Jörg-Michael Vogl
Die »andere
Gesellschaft«
Eine mögliche Geschichte
Immer durchscheinender wird die
Unvernünftigkeit der Utopie der kapitalistischen Unendlichkeitsproduktion,
insbesondere da der Wachstumszwang an die ökologischen Grenzen stößt. Denkbar
ist eine »andere Gesellschaft«, für die schon heute zahlreiche Voraussetzungen
gegeben sind. Ihr zentrales Element, so unser Autor, ist eine Ökonomie der
Befähigung, über deren grundlegenden Ziele in Marktwahlen entschieden werden
sollte.
Ein Bekannter, der früher ebenso wie seine
Frau nach dem Job noch Taxi gefahren ist, hat sich jetzt als Rentner einen 65.000
Euro teuren Mercedes gekauft. Unter anderem, darauf weist er hin, kann er aus
der eingebauten Sauerstoffpatrone die Luft im Innenraum verbessern.
Mit der Finanzkrise seit 2008 haben
sich die sozialen und politischen Krisen verdichtet, wir leben in einer
vorrevolutionären Situation
– diese Sicht wird nicht nur zur Hauptsendezeit im deutschen Fernsehen
vertreten; bis in die Chefetagen wird die Vorstellung der sozialen Revolution
wiederbelebt, die aus unserer heutigen Gesellschaftsform, die wieder als
Kapitalismus bezeichnet wird, hinausführe in eine neue Gesellschaft. Eine neue
Massenbewegung habe sich nicht zuletzt mithilfe neuer, internetbasierter Mittel
ausgebreitet, entstanden ausgerechnet im lange starren arabischen Raum, genau
deswegen ein Hoffnungsschimmer für die westlichen Gesellschaften und ein
Antrieb für neue Parteibildungen. In theoretischen Analysen trifft dies alles
zusammen: eine revolutionäre Situation und ihre Handlungssubjekte. Das
»Ereignis 1968« (Alain Badiou)(1) kann sich
wiederholen. Also »Revolution« …?!
Dieser
Begriff ist allerdings ganz besonders aufgeladen mit Bedeutungen, die im Nachdenken
mitschwingen und es verunklaren, sodass sich zunächst empfiehlt, das Problem so
genau wie möglich und so neutral wie möglich zu formulieren: Wie kann man eine
in allen Gesellschaftsbereichen zutiefst verwurzelte, in den Einzelnen
habitualisierte Struktur des Wirtschaftens, die zudem weltweit verbreitet ist,
zum Teil freiwillig als orientierendes Vorbild übernommen wurde, zum Teil mit
allen Formen ökonomischer, politischer und militärischer Macht durchgesetzt,
wie kann man ein solches globales System ablösen durch ein anderes? Klar ist,
dass die Beantwortung der Frage wesentlich davon abhängt, wie dieses System
analysiert wird und entsprechend, wie man sein Gegenbild versteht.
Die folgenden
Überlegungen beruhen auf Feststellungen, die zuerst der Wirtschaftshistoriker
Karl Polanyi getroffen hat: dass nicht der Kapitalismus ein System der konsequenten
Marktwirtschaft ist, sondern dass er Marktmechanismen politisch herstellt auch
für Lebensbereiche, in denen sie nicht funktionieren können, nämlich für Boden,
Arbeit und Kapital. Ihre Einsetzung durch Gesetze und ihre allmähliche
Habitualisierung mit einer Fülle realer institutioneller Umsetzungen betreiben
damit eine Utopie:(2) Sie streben nach einer immer umfassenderen Marktmaschine,
die nach Setzung der staatlichen Rahmenbedingungen am besten ohne jede
Beeinflussung funktioniere und deren Ergebnis immer steigender Wohlstand sei.
Die neoliberale »Revolution von oben« seit den 1980er-Jahren hat diese Utopie
erneuert und radikalisiert umzusetzen versucht – mit den bekannten Folgen, die
oben angedeutet wurden. Die Bewegung zur »anderen Gesellschaft« kann
offensichtlich nur dadurch entstehen, dass diese Utopie als Ganzes in Frage
gestellt wird. Wie kann aber aus einer Gesellschaft heraus, die alles umfasst,
sie selbst grundlegend infrage gestellt werden?
Mit dieser
Frage wird – auch das muss man sich klar machen – an eine traditionsreiche
wissenschaftlich-politische Diskussion angeknüpft: Hegels Idee, in der
Geschichte selbst ein Gesetz zu erkennen, das bei Marx fleischgewordene Akteure
durchsetzen, später, nach den Niederlagen des Hoffnungsträgers »Proletariat«
die Entdeckung bei Gramsci, dann Foucault, dass diese
Strukturen nichts Äußerliches sind, sondern durch alle Köpfe und Körper gehen,
dort mit getragen und reproduziert werden bis zur derzeitigen Debatte, dass die
Vielheit der Subjektivierungen, also die machtbesetzte Herstellung von unterworfenen
Subjekten, die strategisch entscheidende Ebene der Kampfes sein müsse.(3)
Eine
Lösungsmöglichkeit, die bei der Anrufung der »Revolution« mitschwingt, verbietet
sich also: Konzepte, die die Lösung den Prozessen überlassen wollen, die von
»revolutionären Subjekten« getragen werden, führen zu nichts. Die derzeitige
Verdichtung der Krisen in den klassischen Zentren der Weltökonomie, ein allgemeines
Gefühl der tiefen Verunsicherung, die globale Neugewichtung mit der rasanten
Aufwertung Chinas, Indiens und anderer Staaten bei anhaltender, insbesondere
militärischer US-Hegemonie, die derzeitige Infragestellung
des europäischen Hegemonieversuchs – alle diese einschneidenden
Veränderungen führen von sich aus zu nichts. Dies ist wörtlich gemeint: Die
Krise an sich, auch wenn sie komplexer und tiefgreifender ist als viele in der
bisherigen Geschichte des Kapitalismus, gibt weder alternative Ziele noch Wege
vor. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, von denen eine am wahrscheinlichsten ist:
den Pfad der bisherigen kapitalistischen Geschichte nach einer Neuformierung
der gesellschaftlichen Kräfte aus dem Geflecht ihrer Macht heraus weiterzugehen.
Denn für diese Perspektive liegt eine Fülle von institutionalisierten Konzepten
vor, einschließlich solcher, die die natürlichen Begrenzungen des Wirtschaftens
zum Anlass nehmen, eben diese Natürlichkeit zu überwinden, bis hin zu Vorstellungen
von optimierten Mensch-Maschine-Symbiosen in synthetischen Umgebungen.(4)
Auch auf der
Ebene globaler Machtpolitik lassen sich keine ermutigenden Tendenzen erkennen.
Erwartet werden muss eine US-amerikanisch-chinesisch beherrschte Konstellation:
Weil ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung exportiert wird, wesentlich
nach China, weil China ebenso wie die USA wichtiger Kapitalimporteur nach
Deutschland ist, ergeben sich Handlungsbedingungen, die eine deutsche Politik
nicht umgehen kann. Chinesische Nachfragemacht kann so den Horizont europäischer
Handlungsmöglichkeiten in entsprechender Weise definieren, wie noch im 20.
Jahrhundert die US-Nachfragemacht bestimmend war. Die Grundsituation der
sozialen Sicherheit, die in Zentraleuropa bis Mitte des 20. Jahrhunderts
Massenbasis der kapitalistischen Entwicklung war, ist mit dieser globalen
Verschiebung infrage gestellt. Zwar ist die penetrante Predigt von der
Notwendigkeit der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes
erhört worden, das beweisen die langfristigen Reallohnsenkungen. Genau dadurch
wird allerdings diese Unsicherheit der globalen Position der Lohnabhängigen
weiter gefördert, genauso wie die ökologischen Grundlagen weiter untergraben
werden: Die in Deutschland erzeugten Kapitalerträge werden weltweit dort
angelegt, wo die höchsten zukünftigen Erträge zu erwarten sind, wenn nur die
Kapitalfreiheit gewährleistet wird, also die zukünftige Möglichkeit, das
Kapital wiederum dort einzusetzen, wo die höchsten Kapitalerträge zu erwarten
sind. Und sie werden nicht nur in der Realwirtschaft, sondern je nach
Verzinsung auch in der Finanzindustrie angelegt, einer Anlageform, deren
Sicherheit gerade europolitisch hergestellt wird. Der lebensprägende Zwang, den
die Lohnabhängigkeit bedeutet, wird zynischer, die uneingeschränkte Abhängigkeit
vom Prozess der inhaltlich beliebigen Kapitalvermehrung tritt hervor.
Die zweite These dieses Textes: Trotz
dieses Geflechtes der Macht,
das sich an der Perspektive der unendlichen Marktmaschine orientiert, liegt die
Entstehung einer anderen Gesellschaft nahe, einige zentrale Strukturen haben
sich bewährt und deren Vertreter arbeiten schon lange. Noch schärfer: Die
Möglichkeit einer anderen Gesellschaft ist objektiv jetzt gegeben – weil die
Möglichkeit, dass sich menschliches Dasein im normalen kapitalistischen Prozess
global selbst vernichtet, offensichtlich geworden ist. Zwar war die gesamte
kapitalistische Entwicklung wesentlich durch psychische, soziale, ökologische,
ökonomische Zerstörungen geprägt, neu ist jedoch, dass diese Zerstörung mit dem
Klimawandel globale Ausmaße hat. Man muss sich an die ersten Anfänge der kapitalistischen
Entwicklung erinnern: Sie waren begründet mit dem optimistischen Menschenbild
der Aufklärung. Rousseau ist der Erste, der so etwas wie »Gesellschaft« entdeckt.
Seine Annahme: Menschen können sich befähigen, aus jeder selbst, das heißt von
der Gesellschaft, zu verantwortenden Unmündigkeit aufzubrechen. Sie erreichen
dies nicht im Vollzug ihrer vereinzelten Willen, sondern indem sie die Gesellschaft,
die sie zu dem macht, was sie sind, umbauen und sich aus dem Wesentlichen
heraus, was in allen Menschen angelegt ist, in der verpflichtenden Übereinkunft
der anderen Gesellschaft binden. Diese bei Rousseau ursprünglich noch fast
intuitive philosophische Entdeckung war nach Cassirers Darstellung für Kants
ganzes Denken wesentlich.(5) Die Blindstelle dieser
philosophischen Entdeckung ist heute sichtbar, dass uns nämlich die Verfassung
unseres Wirtschaftens an Unmündigkeit auch angesichts der Möglichkeit der
Selbstvernichtung bindet.
Unter den
kapitalistischen Machstrukturen entstehen allerdings immer wieder neue demokratische
Bewegungen. Sie verschwinden, wenn das objektive Problem, aus dem sie
entstehen, nicht repräsentiert wird, also – in der doppelten Bedeutung des
Wortes – dargestellt und vertreten wird: So wie das unvollständige Projekt der
Emanzipation der Lohnabhängigen in den westeuropäischen Ländern in den Arbeiterparteien
repräsentiert war, so geht es heute zunächst darum, das Projekt der Orientierung
des Wirtschaftens an Zielen insbesondere in einer »Partei« zu repräsentieren.(6)
Während der
kurzen Anfangsphase der Selbstklärung waren »Die Grünen« und ihre politische
Umwelt auf dem Weg, diese Partei zu werden. Sie blieben stehen bei dem Punkt,
die Ökologie als Problem überhaupt wahrzunehmen. Ein Beispiel dafür, wie erfolgreich
sie waren: Im Kleingarten nebenan hängt am Eingang seit ein paar Jahren ein
Kasten mit der Frage: Wer ist verantwortlich für die Umwelt? Wenn man die
Klappe öffnet, auf der dies steht, erblickt man sich selbst im Spiegel. Zurzeit
geben immer mehr der alt gewordenen Pächter ihre Gärten ab, die neuen pflanzen
weniger Gemüsebeete, stattdessen werden ganze Gärten zu Rasenflächen, auf denen
Spielgeräte für die Kinder stehen oder Partys gefeiert werden. Statt das Auto
auf dem allgemeinen Parkplatz abzustellen, wird über die Gehwege direkt bis zum
Garten gefahren. Der sehr aktive Vereinsvorsitzende organisiert neben den
verpflichtenden Gemeinschaftsarbeiten Kinderfeste und Frauenfahrten, weist
immer wieder auf die Regeln des Kleingartens hin, dass zum Beispiel die
Rasenfläche einen bestimmten Anteil nicht überschreiten darf, und erlässt
schließlich ein grundsätzliches Fahrverbot für die Anlage. Ohne dass er weiß,
auf welche allgemeingültigen Gründe er sein Verhalten beziehen kann, kann er
nicht erfolgreich handeln: Verantwortlichkeit des Menschen für seine Umwelt
eben.
Soziologisch
gesprochen: Das Feld der Möglichkeiten des Handelns musste verschoben sein,
damit überhaupt das »Problem der Umwelt« auch nebenan Bedeutung erreichen
konnte, das neue Problem musste dauerhaft, institutionalisiert repräsentiert
worden sein. Die Menschen spielen das »kapitalistische Spiel« perfekt, seine
Regeln sind habitualisiert. Manchmal spielen sie auch nach anderen Regeln.
Dieser Widerspruch, den vielleicht der Wissenschaftler erkennt, diese
Inkonsequenz ihres Handelns ist für sie vollkommen ohne Bedeutung, sie ist noch
nicht einmal in Worte zu fassen.(7)
Und dennoch:
Auch alltäglich kann jemand für etwas eintreten, was »vernünftig« geworden ist,
nachdem diese neue Vernünftigkeit der herrschenden Unvernünftigkeit des kapitalistischen
»Weiter so« institutionell entgegengesetzt ist. Das Gegenbild zur kapitalistischen
Utopie der Unendlichkeit ist das an konkreten Zielen orientierte Wirtschaften.
Welche Chancen dieses ökologische Projekt hat, hängt ausschließlich davon ab,
wie die »Partei«, das Bündnis, das es trägt, institutionelle Strukturen setzen
kann. Selbstverständlich sind bei diesem Prozess der Durchsetzung massive
Widerstände jeder Art zu erwarten, die möglichen Akteure und die Kampflinien in
Deutschland, Europa und weltweit könnte man benennen. Die Kämpfe werden jedoch
darum gehen müssen, diese Konfliktlinien aufzulösen: Die Perspektive der
Selbstvernichtung im alltäglichen Gang der Dinge betrifft alle, die
gesellschaftliche Setzung von Zielen des Wirtschaftens würde alle Menschen
demokratisch handlungsfähig machen, sie erst kann die strukturelle Unsicherheit,
die jeden Alltag prägt, beenden.
Über den
Übergang in die andere Gesellschaft und deren Grundmuster kann man daher noch
mehr sagen: Das bisherige System, dessen Geschlossenheit von der Utopie der
Unendlichkeitsproduktion hergestellt wird, kann nur aufgelöst werden in
Geschichte, die die Menschen selbst machen, durch gesellschaftliche
Festlegungen, wodurch sich nicht nur das Wirtschaften verändert, sondern zuerst
die Menschen selbst und die Gemeinschaften, in denen sie leben, nicht durch
Vereinzelte oder Gruppen, die in irgendeiner Weise »aussteigen«, sondern nur in
einem institutionell verankerten Streit um das Ganze, das Wirtschaften und die
ihm entsprechende politische Form des Staatlichen: Ein System wird abgelöst
durch Geschichte.
Die Frage des
Übergangs in eine grundlegend andere Gesellschaft ist deshalb die nach einer
möglichen Geschichte. Viele, auch unheilvolle Verläufe der zukünftigen Geschichte
sind realistisch, für ihre Verwirklichung wird wie bei der Geschichte der
Entstehung der kapitalistischen »Great Transformation« (Karl Polanyi) und der
folgenden Umwandlung der Welt (Jürgen Osterhammel) immer ein Bündel von
Faktoren entscheidend sein. Die erste, grundlegende Voraussetzung der
Durchsetzung der anderen Gesellschaft besteht allerdings darin, dass über sie
nachgedacht, diskutiert und gestritten wird. Das Netz, das sich dabei bildet,
indem es diese Diskussion vorantreibt, könnte man mit einem klassischen Begriff
als den »organischen kollektiven Intellektuellen« (A. Gramsci)
der neuen »Partei« bezeichnen, die Bewegung formend durch die Herausarbeitung
des objektiv gegebenen Zieles. Und ein, allerdings sehr unterschiedlich
artikuliertes Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir die
Hilflosigkeit des »Weiter so« überwinden müssen, ist so weit verbreitet, wie
schon lange nicht mehr. Auch in den Wirtschaftswissenschaften, die
konzeptionell, institutionell und personell am dichtesten mit den utopischen
Unendlichkeitsfantasien verfilzt sind, werden theoretische Positionen
bedeutsam, die die heutige ökonomische Krise in den Rahmen der ökologischen
stellen. Welchen Ausblick auf eine andere Gesellschaft bieten sie?
Eine Ökonomie der Befähigung ...
Die
Einführung der realen Endlichkeit in die Wirtschaftswissenschaft der
Unendlichkeit wird seit Längerem unter dem Begriff der Postwachstumstheorie
diskutiert, also der Möglichkeit eines Wirtschaftens, das ohne allgemeines
Wachstum auskommt. Mit einem Buch von Tim Jackson,(8)
das als Beitrag der britischen Politikberatung entstand, versuchen Parteien und
Bewegungen auch in Deutschland die Diskussion voranzubringen. Jacksons Argumentationsfaden
in aller Kürze: Im zukünftigen Wirtschaften müsse eine Abkopplung vom
Ressourcen- und Senkengebrauch erreicht werden. Eine
anteilige, also relative Reduzierung der Ressourcen- und Senkenbelastung
werde typischerweise durch Mengenausweitungen zunichte gemacht, weshalb eine
absolute Reduzierung unumgänglich sei. Dabei bilde die ständig steigende
Produktivität den Kern des Problems, gesucht werden müsse daher nach einer
ökologisch orientierten »Aschenbrödel-Ökonomie«, in der
insbesondere personenbezogene und soziale Dienstleistungen ausgeweitet
werden.
Seine
Argumentation stützt er auf eine ältere, einflussreiche Wohlstandsdefinition
von Amartya Sen,(9) der wegen der viel diskutierten
Mängel konventioneller Konzepte Wohlstand als Fähigkeit zum Gedeihen definiert,
was bedeutet, in einem gegebenen Umfeld sein Leben erfolgreich gestalten zu
können. Jackson verschärft Sens Definition, wenn er feststellt, dass über die
reine Möglichkeit hinaus die reale Umsetzung der Fähigkeiten zum Gedeihen im
Zentrum stehen müsse, weil gerade die Ausübung der Freiheiten amoralisch sein
könne, insbesondere wenn sie die Fähigkeiten zukünftiger Generationen
nachhaltig einschränke.
Damit
vollzieht Jackson mit Sen einen wesentlichen Schritt: Er schiebt ins Zentrum
der ökonomischen Debatte, dass das Erreichen von Zielen das Herzstück des
Wirtschaftens ist. Damit ist eine unabdingbare Voraussetzung erfüllt, der
herkömmlichen ziellosen Struktur des kapitalistischen Wirtschaftens die
Grundlage zu entziehen. Denn diese beruht darauf, einem als blind, taub und
stumm gedachten Markt nicht nur die Erzeugung, sondern auch die Bewertung des
Wohlstandes zu überlassen. Jackson zeigt anhand verschiedener Indizes, dass
Gesellschaften bestimmte, allgemein anerkannte Ziele tatsächlich unterschiedlich
gut erreichen: Arme Länder wie Kuba sieht er danach in sozialer Hinsicht als
vorbildlich, reiche wie Südkorea in ökologischer, das neoliberal überformte
Großbritannien bewertet er in vielerlei Hinsicht schlecht. Ein wesentlicher
Schritt bleibt bei Jackson aber aus: Über die Tatsache dieser Unterschiede geht
er nicht hinaus, förderliche Strukturen werden über den bloßen Verweis auf »den
Staat« hinaus nicht erörtert.
Diese
Hoffnung auf »den Staat« hätte sich zunächst mit dem grundsätzlichen Argument
auseinanderzusetzen gehabt, dass die ökologische Gefährdung nicht vom
nationalen, sondern vom Wachstum im globalen Durchschnitt ausgeht. Für britische
Unternehmen des beginnenden 21. Jahrhunderts wie Vodafone ist es schon lange
irrelevant, ob sie ihre Gewinne nach dem Kauf des Netzes von Mannesmann in
Deutschland oder in Indien oder Ostafrika oder sonst wo machen: Das irgendwann
in Großbritannien geschaffene Kapital ist schon lange weltweit unterwegs, regt
Wachstum an, indem es die Nachfrage nach Arbeitskräften und Ressourcen erhöht –
und ist insofern überall hochwillkommen. Aber genau die Vielfalt solcher
alltäglichen, von Vielen getragenen Prozesse erhöht die ökologische Gefährdung
der Menschen – genauso wie ihre soziale Gefährdung, insbesondere durch das
Auseinanderreißen von sozialen Netzen. Übrigens weist Jackson in diesem
Zusammenhang ausdrücklich auf die nur scheinbare »Dematerialisierung«
des westlichen Wirtschaftens hin: Bildlich gesprochen war die europäische
»Werkbank« seit den 1960er-Jahren gewissermaßen »verlängert« worden in die
»schmutzigen« Ökonomien der asiatischen und afrikanischen Länder, die
»sauberen« Anteile der Produktion blieben hier. Diese Verschiebung der
weltwirtschaftlichen Gewichte wird, hier war die globale Krise nach 2008 entscheidend,
mit der Aufwertung der Ländergruppe der G-20 anerkannt, die, von Argentinien
über Indonesien bis zu den USA, insgesamt 80 Prozent des weltweiten BIP, drei
Viertel des Welthandels und zwei Drittel der Weltbevölkerung repräsentieren.
Eine solche politische Anerkennung ökonomischer Bedeutung war schon in den
1970er-Jahren durch den Reichtum der arabischen Ölförderländer unvermeidbar
geworden, eine erste Verstörung traditionell westlicher
Selbstverständlichkeiten – und eine Quelle etlicher finanzwirtschaftlicher
Crashs seitdem.
Sowohl in dieser Unterschätzung des
Gewichtes der neuen »global Player«
als auch in seiner Überschätzung der Möglichkeiten staatlicher
Wirtschaftspolitik ist Jackson typisch: Untersuchungen der neoklassischen
Schule bilden Typen staatlichen Handelns, die sich als förderlich oder
hinderlich für Marktfreiheit und ökonomisches Wachstum erwiesen haben. Er dreht
diese Wertung nur um und bleibt damit im Dualismus von Markt und Staat, also in
der Vorstellung, es gebe so etwas wie einen autonomen Mechanismus, der unsere
Gesellschaft im Kern bestimmt – in dem Maße jedenfalls, in dem der
gegenüberstehende Staat nicht eingreift. »Markt« wie »Staat« sind jedoch als
komplexe Institutionalisierungen der Gesellschaft zu verstehen. Nur über staatliche
Institutionalisierungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hat sich das
kapitalistische Modell etablieren und immer wieder erneuern können: Wie Polanyi
zeigt, wurde die freie Lohnarbeit in Großbritannien nach einem langen
Meinungsstreit erst durch Gesetze geschaffen.(10) Bei
der Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert(11) sind staatliche und
wirtschaftliche Handlungen unauflöslich verflochten. Großbritannien unter
Thatcher war in den 1980er-Jahren für andere Länder das Muster massivsten
staatlichen Eingreifens geworden, nicht nur bei der Zerschlagung der
Gewerkschaften, sondern auch bei der Gestaltung neuer Chancen für Unternehmen –
immer unter der marktutopischen Losung der »Zurückdrängung des Staates
zugunsten des Marktes«. Offensichtlich muss auch über einen anderen Staat
nachgedacht werden, wenn das kapitalistische Konzept der Herstellung von
unendlichem Reichtum angegriffen werden soll.
Hans
Christoph Binswangers Kritik (siehe Kasten)
ist grundsätzlicher. Weil er einer der führenden Finanzwissenschaftler ist und
aus dem Horizont konventioneller theoretischer Modellbildungen heraus
argumentiert, wird seine Theorie der »Wachstumsspirale« dennoch breit
wahrgenommen. Als Ergebnis seines geldtheoretischen Wirtschaftsmodells weist Binswanger einen »Wachstumszwang« nach, der insbesondere
einen »haushälterischen« Umgang mit den real knappen Ressourcen strukturell
verhindert: Aus diesem Wachstumszwang heraus kann der real nutzbare Anteil, die
»Reserven«, im Verhältnis zu den prinzipiell vorhandenen Ressourcen sogar steigen,
wenn nämlich Technologien sich ändern und/oder die für die Gewinnung
vertretbaren Kosten sich erhöhen. Sein allgemeines Modell einer wachsenden
Wirtschaft schließt er mit der Berechnung des minimalen Wachstumsfaktors ab:
Bei global gesehen weniger als 1,8 Prozent Wachstum beginne ein
Schrumpfungsprozess. Mit dieser ökonomischen Sicht, die sich nicht hinter den
Gleichgewichtsmodellen versteckt, müssten die unterschiedlichen Wahrnehmungen
der Perspektiven der Menschheit »aber als Determinanten einer richtungsgebenden
– auch politisch wirksamen – Auseinandersetzung über die sinnvolle Ausrichtung
der wirtschaftlichen Entwicklung zugelassen werden«. Man müsse Wege suchen, den
immer erweiterten Spirallauf des Wirtschaftens in einen Kreislauf zu überführen.
Halten wir
fest: Bei Binswanger ist nicht der Markt das Problem
und nicht das Verhalten des Unternehmens oder die Bedürfnisse der Haushalte,
sondern eine sich spiralig erweiternde Wachstumsstruktur, die er aus dem Geld,
genauer aus der Möglichkeit der Giralgeldschöpfung,
sowie seiner Verwendung als Kapital erklärt, das vermehrt werden muss. Diesem
Wachstumszwang stehen Staaten nicht »gegenüber«, sie können ihn eher mehr oder
weniger gut bedienen. Binswanger analysiert jedoch
dieses Wirtschaften als historische Gesamtheit und begründet so seine
Veränderbarkeit. In Interviews führt er seine Argumentation ins Politische
weiter und nennt institutionelle Ideen für die Zukunft: Um das Wachstum zu
beschränken, könne zunächst die Giralgeldschöpfung
der Banken zugunsten der Zentralbank beschnitten werden. Aktiengesellschaften
könnten durch die Umwandlung eines Teils der Aktien in nicht handelbare
Namensaktien vom kurzfristigen Renditedruck entlastet werden, Unternehmen
sollten als Stiftungen oder in genossenschaftlicher Form betrieben werden,
damit ihr Ziel sich von dem der Gewinnerzielung zu dem der Versorgung mit
Produkten wandelt.
Binswanger ist skeptisch, ob überhaupt global
ein Wirtschaften ohne Wachstum erreicht werden könne. Wesentlich ist jedoch,
dass er konventionelles Wirtschaften als eines modelliert, dem strukturell, von
seiner Logik her, die ökologische Begrenztheit ausgetrieben wird. Bei Jackson
fehlt dieser Gedanke der strukturellen Geschlossenheit unseres heutigen
Wirtschaftens, er präzisiert jedoch, wie man sich Ziele des Wirtschaftens
vorstellen kann. Beide Ansätze zeigen ausgehend von der konventionellen
Wirtschaftswissenschaft, also im Herzen der Hegemonie, die Aufgabe: nach einer
Struktur des Wirtschaftens zu suchen, deren Kern in der Befähigung zum
verantwortlichen Handeln besteht.(12) Aus der Kritik am Konzept eines blinden,
tauben und stummen Prozesses, wie ihn das utopische Gedanken-Modell des
kapitalistischen Marktes mit seinem unendlichen Kapitalwachstum vorgab, ergibt
sich damit der Umriss der neuen Ökonomie. Im geschichtlichen Rückblick erweist
sich die Analogie: So wie die mittelalterliche Marktökonomie der »caritas«(13) von der modernen Marktökonomie des unendlichen
Kapitals abgelöst worden war, alles andere als strukturlos, aber in einem
allmählichen, umkämpften Prozess, nicht nach einem großen Plan und ohne dass
allen Beteiligten ihr Einsatz klar war, verdichtet in bestimmten
politisch-rechtlichen Entscheidungen – so zeichnet sich zu Beginn des 21.
Jahrhunderts nicht nur die Struktur der neuen Ökonomie ab, auch ihre
Institutionen und Stützpunkte lassen sich erkennen. Dies muss allerdings erklärt
werden.
Erinnern wir uns zunächst an die
neoliberale Revolution:
Was als »mehr Markt und »weniger Staat« gefasst wurde, erwies sich überall als
ein politisch-staatliches Wegräumen von Behinderungen, mit denen große
Unternehmen vorher zu rechnen hatten, als eine Erweiterung ihrer Spielräume,
sich um nichts als ihren Gewinn zu kümmern und die Organisation neuer
Geschäftsfelder durch Privatisierung. Genau darin war Großbritannien unter
Thatcher modellhaft. Aber auch an die deutsche Teil-Privatisierung der Renten
sei erinnert, begründet aus einer vorgeblich unausweichlichen »Notwendigkeit«,
hier des »demografischen Wandels«. Sie erweist sich als Teil des
durchgreifenden Versuchs, in einem Kernland der Weltwirtschaft das quantitative
Wirtschaftswachstum uneingeschränkt in den Mittelpunkt der Politik zu stellen
und gewerkschaftliche Macht einzuhegen. Die Senkung der Lohnnebenkosten,
mit der man ab den 1990er-Jahren die deutsche Exportposition weiter stärkte,
wurde auch durch die Senkung der Renten erreicht. Begleitet wird dies – auch
nach der Finanzkrise – durch den Druck der Finanzmärkte und der
Rating-Agenturen, die wegen steigender Rentneranteile eine Abstufung der
Kreditwürdigkeit verschiedener Staaten ankündigen. Diese Bewertung bildet wiederum
ein existenzielles Problem für staatliches Handeln, weil – wiederum im Vollzug
der neoliberalen Vorstellung, man müsse die Märkte von allem befreien, was die Gewinnmaximierung
behindere – die Staaten sich ebenso wie die Unternehmen ihre Kredite auf den
Kapitalmärkten besorgen müssen. Die zusätzliche Privatrente wird darüber hinaus
mit massiven staatlichen Zuschüssen gefördert. Die privaten und öffentlichen
Einzahlungen schufen für Banken und Versicherungen ebenso neue Geschäftsfelder
wie die Kreditvergabe an Staaten: Aus den Kundeneinlagen entwickelt sich ein
Vielfaches an Wert – ein globaler Wachstumsimpuls. Die Privatrentner erwarten
daher mit Recht, an diesem als ewig gedachten Wachstum im Alter zu
partizipieren. Konsequenterweise enthalten die Standardformulare die Berechnung
der voraussichtlichen Rente bei 4 oder 6 oder 8 oder 10 Prozent Rendite. Mit
der Finanz- und Wirtschaftskrise Europas und der USA ab dem Jahr 2008 ist diese
Struktur des blinden Optimismus infrage gestellt – wie vorher schon mehrmals.
Aber ihre institutionellen Stützen sind stabil.
Eine solche
staatlich organisierte Koordination unternehmerischer Strategien erweist sich
als Normalfall, die Geschichte unserer Konsumgüter ist durch sie geprägt. Exemplarisch
sei erinnert an den Kampf in den 1980er-Jahren um drei sich gegenseitig ausschließende
Videoformate: Beta aus Japan, Video2000 aus Deutschland und VHS aus den USA,
der aufgrund größerer Macht und mit nationalstaatlicher Unterstützung der
entsprechenden Hersteller schließlich von VHS entschieden wurde. Beim
hochauflösenden Fernsehen später gab es ähnliche Kämpfe um die Gestaltung der
Märkte, noch einschneidender heute bei der Abwicklung der ursprünglichen Idee
des für alle Programme offenen Computers durch ausschließende »Apps«. Im Rahmen der deutschen Energiewende und angesichts
»Peak oil« bieten Elektromobilität und Biotreibstoffe
strategische Chancen, die deutsche industrielle Kernstruktur, die
PKW-Produktion, zu erneuern. Dezentrale Energiegewinnung und Trassenausbau würden vermutlich schon anders diskutiert,
wenn sich dagegen die Elektroindustrie mit ihren Plänen eines oberleitungsgeführten
LKW-Verkehrs durchsetzen würde. Der Rückgang der Artenvielfalt aufgrund der
schnellen Zunahme des Anbaus von Energiemais oder das Verschwinden von traditionellen
Landschaftsbildern sind bei diesen Strategie-Rangeleien ohne Bedeutung. Jedenfalls:
Im Erfolgsfall war Marktgestaltung immer verbunden mit Extragewinnen, die
wiederum zur Befestigung von Marktmacht eingesetzt wurden.
Was in den
Einzelunternehmen schon immer betrieben wurde, wird in letzter Zeit zunehmend
in großzügig ausgestatteten Abteilungen der »Corporate Foresight«
institutionalisiert, deren Teams ein Planungshorizont von 15 bis 20 Jahren
vorgegeben ist. In den Worten eines Vorstandsvorsitzenden: »… mit einem neuen
Denken entwickeln Ingenieure und Chemiker überall auf der Welt Antworten auf
die großen Herausforderungen unserer Zeit. … Wir brauchen im 21. Jahrhundert
einen neuen Blick auf die Welt. Die naturwissenschaftliche ›Brille‹ ist dabei
besonders geeignet, den Fokus auf neue Chancen zu lenken.«
Wo diese Chancen aus der Sicht eines Spezialchemieherstellers zu finden sind,
wird für das Jahr 2050 projektiert: Man werde in durchsichtigen Flugzeugen
fliegen, CO2 unter Hitze in Bioschlamm binden, in 600 Meter hohen
Gebäuden Urban Farming betreiben, Fremdsprachen mit
Neurochips lernen, die Autos mit intelligenten Navigationsgeräten sicher machen
und autarke Gebäudesysteme herstellen, die schnell überall aufgebaut werden
können, insbesondere vor den vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Megacitys.(14)
Der Erfindungsreichtum kennt keine
Grenzen, solange die Möglichkeit der Alternative zum strukturellen
Wachstumszwang nicht institutionell repräsentiert ist. In strategischen
Planungen werden nicht nur Märkte hergestellt, sondern das Humankapital ganzer
Gesellschaften optimiert, wie in den deutschen Bildungsreformen der letzten
Dekade, nach der kapitalistischen Überformung der Erde wird jetzt in
biologische Grundvorgänge eingegriffen,(15) bis hin zu konkreten Utopien von
Mensch-Maschine-Interfaces jeder Art.(16) Dabei wirkt nicht ein automatischer
Markt, sondern ein Geflecht von mächtigen Akteuren – allerdings im Namen des
anonymen Marktes oder des »technischen Fortschritts« oder der produktiven
Zerstörung zugunsten des immer Neuen oder der permanenten Steigerung des
Reichtums, jedenfalls immer ohne dass das Problem der demokratischen Legitimierung
dieser Entscheidungen, die Gesellschaften wie Umwelten umstürzen, auch nur
gesehen wird. In dieser Situation wurde in der Bankenkrise ab 2008 der
Nihilismus des herkömmlichen Wirtschaftens noch auf die Spitze getrieben:
Private Unternehmen wurden zu ihren Konditionen öffentlich unterstützt, weil
sie »too big to fail« seien, das Wirtschaften
wurde ausdrücklicher denn je als auch für große Staaten unbeeinflussbares
Naturverhältnis dargestellt, gegen das – wie bei Sturmfluten – manchmal nur unzureichender
Schutz möglich sei. Dass diese Gemengelage gerade Intellektuelle aller Lager
verstören muss, bis tief in die hegemonialen, wirtschaftsnahen Kreise hinein,
ist kein Wunder. Auch auf der politischen Ebene liegt heute nahe: Die
strategische Zielgebung, ohne die Wirtschaften nicht
denkbar ist, muss explizit, öffentlich, demokratisch geschehen, nicht im
Gemauschel von »Entwicklungsnotwendigkeiten«, »globalisierter Konkurrenz«, also
faktisch im Machtgeflecht der einflussreichsten Akteure.(17)
Die »Partei«,
die dieses Projekt vorantreibt, gibt es nicht. Sie muss als abgetrennte Organisation
vielleicht auch nicht entstehen, falls sich ein intensiver organisatorischer Zusammenhang
anders ergibt. Allerdings wäre erst mit der »Partei«, die für eine demokratische
Festlegung grundlegender Ziele des Wirtschaftens eintritt, mit deren »Umfeldorganisationen«, sympathisierenden »organischen
Intellektuellen« in allen Bereichen des Lebens, das objektive Problem und seine
naheliegende Lösung repräsentiert. Wie diese »Partei« sich zu den vorhandenen
verhielte, ist in Umrissen klar: Die Grünen haben erfolgreich das Thema der
Umwelt zum Problem gemacht und dabei festgestellt, dass es quer zu den
traditionellen politischen Konfliktlinien liegt. Genau deswegen ist es
inzwischen Teil aller Parteiprogramme. Weil im alten Projekt der Emanzipation
der Lohnabhängigen die Frage einer »Neuen Gesellschaft« mit enthalten war,
gekennzeichnet durch den Wunsch einer grundlegend anderen Machtverteilung, dem
Ziel der Lebensqualität für alle, durch »mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt)
auch im Alltag, wären auch Linke sicher ein wesentlicher Teil. Niemanden, der
in der Tradition der Stärkung des Einzelnen steht, kann es unberührt lassen,
wenn mächtige internationale Medienkonzerne bis in die Privatsphäre Macht gewinnen
und schon beim ersten grünen Aufbruch war klar, wie deutlich die Schnittmengen
zu originär konservativen oder christlich bewahrenden politischen Strömungen zu
sehen sind.
Das objektiv
gegebene Problem der gesellschaftlichen Festlegung zentraler Ziele des
Wirtschaftens steht quer zu diesen Traditionen und betrifft alle.
… und ihre
Institutionalisierung
Die Frage der
Institutionalisierung einer »richtungsgebenden – auch politisch wirksamen –
Auseinandersetzung über die sinnvolle Ausrichtung der wirtschaftlichen
Entwicklung« (Binswanger) ist die nach einer neuen
Verfassung für das Wirtschaften. Wie jede Verfassung aus vielen, je nach Land
und Tradition sehr unterschiedlich einander zugeordneten Bausteinen besteht, in
der geschichtlichen Entwicklung mit Leben gefüllt, mit einem Kern allerdings:
dass nämlich das Volk über Wahlen sich selbst regiert, so kann man auch den
Kerngedanken einer anderen Verfassung für unser Wirtschaften prüfen: Wie kann
man sich eine gesellschaftliche Festlegung bei zentralen wirtschaftlichen
Strukturentscheidungen vorstellen? Die Hinweise, die Binswanger
gibt, richten sich auf die Unternehmensebene, würden also eher ermöglichen,
schon getroffene Entscheidungen auch umzusetzen. Braucht man nicht Wahlen im
eigentlichen Sinn? Lassen sich dann Bereiche der demokratischen Abstimmung über
wirtschaftliche Grundfragen organisieren? Wie lassen sie sich insbesondere
abgrenzen vom Geschehen, das primär von den Marktteilnehmern selbst geregelt
wird? Diese Frage lässt sich wiederum auffächern: Wie wären Wahlkämpfe
vorstellbar? Geht es in ihnen immer um Strukturen oder ist auch die Abstimmung
über Einzelfragen zumindest zulässig? Wie können komplexe ökonomische
Zusammenhänge einerseits dargestellt und andererseits in komprimierter Form zur
Abstimmung gestellt werden? Wer erarbeitet Programmalternativen zu den zur Abstimmung
vorgelegten ökonomischen Strukturfragen und wer informiert über sie? Wer darf
in welchem institutionellen Rahmen sein Programm zur Wahl stellen? Wie kann
insbesondere verhindert werden, dass Unternehmen mit ihren finanziellen Ressourcen
einen Abstimmungsprozess verzerren?
Als zweiter
Fragenbereich leitet sich daraus ab: Wie kann das Ergebnis dieser Abstimmung in
verbindliche Vorgaben umgesetzt werden? Bei dieser Frage könnte die Fülle der
Erfahrungen mit der Umsetzung politischer Entscheidungen ausgewertet werden,
von der Raumordnung über den Naturschutz zum Aktienrecht, von steuerlichen
Instrumenten über Qualitätsnormen bis hin zu Subventionen. Diese Erfahrungen
müssten nur gemäß den anderen Gesichtspunkten einer Ökonomie der Befähigung,
die gesellschaftlich zentrale Ziele des Wirtschaftens festlegt, ausgewertet
werden. Im Folgenden kann deshalb der Schwerpunkt auf die erste Frage gelegt
werden.
Zunächst muss
man sich klarmachen, dass es bestimmte »Auseinandersetzungen über die sinnvolle
Ausrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung« schon gibt: Die Entscheidungen
individueller Verbraucher haben – gestützt durch die ökologische Bewegung, ihrer
vielfältigen Verankerung bis in örtliche Initiativen, einer vielfältigen
Aufklärungsliteratur, begleitender Berichterstattung in den Medien und so
weiter – die landwirtschaftliche Produktionsstruktur und den Einzelhandel
qualitativ verändert: Die Möglichkeit, Bio-Produkte zu kaufen, gibt es
inzwischen bei allen Discountern, und die Nachfrage steigt noch immer. Ebenso
steigt der Anteil des Fair-Trade-Handels, einer Institutionalisierung der
Dritte-Welt-Bewegungen, ständig weiter. Diese Wege der Durchsetzung einer Zielorientierung
des Wirtschaftens sind im Hinblick auf die Komplexität ihrer Entstehungsvoraussetzungen,
aber auch hinsichtlich ihrer Grenzen exemplarisch: Alle Produktionsumstellungen
mit hohem Kapitalbedarf sind auf diesem Weg ausgeschlossen, insbesondere die
Ausweitung des öffentlichen Verkehrssystems oder die Regionalisierung der Produktion
und des Verbrauchs, erst recht so etwas wie ein genügsameres Wirtschaften
(Suffizienz). Durch individuelle Kaufentscheidungen ist ferner nicht
entscheidbar, ob ein Produkt die Form eines Gemeingutes haben soll oder nicht:
Bezüglich sauberer Luft oder gesellschaftlicher Stabilität oder einer
artenreichen Umwelt ist keine Summe individueller Kaufakte
denkbar, die diese wirtschaftlichen Ziele als Gemeingüter erhält, wohl aber
solche, die sie zerstören. Vor allem aber: Biohandel und FairTrade
laden zur Diskussion über Ziele des Wirtschaftens ein – und zum Preisvergleich,
was im Kunden all das zum Klingen bringt, was er als kapitalistisches Spiel habitualisiert
hat. Sie zeigen die Möglichkeit der Verantwortung, repräsentieren aber nicht
die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Verallgemeinerung.
Man kann sich
vorstellen, dass bestehende Parteien sich für – vielleicht vereinfachte –
wirtschaftsstrukturelle Ziele einsetzen, die bei den herkömmlichen Wahlen
gewissermaßen nebenbei mit abgestimmt und je nach Mehrheiten dann in
verbindliche Strukturvorgaben umgesetzt werden. Der Atomausstieg hätte zum
Beispiel zum Wahlthema gemacht werden können, statt ihn einfach zu »verkünden«,
was auch in der Regierungspartei kritisiert wurde. Die Bedingungen dafür,
nämlich eine breite und gründliche Information der Wähler, waren gerade hier
gegeben. Der CDU-Wirtschaftsrat forderte zu Recht eine Volksabstimmung, weil
die Konsequenzen so umfassend und tiefgreifend seien. Die prinzipielle
Perspektive einer solchen Abstimmung über Wirtschaftsstrukturen wurde sofort
gesehen und führte zum Abbruch der Debatte.(18) Sie
aufzugreifen wäre also eine der Aufgaben der »Partei«, die die andere
Gesellschaft anstrebt. Sie könnte eine Volksabstimmung über eine strategische
Grundsatzfrage anstreben, in der sich die Machtverhältnisse in besonderer Weise
verknoten, bei der aber die Aussichten auf Erfolg besonders hoch sind. Dies
könnte zunächst auch ohne eine gesetzliche Grundlage in einer außerparlamentarischen
Bewegung angestrebt werden. Schon in der ersten, noch nicht in die Verfassung
aufgenommenen Form müsste jedoch das Ganze der anderen Gesellschaft sichtbar
gemacht werden können: eine Ökonomie der Befähigung zur Verantwortung. Ihre
Perspektive wäre die Einrichtung eines Institutionensystems der »Marktwahlen«
(Michael Jäger(19)), in dem über zentrale strategische Alternativen entschieden
werden kann.
Eine dieser
Fragen könnte sein, ob der bisherige Entwicklungspfad des individuellen PKW-Verkehrs
weiter verfolgt werden soll oder durch den Ausbau gemeinschaftlichen Verkehrs,
vom ÖPNV über Car sharing bis zu Sammeltaxen, der
Flächen-, Ressourcen- und Energieverbrauch reduziert werden soll. Die »Partei«,
die eine solche strukturelle Frage zur Abstimmung stellt, muss nachweisen, dass
sie das Ganze der anderen Gesellschaft repräsentiert: Sie stellt nicht andere
Arbeitsplätze in Aussicht, sondern sinnvolle Arbeit und ein Einkommen, das zur
Teilhabe befähigt, nicht ökologischen Verzicht, sondern eine für viele
ungeahnte Ausweitung ihrer persönlichen Befähigung. Sie geht davon aus, dass
Menschen prinzipiell zur Übernahme von Verantwortung für sich und ihre
Nachkommen bereit sind. Alle Menschen, eben auch diejenigen, deren Beispiel diesem
Text vorangestellt sind, sind als möglicher Teil dieser Bewegung zu betrachten.(20)
Jedes Gegenargument wäre unverzichtbarer Teil der Geschichte dieser Bewegung,
zu fürchten hätte sie den Zusammenschluss derjenigen, die Menschen und ihren
Gemeinschaften die Freiheit der Entscheidung grundsätzlich nicht zugestehen.
Insbesondere
aus dem Unternehmenslager würde dieser Prozess zunächst sicher überwiegend
feindlich kommentiert werden, weil seine Konsequenzen unklar sein mögen. Aber
auch im unternehmerischen Lager gibt es vielfältige Strömungen. Allmählich
könnte akzeptiert werden, dass mit der breiten gesellschaftlichen Diskussion
der unternehmerische Entscheidungsprozess nur erleichtert würde. Man darf nicht
vergessen: In vielen Unternehmen ist man schon heute daran gewöhnt, intensiv
die chinesischen Debatten über die Ausgestaltung der Fünf-Jahres-Pläne zu
verfolgen. So wie heute große Unternehmen Märkte machen, könnten Marktwahlen
diese Funktion übernehmen – mit dem Effizienzvorteil größerer Transparenz und
Zuverlässigkeit, der gerade kleinen und mittleren Unternehmen neue Chancen
bietet.
Der Gedanke der Marktwahlen erweist
sich als Kern der Bewegung zur anderen Gesellschaft. Aus ihr heraus müsste für neue
Schulbücher gestritten werden, die die Gleichsetzung von Kapitalismus und
Marktwirtschaft beenden, sollte Social statt Science
Fiction geschrieben werden, müsste der gesamte Bereich, in dem gesellschaftlich
notwendige Arbeit geleistet wird, auch durch ein Grundeinkommen gewürdigt
werden und so weiter. Ihr Zusammenhang, das, was in ihr schon die andere
Gesellschaft zeigt, wäre die gesellschaftliche Bestimmung zentraler
wirtschaftlicher Ziele. Der Gedanke, sie zu wählen, würde die Diskussionen
anregen, die die wirtschaftliche Verfassung der anderen Gesellschaft klären.
Einige institutionelle Fragen sollen wenigstens exemplarisch angesprochen
werden: Klar ist, dass es bei Marktwahlen nur um relativ übersichtliche Fragen
sowie deutliche Alternativen gehen kann. Debattiert werden muss über bestimmte
rechtliche Vorgaben für die Form der Abstimmung, damit populistische Abstimmungen
ohne eine solide Erörterung der Zusammenhänge und Konsequenzen vermieden
werden. Differenzierte Pfadanalysen sind unverzichtbar, müssen aber für die
Abstimmung in eine kompakte Form gebracht werden. Wie kann aber eine
populistische Abstimmung möglichst verhindert werden? Und: Dürfte auch ein
bestimmtes Produkt oder Produktionsverfahren verboten werden? In Deutschland
könnte dies zum Beispiel die sogenannte grüne Gentechnologie betreffen. Gerade
hier zeigt sich übrigens die Relevanz gesellschaftlicher Debatten schon vor
ihrer Institutionalisierung: Ein führender Konzern hat die entsprechenden Forschungs-
und Entwicklungsaktivitäten deshalb aus Deutschland in die USA verlagert. Klar
ist, dass hier auch Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit betroffen sein
können, dass also neue Verfahren rechtlicher Normenkontrolle mit bedacht sein
müssen.
An einem
historisch noch relativ »frischen« Beispiel der Gestaltung von Märkten, am
Beispiel des Aufbaus des Mobilfunks in Ländern, die schon mit einem
komfortablen Festnetz ausgestattet waren, kann man überlegen, ob und wie man
»Schwellen« definieren muss, jenseits derer Unternehmen neue Produkte nicht von
sich aus, sondern erst nach der Zulassung in einer Marktwahl anbieten dürften.
Wesentlich dabei könnte der quantitative »Wirkungsgrad« sein, also
einerseits der Verteilungsgrad der Produkte, andererseits ihr spezifischer
Eingriff in die Rohstoff- oder Abfallbilanz. Auch qualitative Kriterien wie
mögliche soziale oder gesundheitliche Konsequenzen könnten berücksichtigt
werden. Gerade die Einführung des Mobiltelefonsystems bewirkt einen massiven
Eingriff in die Rohstoffressourcen der Erde. Coltan
zum Beispiel, das hauptsächlich im Kongo vorkommt und dessen Verkauf dort
verschiedene Machthaber und deren Privatarmeen finanzierte, war von vornherein
knapp. Mit dem Aufbau des privaten Mobilnetzes verschwand das Netz der
öffentlichen Telefone, gleichzeitig wurde ein flächendeckendes Netz von Sendern
auf Hochhäusern oder eigens errichteten Masten notwendig. Das öffentliche
Telefonsystem wurde so ohne eine demokratische Diskussion faktisch
privatisiert, ohne dass über die sogenannten externen Kosten entschieden worden
war: Zumindest ein Teil der Bevölkerung leidet unter gesundheitlichen Beschwerden
wegen der erhöhten Strahlenbelastung. Als noch eingreifender erweisen sich aber
massive gesellschaftliche Veränderungen, von der historisch noch nie da gewesenen
Möglichkeit permanenter räumlicher Überwachung jedes Einzelnen, die nicht
zuletzt durch die Möglichkeit des Drohneneinsatzes zur Aufweichung
herkömmlicher Regeln der Kriegsführung führt, bis hin zur Notwendigkeit,
Scanner an den Prüfungsräumen aller Universitäten, Schulen und so weiter
einzurichten, um Täuschungsversuche zu verhindern. Aus dieser Skizze ergibt
sich die nächste Frage: Können wenigstens die wesentlichen Folgen einer
wirtschaftlichen Strukturentscheidung überhaupt vorhergesehen werden?
Um die
entsprechenden Analysen systematisiert zu erstellen, muss das Netz wissenschaftlicher
Institutionen, die grundlegende Alternativen und ihre Auswirkungen durchrechnen
können, ausgeweitet werden. Sie hätten eine ähnlich zentrale Stellung wie heute
die Rating-Agenturen, allerdings unter demokratischer Kontrolle. Eine breite
Palette von Analyseinstrumenten ist in der Praxis schon erprobt (Indexbildungen
zur Bewertung, wie sie z.<|>B. Jackson oder Sen verwenden,
Produktlinienanalysen, ökologischer »Rucksack« oder »Fußabdruck« usw.).(21)
Um die Gefahr
der populistischen Entscheidung zu verringern, müssten die Informationen der
Forschungsinstitute in allen Medien breit diskutiert werden. Insbesondere für
die privaten Fernsehsender könnte dies einen Einschnitt bedeuten. Ein Netz
institutionalisierter Orte sowie Zeiten der Informationsmöglichkeit, wie auch
immer konkret ausgestaltet, ist jedenfalls Voraussetzung dafür, dass die
Institution der Marktwahl Wirkung entfalten kann. Auch hier wiederholt sich
übrigens eine klassische Debatte, wie nämlich Wahlen bei allgemeinem Wahlrecht
möglichst durch den optimal informierten, abwägenden Bürger, nicht den Pöbel
entschieden werden können. Und wie bei klassischen Wahlen wird es bei
Marktwahlen sicher unterschiedliche Lösungen geben.
Auch die
Umsetzung der Wahlergebnisse kann institutionelle Änderungen erfordern. Man
kann dies als alleinige Aufgabe der traditionellen Exekutive sehen, man kann
aber auch überlegen, inwiefern ein eigener »Wirtschaftsrat« als neue Kammer
eingerichtet werden sollte, mit Mitwirkungsrechten bei Gesetzen, die die
wirtschaftsstrukturelle Wahlentscheidung mit betreffen. Jedenfalls müssten die
Zentralbanken deutlich neue Aufgaben übernehmen. Binswanger
weist darauf hin, dass die Geldschöpfung der Banken minimiert werden müsse.
Gleichzeitig sind Vorschläge im politischen Raum, dem Geldschöpfungsprozess
inhaltliche Ziele zu geben, zum Beispiel durch eine variabel gestaltete
Refinanzierung der Banken bei der Zentralbank je nach der Erwünschtheit
der Projekte, die sie finanzieren.(22)
Dass die
»Great Transformation« von der kapitalistischen in eine andere Gesellschaft
auch die Unternehmenskultur verändern wird, liegt auf der Hand. Hervorgehoben
werden muss auch hier die Vielfalt der Ansätze, auf die diese Debatte zurückgreifen
kann. Nicht nur gibt es in den europäischen Ländern die, unterschiedlich stark
ausgeprägte, gemeinwirtschaftliche Tradition der Betriebswirtschaft, ein
Genossenschaftswesen oder gewerkschaftliche »Mitbestimmung« in den Betrieben.
Unter dem Slogan der Corporate Social Responsibility sind inzwischen ganze
Unternehmensabteilungen gegründet worden mit der Aufgabe, die Unternehmung als
– verantwortlichen – Teil ihrer Umgebung zu sehen. In dem Ausmaß, in dem der
Kern unternehmerischer Tätigkeit nicht mehr in der als unausweichlich gedachten
Unendlichkeitsproduktion besteht, kann diese Aufgabe ernsthaft betrieben
werden. Die Qualität des Managements wird darin bestehen, die Unternehmung
produktiv auf potenzielle Einschnitte durch Marktwahlen vorzubereiten. Dies
bedeutet eine neue Flexibilisierung von Produktions-, Lieferanten- und Absatzstrukturen,
die technologisch durch numerische Steuerung der Produktion und Einführung der
EDV lange vorbereitet ist.
Wenn das Geld
nicht mehr Kapital sein soll, also aus Geld über die Herstellung und den
Verkauf von Waren in einem unendlichen Prozess nichts als nur mehr Geld erzeugt
werden soll (Marx), bedeutete dies zunächst nichts weiter, als dass eine
Geldanlage nur nach dem Kriterium der Sicherheit, nicht mehr nach dem der
Rendite beurteilt werden kann. Dies hat weitreichende Folgen. Insbesondere wäre
damit das Ende aller fondsbasierten Altersvorsorgesysteme notwendig: Faktisch
ist die Versorgung der Alten immer eine Frage des gesellschaftlichen Reichtums;
wenn die »Wachstumsspirale« sich nicht weiter dreht, platzt die Fiktion einer
»individuellen« Alterssicherung, weil die individuell angesparten Renten real
weniger wert sind als die eigenen Einzahlungen. Mit der Auflösung der
Pensionsfonds wäre dem Wachstumszwang gleichzeitig global eine wesentliche
Institution entzogen. Dies kann natürlich nicht in deutschen oder europäischen
Marktwahlen entschieden werden. Umlagen- oder steuerfinanzierte Rentensysteme
in Europa könnten jedoch im besten Fall anregende Vorbilder sein, vielleicht
eher für die chinesische Diskussion als für die US-amerikanische. Strukturell gesehen
müssten für das Kapital der Staatsfonds der Ölförderländer, der
US-Pensionsfonds, der Anlagefonds der Superreichen und so weiter, neue
Anlageformen gefunden werden, die mehr oder weniger konkret an bestimmte
Vorhaben gebunden und allenfalls gering verzinst wären.(23)
Was im 19.,
erst recht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegen der Gleichsetzung
von »national« und »staatlich« nicht denkbar war, könnte auf der Grundlage dieses
erneuerten Kreditmarktes irgendwann alltägliches Geschäft werden: Die großen internationalen
Organisationen würden Kredite dann absichern, wenn sie bestimmten, politisch
festgesetzten Zielen entsprechen, sodass bestimmte Regionen für ihre Projekte
genauso direkt Kredite aufnehmen könnten wie transnationale Projekte. Einen
Projektestau gibt es ja schon lange im weiten Bereich der »Entwicklungshilfe«.
Aber man kann sich auch vorstellen, dass die Linux-Community ohne territorialen
Bezug mit solchen Krediten Open-source-Software und
ein werbefreies Internet zum neuen Standard macht. Die Geschichte der anderen
Gesellschaft wäre durch ein Nebeneinander der unterschiedlichen Skalen des
Politischen, vom Lokalen zum Transnationalen geprägt.
Auch wenn
dies Möglichkeiten sind, die erst nach einer Kette von Kämpfen und Entscheidungen
realisierbar sind, so wird doch deutlich, dass die andere Gesellschaft keineswegs
alles Bestehende umwälzt. Im Gegenteil: Eine Fülle von Gedanken und Erfahrungen
ist schon gemacht, viele Projekte wurden schon begonnen, institutionelle Lösungen
liegen nahe – ihnen fehlt allerdings der gesellschaftliche Prozess, der ihren Zusammenhang
klärt und das Ganze der anderen Gesellschaft schon heute zu zeigen beginnt.
Dies ist der Kampf um die institutionelle Verankerung der Frage, wie wir leben
wollen, genauer: wie wir denen gegenüber, die gleichzeitig mit uns leben oder
nach uns leben werden, verantworten können zu leben. Dieser Prozess verwandelt
die kapitalistische in die andere Gesellschaft. Erst eine Repräsentation dieser
Abwendung von der kapitalistischen Zentrierung um das inhaltsleere Nichts, die
Institutionalisierung des Endes der nihilistischen Utopie setzt die sehr
unterschiedlichen Hoffnungen frei, die neben den kapitalistischen Traditionen
in den Alltagskulturen immer bestanden. Eine solche Erneuerung der europäischen
Aufklärung erwiese sich als wesentliche Voraussetzung einer neuen europäischen
Glaubwürdigkeit, auch als Voraussetzung dafür, dass das kleine Europa global
seine Stimme nicht verliert.
Man kann
zuspitzen, dass dies so lange nicht geschehen kann, wie die Struktur der kapitalistischen
Unendlichkeitsperspektive den Handlungshorizont vorgibt, Geldreichtum, der auf
nichts als immer vermehrten Geldreichtum abzielt und daraus quasi göttliche
Allmacht ableitet. In dieser Struktur gehen manche Theoretiker bis zur
Propagierung der Ersetzung menschlichen Lebens durch seine »Reinkarnation« in
Computern oder als Teil einer ultraintelligenten Wolke von Mikroben, beides
offensichtlich nicht absurd genug, um nicht auch von den Praktikern der »corporate foresight« wahrgenommen
zu werden. Die Durchsetzung einer Ökonomie der Befähigung führt dagegen zu der
Gesellschaftsverfassung, die einlöst, was seit Rousseau gedacht werden kann:
dass kein übermenschliches Gesetz in irgendeiner Form, sondern alleine die
Menschen in ihrer Vereinigung die Verantwortung für ihre Welt tragen. Die
andere Gesellschaft hätte schließlich die Säkularisierung der Gesellschaft und
ihrer Verantwortung für sich durchgesetzt.
1
Karin
Priester kritisiert die zentrale Stellung der Entscheidung bei Badiou und verwandten Theoretikern und verweist auf Bezüge
zu reaktionären Denkern, in: »Die Stunde der Entscheidung. Radikale Linke im
Geiste Carl Schmitts«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik
Nr.6/12, S. 108<|>ff. Bei denen, die unsere Gesellschaft als geschlossene
Struktur sehen, bietet sich dieser theoretische Ausweg allerdings an.
2
Diesen
Gedanken habe ich ausgearbeitet in: »Kapitalismus als Utopie oder: Der Kaiser
ist nackt«, in: Kommune 1/12, S. 57 ff.
3
Diese
extrem knapp skizzierte Entwicklung lässt sich genauer nachlesen bei Silke van Dyk: »Poststrukturalismus. Gesellschaft. Kritik«, in: Prokla 167, Juni 2012, S. 185 ff.
4
Die
Endlichkeit der irdischen Ressourcen bewegt zum Beispiel Google dazu, zukünftig
bestimmte Metalle im Weltraum zu schürfen (FAZ, 13.8.12). Eine Fülle von
biotechnologischen Strategien, die die Strategie der irdischen Beschränkung konterkarieren,
beschreiben Barbara Unmüßig, Wolfgang Sachs und
Thomas Fatheuer: »Green Economy: Der Ausverkauf der
Natur?«, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik 7/12, S. 55 ff.
5
Nach
Ernst Cassirer: Über Rousseau (Hrsg. und Nachwort von G. Kreis), Berlin:
Suhrkamp 2012.
6
Thomas
Seibert gibt einen knappen, genauen Überblick über die Tradition des Subjektbegriffs.
Seine Antwort, dass Subjekte immer schon mehr sind als das Ergebnis äußerlicher
Determination, dass sie in ihren Reaktionen immer schon zur Freiheit verurteilt
sind, habe ich hier ergänzt durch die These, dass heute von einer objektiven
Situation, die jetzt etwas ermöglicht, was vorher nicht möglich war, gesprochen
werden kann. – Siehe: »Humanismus nach dem Tod des Menschen. Flucht und Rückkehr
des subjektiven Faktors der Geschichte«, in Prokla
167, Juni 2012, S. 305 ff.
7
Bourdieu,
dessen Begriff des »Feldes der Möglichkeiten« ich hier vor dem Hintergrund
seines Verständnisses von praktischer Vernunft verwende, weist allerdings nur
abstrakt auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft hin. – Vgl.: Praktische
Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, insbes S. 93 ff. und 139 ff., wo er schreibt, dass »die
Frage nach der Möglichkeit der Tugend auf die Frage nach den sozialen
Bedingungen der Möglichkeit von Universen zurückgeführt werden kann, in denen
sich dauerhafte Dispositionen zur (ökonomischen im engen Sinn, J.-M. V.)
Interessefreiheit bilden können und in denen diese, einmal ausgebildet, die objektiven
Bedingungen für ihre ständige Bestärkung vorfinden und zum Prinzip einer
permanenten Tugendpraxis werden …« (S. 153).
8
Tim
Jackson: Wohlstand ohne Wachstum, Leben und Wirtschaften in einer endlichen
Welt, München: oekom Verlag 2011, ist als
Wirtschaftswissenschaftler führend in Beratungsgremien Großbritanniens, hat
aber auch z.B. auf dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen einen Vortrag mit den
Thesen des Buchs gehalten. Dass hier ein politisches Manifest vorgelegt wird,
machen die vielen Vorworte der deutschen Ausgabe deutlich; mit seiner
Argumentation ist er jedoch ebenso im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs
verankert.
9
Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu
Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: dtv 2002, insbes. S. 71 ff.
10
Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische
Ursprünge von Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, z.B. S.
113 ff.
11
Das
Buch von Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des
19. Jahrhunderts, München: Beck 2009, bietet eine Fülle von Beispielen für
die Verflochtenheit politischer und wirtschaftlicher Strukturveränderungen.
12
Damit
ist übrigens auch Sens Modell, das auf die Befähigung von Einzelnen abzielt, »rousseauistisch« erweitert: Es geht um die Befähigung in
der Gemeinschaft mit anderen.
13
Dies
hat Jacques Le Goff auf der Grundlage vielfältiger historischer Untersuchungen
herausgearbeitet, in: Geld im Mittelalter, Stuttgart: Klett-Cotta 2011.
14
So
der Vorstandsvorsitzende Engel im Vorwort für das Evonik-Magazin
1/12. Im Heft hat immerhin der Ökologe Ernst Ulrich von Weizsäcker Platz für
einen Gastkommentar, der fordert, den in der Finanzkrise 2008 verlorenen
»Richtungssinn« der Wirtschaft durch die Effizienzrevolution des »Faktors 5«
wiederherzustellen. Der Theoretiker der künstlichen Intelligenz Ray Kurzweil,
der die Herrschaft superintelligenter Maschinen herbeisehne, wird in einem
anderen Beitrag eher ironisch dargestellt.
15
Auf
diese Strategie weisen Barbara Unmüßig, Wolfgang
Sachs und Thomas Fatheuer hin (siehe FN 4).
16
Als
beliebiges Beispiel: Am Hasso-Plattner-Institut der Uni Potsdam, gestiftet vom
SAP-Gründer, wird neben vielen anderen technologischen Varianten über
Interfaces nachgedacht, die im Unterarm implantiert sind. Die Popularisierung
der neuen Möglichkeiten geschieht auch durch künstlerische Verarbeitungen.
17
Dass
man diesen normalen, alltäglichen Prozess der politischen Bestimmung der grundlegenden
Rahmenbedingungen der Produktion z.B. in den wirtschaftsnahen Zeitungen
verfolgen kann, ist eine der Thesen in meinem Text »Kapitalistische
Konstellationen«, in: Kommune 2/11, S. 64 ff.
18
Mit
Kommentaren aus der CDU und entsprechenden Veröffentlichungen in der FAZ
wurde diese Debatte im Keim erstickt. Das Argument: Dann müsse auch über Fragen
abgestimmt werden, die der CDU-Wirtschaftsrat wohl nicht so gerne abgestimmt
hätte.
19
Meine
Argumentation stützt sich in vielem auf Überlegungen Michael Jägers, z. B. in
seinem Blog www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/die-andere-gesellschaft-gliederung-in-kapitel.
20
Man
muss hier zuspitzen: Der Nachweis, dass eine solche Perspektive für die andere
Gesellschaft einen »Neuen Menschen« voraussetzt, müsste zum Abbruch des
Projektes führen.
21
Die
hierfür benötigten Unternehmensdaten gingen vielleicht über das hinaus, was
jetzt schon an Meldepflichten bzw. Datenerhebung für den Staat vorhanden ist.
Der »antistaatliche« Versuch einer »Selbstkontrolle« der Banken, die in nichts
anderem bestand, als dass die Banken selbst regelmäßig ein bestimmtes Set von
Kennziffern zu berechnen hatten, ist allerdings mit der Finanzkrise 2008 auch
in den Augen vieler Wirtschaftsfachleute desaströs gescheitert.
22
So
zum Beispiel Lucas Zeise: Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus,
Köln: PapyRossa 2010, S. 108; Jedenfalls Zeise kann
man keine Naivität vorwerfen: Er hat die Financial Times Deutschland
mitbegründet und schreibt dort regelmäßig Börsenkommentare.
23
Auch
auf diesem Gebiet muss nichts Neues erfunden werden, denn es gibt eine Fülle
von Erfahrungen mit einer solchen Art von Krediten, nicht zuletzt aus ethischen
oder religiösen Motivationen heraus. Spannend wären Finanzinstrumente der
Banken aus dem arabischen Bereich, mit denen im islamischen Kulturbereich das
ähnlich wie im Christentum verdrängte Zinsverbot neu aufgegriffen würde. Sie
würden das internationale Kreditgeschäft allein durch ihre Masse wesentlich
umformen. Aber schon heute sind die großen institutionellen Anleger bereit,
eine negative reale Verzinsung zu akzeptieren, wenn nur ihr Geld im deutschen
»sicheren Hafen« untergebracht werden kann …
KASTEN
Hans
Christoph Binswangers Buch Die Wachstumsspirale (Die
Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des
Marktprozesses, Marburg, Metropolis 2009) argumentiert im Horizont der
konventionellen theoretischen Modellbildungen, wobei er bestrebt ist, deren
Lücken und Widersprüche in dem Allgemeinen Modell, das er entwirft, durch den
Rückgriff auf die gesamte Geschichte der Wirtschaftstheorie, von den Physiokraten
bis zu Keynes, von Marx zu den Monetaristen, zu beheben. Darüber hinaus ist er
bestrebt, das die Wirtschaftswissenschaften kennzeichnende »Schisma« zwischen
Betriebs- und Volkswirtschaft zu überwinden.
Grundlegender
Ausgangspunkt ist für ihn, dass seit der Moderne Geld auf dem Markt wesentlich
sei: Geld werde nachgefragt, indem man Produkte anbiete, und Geld werde
angeboten, indem man Produkte nachfrage. In diesem geldtheoretischen Modell des
Wirtschaftens ist von vornherein eine zeitliche Dimension enthalten: Was ich
morgen kaufe, bezahle ich mit dem Geld, das ich heute verdient habe. Damit ist
der Raum für strategisches Verhalten eröffnet. Eine Theoriebildung unseres
Wirtschaftens auf den Tausch mit seinem Ziel des Gleichgewichtes zu gründen,
wie dies alle konventionellen Wirtschaftstheorien tun, lenkt nach Binswanger von wesentlichen Bedingungen ebenso ab, wie der
gängige Ausgangspunkt der Modellbildung, die bäuerliche Selbstversorgung:
Marktakteure seien eben Unternehmen und Haushalte, die durch Geldbeziehungen
verknüpft seien. Unternehmen müssen zunächst Arbeitskräfte, Rohstoffe und Maschinen
für die Produktion zusammenbringen. Dazu brauchen sie Kapital. Kapital wird nur
eingesetzt, wenn in der Produktion aus dem Geldbetrag, der in die Produktion
hineinfließt, ein erhöhter Geldbetrag gemacht werden kann, jedenfalls der
Erwartung nach. Kapital ist in diesem Sinne der entscheidende
»Promotionsfaktor« für erhöhte Effizienz, verbesserte Arbeitsteilung, neue Produktionsverfahren
und neue Produkte. Auch an dieser Stelle argumentiert Binswanger
wieder »geldtheoretisch«: Seit der Möglichkeit der Giralgeldschöpfung,
bei der Banken die Kundeneinlagen zu einem erheblichen Anteil wieder verleihen,
zum wesentlichen Teil auch an andere Banken, die dies wiederum tun usw. ad infinitum, so dass, ohne dass die Zentralbank wesentlichen
Einfluss hätte, neues Geld geschaffen wird, muss nämlich dieses Kapital nicht
mehr durch Sparen auf Kosten des Konsums gewonnen werden: Sobald Arbeitskräfte,
Rohstoffe und Maschinen für die Produktion mit diesem Kapital gekauft wurden,
ist Einkommen entstanden, das für Nachfrage sorgt. Eine erhöhte Nachfrage
erhöht auch – in der nächsten Periode – das Angebot. Denn dieses Angebot ist
nicht durch enge natürliche Grenzen limitiert, wie das in der traditionellen
Landwirtschaft tatsächlich der Fall war. Entsprechend haben die konventionellen
Grenzkostengesetze, nach denen bei erhöhter nominaler Nachfrage einfach nur die
Preise steigen dürften (Quantitätstheorie), und damit (neo-)klassischen
Vorstellungen einer stabilen Selbstregulation in unserer Wirtschaft ihre
Gültigkeit verloren. Das Konzept des Gleichgewichts macht ganz grundsätzlich keinen
Sinn mehr, weil durch den »Promotionsfaktor« Kapital gerade versucht wird, jede
ökonomische Knappheitsschranke zu überwinden: Unternehmerisches Verhalten ist
durch einen »Wachstumsdrang« gekennzeichnet. Man muss schon bei der
Modellbildung vermeiden eine gegebene Produktionsgrundlage voraus zu setzen,
denn diese wird strukturell durch den immer erweiterten Zugriff auf alle
natürlichen Ressourcen, insbesondere die Energie, ständig verändert. Maßgeblich
dabei: »Der Aufwand darf beliebig steigen, wenn der Ertrag nur stärker steigt als
der Aufwand!« Entscheidende Voraussetzung für diesen immer
erweiterten Zugriff ist zunächst die menschliche Imagination, also die
Fähigkeit, immer neue Produkte zu entwickeln für Bedürfnisse, zu deren
Befriedigung die Kunden wiederum sich diese Produkte vorstellen können.
J.-M. V.