Gewalt und Gewaltfreiheit

 

Makedonien im 20. Jahrhundert – Vom ethnopolitischen Schlachtfeld zum interethnischen Stabilitätspol

Stefan Troebst

Gängigen modernisierungstheoretischen Erklärungsmustern zufolge geht Nationalstaatsbildung mit Gewalt einher. Dass dem nicht zwangsläufig so ist, ja, dass gewaltgeplagte Regionen durch das Entstehen neuer Nationalstaaten befriedet werden können, belegt das Beispiel Makedonien: So lange wie die Anrainerstaaten Griechenland, Bulgarien und Serbien/Jugoslawien um den Besitz dieser balkanischen Kernregion rivalisierten, war der Gewaltpegel dort durchgängig hoch. Im Zuge der Umbildung Makedoniens zu einem zusätzlichen Nationalstaat auf dem Balkan – 1944 zunächst in Form einer jugoslawischen Teilrepublik, 1991 dann als unabhängige Republik – verlor Gewalt als Modus der Austragung politischer Konflikte an Bedeutung. Ein Beispiel für andere Regionen?

"Die Makedonier", so der australische Kontaktlinguist Peter Hill 1989, "haben eine lange Tradition der Gewaltfreiheit" – eine Feststellung, der wohl die Mehrzahl der den Makedoniern benachbarten Bulgaren widersprechen dürfte, meint doch bis heute in der bulgarischen Alltagssprache "makedonska rabota" (in etwa: "etwas auf makedonische Art und Weise erledigen") eine besonders brutale und grausame Vorgehensweise. Diese divergierenden Einschätzungen der Gewaltaffinität der Bewohner der Region Makedonien sind auf unterschiedliche zeitliche Bezugspunkte zurückzuführen. Während Hill sich auf "die Makedonier" der Nachkriegszeit bezieht, haben die Bulgaren in ihrer Umgangssprache ein Phänomen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bewahrt. Die Tatsache, dass beide Seiten "Recht haben", spiegelt den "verspäteten" Prozess der Nationsbildung im modernen Makedonien wider, der in der Jahrhundertmitte einsetzte und die Gewalttradition dieser zuvor notorisch gewaltträchtigen Region beendete. Dieser Paradigmawechsel ist mit einem dramatischen Knick in der Erinnerungskultur der Bewohner der Region Makedonien verbunden, die zu großen Teilen eigentlich eine "Kultur des Vergessens" ist.

Es ist eine Tatsache – wenngleich eine wenig bekannte –, dass die von nationalrevolutionären Bewegungen heute weltweit angewandte Taktik des Versetzens terroristischer Nadelstiche mit dem Ziel des Provozierens von Überrektionen der Zentrale in der Hoffnung, dass diese dann ein Eingreifen internationaler Faktoren auslösen (also das, was Konfliktsoziologen das Anzapfen der "Ressource Weltöffentlichkeit" nennen) –, dass diese Taktik eine genuin antiosmanische und damit primär südosteuropäische Erfindung ist. Zugleich ist aber auch die Gegenreaktion der Staatengemeinschaft auf diese Form separatistischer Gewalttaktik, nämlich die internationale Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, wie sie in der Mitte der Dreißigerjahre entstand, unmittelbare Folge dieses balkanischen Politikmusters. Wir haben es hier mit einem zunächst regionalspezifischen politischen Phänomens zu tun, das anschließend einen globalen Siegeszug antrat.

Die südosteuropäische Wiege der beschriebenen Hochrisikotaktik stand zumindest zu einem Teil in der zentralbalkanischen Region Makedonien. Enge Kontakte zur armenischen Bewegung im Osmanischen Reich einerseits, andererseits zu französischen und russischen Anarchisten bewogen um die Wende zum 20. Jahrhundert eine radikale Splittergruppe innerhalb der makedonischen nationalrevolutionären Bewegung, anstelle des "traditionellen" Guerillakampfes auf terroristische Methoden zu setzen. Im April 1903, mitten in der Planungsphase eines gesamtmakedonischen Aufstandes gegen den Sultan, unternahm diese gemicii genannte Gruppe in Saloniki, dem Zentrum des osmanischen Restbesitzes in Europa, eine Reihe spektakulärer Terroranschläge. Binnen weniger Stunden wurden der italienische Liniendampfer "Guadalquivir" sowie das Gebäude der Banque Impèrial Ottomane in die Luft gesprengt. Die Mehrzahl der Attentäter beging entweder Selbstmord oder wurde von osmanischer Gendarmerie erschossen. Die unmittelbare Folge dieser Anschläge war eine drastische Verstärkung der osmanischen Garnisonen und Polizeikasernen in der Region Makedonien – eine Entwicklung, welche die größte der makedonischen Organisationen zur vorzeitigen Auslösung der geplanten Insurrektion bewog. Zwar endete der Aufstand vom St.-Elias-Tag, also dem 20. Juli beziehungsweise – nach neuem Stil – dem 2. August des Jahres 1903, in einer militärischen Niederlage für die makedonische Bewegung und führte zu Rachemassakern regulärer osmanischer Truppen und Freischärler. Aber dennoch hatte er den gewünschten Effekt, nämlich eine umfassende Medienberichterstattung, die noch im selben Jahr in der diplomatischen Intervention der Pentarchie, also der Großmächte Österreich-Ungarn, Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, resultierte. Im Abkommen von Mürzsteg wurde eine internationale Polizeiverwaltung für das osmanische Makedonien eingesetzt, die von 1904 bis 1909 tätig war. Von Leo Trotzki, der 1912 für die russische Tageszeitung Kievskaja Mysl’ vom balkanischen Kriegsschauplatz berichtete, stammt die nachstehende Beschreibung makedonischer Doppelstrategie: "In Konsulaten und Gesandtschaften fühlen sich diese Verschwörer ebenso heimisch wie in den Bergen unter professionellen Kämpfern. Vor der Zündung einer Höllenmaschine machten sie sich rechtzeitig durchaus treffende Gedanken darüber, welches Echo dies in der ‚maßgeblichen‘ europäischen Presse haben und wer von den diplomatischen Alchimisten ihr Dynamit in eine neue ‚makedonische‘ Note verwandeln würde. So hat sich dieser janusköpfige Typus des verzweifelten dynamitard und Diplomaten in einer Person herausgebildet, welcher Verschwörung und Konspiration mit Kanzleigeheimnissen verquickt."

Unter den Teilfragen der orientalischen Frage des "langen" 19. Jahrhunderts war die makedonische Frage die jüngste und zugleich die brisanteste. Vom Aufstand von 1903 über die beiden Balkankriege 1912-1913 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 bildete die Region Makedonien das geopolitische "Schiebegewicht" und damit das "Pulverfass" des Balkans. Zum einen führten hier die Aspiranten auf den Besitz des osmanischen Makedonien, also die Nationalstaaten von Griechen, Serben und Bulgaren sowie eingeschränkt von Albanern, Krieg gegen die Hohe Pforte, zum anderen gerieten sie 1913 über die Teilung der Beute untereinander in Konflikt. Das unterlegene Bulgarien nutzte die Weltkriegskonstellation zu einem neuerlichen Revisionsversuch mit militärischen Mitteln, unterlag jedoch ein weiteres Mal. In sämtlichen bewaffneten Auseinandersetzungen der Jahre 1903-1918 bestanden die Kombattanten auf allen Seiten sowohl aus regulären Truppen als gerade auch aus Paramilitärs. In allen Fällen wurde exzessive Gewalt nicht nur gegenüber Kombattanten, sondern auch gegenüber der Zivilbevölkerung als politisch-militärisches Mittel gezielt eingesetzt. Ja, die Balkankriege mit ihrer Taktik der verbrannten Erde und der systematischen Vertreibung bestimmter ethnischer Gruppen aus einzelnen Städten und Landstrichen waren durch einen beträchtlichen Innovationsgrad ethnopolitisch motivierter Gewalt gekennzeichnet.

Grund für das durchgängig sehr hohe Gewaltniveau in der Region Makedonien war nicht zuletzt die bis in die Mitte des 20. Jahrhundert hinein geringe ethnonationale Determiniertheit der christlich-orthodoxen Bevölkerungsmehrheit dort. Ostsüdslawisch-, ostromanisch-, griechisch- und zum Teil auch albanischsprachige Bewohner der Region identifizierten sich zwar als "Rechtgläubige" (im Gegensatz zu Muslimen) sowie als "Hiesige" (im Gegensatz zur allochthonen osmanischen Verwaltungs- und Wirtschaftshierarchie), nur in Einzelfällen hingegen als "Vlache", "Albaner", "Bulgare", "Grieche" oder "Serbe". In Makedonien, so der großgermanische schwedische Geograph Rudolf Kjellin 1916 nicht ganz exakt, aber im Kern zutreffend, "wohnt ein Volk, die so genannten Torlaken (sic!), die selbst nicht wissen, ob sie Serben oder Bulgaren sind ..., (die) im Grunde wie ein Mehl sind, aus dem man jeden Kuchen backen kann, den man nur will, wenn über die Staatsangehörigkeit einmal entschieden ist". Einen anderen und gleichfalls zentralen Faktor beim nur zögerlich greifenden nation-building der Bewohner der Region hat Oswald Spengler 1923 in seinem Buch Der Untergang des Abendlandes zielsicher identifiziert – das von den Anrainerstaaten im osmanischen Makedonien unterhaltene nationalsprachliche Schulwesen: "In Mazedonien haben Serben, Bulgaren und Griechen im 19. Jahrhundert christliche Schulen für die türkenfeindliche Bevölkerung gegründet. Wenn in einem Dorfe zufällig (sic!) serbisch unterrichtet wurde, so bestand schon die folgende Generation aus fanatischen Serben. Die heutige Stärke der ‚Nationen‘ ist also lediglich eine Folge der früheren Schulpolitik." Und Konfessionspolitik, müsste man hinzufügen, denn Träger der um die Schüler rivalisierenden Schulen waren die Patriarchen Serbiens und Griechenlands sowie der Exarch Bulgariens.

Die besagte ethnonationale Tabula rasa-Situation sowie die Möglichkeit zu ethnopolitischer Mobilisierung mittels kirchlicher Schulen gab den drei Prätendentenstaaten Griechenland, Serbien und Bulgarien jeweils Anlass zu der Hoffnung, die Bevölkerung der Region im eigenen Sinne zu "polen", um damit die eigenen Territorialansprüche zu untermauern. Ein zunächst mit kultur-, kirchen- und bildungspolitischen Mitteln, von der Jahrhundertwende an dann mit Guerillagruppen und ab 1912 mit regulären Armeen ausgetragener Wettstreit um den Besitz der balkanischen Schlüsselregion trat in eine Eskalationsspirale ein.

Das Kriegsjahr 1918 sowie die Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 bestätigten den status quo ante, das heißt die 1913 in Bukarest verfügte Aufteilung der Region Makedonien unter Griechenland (Ägäisch-Makedonien) und Serbien/jetzt Jugoslawien (Vardar-Makedonien) samt einem Zipfel für Bulgarien (Pirin-Makedonien), brachten jedoch mitnichten eine Befriedung der Region. Zwar war nun das interventionsanreizende Machtvakuum der makedonischen Frage osmanischer Prägung gefüllt, doch das ethnopolitische Vakuum Makedonien bestand weiter. Entsprechend unternahm Griechenland zwei groß angelegte Bevölkerungsaustauschaktionen mit der Türkei und Bulgarien, während Jugoslawien in Vardar-Makedonien – jetzt im amtlichen jugoslawischen Sprachgebrauch "Süd-Serbien" – ganz auf eine Politik der Zwangsassimilation setzte. In Reaktion hierauf errichtete die in Guerillakämpfen und Balkankriegen entstandene "Innere Makedonische Revolutionäre Organisation" (IMRO) im bulgarischen Pirin-Gebiet einen "Staat im Staate", der im Verlauf der Zwanzigerjahre zu einem "Staat über dem Staate" Bulgarien wurde und der einen permanenten Guerillakrieg gegen das neue Jugoslawien führte. Dabei konnte sich die Organisation im jugoslawischen Teil Makedoniens auf eine flächendeckende Infrastruktur von Sympathisanten stützten, wie sie auch politische und materielle Unterstützung von den revisionistischen Regierungen Bulgariens und Italiens erhielt. Spektakulärer, gar international Aufsehen erregender Höhepunkt der IMRO-Tätigkeit war das Attentat von Marseille gegen den jugoslawischen König Aleksandar I. Karadjordjevic und den französischen Außenminister Louis Barthou am 9. Oktober 1934, welches gemeinsam mit der kroatischen Aufstandsorganisation Ustaša erfolgreich ausgeführt wurde. Diese Bluttat war es, die den Völkerbund 1936 veranlasste, den Grundstein zu einer internationalen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung zu legen.

Die Errichtung der Königsdiktatur in Bulgarien 1935 und der gleichzeitige wirtschaftliche Aufschwung in Jugoslawien entzogen der IMRO zwar die Grundlage, doch bot der deutsche Angriff auf Belgrad 1941 dem bulgarischen Revisionismus eine zweite Chance zum Erwerb großer Teile Vardar-Makedoniens. Zunächst wurden Ost- und Zentralmakedonien bulgarisch besetzt, 1943 dann annektiert, wohingegen das partiell albanisch besiedelte Westmakedonien samt Kosovo dem seit 1939 zu Italien gehörigen Albanien angegliedert wurde. Mit der Kriegswende 1943 entstanden im bulgarisch besetzten Teil Makedoniens zwei zunächst kooperierende Partisanenbewegungen von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Jugoslawiens sowie von antibulgarisch eingestellten Bauern. Das für die Tito-Partisanen Kriegsende von 1944 sowie erneut der Tito-Stalin-Bruch 1949 brachten Repressionswellen gegen probulgarische Kollaborateure, nichtkommunistische Partisanen und stalinistische Veteranen. Lynchjustiz, Massenerschießungen und öffentliche Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Von der Lagerinsel Goli otok in der Adria – im makedonischen Volksmund zynisch "Hawaii" genannt – kamen etliche hundert so genannter "Kominformisten", "großbulgarische Faschisten" und "imperialistische Spione" nicht mehr lebend zurück. Doch mit dem erstarkenden Griff der Partei auf die neue vardarmakedonische Teilrepublik der jugoslawischen Föderation sank seit dem Beginn der Fünfzigerjahre das Gewaltniveau deutlich.

Zwischen 1950 und 1990 betrieb die Partei- und Staatsführung der Sozialistischen Republik Makedonien innerhalb der SFR Jugoslawien mit Billigung und Unterstützung der Zentrale in Belgrad ein ambitioniertes nation-building-Projekt, welches aus ostsüdslawischsprachigen und christlich-orthodoxen Bauern nicht nur Industriearbeiter, Stadtbewohner und "Jugoslawen" (in einem supra-nationalen politisch-ideologischen Sinne), sondern zugleich (in ethnonationalem Sinn) "Makedonier" machen sollte und – wie wir heute wissen – auch erfolgreich machte. Dass dabei zwar institutionalisierte Gewalt in Form der Parteidiktatur, nur partiell hingegen offen repressive Gewalt präsent war, lag ganz wesentlich an dem sich in den Fünfzigerjahren öffnenden Ventil der Möglichkeit zur Arbeitsmigration in den Norden Jugoslawiens und nach Australien sowie von den Siebzigerjahren an nach West- und Nordeuropa. Bezeichnenderweise haben sämtliche der nach 1949 aus politischen Gründen aus dem jugoslawischen Makedonien Emigrierten das im Wortsinne brandneue ethnonationale Identifikationsmuster "Makedonier" mitgenommen, also ungeachtet antikommunistischer Orientierung nicht an den zuvor oktroyierten Mustern "Serbe" oder "Bulgare" festgehalten.

Die politische Grabesstille in der makedonischen Teilrepublik wurde im Verlaufe der Siebziger- und Achtzigerjahre nicht etwa durch Demokratisierungstendenzen oder zivilgesellschaftlichen Protest, sondern durch nationalistische Hardliner im Staatsapparat selbst gestört. Im Zeitraum von 1970 bis 1974 zündeten großmakedonisch gesinnte Offiziere der jugoslawischen Staatssicherheit gleichsam in ihrer "Freizeit" Sprengsätze am griechischen Konsulat, am französischen Kulturzentrum und an anderen öffentlichen Gebäuden der Republikhauptstadt Skopje. Informationen über diese einem historisierenden Zitat gleichenden Taten wurden der makedonischen Bevölkerungsmehrheit vorenthalten, konnten von ihr entsprechend auch nicht "dechiffriert" werden.

Die nächste staatlich induzierte und nun offizielle Gewaltwelle traf in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre das albanische Bevölkerungsfünftel der Vardarrepublik. Nach serbischem Vorbild riss die makedonische Polizei brachial die für albanische Gehöfte und Häuser typischen Umgrenzungsmauern ein und belegte Widerstand gegen diese Maßnahme mit drakonischen Gefängnisstrafen. Umso überraschender war dann sowohl für außenstehende Beobachter wie für die Bewohner Makedoniens selbst die gewaltarme Art und Weise, mit der der Teilrepublik 1991 das Ausscheiden aus der implodierenden Föderation gelang. Den Höhepunkt hierbei bildete der Abzug der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) kurz vor Beginn des Bosnien-Krieges im Frühjahr 1992, der ohne die Abgabe eines einziges Schusses stattfand. Die Erleichterung darüber, dass Makedonien als einzige "abtrünnige" Teilrepublik von Strafaktionen der JNA verschont blieb, wich umgehend der doppelten Sorge um die innere und äußere Sicherheit des neuen Kleinstaates: Albanische Minderheit und makedonische Titularnation gerieten in einen Konflikt über die verfassungsrechtlichen Grundlage des gemeinsamen Staates, und die als die "vier Wölfe" apostrophierten Nachbarstaaten Griechenland, Albanien, Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und Bulgarien legten unterschiedliche Grade an Aggressivität gegenüber der ungeliebten Staatsneugründung an den Tag.

Entsprechend waren die "Kinderjahre" der Republik Makedonien, also der Zeitraum von der Gründung 1991 über die verspätete internationale Anerkennung 1993 bis zum interethnischen Ausgleich zwischen Albanern und Makedoniern im Zeichen des Kosovokrieges 1998-1999, von mittlerem Gewaltniveau im Innern wie nach außen gekennzeichnet. Innerhalb des jungen Kleinstaates prallten vor allem die albanische Minderheit und die makedonische Polizei in den Jahren 1992 bis 1997 in einer Serie schwerer Zusammenstöße aufeinander, die in der Regel jeweils mehrere Todesopfer kosteten. Bis heute gänzlich ungeklärt sind die Hintergründe eines überaus professionell ausgeführten Autobombenattentats auf den makedonischen Staatspräsidenten Kiro Gligorov am 4. Oktober 1995, das diesen schwer verletzte und seinen Fahrer tötete. 1998 jedoch, das Jahr des Wechsels von einer post-kommunistisch geprägten makedonisch-albanischen Koalitionsregierung zu einer ebensolchen neoliberal-"nationaler" Prägung und zugleich das Jahr der ersten Runde im Kosovo-Krieg, führte zu einem völligen Rückgang ethnopolitisch motivierter Gewalt in Makedonien – eine Entwicklung, die bis heute anhält.

Im Krisenjahrzehnt 1991-1999 stand es nicht nur um die innere Stabilität der balkanischen Minirepublik schlecht, sondern zugleich um die äußere Sicherheit: Athen unternahm 1992-1993 militärische Drohgebärden bis hin zu gezielten Grenzverletzungen; Tirana war zur Sicherung seiner eigenen Staatsgrenze im Westen nicht in der Lage – mit der Folge ständiger Spannung samt Grenzzwischenfällen mit Todesfolge; und Belgrad inszenierte nicht nur Grenzvorfälle, sondern besetzte mehrfach "testhalber" makedonisches Territorium. All dies fand auf dem Hintergrund einer rhetorischen Drohkulisse statt, die federführend von Griechenland und Rumpf-Jugoslawien aufgebaut wurde, an der sich aber auch Albanien und Bulgarien sporadisch beteiligten. Wenn es dennoch weder zu einer ernsthaften militärischen Drohung, gar Aggression eines oder mehrerer der feindseligen Nachbarn gegen Makedonien kam, noch die Aufstellung von "fünften Kolonnen" dort gelang, dann lag dies ganz sicher nicht am Abschreckungspotenzial der nahezu unbewaffneten makedonischen Wehrpflichtigenarmee. Vielmehr nahm sich nun aus der Sicht der Anrainer das durch den neuen makedonischen Staat samt der nicht minder neuen makedonischen Nation gefüllte einstige machtpolitische und ethnische Vakuum als das kleinere Übel vor den größeren des territorialen Zugewinns der früheren Konkorrenten aus. Aus restjugoslawischer Sicht war ein schwaches Makedonien besser als ein territorial vergrößertes Bulgarien, wie auch aus bulgarischer Perspektive die territoriale Integrität eines zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise "vereinigungswilligen" Makedonien höher bewertet wurde als ein eigener territorialer Zugewinn. Albanien war sich im Klaren darüber, dass sein ethnisch begründeter Anspruch auf Westmakedonien gegen militärisch überlegene Teilungsmächte wie etwa die Bundesrepublik Jugoslawien nur schwer würde durchsetzbar sein. Und Griechenland schließlich waren angesichts des Konflikts mit der Türkei um die Ägäis und Zypern sowie aufgrund der Gefährdung seiner Mitgliedschaft in EU und NATO, wie sie die Beteiligung an einem Teilungsprojekt heraufbeschworen hätte, die Hände gebunden. Mit anderen Worten: Die arrivierten rivalisierenden Nationalismen der Anrainerstaaten sind sowohl durch ihre gegenseitige Blockade als auch durch den Nachzügler-Nationalismus Makedoniens neutralisiert worden.

War die umsichtige Außenpolitik Skopjes in den Jahren 1991 bis 1995 der Lackmustest für die – relative – äußere Stabilität der Staatsneugründung, dann war der Kosovokrieg der Jahre 1998 und 1999 die Feuertaufe für deren innere Sicherheit. Denn der kolossale Zustrom von über 300000 Kosovoalbanern über die Grenze nach Makedonien Ende März/Anfang April 1999 hat das Land entgegen allen düsteren Vorhersagen nicht an den Rand des Abgrunds getrieben, sondern im Gegenteil seine politische Klasse über den Minderheit und Titularnation trennenden Graben hinweg zusammenrücken lassen. Während die makedonische Mehrheit die Vertreibungspolitik Belgrads gegen die Kosovoalbaner unmissverständlich verurteilte, kritisierte die albanische Minderheit zusätzlich auch den Konfrontationskurs der UCK, der die neuerliche Eskalation mit heraufbeschworen hatte. Damit ergriffen die Albaner Makedoniens erstmals unmissverständlich Partei für den Staat, auf dessen Territorium sie sich 1991 wiedergefunden hatten. Und die Titularnation machte deutlich, dass die anti-albanische Komplizenschaft mit Belgrad, wie sie bis 1991 offenkundig war, aber auch danach mitunter durchschien, nun endgültig beendet war.

Wie ist die stark schwankende Konjunktur politisch motivierter Gewalt – sowohl Aufstandsgewalt nationalrevolutionärer Akteure als auch Unterdrückungsgewalt staatlicher Instanzen – in der Region Makedonien in den vergangenen hundert Jahren zu erklären? Besonders zwei Faktoren erscheinen mir diesbezüglich erklärungsmächtig: Dies ist erstens ein exogener Faktor, nämlich der auf dem Balkan periodisch erdrückende Einfluss von Großmächten und Blöcken auf das Brubaker’sche Dreieck von "nationalisierendem Staat", Minderheit und "Mutternation" in dieser Region, und zweitens ein endogener, nämlich die stark erschwerte Tradierung und Verbreitung nationaler Programme in einer balkanischen Zentrallandschaft, die in der Hroch’schen "B-Phase", den vier Jahrzehnten von 1903 bis 1944, von Bürgerkriegen, Staatenkriegen, Bevölkerungsaustauschen, Vertreibung, Massenflucht, Grenzziehungen und -verschiebungen, Besatzung, Staatsgründungen und Staatenzerfall geprägt wurde.

Im Telegrammstil zum Einfluss exogener Faktoren auf die nationalen und regionalen Politikebenen nur soviel: Entgegen einer verbreiteten Ansicht sind der Grad an Gewalt innerhalb des Brubaker’schen Dreiecks und der Grad an Außensteuerung eben nicht proportional – eher im Gegenteil: Dies belegen im makedonischen Fall zum einen die Jahre unmittelbarer militärischer Besatzungsherrschaft, ausgeübt durch eine oder mehrere Großmächte, zum anderen die Dekaden der Blockkonfrontation nach 1950, in denen sich die griechischen und bulgarischen Teile Makedoniens beiderseits der Barrikade wiederfanden, der jugoslawische Teil in einer temporär stabilen Zwischenlage. Immer dann jedoch, wenn sich die Gladstonesche Forderung "Der Balkan den Balkanvölkern!" ihrer Realisierung näherte, stieg der Gewaltlevel gefährlich – so etwa 1912–1913, 1919–1934, 1943–1949 sowie 1991–1998.

Auch zum endogenen Faktor der zahlreichen Kontinuitätslücken in der makedonischen Nationalbewegung fasse ich mich kurz: Zum einen war deren Programmatik durchgängig diffus, gar widersprüchlich, da sie eine allzu große Spannweite an divergierenden nationalen und politischen Konzepten enthielt. Neben den beiden nationalen Polen derjenigen, die die ostsüdslawischsprachige christliche Bevölkerung dort als Bulgaren betrachteten, sowie der Richtung, die im Gegenteil ein autochthones makedonisches Ethnikum diagnostizierte, gab es die drei politischen Modelle eines Anschlusses an Bulgarien, der Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches, später innerhalb der Nachfolgestaaten, und schließlich der Eigenstaatlichkeit. Dabei verliefen die Trennlinien im nationalen und im politischen Bereich mitnichten parallel. Während zwar die Mehrzahl der ethnonational probulgarisch Argumentierenden zugleich für den Anschluss Makedoniens an Bulgarien eintrat, trat die stärkste Formation im makedonischen Spektrum im Zeitraum 1929–1934, die Mehrheits-IMRO unter Ivan Mihajlov, für ein "unabhängiges Makedonien" als "zweitem bulgarischem Staat" auf dem Balkan ein. Und die Exponenten ethnischer, sprachlicher und kultureller Eigenständigkeit der Makedonier arbeiteten von 1946 bis 1948 energisch auf eine bulgarisch-jugoslawische Föderation mit Makedonien als Scharnier hin. Resultat dieser programmatischen Unübersichtlichkeit war, dass den eigentlichen Ausschlag für die politische Zuordnung Faktoren wie regionale Herkunft, Verwandschafts- und Klientelverhältnisse, Berufs- sowie vor allem Generationszugehörigkeit gaben. Ein Beispiel: Die Generation der 20- bis 30-Jährigen, die in den Zwanzigerjahren in den Flüchtlingslagern im bulgarischen Pirin-Makedonien und in Altbulgarien aufwuchs, erfuhr in politischer wie nationaler Hinsicht eine ganz andere Prägung als die Generation derjenigen, die in den Dreißigerjahren im "südserbischen" Vardarmakedonien innerhalb Jugoslawiens sozialisiert wurde. Beide bezogen sich zwar auf dieselben nationalen Ikonen wie etwa den Märtyrer Goce Delèev oder den anti-osmanischen Aufstand von 1903, standen indes in keinerlei Kontakt miteinander und vertraten sowohl in ideologischer wie in nationalprogrammatischer Hinsicht völlig konträre Positionen. Es war, so meine These, eben diese höchst brüchige Kontinuität der makedonischen Bewegung (genauer:  der verschiedenen aufeinander folgenden oder aber in unterschiedlichen Anrainerstaaten und Exilländern parallel vonstatten gehenden makedonischen Bewegungen), die Gewalt als – in Peter Waldmanns Formulierung – "eigenständigen Modus der Konfliktaustragung" begünstigt hat. Denn – und damit knüpfe ich erneut an Miroslav Hrochs Phasenmodell an – die entscheidende "B-Phase" nationaler Agitation hat in Makedonien zwar mehrfach begonnen (so etwa 1903, 1919 und 1943), doch wuchs sie in den beiden erstgenannten Fällen nicht in die "C-Phase" der Massenbewegung hinüber. Die verschiedenen "ethnischen Unternehmer" haben im makedonischen Fall bei jedem Orts- und Generationswechsel von vorne beginnen müssen, haben kein Sympathisantenpotenzial vorgefunden, das als Nukleus einer kontinuierlichen Bewegung dienen konnte. Vor allem deshalb haben sie immer wieder auf Gewalt als – so neuerlich Waldmann – "Notressource ansonsten ressourcenschwacher gesellschaftlicher Gruppen" zurückgegriffen.

Der andere Grund für die Gewaltdisposition ist eine Folge der zahlreichen und tiefen Kontinuitätsbrüche in der makedonischen Bewegung. Die dominierende Führungsgruppe innerhalb der IMRO in der Zwischenkriegszeit wies weder personelle noch ideologische Verbindungslinien zur Führung der Bewegung in der spätosmanischen Epoche auf. Sie postulierte zwar eine monolithische Kontinuität, wusste tatsächlich jedoch nichts über die eigene jüngste Vergangenheit. Diejenigen, die darüber noch etwas wussten und so unklug waren, dies öffentlich zu machen, wurden umgehend zum Schweigen gebracht, vorzugsweise durch das, was organisationsintern euphemistisch "Reise nach Nevratovo" – auf deutsch etwa: "ins Dorf Nimmerwiederkehr" – hieß. Und auch die überwiegend jugendlichen Partisanenführer im ausgehenden Zweiten Weltkrieg führten zwar "die Geschichte" beständig im Munde, waren aber in dieser Hinsicht gänzlich unbeleckt. Ein makedonischer Historiker hat unlängst sogar davon gesprochen, dass die in Partei- und Staatsposten aufgerückte Partisanengeneration "Angst vor der unbekannten Vergangenheit" gehabt habe. Auch hier brach sich das Bestreben Bahn, diejenigen, die diese Vergangenheit mit ihren Defiziten an Kontinuität nationalen Denkens kannten, umgehend zu liquidieren.

Zugleich ist es aber eben diese Tradition harter generationeller Brüche samt völliger Ignoranz bezüglich der Realgeschichte in der politischen Kultur der Region, die nach 1991 den Gewaltpegel deutlich reduziert hat. Das Führungspersonal der beiden großen politischen Parteien von Makedoniern und Albanern in der Republik Makedonien versagt sich jeglichen Blick zurück im Zorn auf die Parteidiktatur Tito’scher Prägung sowie auf die konfliktreichen Perioden der Kriege des 20. Jahrhunderts, schon gar derjenigen des Mittelalters. Was Ernest Renan am 11. März 1882 in seinem Vortrag "Was ist eine Nation?" in der Sorbonne für den Prozess der Nationsbildung konstatiert hat, kann daher mutatis mutandis auch für den Prozess des Übergangs von gewaltsamen zu gewaltfreien Mitteln in der Politik gelten: "Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung der Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation. Die historische Forschung zieht in der Tat die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller politischen Gebilde, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben."

Ob das makedonische Modell von Gewaltreduktion durch Ausgliederung aus einer "Mutternation" und neuer Nationalstaatsbildung die Blaupause auch für den Kosovokonflikt sein kann, ist heute noch nicht zu beantworten. Die Vorher-nachher-Parallelen jedoch liegen auf der Hand: Die Region Kosovo ist auch nach den Kriegen der Jahre 1998 und 1999 Streitobjekt zwischen Albanern und Serben, deren Nationalstaaten auf Anschluss der Region zielen; entsprechend ist der Gewaltpegel weiterhin hoch. Kosovoalbanische Tendenzen zum "Austritt" aus dem Verband der albanischen Nation sind zwar erkennbar, aber mitnichten übermächtig. Auch ist Kouchner kein Tito. Dennoch ist bereits heute spürbar, dass der Prozess kultureller und dialektaler Differenzierung zwischen Prishtina und Tirana bei den unmittelbaren Nachbarn in Makedonien, in Montenegro und im Sandschak mit Erleichterung beobachtet wird. Hält dieser Prozess an, könnte auch die serbische Kosovomanie eines Tages in bloße Nostalgie umschlagen.

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Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)