Wozu eigentlich noch Grüne?

 

Für ein Politikverständnis der produktiven Ambivalenz

Hendrik Auhagen

Die Bündnisgrünen an der Regierung, eine Erfolgsstory? Im Gegenteil, innerhalb der Partei ist ein starker Erosionsprozess zu erkennen. Er hängt unserem Autor zufolge mit einer Sinnkrise der Grünen zusammen, die mit der Ausschließlichkeit des Regierungshandelns korrespondiert. Dabei sind die "alten Fragen", etwa der Wachstumskritik und der Ökologie, gar nicht erledigt. Doch erst wenn die bleierne taktische Vermachtung in der Partei aufgebrochen wird, könnte wieder eine Perspektive der Hoffnung auf Veränderung von den Bündnisgrünen ausgehen.

Seit vier Jahren chronische Verluste von bis zu einem Drittel der Wählerstimmen sind die äußeren Krisenzeichen. Noch bedrohlicher aber stellt sich die innere Situation der Grünen dar. Eine Partei, die bei allen extremen Ausrutschern eben gerade auch von lebendigen und unkonventionellen Debatten lebte, dümpelt müde und erschöpft in institutioneller Routine und durchinszenierten Parteitagen vor sich hin. Damit einher geht die innere Verabschiedung sehr vieler Aktivisten und Multiplikatoren. So klein die Zahl der Mitglieder auch immer war – es gab einen relativ großen Anteil von Engagierten, die auch ohne bezahltes Amt oder Mandat vor Ort oder in ihrem Lebensumfeld mit heißem Herzen für das grüne Projekt einstanden. Zwar gibt es auch heute noch engagierte grüne KommunalpolitikerInnen, auffällig aber ist das Fehlen eines gemeinsamen Grundimpulses, aus dem heraus "Partei ergriffen" wird. "Grün sein" ist beliebig geworden.

Institutionell sind die Grünen (insbesondere auf Bundesebene) so mächtig wie noch nie – in ihrer geistigen Impulsgeberfunktion dagegen so schwach wie nie zuvor. Waren es bis in die Mitte der Neunzigerjahre zumeist noch die grünen Vertreter in Diskussionsrunden, die die interessanteren Gedanken und Zukunftsperspektiven entwarfen, so fehlt den Grünen heute diese Rolle weitgehend. Stattdessen halten inzwischen auch Grüne längst schon jene Art von stereotypen Politikerreden, gegen deren unauthentische Phrasen sich ursprünglich die Grünen als Alternative auch im Politikstil gegründet haben. Der Kern der jetzigen Krise der Grünen ist: Der Partei ist die Überzeugung von der eigenen Aufgabe abhanden gekommen!

 

I. Ursachen der gegenwärtigen Sinnkrise

Ursache 1: Aus dem Dogma der "Opposition um jeden Preis" ist ein Dogma der "Anpassung um jeden Preis" geworden

In der Geschichte der Grünen gibt es verhängnisvolle Konstanten in der Struktur der Denk- und Reaktionsmuster, nämlich eine extreme Polarität "von alles oder nichts", von Opposition oder Anpassung "um jeden Preis". Mit der gleichen Pauschalität, mit der jemand vor 14 Jahren als "Unterstützer der atomaren Verseuchung Europas" (Trampert 1986) abgestempelt wurde, wenn er/sie nicht "ohne Wenn und Aber" die Forderung nach Sofortabschaltung aller AKWs zur Knackpunktfrage erhob, wird heutzutage einem grünen Mitglied, das die inhaltliche Substanz einer grünen Regierungsbeteiligung in Frage zu stellen wagt, sofort das Etikett "fundamentalistisch" übergestülpt. Vor wenigen Jahren noch wurde jede auch noch so differenzierte Überlegung der Subventionierung von Niedriglöhnen vom grünen "Mainstream" als brutaler Manchesterkapitalismus diffamiert – heute wird als antiquiert "links" abgestempelt, wer Zweifel an der Regierungsthese der Überwindung der Arbeitslosigkeit durch Steuerentlastung äußert.

Bei aller Dramatik der inhaltlichen Kurswechsel ist die geringe Bedeutung von differenzierten Sachargumenten gegenüber ideologischen Etiketten gleich geblieben. Vor allem aber geblieben ist die ideologische Gleichsetzung von Zielen und Instrumenten. Wurde früher jede Art konstruktiver Beteiligung an Lösungen innerhalb "des Systems" tendenziell als Billigung aller existierenden Missstände diffamiert, wird heutzutage umgekehrt aus der Entscheidung für eine Regierungsbeteiligung eine weit gehende ideologische Akzeptanz des herrschenden Typs des Kapitalismus eingefordert. Aus dem Instrument Regierungsbeteiligung wird Regierungsbeteiligung als Wert an und für sich, dem sich die Grünen programmatisch und analytisch unterzuordnen hätten.

Ursache 2: Die Kontinuität von Tabuisierung und Freund-Feind-Schemata

Noch vor 15 Jahren riskierte, wer bei den Grünen das DDR-System ohne Schnörkel als Diktatur bezeichnete, als "kalter Krieger" abgestempelt zu werden, obwohl natürlich allen Grünen klar war, dass die DDR-Strukturen nicht demokratisch waren. Trotzdem verbot eine modische Etikette, gerade das Offensichtliche auch beim Namen zu nennen, weil "man sich ja dann auf eine Ebene mit Franz Josef Strauß begeben" hätte. Vor einigen Jahren galt dann die Diabolisierung der PDS als quasi Stasi-Partei als angesagt.

Nicht die Substanz des Arguments zählt, sondern die Nähe, in die man gerückt werden konnte/kann. Bis vor kurzem galt noch als brutaler Unterstützer des Sozialabbaus, wer ansprach, was alle Spatzen von den Dächern pfiffen, nämlich die Tatsache, dass ein relevantes Maß an Schwarzarbeit von Unterstützungsempfängern geleistet wird. Inzwischen funktioniert die Tabuisierung in umgekehrter Richtung: Wer kritische Fragen nach den sozialen Folgen des Sparprogramms stellt (was kaum gewagt wird), wird in die Ecke der "linken Betonköpfe" gestellt.

Ursache 3: Verhängnisvolle Kontinuität: Zeitgeist-Opportunismus

Gegen die These dieses Kapitels, dass der innere Zustand und die Entwicklung der Grünen zur gegenwärtigen Sinnkrise der Partei geführt haben, könnte nun die äußere Entwicklung in Deutschland und der Welt angeführt werden. Schließlich sei ja mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der so genannten Globalisierung das gesamte politische Koordinatensystem der Achtzigerjahre zusammengebrochen. Natürlich sind die gewaltigen politischen und damit auch ideologischen Umwälzungen der letzten 11 Jahre unleugbar. Und doch fällt, wenn man genauer den Ablauf der Debatten der letzten 15 Jahre studiert, der ideologische Unwillen der Grünen auf, rechtzeitig eigene Grundpositionen selbstkritisch zu überprüfen. Denn es gab zu fast all den später verschämt und total revidierten Grundsatzpositionen schon rechtzeitig differenzierte Alternativangebote.

Schaut man sich aber das Grundmuster der Debatten bis kurz vor der rot-grünen Regierungsübernahme an, so ist die Tendenz erkennbar, dass banal-radikale, aber "ideologisch süffige" Positionen  lange massiv und aggressiv gegen sich aufdrängende Infragestellungen verteidigt wurden, um  plötzlich zu verschwinden und ohne angemessene Begründung des Kurswechsels durch geradezu entgegengesetzte Positionen ersetzt zu werden. Als Beispiele seien hier nur genannt: Die grundsätzliche Ablehnung von marktwirtschaftlichen Lenkungsinstrumenten wie zum Beispiel von Ökosteuern bis 1986 durch fast den gesamten wirtschaftspolitischen Sachverstand der Partei. In der Europa-Politik haben die Grünen sehr lange Zeit unter der unausgefüllten Phrase vom "Europa der Regionen" eher Anti-EU-Ressentiments gepflegt und den Gedanken, ob die EU-Ebene nicht die einzige sein könnte, auf der man Globalisierungstendenzen Paroli bieten könnte, lange Zeit als Liebäugeln mit europäischem Großmachtstreben diffamiert. Inzwischen aber sind die Grünen auch in Person einer EU-Kommissarin in eine EU-Politik eingebunden, die voll auf Wachstum und Miteskalation der Globalisierungstendenzen setzt.

Besonders extrem ist dieses begründungslose Umschwenken um 180 Grad angesichts der so genannten Sparpolitik der Bundesregierung: So galt bis vor kurzem jemand, der in der sozialpolitischen Debatte an die Begrenztheit der finanziellen Umverteilungsmittel erinnerte und für eine Gegenleistungspflicht der Empfänger eintrat, als geiziger Neoliberaler. Heute reagiert die Partei mit Schweigen oder sogar Applaus auf ein Sparprogramm, das als Programm der Regierung Kohl den wütenden Protest der Grünen geerntet hätte.

So ist es gerade auch das eben skizzierte Grundmuster von argumentationsfeindlicher Erstarrung in radikalen Posen mit dem anschließenden ebenso argumentationsfeindlichen plötzlichen Umschwenken in Gegenpositionen, was Glaubwürdigkeit zersetzt und dadurch dem herrschenden Zeitgeist noch den entsprechenden Schub versetzt. Statt einer solchen "prozyklischen" Fixierung auf die möglichst radikalste Übernahme des jeweiligen Zeitgeistes braucht eine intellektuell wie moralisch vertrauenswürdige "Partei der nachhaltigen Vernunft" die Fähigkeit zur argumentativen Distanz. Sowohl gegenüber fanatischen Versuchungen wie nach Tschernobyl als auch gegenüber der moralisch wie intellektuell substanzlosen "New economy"-Euphorie.

Mit der "Würde" des eigenständigen politischen Subjekts, das sich seiner Werte und dringenden Aufgaben auch ohne extreme Überzeichnungen von Problemlagen bewusst ist, sind Attitüden sowohl der Anpassung als auch der fanatischen Opposition unvereinbar. Entsprechend altert derjenige besonders schnell, der sich einer "Jugend" und deren extremen Stimmungsausschlägen übermäßig anzupassen sucht.

Ursache 4: Schamloses Umschwenken als Karrieremotor

Was uns "Systemkritiker der 70er" damals besonders zur Weißglut bringen konnte, war die höhnische Prophezeiung, dass "ihr eure hochmoralisch-radikalen Einstellungen schon noch ändern werdet, sobald ihr selbst was zu verlieren habt". Nicht die Tatsache der argumentativen Revision von Einstellungen an sich ist falsch, aber die Leichtigkeit der Preisgabe von zuvor hochgehaltenen Positionen nach dem plumpen Motto "Hab ich nichts, bin ich radikaler Kommunist – hab ich was, werd ich Neoliberaler" in vielen grünen Führungsbiographien ist peinlich banal. Donnernd inszenierte radikale linke Rhetorik – oft gegen differenzierte Argumentationen – war für viele grüne Karrieren der Raketentreibstoff, bis eine stabile (Mandats-)Umlaufbahn erreicht und dann zum richtigen Zeitpunkt auf staatsmännische Realo-Attitüde umgeschaltet wurde.

Daraus folgt, dass die Partei zur Überwindung der Glaubwürdigkeitskrise neben einer inhaltlichen Besinnung auf den "Kern des grünen Projekts" auch die inneren Dynamiken und Karrieremuster thematisieren und den Fehlentwicklungen ein politisches Ethos der Argumentation und des Erfolges gegenüberstellen muss. In diesem Zusammenhang ist es überfällig, dass sich die Grünen der Wucht des inneren Pendelschlags bewusst werden, dem sie unterliegen, dass nämlich die Vehemenz der unkritischen Anpassung auch aus der Verdrängung der radikaloppositionellen Vergangenheit resultiert. Bei vielen Grünen-Politikern ist spürbar, wie sie aus unbewusster Kompensation alter extremistischer Blindheiten für neue Einseitigkeiten anfällig werden.

Ursache 5: Zynismus

Ob es das Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit, der Solidarität mit den sozial Schwachen oder mit den Armutsbevölkerungen der Dritten Welt ist, es sind Ziele, die sich neben dem richtigen Argument der wohl verstandenen langfristigen Eigeninteressen aus Moral herleiten. Also aus dem Vorrang des "Was ist richtig" vor dem Kalkül des "Was nützt mir". Der moralische Impetus ist daher Existenzbedingung der Partei. Der entscheidende psychologische Motor, der in der Gründungsphase und auch viele, oft dürre Jahre danach Menschen zum ehrenamtlichen Engagement motivierte, war der Wunsch nach Sinn, nämlich dem Streben nach immateriellen Werten oberhalb der Privatsphäre. Oder anders formuliert, aus konkretem Verantwortungsgefühl gegenüber Mitmenschen, unter Betonung der Interessen zukünftiger Generationen.

In den brutalen Flügelkämpfen der Achtzigerjahre ist "Moral" insbesondere von Seiten linksdogmatischer Kaderorganisationen (Gruppe Z) und später den so genannten Fundis skrupellos funktionalisiert worden. Moral wurde durch die Gleichsetzung mit naiv und radikal im Sinne fanatischer Systemopposition à la Ditfurth/Ebermann diskreditiert. Iinsbesondere haben unlebbare Extremansprüche an politisches Verhalten (Tabuisierung von Lust an Außenwirkung, Interesse an Mandaten und Karriere) sowie an den individuellen Lebensstil schnell zur Herausbildung einer grünen Doppelmoral geführt – nach dem Motto: "Liegt die moralische Messlatte erst richtig hoch, ist es leicht, unter ihr durchzuschlüpfen."

So haben Instrumentalisierung und Überzogenheit von moralischen Ansprüchen Moral überhaupt diskreditiert, was einigen Charakteren sehr entgegenkam, andere aber entweder aus der Politik vertrieb oder sich innerlich verhärtet notgedrungen anpassen ließ. Das Ergebnis ist eine Atmosphäre insbesondere unter Profifunktionären, in der Durchsetzungskraft als Wert an sich gilt. Gelegentlich herrscht geradezu ein Gauner-Respekt vor demjenigen, der sich mit den ausgebufftesten Methoden nach oben boxt. Es ist selbstverständlich geworden, moralische Argumente vor allem unter dem Gesichtspunkt wahrzunehmen, wie etwas "draußen ankommt". Als harmloser Idiot oder aber als "Überzeugungstäter" wird beschimpft, wer sich aus Überzeugung der Gruppendisziplin verweigert oder aus prinzipiellen Gründen sich dagegen stemmt, Positionen einfach zu verdealen. Der Mangel an intrinsischem Interesse, also an der Sache an sich, unterhöhlt die Fähigkeit grüner Führungsgremien zur Selbstkritik (auch sie wird in der Regel taktisch "eingesetzt"). Und sogar noch schlimmer: Es hat sich inzwischen eine Tradition der psychologischen Abspaltung im Sinne grüner Sonntagsreden entwickelt, in denen gerade diejenigen Führungsleute zu Diskurs, inhaltlicher Debatte und fairem Umgang miteinander aufrufen, die aber in ihrer alltäglichen Praxis jeden für "Plemplem" halten, der sich von der Richtigkeit einer Idee statt von der Faust unter der Nase leiten lässt.

Die angerissenen fünf Ursachen sollen deutlich machen, dass die allenthalben spürbare Kraftlosigkeit der Überzeugung nicht einfach in einem reformistischen "Verrat" irgendwann in den Neunzigerjahren begründet liegt, sondern gerade auch vom scheinbaren Gegenteil des "Radikalismus" der Achtzigerjahre mit hervorgebracht worden ist. Denn die alten Schlachten der Achtzigerjahre sind nicht einfach vorbei. Im Gegenteil: Sie haben die Sieger nachhaltig geprägt. In der Gnadenlosigkeit vorgeblich hochmoralischer, in Wirklichkeit aber insbesondere von Fundi-Seite zynisch machtpolitisch funktionalisierter Debatten haben sich bei den überlebenden Realos aller (Schein-)Strömungen Führer-Gefolgschaftsstrukturen und zynische Politikgewohnheiten eingeschliffen, in die auch der Nachwuchs unbewusst hineinsozialisiert wird.

 

II. Haben die Grünen eigentlich noch eine Mission?

Ein ganz entscheidender Faktor für den Zerfall der inneren und damit langfristig auch äußeren Glaubwürdigkeit ist das verbreitete Gefühl, dass die Grünen eigentlich keine tief greifende Transformationsaufgabe mehr haben, sondern wie andere Parteien sich im Wesentlichen auf die Status-quo-Verwaltung (mit einem gewissen Öko-Hauch) und auf die Elitenkonkurrenz um die Besetzung von politischen Schlüsselpositionen ausrichten.

Nicht als irgendeine Partei der Status-quo-Verwaltung, sondern als politischer Arm einer gesellschaftlichen Veränderungsbewegung haben sich die Grünen vor zwanzig Jahren bekanntlich eher widerwillig als politische Institution Partei gegründet. Gründungsimpuls war die Überzeugung von der existenziellen Bedrohung der Menschheit durch ein Krisensyndrom von atomarer Hochrüstung, ökonomischem Wachstumswahn mit entsprechender Zerstörung der natürlichen Existenzgrundlagen und einer dahinter liegenden Flucht der Zivilisation vor der Bewältigung der inneren Sinn- und Seelendefizite in die Anhäufung immer neuer materieller Güter.  Ursprünglich war daher Ökologie mehr als nur technisch-ökonomische Effizienzsteigerung bei der Nutzung von knappen Umweltgütern und Feminismus mehr als Chancenverbesserung für Jungakademikerinnen im Karrierekampf, sondern die Infragestellung von materiellem Konsum und Karriere an sich.

Die Wachstumskritik ist ökologisch wie ökonomisch richtig!

Bei allen Naivitäten, Einseitigkeiten und übertriebenen Katastrophenerwartungen der Achtzigerjahre müssen sich die Grünen der Frage stellen, ob die Kernsubstanz des grünen Gründungsimpulses nicht richtig war und vor allem noch weiter richtig ist. Im Zentrum steht dabei die Wachstumsfrage. Hat die Kernthese von der Begrenztheit des materiellen Wachstums weiterhin Gültigkeit? Bei allen feinen Relativierungen und Differenzierungen ist die Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Selbst das Wachstum in der scheinbar entmaterialisierten virtuellen Welt geht mit einem wahnwitzigen Verschleiß von "Hardware" einher, ja es gab wohl kaum je eine Sphäre materieller Güter, die so auf den schnellstmöglichen Verfall angelegt war, wie die der digitalen Welt. Auch angesichts der ständigen Überkompensation von effizienzsteigernden Verfahren durch extreme Konsumausweitung (Beispiel Autoverkehr) hat sich unter heutigen Bedingungen jedenfalls die Mär vom umweltverträglichen Wachstum als substanzlos herausgestellt. Auch die richtige Strategie eines ökologischen Ersatzwachstums mit Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze macht nur unter zwei – zeitgeistfeindlichen – Grundvoraussetzungen Sinn: 1. Schutz vor den real existierenden Globalisierungstendenzen (etwa bei einer ökologischen Energiewende der Schutz vor französischem Atomstrom) und 2. dem Bewusstsein, dass ein ökologisch sinnvoller Umbauschub "naturgemäß" mit einem tiefen Wachstumseinbruch enden muss. (Denn Wind- und Solaranlagen lange vor dem Ende ihrer Lebensdauer wachstumsfreundlich durch neue Anlagen zu ersetzen, macht ökologisch genauso wenig Sinn wie den Weltmarkt für ökologische Produkte so zu erobern und zu beherrschen, dass "Ökoproduzenten" anderer Länder ihre Chancen verlieren.)

Auch sozial und ökonomisch hat das herrschende Wachstumsdogma keine über die momentane Zeitgeiststimmung hinausreichende Substanz. So ist es hochgradig illusionär, zur Überwindung der Arbeitslosigkeit auf Wachstum zu setzen. Die Wachstumsraten, die auch nur innerhalb eines Zehnjahreszeitraums zum durchgreifenden Abbau der Arbeitslosigkeit notwendig wären, liegen außerhalb des Möglichen, was bis zur Regierungsbeteiligung für die Grünen eine ständig wiederholte Grundüberzeugung war. Viel wahrscheinlicher dagegen ist, dass die Zahl der existenzsichernd bezahlten Arbeitsplätze weiter sinken wird. Neue Technologien werden im besten Falle einen großen Teil der Arbeitsplatzverluste kompensieren. Dominierender Faktor für die leicht positive Tendenz auf dem Arbeitsmarkt ist der demographische Faktor, was die CDU als Opposition betont und als Regierung verneinen würde, genauso wie es SPD und Grüne jetzt ebenso entschieden leugnen, wie sie es aus der Opposition heraus betonen würden.

Die Möglichkeit krisenhafter Umbrüche immer mitdenken!

Die Grünen müssen sich entscheiden (wenn sie sich nicht schon längst entschieden haben), ob sie sich noch ernsthaft zur Dringlichkeit einer tief greifenden ökologisch-ökonomischen und damit kulturrevolutionären Transformation bekennen wollen oder nur den herrschenden Prozess der globalen Kapitalkonzentration und neuer Wachstumsschübe durch technische Ökokomponenten ergänzen wollen.

Wer wirklich begründet die Überzeugung gewonnen hat, dass der herrschende Entwicklungsprozess mit neuen Wachstums- und  Produktivitätsschüben bei allen Unsicherheiten ein langfristig funktionierender und erfolgreicher ist, (im Sinne der Humanisierung der Lebensbedingungen für mehr Menschen), dem sei Respekt gezollt. (Ob es dafür allerdings einer Partei der Grünen bedarf, ist eine andere Frage.) Gewarnt seien aber diejenigen, die nicht an die Problemlösungsfähigkeit des globalisierten Kapitalismus glauben, sondern nur aus Mangel an Alternativen und politischem Opportunismus vorläufig auf der herrschenden Zeitgeistwoge mitschwimmen. Was ist, wenn es doch zu existenziellen ökologischen und ökonomischen Zusammenbrüchen kommt?

Könnten nicht auch die Grünen, so wie die SPD vor und im ersten Weltkrieg, gerade im Prozess der Anpassung an den Zeitgeist von den alten, schon nicht mehr geglaubten Voraussagen eingeholt und überrascht werden? Und zwar nachdem sie sich durch opportunistisches Mitmachen als integre Transformationskraft diskreditiert hatte. Wer sich die ökonomische und damit soziale Sprengkraft der deregulierten Finanzmärkte anschaut, dem muss sich die Parallele zu den Zwanzigerjahren aufdrängen. Und was passiert, wenn ökologische Krisen (wie heute z. B. BSE) nicht mehr durch Ausweichen in andere Produkte aufgefangen werden können, sondern ins Mark der alltäglichen Existenzsicherung vordringen (Massenseuchen durch industriell hergestellte Alltagsprodukte)?

Erinnern wir uns daran, dass es in den letzten 100 Jahren allein auf deutschem Boden mindestens drei "Stunden Null" mit weit gehendem Machtverlust der Altstrukturen gab. Rechnen wir plötzliche wirtschaftliche und ökologische Krisen hinzu, so verdoppelt sich die Zahl der tief greifenden Erschütterungen. Allein schon statistisch, noch mehr aber von den verschiedenen Krisenpotenzialen her spricht (leider) viel dafür, dass wir schon in den nächsten Jahrzehnten erneut mit Krisen konfrontiert sein werden, die das gewohnte Koordinatensystem umwerfen. Eine der Grundfragen an das grüne Projekt ist also, ob es sich bei aller notwendigen konstruktiven Flexibilität in der alltäglichen Gegenwartspolitik weiterhin der Brüchigkeit des Status quo bewusst und eine Kraft der Transzendenz sein will.

Aus dieser Sichtweise folgt nicht die Aufforderung, zum Katastrophismus der Achtzigerjahre zurückzukehren. Gerade jene Krisenbeschwörungen mit Weltuntergangsgeschmack haben nach kurzer Aufputschwirkung die Menschen vom Gegenteil überzeugt und letztendlich in der Langfristwirkung verharmlosend gewirkt.

Eine realistische Transformationskraft sollte sich stattdessen zur umgekehrten Strategie bekennen: Nämlich einerseits bewusst einräumen, dass die Aufrechterhaltung des existierenden Funktionszusammenhangs der Gesellschaft Tabula-rasa-Lösungen kaum zulässt (Technik und Wirtschaft lassen sich kurz- und mittelfristig kaum spektakulär verändern). Daher ist ein entsprechend konstruktiver Umgang mit ungeliebten Strukturen notwendig (z. B. Atomindustrie). Andererseits muss sie auf der ideologischen Ebene und auf der der langfristigen Strukturentscheidungen ebenso konsequent und verlässlich (im Sinne der nachhaltigen, moralischen Vernunft) sein, wie sie verlässlich im Sinne der begrenzten Ebene einer parlamentarischen und Regierungszusammenarbeit zu sein hat. Über naive "Visionen" hinaus muss sie eine konkrete Vorstellung der langfristigen Strukturveränderungen und genug kritisches Bewusstsein gegenüber dem Status quo haben, in dem sie agiert. Das heißt, dass sie weder wie früher mit dramatischen "Sofort-weg"-Forderungen koalitionspolitisches Harakiri betreibt (das war vor allem die Gefahr), noch dass sie sich während des Wartens so in den Status quo verliebt, dass sie ihre ursprüngliche Motivation vergisst (das ist die Gefahr). Denn so wahrscheinlich es ist, dass die deutsche Atomindustrie auch in den nächsten 20 Jahren ohne wirkliche Katastrophen ihren Strom produzieren wird, so ist es aber eben auch wahrscheinlich, dass es bei einem auch nur 50-jährigen weltweiten Weiterbestehen der Atomindustrie zu Katastrophen im Ausmaß von Tschernobyl oder sogar darüber hinaus kommen wird.

Für beide Wahrscheinlichkeiten einen gleichermaßen wachen Blick zu haben, verlangt einen kurzfristig gelassen kompromissfähigen und zugleich langfristig radikalen "Weitwinkel der politischen Perspektive", den ich mit dem Arbeitsbegriff "produktive Ambivalenz" bezeichnen will. Als Alternative sowohl zur Opposition als auch zur Anpassung "um jeden Preis".

 

III. Für ein Politikverständnis der produktiven Ambivalenz

Der oben beschriebenen Krisensicht könnte zunächst einmal zu Recht entgegengehalten werden, dass sie zu katastrophenfixiertem Abwarteverhalten führe, statt zur Nutzung der Handlungsspielräume, die durch eine Regierungsbeteiligung wie der rot-grünen in Berlin eröffnet wurden. – Dieser Text argumentiert aber weder gegen Regierungsbeteiligungen noch gegen notwendige Kompromisse. Wie oben formuliert, muss die Tatsache ernst genommen werden, dass wir alle bis in unser persönlichstes Leben hinein davon abhängig sind, dass der Status quo nicht nur technisch, sondern auch ökonomisch funktioniert. Darum müssen auch grüne Regierungen dafür einstehen, dass AKWs entsorgt werden, LKWs rollen und Frachtflugzeuge nachts landen können. Ja, es müssen sogar mittelfristige Kompromisse bei solchen Neuinvestitionen gebilligt werden, wenn man in einer Regierung mitgestalten will.

Produktive Ambivalenz im Verhältnis zu den hoch gefährlichen (und gleichzeitig hoch gefährdeten) ökonomischen Grundlagen dieser Gesellschaft heißt einerseits Mitspielen, also etwa die Ansiedlung auch problematischer Wirtschaftszweige, wenn es keine wirtschaftliche Alternative gibt. Ja, sogar der aus der Sicht der "einen Welt" oder zumindest "europäischen Solidarität" unappetitliche Standortwettbewerb muss von einer grünen Regierung so lange aktiv mitbetrieben werden, solange es beispielsweise auf EU-Ebene keine solidarische Unternehmenssteuerharmonisierung gibt. Akzeptabel ist ein Mitspielen aber nur, solange alles für solidarische Überwindungsversuche von Sachzwängen getan wird. Und wenn man immer deutlich macht, dass man den billigen Optimismus nicht teilt, den der Zeitgeist aus Exporterfolgen, Höhenflügen an den Börsen und Konjunkturziffern ableitet.

Stattdessen muss die "Globalisierungsdividende" so weit wie möglich in den Aufbau und Unterhalt von krisenresistenten Strukturen gerade für den Fall des Versagens der "Globalisierung" investiert werden. Auf welche Auffangnetze soll zum Beispiel zurückgegriffen werden, wenn der Euro das Doppelte des heutigen Dollarwertes erreicht oder andersherum, wenn nach einem Nahost-Konflikt der Ölpreis bei 100 Dollar pro Barrel liegt? Kurzum: Mitregieren muss dann nicht einen Vertrauensverlust riskieren, wenn es auch immer die Brüchigkeit des herrschenden Zustandes thematisiert und auf Zusammenbruchssituationen so vorbereitet ist, dass sie gemeistert und zu tief greifenden Umstrukturierungen genutzt werden können.

Für CDU und FDP sowieso und auch für die SPD mag Regierungsbeteiligung ein Wert an sich, ja das eigentliche Ziel sein, für eine Transformationsbewegung nicht. Darum ist es ein – gerade auch die langfristige Durchsetzungskraft – zerstörendes Gift, wenn eine von Glaubwürdigkeit lebende Transformationskraft sich die Handlungen und Äußerungen ihrer Regierungsmitglieder zu Eigen macht, wo sie inhaltlich falsch sind. Auch dann, wenn der Verbleib in einer Koalition summa summarum immer noch für sinnvoller als der Ausstieg gehalten wird. Wenn es also im Fall der Altauto-Richtlinie wirklich bei Strafe des Koalitionsbruches notwendig war, dass der grüne Umweltminister sein Veto auf EU-Ebene einlegt, dann hätte es gleichzeitig bei Feststellung der Koalitionsloyalität eine Kampagne der eigenständigen Partei gegen die Zwänge der Lobbys und die Ignoranz des Regierungschefs geben müssen.

Die Kompromisse und die Verantwortlichkeit für das Funktionieren des Alltagslebens dürfen also nicht zu einer ideologischen Vergoldung der herrschenden Zwänge führen. Stattdessen  muss die grundsätzliche, sachlich begründete Ablehnung langfristig verheerender Tendenzen immer deutlich bleiben. Ebenso wie die angestrebte Ausstiegs- und Umbauperspektive.  Eine Transformationsbewegung darf vom Denken her nicht Regierungspartei sein. Zwar kann, darf oder muss sie sogar in bestimmten Situationen zuverlässig ein Regierungsprojekt unterstützen, aber die eigentliche Kernaufgabe der Partei darf das nicht infrage stellen.

Diese Kernaufgabe ist die Bündelung des "Transformatorischen Willens", das heißt derjenigen Menschen und Initiativen, die einen oben angedeuteten, sanften, "humanen" Ausstieg aus dem Wachstumssyndrom wollen. Um diesem Willen, das heißt vor allem den einzelnen Überzeugungsträgern, zu gesellschaftlicher Resonanz zu verhelfen, braucht es eine auf das gesellschaftliche Ganze orientierte Organisation, im Gegensatz zu den vielen (richtigen) Ein-Thema-Initiativen. Auch weil es dafür bisher fast nur das Organisationsmodell "Partei" gab und gibt, haben sich vor 20 Jahren die Grünen aus Individuen und Bürgerinitiativen in der Form einer Partei organisiert. In diesem Sinne nahm dieser Zusammenschluss an Wahlen vor allem deshalb teil, um die gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Dieses Thematisierungsziel war den Multiplikatoren der grünen Idee oft wichtiger als das Ergebnis in Form von Prozenten und Mandaten. Damit stellt sich die Ende der Achtzigerjahre scheinbar endgültig beantwortete Frage:

Grüne – Partei oder Bewegung?

Auch bei dem Neu-Überdenken dieser alten Grundfrage kommt es darauf an, den richtigen Kern von der falschen Überspitzung zu trennen. Das etwa von Jutta Ditfurth propagierte Modell der Grünen als quasi radikale Umsturzbewegung war und ist falsch. Erstens, weil es von einer kurz bevorstehenden Katastrophen- bzw. Weltuntergangssituation ausging. Zweitens wurden einige Politiker, Militärs und Kapitalisten als die alleinigen krisenverursachenden Subjekte ausgemacht und drittens unterstellt, dass große Teile der Bevölkerung zutiefst unter dem Leben im bundesdeutschen Kapitalismus leiden würden und daher von einer radikalökologischen Revolution kaum mehr als den Verlust ihrer Ketten zu befürchten hätten.

Die Absage an dieses Modell der "Bewegung" war allein schon der Hinwendung zur gesellschaftlichen Normalität wegen notwendig. Eine fiebrige Atmosphäre der Mobilisierung zum "letzten Gefecht" wie in der Nachrüstungsdebatte, nach Tschernobyl und zuletzt beim Volkszählungsboykott war darüber hinaus hochgradig ungünstig für eine demokratische Diskussion über konstruktive Reformalternativen. Vor allem aber war das Modell der ditfurthschen Systemopposition verlogen, weil es radikal ignorierte, dass wir fast alle in unseren privaten Konsum- und Lebensbedürfnissen auch Mitverursacher der Krisentendenzen waren und sind.

Wenn das Letztere aber stimmt, stellt sich zum heutigen grünen Politikmodell die Frage: Kann selbst die raffinierteste Regierungspolitik bei unangetastetem individuellem Konsum- und Karrierestreben verhindern, dass der daraus folgende Wachstumszwang zur Zerstörung der natürlichen Existenzgrundlagen und zum sich brutalisierenden Wettbewerb führt?

Für viele Probleme, vom Rentenproblem bis zur Gesundheitspolitik, gibt es keine Lösungen aus dem "System selbst heraus", jedenfalls keine fairen. Es gibt nicht den genialen Trick, mit dem niedrige Rentenbeiträge für die Jungen und unverändert hohe Renten für eine immer größere Zahl von immer älter werdenden RentnerInnen zu vereinbaren sind. Ohne eine kulturrevolutionäre Debatte über die Sinngrenzen des materiellen Wohlstands gibt es keine Lösungen. Stattdessen sollte das Potenzial aktiviert werden, das nicht alle, aber doch viele gut versorgte RentnerInnen privat fragen lässt: "Brauche ich denn diesen Lebensstandard überhaupt?" (Das drängendste materielle Problem der meisten alte Leute ist die Absicherung bei Pflegebedürftigkeit, und da reicht bei ungenügenden Leistungen der Pflegeversicherung in schlimmen Fällen kaum die höchste Pension.) Ähnliches gilt für die finanzielle Förderung von Kindern, die auch heute schon viel eher reichen würde, wenn nicht ein propagandistischer Konsumterror das soziale Anspruchsniveau in eine Höhe, für die selbst massive Erhöhungen des Kindergeldes nicht mehr ausreichen würden.

Eine solche Debatte etwa über Wohlstandsorientierungen stände in der (im Kern richtigen) kulturrevolutionärenTradition der 68er und der ökologischen Bewegung der Siebzigerjahre, nämlich im Sinne des Vorrangs des inneren lebenskulturellen und mitmenschlichen Wachstums vor der grenzenlosen Anhäufung materieller Güter. Eine solche Debatte geht aber weit über die Rolle einer klassischen Partei hinaus, indem sie mit dem typischen Wahlkampf-Muster des "Wir-bieten-mehr" brechen muss. Stattdessen muss eine den Wachstumswahn zu überwinden suchende Transformationskraft für ein kreatives "Ping-Pong" zwischen Basisinitiativen und den Polit-Profis in Fraktionen und Regierungen eintreten. Zum Beispiel zwischen wachstumskritischen Ärzteinitiativen, die für sinnvolle und existenzsichernde Arbeitsbedingungen bereit wären, auf bis zu 10 Prozent Durchschnitts-Nettoeinkommen zu verzichten, und einer grünen Gesundheitsministerin, die ein dem entsprechendes institutionelles Reformmodell vorlegt. Die Rolle der Grünen Gesamtpartei wäre es, diese fachpolitische Reformanstrengung durch eine allgemeine Wertedebatte (unter dem Motto "Wachstum in den Absturz oder vernünftige Selbstbeschränkung") über Einkommen und Ethik nicht nur in der Medizin zu flankieren.

Wofür es in der Gesellschaft und im politischen System einen dringenden Bedarf gibt, ist eine Organisation, die Trägerin von so etwas wie vorausschauender gesellschaftlicher Vernunft ist. Ein Zusammenhang, der individuelle Bereitschaft zur Selbstbeschränkung und zur kalkulierten Vorleistung sammelt, auffängt und durch politische Belohnung dieser Vorleistungsbereitschaft die Angst nimmt, dass "der Ehrliche ... der Dumme" sei. Dies mag vielleicht naiv klingen, aber hinter diesem moralischen Impetus steckt die mächtigste Ressource einer Gesellschaft, nämlich das Vertrauen in kollektive Fairness und Lösungsfähigkeit. Die Mentalität des rücksichtslosen Ausreizens von Individual- und Gruppeninteressen zulasten des Gesamtzusammenhangs dagegen ist das, was zum Beispiel in vielen mediterranen Gesellschaften verhindert, dass individueller Fleiss und Kreativität auch zum entsprechenden Erfolg führen.

In der Nachkriegszeit fand das Ethos des tüchtigen Einsatzes, der Sachorientierung und des ehrlichen Wirtschaftens eine Bestätigung in den Früchten des Wachstums, die zwar höchst ungleich verteilt wurden, aber dennoch fast allen spürbar zugute kamen. Diese erfolgsorientierte Integration durch "Wachstum für Alle" funktioniert aber immer weniger. In vielen Sektoren der Gesellschaft sind nicht mehr Steigerungen, sondern Stagnation oder gar Schrumpfung zu verteilen. Obwohl diese Wachstumsbegrenzung auf einem hohen, sehr komfortabel ausgestaltbaren Niveau mit solidarischen Absicherungen stattfinden könnte, gibt es dafür keinen ideologischen Überbau und keine Fairness-belohnenden Strukturen. Mit der Folge eines immer rücksichtsloser werdenden Gruppenegoismus.

Hier läge für eine wirklich wachstumskritische und reflektiert kulturrevolutionäre grüne Partei, ob sie nun zufällig in der Regierung oder in der Opposition ist, eine intellektuell und moralisch dominante Position. Allerdings nur bei entsprechender innerer Glaubwürdigkeit, die nur um den Preis der Infragestellung auch der eigenen inneren Strukturen und Dynamiken wiederzugewinnen ist. Indem die Grünen die bleierne taktische Vermachtung bei sich selbst aufbrechen, können sie wieder eine Perspektive der Hoffnung für die vielen, an der Politik im Allgemeinen resignierenden Menschen ausstrahlen. Allerdings: Nur dann, wenn auch innerhalb der Grünen selbst Argumente und Konzepte die Oberhand über Taktik, Opportunismus und Gruppenkumpanei bekommen, kann die Partei zum Ort derjenigen werden, die falschen Sachzwängen die Stirn bieten wollen, anstatt sich mit ihnen zum kurzfristigen individuellen Vorteil und um den Preis langfristigen kollektiven Schadens zu arrangieren.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)