Berlin: Suhrkamp 2012.

6

Thomas Seibert gibt einen knappen, genauen Überblick über die Tradition des Subjektbegriffs. Seine Antwort, dass Subjekte immer schon mehr sind als das Ergebnis äußerlicher Determination, dass sie in ihren Reaktionen immer schon zur Freiheit verurteilt sind, habe ich hier ergänzt durch die These, dass heute von einer objektiven Situation, die jetzt etwas ermöglicht, was vorher nicht möglich war, gesprochen werden kann. – Siehe: »Humanismus nach dem Tod des Menschen. Flucht und Rückkehr des subjektiven Faktors der Geschichte«, in Prokla 167, Juni 2012, S. 305 ff.

7

Bourdieu, dessen Begriff des »Feldes der Möglichkeiten« ich hier vor dem Hintergrund seines Verständnisses von praktischer Vernunft verwende, weist allerdings nur abstrakt auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft hin. – Vgl.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, insbes S. 93 ff. und 139 ff., wo er schreibt, dass »die Frage nach der Möglichkeit der Tugend auf die Frage nach den sozialen Bedingungen der Möglichkeit von Universen zurückgeführt werden kann, in denen sich dauerhafte Dispositionen zur (ökonomischen im engen Sinn, J.-M. V.) Interessefreiheit bilden können und in denen diese, einmal ausgebildet, die objektiven Bedingungen für ihre ständige Bestärkung vorfinden und zum Prinzip einer permanenten Tugendpraxis werden …« (S. 153).

8

Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum, Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt, München: oekom Verlag 2011, ist als Wirtschaftswissenschaftler führend in Beratungsgremien Großbritanniens, hat aber auch z.B. auf dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen einen Vortrag mit den Thesen des Buchs gehalten. Dass hier ein politisches Manifest vorgelegt wird, machen die vielen Vorworte der deutschen Ausgabe deutlich; mit seiner Argumentation ist er jedoch ebenso im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs verankert.

9

Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: dtv 2002, insbes. S. 71 ff.

10

Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, z.B. S. 113 ff.

11

Das Buch von Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2009, bietet eine Fülle von Beispielen für die Verflochtenheit politischer und wirtschaftlicher Strukturveränderungen.

12

Damit ist übrigens auch Sens Modell, das auf die Befähigung von Einzelnen abzielt, »rousseauistisch« erweitert: Es geht um die Befähigung in der Gemeinschaft mit anderen.

13

Dies hat Jacques Le Goff auf der Grundlage vielfältiger historischer Untersuchungen herausgearbeitet, in: Geld im Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta 2011.

14

So der Vorstandsvorsitzende Engel im Vorwort für das Evonik-Magazin 1/12. Im Heft hat immerhin der Ökologe Ernst Ulrich von Weizsäcker Platz für einen Gastkommentar, der fordert, den in der Finanzkrise 2008 verlorenen »Richtungssinn« der Wirtschaft durch die Effizienzrevolution des »Faktors 5« wiederherzustellen. Der Theoretiker der künstlichen Intelligenz Ray Kurzweil, der die Herrschaft superintelligenter Maschinen herbeisehne, wird in einem anderen Beitrag eher ironisch dargestellt.

15

Auf diese Strategie weisen Barbara Unmüßig, Wolfgang Sachs und Thomas Fatheuer hin (siehe FN 4).

16

Als beliebiges Beispiel: Am Hasso-Plattner-Institut der Uni Potsdam, gestiftet vom SAP-Gründer, wird neben vielen anderen technologischen Varianten über Interfaces nachgedacht, die im Unterarm implantiert sind. Die Popularisierung der neuen Möglichkeiten geschieht auch durch künstlerische Verarbeitungen.

17

Dass man diesen normalen, alltäglichen Prozess der politischen Bestimmung der grundlegenden Rahmenbedingungen der Produktion z.B. in den wirtschaftsnahen Zeitungen verfolgen kann, ist eine der Thesen in meinem Text »Kapitalistische Konstellationen«, in: Kommune 2/11, S. 64 ff.

18

Mit Kommentaren aus der CDU und entsprechenden Veröffentlichungen in der FAZ wurde diese Debatte im Keim erstickt. Das Argument: Dann müsse auch über Fragen abgestimmt werden, die der CDU-Wirtschaftsrat wohl nicht so gerne abgestimmt hätte.

19

Meine Argumentation stützt sich in vielem auf Überlegungen Michael Jägers, z. B. in seinem Blog www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/die-andere-gesellschaft-gliederung-in-kapitel.

20

Man muss hier zuspitzen: Der Nachweis, dass eine solche Perspektive für die andere Gesellschaft einen »Neuen Menschen« voraussetzt, müsste zum Abbruch des Projektes führen.

21

Die hierfür benötigten Unternehmensdaten gingen vielleicht über das hinaus, was jetzt schon an Meldepflichten bzw. Datenerhebung für den Staat vorhanden ist. Der »antistaatliche« Versuch einer »Selbstkontrolle« der Banken, die in nichts anderem bestand, als dass die Banken selbst regelmäßig ein bestimmtes Set von Kennziffern zu berechnen hatten, ist allerdings mit der Finanzkrise 2008 auch in den Augen vieler Wirtschaftsfachleute desaströs gescheitert.

22

So zum Beispiel Lucas Zeise: Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus, Köln: PapyRossa 2010, S. 108; Jedenfalls Zeise kann man keine Naivität vorwerfen: Er hat die Financial Times Deutschland mitbegründet und schreibt dort regelmäßig Börsenkommentare.

23

Auch auf diesem Gebiet muss nichts Neues erfunden werden, denn es gibt eine Fülle von Erfahrungen mit einer solchen Art von Krediten, nicht zuletzt aus ethischen oder religiösen Motivationen heraus. Spannend wären Finanzinstrumente der Banken aus dem arabischen Bereich, mit denen im islamischen Kulturbereich das ähnlich wie im Christentum verdrängte Zinsverbot neu aufgegriffen würde. Sie würden das internationale Kreditgeschäft allein durch ihre Masse wesentlich umformen. Aber schon heute sind die großen institutionellen Anleger bereit, eine negative reale Verzinsung zu akzeptieren, wenn nur ihr Geld im deutschen »sicheren Hafen« untergebracht werden kann …

 

 

 

KASTEN

Hans Christoph Binswangers Buch Die Wachstumsspirale (Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses, Marburg, Metropolis 2009) argumentiert im Horizont der konventionellen theoretischen Modellbildungen, wobei er bestrebt ist, deren Lücken und Widersprüche in dem Allgemeinen Modell, das er entwirft, durch den Rückgriff auf die gesamte Geschichte der Wirtschaftstheorie, von den Physiokraten bis zu Keynes, von Marx zu den Monetaristen, zu beheben. Darüber hinaus ist er bestrebt, das die Wirtschaftswissenschaften kennzeichnende »Schisma« zwischen Betriebs- und Volkswirtschaft zu überwinden.

Grundlegender Ausgangspunkt ist für ihn, dass seit der Moderne Geld auf dem Markt wesentlich sei: Geld werde nachgefragt, indem man Produkte anbiete, und Geld werde angeboten, indem man Produkte nachfrage. In diesem geldtheoretischen Modell des Wirtschaftens ist von vornherein eine zeitliche Dimension enthalten: Was ich morgen kaufe, bezahle ich mit dem Geld, das ich heute verdient habe. Damit ist der Raum für strategisches Verhalten eröffnet. Eine Theoriebildung unseres Wirtschaftens auf den Tausch mit seinem Ziel des Gleichgewichtes zu gründen, wie dies alle konventionellen Wirtschaftstheorien tun, lenkt nach Binswanger von wesentlichen Bedingungen ebenso ab, wie der gängige Ausgangspunkt der Modellbildung, die bäuerliche Selbstversorgung: Marktakteure seien eben Unternehmen und Haushalte, die durch Geldbeziehungen verknüpft seien. Unternehmen müssen zunächst Arbeitskräfte, Rohstoffe und Maschinen für die Produktion zusammenbringen. Dazu brauchen sie Kapital. Kapital wird nur eingesetzt, wenn in der Produktion aus dem Geldbetrag, der in die Produktion hineinfließt, ein erhöhter Geldbetrag gemacht werden kann, jedenfalls der Erwartung nach. Kapital ist in diesem Sinne der entscheidende »Promotionsfaktor« für erhöhte Effizienz, verbesserte Arbeitsteilung, neue Produktionsverfahren und neue Produkte. Auch an dieser Stelle argumentiert Binswanger wieder »geldtheoretisch«: Seit der Möglichkeit der Giralgeldschöpfung, bei der Banken die Kundeneinlagen zu einem erheblichen Anteil wieder verleihen, zum wesentlichen Teil auch an andere Banken, die dies wiederum tun usw. ad infinitum, so dass, ohne dass die Zentralbank wesentlichen Einfluss hätte, neues Geld geschaffen wird, muss nämlich dieses Kapital nicht mehr durch Sparen auf Kosten des Konsums gewonnen werden: Sobald Arbeitskräfte, Rohstoffe und Maschinen für die Produktion mit diesem Kapital gekauft wurden, ist Einkommen entstanden, das für Nachfrage sorgt. Eine erhöhte Nachfrage erhöht auch – in der nächsten Periode – das Angebot. Denn dieses Angebot ist nicht durch enge natürliche Grenzen limitiert, wie das in der traditionellen Landwirtschaft tatsächlich der Fall war. Entsprechend haben die konventionellen Grenzkostengesetze, nach denen bei erhöhter nominaler Nachfrage einfach nur die Preise steigen dürften (Quantitätstheorie), und damit (neo-)klassischen Vorstellungen einer stabilen Selbstregulation in unserer Wirtschaft ihre Gültigkeit verloren. Das Konzept des Gleichgewichts macht ganz grundsätzlich keinen Sinn mehr, weil durch den »Promotionsfaktor« Kapital gerade versucht wird, jede ökonomische Knappheitsschranke zu überwinden: Unternehmerisches Verhalten ist durch einen »Wachstumsdrang« gekennzeichnet. Man muss schon bei der Modellbildung vermeiden eine gegebene Produktionsgrundlage voraus zu setzen, denn diese wird strukturell durch den immer erweiterten Zugriff auf alle natürlichen Ressourcen, insbesondere die Energie, ständig verändert. Maßgeblich dabei: »Der Aufwand darf beliebig steigen, wenn der Ertrag nur stärker steigt als der Aufwand Entscheidende Voraussetzung für diesen immer erweiterten Zugriff ist zunächst die menschliche Imagination, also die Fähigkeit, immer neue Produkte zu entwickeln für Bedürfnisse, zu deren Befriedigung die Kunden wiederum sich diese Produkte vorstellen können.

J.-M. V.

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 5/2012