Editorial

Michael Blum

Es scheint, ein politischer Skandal ist in Deutschland dann erfolgreich ad acta gelegt, wenn er als "Wort des Jahres" betitelt werden darf. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte jüngst den Begriff "Schwarzgeldaffäre" zum für die Alltagssprache bedeutendsten Wort 2000. Der Spendenskandal um die schwarzen CDU-Kassen und das System Kohl reiht sich ein in die Historie der preisgekrönten Erregungszustände der Republik: 1982 war es beispielsweise die Ellenbogengesellschaft, ein Jahr zuvor die Nulllösung und 1991 der Besserwessi. Allesamt sind sie auch Synonyme für die jeweilige politische Kultur der Bundesrepublik. Manche korrespondieren unfreiwillig Jahrzehnte später miteinander: Die Ellenbogengesellschaft aus 1982 mit dem Egoismus der Gesellschaft heute, deren moralische Ignoranz mit der öffentlichen Aufgeregtheit 1999 über den Parteispendenskandal, der mit der Verniedlichung der Schwarzgeldaffäre nur unzureichend beschrieben wird. Andere geadelte Wörter entwickeln sich weiter: Aus dem 1992 preisgekrönten Begriff "Politikverdrossenheit" ist längst die Politiker- und Parteienverdrossenheit geworden. Und auch dieses aufs Schild gehobene Wort korrespondiert munter mit der Schwarzgeldaffäre, aber ebenso mit der Wirklichkeitsresistenz der CDU-Wähler im hohen Norden auf dem Höhepunkt des Skandals Anfang 1999. Andere politische Themen kommen wieder, ohne das Zeug für eine Krönung zu haben: Das prämierte Sparpaket von 1996 wurde mit dem Sparhaushalt 1999 getoppt, ohne dass Letzterem ebenfalls höhere Weihen zu teilwurden.

Die Endlagerung politischen Unwillens als verniedlichtes Wort des Jahres ist auch ein Synonym für einen bemerkenswert oberflächlichen Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit ihren Skandalen. Nach der CDU-Affäre wurde allseits eine Reform des Parteienstaats gefordert. Doch geschehen ist bislang wenig, die SPD etwa will zunächst die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungsausschüsse abwarten. Vergegenwärtigen wir uns kurz die Fieberkurve von Diagnose und Therapie: Mehr Transparenz wurde gefordert und versprochen. Der Finanzskandal rüttelte an den Grundfesten des Parteienstaates – verfassungspolitische Maßnahmen wurden gefordert. Zudem wurden Korrekturen am Parteienrecht und hier insbesondere der Parteienfinanzierung sowie der Binnendemokratie diskutiert sowie die Einführung von plebiszitären Elementen – die Aktivierung des Souveräns gegen die politische Klasse – eingefordert. Von dieser Revitalisierung der politischen Kultur, wie Robert Leicht formulierte, ist nichts zu spüren. Die Politik in Deutschland hat sich ebenso beschleunigt wie das Abrücken der Parteien von ihren Ursprüngen – und seit den Achtzigerjahren gilt das Beschleunigungssyndrom auch für die Halbwertzeit von Politskandalen und Skandälchen. Zwischen Zimmermann und Klimmt liegen Engholm und Barschel, Kiep und Koch, Lambsdorff und Strauß, um nur wenige zu benennen. Nicht alle Affären können im internationalen Vergleich mithalten, im Gegenteil. "Die Veralltäglichung des Ungesetzlichen" hat der SZ<D>-Journalist Heribert Prantl den System-Kohl-Weg in ein fremdfinanziertes Staatsparteiensystem einmal genannt. Nicht ganz zufällig klingt das nach der "Normalisierung des Ausnahmezustands", wie es in einem Kursbuch<D> zur bleiernen Zeit des Deutschen Herbstes einmal hieß. Welcher sich übrigens auch gleich zweimal in der Wörter-Hitparade niederschlug: 1978 mit "konspirative Wohnung" und 1980: "Rasterfahndung".

Über die Käuflichkeit der Politik in Deutschland zu spekulieren ist mit den Indizienverdachten in Sachen Leuna nicht allzu schwer und Besorgnis über die Unabhängigkeit der Justiz zu hegen ist, betrachtet man den Karrierebruch des Augsburger Staatsanwalts, der mit seinen Kiep-Ermittlungen Kohl und Co. erst in Bedrängnis brachte, ebenfalls eine leichtere Übung. Wie Lobbyisten-Spenden Kandidaten und die Justiz Präsidenten macht, ist derzeit in den USA zu besichtigen. Hierzulande war das Bekannt-werden und die breite Erregung über den Parteispendenskandal auch als Hinweis auf die Selbstreinigungskraft der Demokratie bewertet worden. Und auch in einem weiteren Punkt ähneln sich die Ereignisse: Während in den USA die Zweifel an der Legitimation des Systems, insbesondere am Wahlmännersystem, wachsen und gleichzeitig die fragwürdige demokratische Legitimation des Zweiparteiensystems mit teils bis ins Detail identischen Kandidaten in den Hintergrund tritt, sind hierzulande Forderungen, die Rolle der Parteien im Staat neu zu diskutieren und deren Finanzierung nur als Unterpunkt zu begreifen, in den Hintergrund getreten, im Vordergrund steht der Wahlkampf in den Untersuchungsausschüssen. Eine gesellschaftliche Debatte über die demokratische Verfassung, wie sie etwa Martin Altmeyer in der Kommune 3/2000 forderte, ist erfolgreich totgeschwiegen worden. Warum dies so gut funktioniert, zeigt Martin Altmeyer in dieser Ausgabe auf.

Eine ganz andere Erregung trieb uns um, als wir die Reportage von Peter Repka lasen – Mitgefühl, Wut: "Pfeifen verboten, klatschen keine Pflicht" ist ein einmaliges Zeitdokument, das anrührt. Repka zeichnet den Einmarsch der Roten Armee in Bratislava detailliert auf. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ist mit dieser literarischen Reportage brillant festgehalten.

Michael Blum

Wir wünschen allen LeserInnen und MitarbeiterInnen einen guten Start ins neue Jahrtausend (doch, doch: Diesmal ist es wirklich so weit!).