Multikulturalität als bürgerrechtlicher Kampfbegriff

Einwanderungspolitik für eine offene Gesellschaft

Hartwig Berger

Die Debatte der letzten Monate um das Unwort einer Leitkultur hat auch die Idee einer multikulturellen Gesellschaft ins Gerede gebracht. Die politische Rechte hält den Bündnisgrünen vor, mit ihrem Hohelied auf die Vielfalt leichtfertig die Einheit der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen, Stoiber malte sogar das Menetekel des einst vielkulturellen Jugoslawiens an die Wand. Selbst in den eigenen Reihen stößt der Begriff auf Unbehagen. So stellte Peter Lohauß in der Kommune (12/00) jüngst "Multikulti" als unscharfes und spektakelhaftes Relikt einer Politik der offenen Grenzen und des "seid nett zueinander" in Frage (1). Hartwig Berger meint, sehr zu Unrecht. Er hebt hier auf die Genese des Begriffs als "bürgerrechtlichen Kampfbegriff" gegen Abgrenzung und Separierung ab.

Ob eine Idee als Leitfaden gegenwärtiger Politik geeignet ist oder nicht, können nicht hitzige Wortgefechte entscheiden, sondern ruhiges Nachdenken. Der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" stammt aus Kirchenkreisen, wissenschaftlichen Seminaren und ImmigrantInnenzirkeln der Siebziger- und Achtzigerjahre, er wurde damals auch von CDU-Intellektuellen wie dem Kreis um Heiner Geißler aufgegriffen. Nach dem Anwerbestopp 1974 wurde klar, dass sich ein großer Teil der GastarbeiterInnen in der damaligen BRD dauerhaft mit ihren Familien niederlassen würde. Die politische Rechte wollte hingegen möglichst viele GastarbeiterInnen zur Rückkehr zwingen. Einen weiteren Aufenthalt, gar eine Niederlassung war sie nur dann bereit hinzunehmen, wenn und soweit sich die Einwanderer unauffällig in der Gesellschaft anpassen, "assimilieren" würden. Wer dazu nicht bereit sei, möge die Rückkehr antreten.

Mit unverblümter Härte verkündete etwa der Berliner CDU-Innensenator Lummer 1981 seinen berüchtigten Ausländererlass, der vorsah, dass volljährig gewordene ausländische Jugendliche, auch wenn sie hier Jahre gelebt haben, in die Heimat ihrer Eltern abgeschoben werden und dass EhepartnerInnen unter extrem restriktiven Bedingungen nachziehen dürften. Auch der damalige Regierende Bürgermeister Westberlins, Richard von Weizsäcker, deckte diese harte Linie durch sein Verlangen an die "ausländischen Mitbürger" ab, entweder "in die alte Heimat zurückzukehren" oder "auf Dauer Deutsche zu werden". Einen dritten Weg, " nämlich hier zu bleiben, aber nicht und nie Deutscher werden zu wollen", schloss Weizsäcker damals ausdrücklich aus.(2) Es war übrigens ein großer Erfolg der damaligen sehr "multikulturellen" Solidaritätsbewegung, dass dieser rigide und fremdenfeindliche Kurs nicht durchgesetzt werden konnte.

Der kurze historische Exkurs kann verdeutlichen, dass die Idee der Multikulturalität als bürgerrechtlicher Kampfbegriff entstanden ist, der die individuellen wie kollektiven Rechte von Einwanderern gegen den Assimilations- und Abschiebungsdruck von rechts verteidigt. "Wir haben Gastarbeiter gerufen, und es kamen Menschen" (Max Frisch). Und diesen Menschen müsse das Recht auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familienleben und auf eigene Lebensgestaltung zugestanden werden. Die Vielfalt alltagskultureller Ausdrucksformen wurde als Bereicherung der Gesellschaft und als Ermutigung gewertet, auch im "deutschen" Milieu unterschiedlichen Lebensstilen stärker Geltung zu verschaffen.

Dabei war immer klar, dass Einwandererfamilien "Zwischenkulturen" bilden, die weder ein Import aus der Heimat noch eine Übernahme neuer Verhältnisse sind, sondern die durchaus unterschiedliche Antworten auf hiesige Lebensumstände geben und dazu in Teilen auf Elemente der Heimatkulturen zurückgreifen. "Türkische" Rockmusik in Berlin ist weder anatolisch noch angelsächsisch, sondern eine eigenständige Ausdrucksform. Der bärtige und bemützte Islamgläubige läuft trotz betonter Abgrenzungsbemühungen in Jeans und Kaufhaushemden durch die Straßen.

Sind postindustrielle Gesellschaften "multikulturell"?

Der Kampfbegriff Multikulturalität ist hingegen selten mit dem Anspruch verwendet worden, den Aspekt kultureller Vielfalt im modernen Leben zu verabsolutieren. Allein ein unbefangener Blick auf heutige Wirklichkeiten widerspräche dem. "Postindustrielle" Gesellschaften sind weit mehr als frühindustrielle und agrarische durch starke Vereinheitlichungen und Standardisierungen weiter Bereiche der Alltagskultur gekennzeichnet. Sie haben Nationalsprachen mit notifizierten Regeln( man denke an die jüngste Rechtschreibreform des Deutschen oder die Rolle der Académie Française für "das Französische"), einheitliche Rechtsnormen, die bis in Details gehen, selbst Alltäglichkeit ist durch generalisierte Marktangebote vereinheitlicht.

Die Alltagskulturen der arbeitenden und besitzenden Klassen im Europa der letzten Jahrhundertwende waren deutlich unterschiedlicher ausgeprägt als "einheimische" und "eingewanderte" Kulturen im Europa der Jahrtausendwende. Selbst die Nationalsprachen waren zu jener Zeit variantenreicher und "multikultureller". Multikulti heute ist daher auch eine Bewegung, die eine noch lebendige Vielfalt in einer Gesellschaft gegen die Zwänge der Vereinheitlichung und Standardisierung zu erhalten sucht. Multikulti verteidigt über die Rechte von Einwanderergesellschaften hinaus selbst bestimmte Lebenswelten gegen zu viel Konformitätsdruck, gegen die Uniformität sich globalisierender Märkte, gegen die Folgen von zu viel staatlicher Regulierung und auch gegen Gleichförmigkeiten in den digitalen Vernetzungen der "Informationsgesellschaft".

Die Erinnerung an die Anfänge der Konzepte "multikultureller Gesellschaft" kann dazu dienen, an ihren Ansprüchen an Toleranz, Interaktion und soziale Gerechtigkeit gerade heute festzuhalten. Toleranz wurde und wird der Mehrheitskultur gegen den Assimilierungswahn der politischen Rechten zugemutet, sie gilt aber für die Anerkennung kultureller Andersartigkeit insgesamt. Die Regeln des Menschenrechts und die Achtung der Menschenwürde sind gleichsam der Humus, auf dem multikulturelles Zusammenleben nur gedeihen kann. Jede ethnische, religiöse oder sonst wie geleitete Ausgrenzung, die diesen Boden verlässt, trägt den Keim der Selbstzerstörung in sich. Die Idee der multikulturellen Gesellschaft ruft förmlich nach dem Verfassungspatriotismus als verbindendem Faden.

"Multikulti" wurde auch nicht als Plädoyer gleichsam selbstgenügsamer kultureller Monaden entwickelt, sondern als Anspruch auf wechselseitige Interaktion und Austausch. Cem Özdemir hat jüngst zu Recht betont, dass der Begriff "interkulturelle Gesellschaft" zutreffender und realitätsgerechter ist. Der kulturelle Reichtum einer Gesellschaft liegt nicht in der Buntheit verschiedener Ausdrucksformen, sondern er schließt wechselseitige Beeinflussung und damit die Kommunikationsfähigkeit der verschiedenen Lebenswelten untereinander ein. Diese Kommunikation zu fördern und zu ermöglichen, ist eine wichtige Aufgabe auch der Politik. Dass seit Ende der Achtzigerjahre etwa in vielen türkischstämmigen Communities mehr Segregation und Abkapselung zu beobachten war, ist tatsächlich beunruhigend.

Multikulturalität und soziale Ungleichheit

Segregation und Abkapselung fallen nicht vom Himmel, sie sind häufig das Produkt gesellschaftlicher Ausgrenzung und bleibender sozialer Benachteiligung. Weitsichtige SozialwissenschaftlerInnen haben in den Siebzigerjahren vor diesen Entwicklungen gewarnt und beobachtet, wie sich die nicht offiziell anerkannte Einwanderung als ethnische "Unterschichtung" vollzog. Die bundesdeutsche Gesellschaft hat es jahrzehntelang nicht vermocht, die Realität eines Einwanderungslandes zur Kenntnis zu nehmen und soziale Chancengleichheit für Einwanderer und ihre Kinder zu ermöglichen. Die Einheit hat diese Unfähigkeit noch weiter verhärtet. Im Jahr 2000 lag in Berlin die relative Zahl der HauptschulabsolventInnen ausländischer Nationalität drei- bis viermal höher als bei Deutschen. Dagegen waren es dreimal weniger AbiturientInnen und Auszubildende. Die Zahl der arbeitslosen AusländerInnen in Berlin ist mit 35 Prozent mehr als doppelt so hoch als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung; differenziert nach Geschlecht und nach türkischer Nationalität stellen sich die Ungleichheiten noch signifikanter dar.

Diese Disparitäten haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Es ist zu befürchten, dass sich in Berlin, in Deutschland, in Europa insgesamt Klassenstrukturen dauerhaft ethnisch verfestigen. Im Grunde ist diese Entwicklung als ein schleichender Rückfall in neofeudale Zustände zu werten, in denen die ethnische Herkunft ein entscheidendes Kriterium für die Zumessung gesellschaftlicher Chancen wird. Für VerfechterInnen einer offenen Gesellschaft mit bleibenden Ansprüchen an soziale Gerechtigkeit ist das eine unakzeptable Entwicklung.

Die "neofeudale" Ungleichheit stellt aber den Boden für die bleibende Diskriminierung von Einwanderern im gesellschaftlichen Alltag dar. Noch viel schlimmer steht es um die Ausgrenzung der Flüchtlinge. Dass die Fremdenfeindlichkeit im Berlin des vergangenen Jahrzehnts nicht abgenommen hat, der aggressive Anteil vielmehr gewachsen ist, wird ja zu Recht beklagt. Müssen wir ausmalen, was es für den Alltag und die Selbstachtung einiger Hunderttausend BerlinerInnen und Zehntausender Flüchtlinge bedeutet, dass sie seit Jahren praktisch auf einer geographischen Insel leben, weil sie im ländlichen Brandenburg Verfolgungen wegen "undeutschen" Aussehens riskieren? Dass sie deshalb einen aus Berlin verlagerten Arbeitsplatz aufgeben, auf Wochenendausflüge verzichten, dass viele LehrerInnen multikultureller Klassen keine Klassenreisen nach Rheinsberg, in die Uckermark oder in die Prignitz zu unternehmen wagen?

Diese dramatischen Konflikte machen die Umsetzung der Ansprüche auf Interkulturalität und Multikulturalität zweifellos schwieriger. Schwieriger auch, weil weite Kreise der Einwanderergruppen mit Eigenabgrenzung und Separierung reagieren. Darauf aber mit einem Abschied von "Multikulti" und "interkultureller Gesellschaft" zu antworten, wäre ein schwerer Fehler, den gerade Anhängerinnen einer offenen, vielfältigen, durch Antirassismus und den Willen zu sozialer Gerechtigkeit geprägten Gesellschaft keinesfalls begehen sollten. "Multikulti" entstand als bürgerrechtlicher Kampfbegriff. Unter anderen historischen Umständen gibt es leider wieder Anlass genug, ihn in diesem Sinn zu verstehen und zu nutzen.

1 Peter Lohauß, Grünes "Multitumulti"; Kommune 12/00

2 Regierungserklärung von Weizsäckers für den CDU-Senat im Berliner

Abgeordnetenhaus, Juni 1981.

COPYRIGHT:

Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)