Tänzer in Moll

Zum Ausklang des Bach-Jahres

Michael Jäger

"Froh, wie seine Sonnen fliegen / Durch des Himmels prächt’gen Plan, / Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig, wie ein Held zum Siegen." Beethovens Neunte. Vorher hieß es: "der Cherub steht vor Gott", und das ist die Fortsetzung. Die Erwähnung Gottes hat alles zum Stillstand gebracht, aber nicht zum Abbruch. Die Entwicklung kulminiert in einem überraschenden Tonartwechsel. Einem Doppelpunkt. Danach ähnelt der schmissige Lauf der Brüder einem Militärmarsch, auch einem Karnevalsumzug. Das Karnevalistische hat René Leibowitz hörbar gemacht. Vorher war Rosenmontag: "alle Guten, alle Bösen" folgten einer "Rosenspur". "An den Brüsten der Natur", vulgo Weinreben, hatten sie getrunken. So scheint es, der Karneval habe durch die Erinnerung an Gott nur einmal kurz unterbrochen werden sollen. Dass Beethoven für den frohen Flug das Tempo drosselte, hielt man für einen Schreibfehler.

Aber vielleicht war’s keiner. Die Hanover Band fasst es nicht so auf. Endet nicht jeder Karneval im Aschermittwoch? Dieser Flug ist schon ähnlich langsam wie bald die Fuge "Seid umschlungen, Millionen", die sich, kaum hat sie einen Blick auf "die ganze Welt" geworfen, sogleich dem "Vater" "überm Sternenzelt" zuwendet. Was sind Sonnen auf der Himmelsbahn, wenn nicht Sterne? Es ist alte Mythentradition, dass gestorbene Helden zu Sternen werden. Auch bei Platon kann man es lesen. In Paul Gerhards "Abendlied" heißt es: "Der Tag ist nun vergangen, / Die güldnen Sternlein prangen / Am blauen Himmelssaal. / So, so werd ich auch stehen, / Wann mich wird heißen gehen / Mein Gott aus diesem Jammertal." Die Erwähnung Gottes war wohl kein bloßer Sonntag zwischen Werk- oder Karnevalswochen, sondern eine Todes-Evokation. Auf "Tod" hat sich "Gott" ja gereimt: durch die Freude haben wir Christus, "einen Freund, geprüft im Tod", "und der Cherub steht vor Gott". Dazwischen der Karneval: "Wollust ward dem Wurm gegeben", "Küsse gab sie uns und Reben". Es geht karnevalistisch weiter, das ist zu hören, aber eben auf der Sternenbahn.

Der Text spielt auch auf den 19. Psalm an, wo es von der Sonne in Luthers Übersetzung heißt, sie gehe "wie ein Bräutigam" aus der "Kammer" und freue sich "wie ein Held zu laufen den Weg". Die katholische Übersetzung ist noch näher an Beethoven, scheint von ihm schon beeinflusst: "Sie frohlockt wie ein Held und läuft ihre Bahn". Freilich hat der Schiller-Text, den Beethoven vertont, die Metapher geändert: Nicht die Sonne gleicht dem Helden, sondern die Brüder gleichen ihm und den Sonnen. Nachdem sie aus der Lebens-Kammer getreten sind, laufen sie "wie seine Sonnen" immer noch weiter, langsamer fürs Auge, in Wahrheit rasend schnell. Ein langsamer Marsch, der trotzdem kein Trauermarsch ist! So variiert Beethoven seine eigenen Marsch- und Geh-Vorbilder aus früheren Symphonien.

Er will ja, nachdem er das Leben vor den Tod geführt hat, auch wieder zurückkehren und dann erst wirklich leben. Das bringt die Doppelfuge zum Ausdruck, in der das eschatologische "Seid umschlungen, Millionen" – die Millionen der "ganzen Welt", der gesamten Gattung Mensch – mit dem irdischen "Freude, schöner Götterfunken" eine vollkommene Harmonie bildet. In einer solchen Perspektive ist auch der langsame Marsch von Geschlagenen einer Revolutionsniederlage, zu denen Beethoven sich rechnen musste, nicht nur traurig.

So unmöglich, wie es suggeriert wird, ist Reden über musikalische Semantik nicht. Freilich fragt man sich, ob es nicht besser wäre, über sie zu schweigen, da sie ähnlich schwer aushaltbar ist wie die Semantik der Kirchen. Wer Musik nur "fühlt", kriegt ja auch alles mit, wenngleich unbewusst. Aber diese Semantiken könnten eine Waffe sein. Ihre Gemeinsamkeit ist das Selbstbewusstsein der Melancholie, die sonst überall verpönt ist, in Big Brother wie in jedem Büro. Wer nicht traurig ist, wird sich doch auch nichts trauen, "test the West" natürlich immer ausgenommen. Und er wird nicht zwischen Trauer und Trauer unterscheiden können. Denn nicht jede Melancholie ist human.

An Franz Schuberts Neunter, der Großen C-Dur-Symphonie, fällt zuerst ihre Länge auf. Beethovens Neunte ist zwar auch lang, aber dort scheint mehr zu geschehen, wo "per aspera ad astra" die ganze Menschheit einmal durchschritten wird. Damit verglichen wirkt Schuberts Musik irgendwie stationär, im Wortsinn "fesselnd": Man meint, er hätte sich kürzer fassen können, und möchte auf keinen Fall, dass er es tut. Seine Melodien hören sich an, als hätte man sie immer gekannt. Ich höre, also bin ich, sagt sich der Gast eines Schubert-Abends. Das kann schmerzlich sein wie beim "Leiermann": "Barfuß auf dem Eise wankt er hin und her, / Und sein kleiner Teller bleibt ihm immer leer." Das ist in der Neunten eine überwiegend erfreuliche, ja wirklich "himmlische" Länge, wie Robert Schumann schrieb. Nun sind es aber gerade Beethovens fortschrittliche Gehbewegungen, die hier ins Stationäre geführt werden. Man braucht nur den ersten Satz dieser Neunten mit dem ersten Satz von Beethovens Erster zu vergleichen: das musikalische Objekt ist dasselbe, nur der Gestus ist um eine Kleinigkeit, die alles neu macht, verschieden.

Man weiß, dass Schubert sich mit dem versunkenen Ruhm des Heiligen Deutschen Reichs auseinander setzte. Tat er es in der Neunten? Dann wird der Gestus nachvollziehbar. Da ist aus Beethovens zukünftigem Marsch der vergangene, so schon in die Ewigkeit eingegangene Prozess der Geschichte geworden. Ein Fortschritt, der sozusagen nach Spiel-Ende noch einmal eine Ehrenrunde dreht. Wolfgang Sawallisch arbeitet das heraus. Die Tonwiederholungskette als Hauptthema des vierten Satzes, dieses Ta-ta-ta-ta, erst artig munter, dann brachial triumphierend, erinnert bei aller Seligkeit, die sie anfangs mitteilt, doch auch an den Steinernen Gast in Mozarts Don Giovanni. Dieses Motiv kommt überhaupt häufiger vor und ist immer wieder mit dem Tod assoziiert, so bei Haydn, Die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz, und auch im Eingangschor der Matthäuspassion, wo Bach sie allerdings durch Trochäen punktiert hat. Schubert scheint von Geschichte nichts gebrauchen zu können als ihr Ende. Vielleicht kannte er Schillers Satz: "Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit."

An einer Stelle wird es abgründig, und gerade sie setzt eine bedeutende Tradition in Gang. Der zweite Satz träumt und trauert elegisch. Zuerst kommt er gemessen daher, dann prallt er auf eine Wand. Da zuerst und gar nicht selig erklingt das Ta-ta-ta-ta. Nach einem Aufschrei gespreizten Entsetzens verstummt alles, die Pause ist drückend, dann wird der elegische Anfang leise wiederholt. Man kann die Passage durchaus mit der Cherubs-Stelle in Beethovens Neunter vergleichen. Aber sie stellt diese auf den Kopf: Vor dem Ende stehen heißt hier nicht Anbetung, sondern Entsetzen und ist deshalb nicht Ermutigung zum Sieg, sondern Religion nur als Rückbiegung, Erinnerung eben. Die Konzeption eines solchen Satzes, der plötzlich aufkocht, zusammenbricht, in der Generalpause stirbt und dann leise rückblickend fortfährt, wird aufgegriffen in Bruckners neunter, Mahlers zehnter und Schostakowitschs achter Symphonie.

Das Thema der glorreichen Vergangenheit hat auch Richard Wagner beschäftigt, besonders in den Meistersingern von Nürnberg. Man möchte auch hier im ersten Motiv der Ouvertüre das Ta-ta-ta hören, trochäisch punktiert wie bei Bach, eingeleitet durch einen zwar kraftvollen, aber abwärts führenden Quartschritt. So werden die Meistersinger ins Stadion des Volksfestes einmarschieren. Anders als bei Schubert wirkt die Tonkette lächerlich, in Karajans Interpretation ist das gut hörbar. Warum derselbe Ton dreimal, fragt man sich. Reicht nicht einmal? Die Gloriole des Historischen verwandelt sich da in die Frage, warum es sich nicht seinem Begriff gemäß verhält und also endlich verschwindet. Davon handelt die Oper ja: Dass die Meistersingerzunft, so sehr man ihren deutschen Ruhm anerkennt – "verachtet mir die Meister nicht" –, doch nicht begreifen kann, dass ihre Zeit abgelaufen ist und deshalb mit gelindem Fußtritt hinausbefördert werden muss. Einer soll sogar durchaus verachtet werden, der als Jude gezeichnete Beckmesser. Die böse Komik des Motivs erhellt auch daraus, dass es das Hochzeitslied aus Wagners Lohengrin spiegelt, dessen Ta-ti, ti ti ("Treulich geführt") zum Ti-ta, ta ta umkehrt, um von der Impotenz zu berichten, dass der Zunft die Ausrichtung einer Hochzeit entgleitet. Was sich in der Ouvertüre schon ankündigt: Wie Moos quillt immer wieder Liebeslyrik zwischen den Steinen des Zunftmarsches hervor.

Das Marschmotiv wird zum Thema vervollständigt durch eine aufwärts führende Tonreihe von solcher Banalität, Pedanterie und überflüssigen Ausführlichkeit, dass man ergriffen ist und lacht. Am Ende der Durchführung wird dieselbe Reihe nach unten geführt: Immer ein Ton tiefer, da ginge es doch mit dem Teufel zu, wenn wir nicht früher oder später auf die Reprise stießen! Es ist aber keine Satire satirisch genug, um die Mehrzahl der Interpreten vom Staatsernst abzubringen, und wie das meistens gespielt wird, könnte allemal auch die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten, die ja auch nicht der Komik entbehrt, so eingeleitet werden.

Fern aller Satire ist "Siegfrieds Trauermusik" in der Götterdämmerung. Ist das ein Trauermarsch? Wagner hat zwei sehr verschiedene Gesten überlagert, einen marschartigen, der Liszts Faust-Symphonie abgelauscht sein mag – abgebrochen monotones Tamtam, das den Rahmen des Geschehens abgibt, ohne es eigentlich zu berühren –, und darin verpackt die Wiederholung der gar nicht marschartigen Motive aus Siegfrieds Geschichte und Vorgeschichte. Hier hat das Wesen von Geschichte, doch wohl der deutschen, aufgehört, eine Bewegung in der Zeit gewesen zu sein. Es ist zur Ideen-Gruppe geronnen. Das marschmäßige, somit zeitliche Signal, das den Rahmen gibt, ist nur Form der Erinnerung, nicht der Sache. In ihr baut Wagner Siegfrieds Motive so zusammen, dass man im ersten Teil niedergeschlagen denkt: Er ist nicht mehr, und im zweiten getröstet: Er wird aber gewesen sein. Da erklingt dann Siegfrieds Hauptmotiv, das seine Ewigkeit bezeichnet, und quer zu dessen tragischem Moll hat sich das Tamtam in dickes siegendes Dur gewandelt.

Warum der trochäische Dreivierteltakt im Eingangschor der Matthäuspassion? Das ist merkwürdig: wäre da nicht der martialisch ernste Text (Jesu Kreuzigung), möchte man fast einen Tanz heraushören. Seit Bachs Musik "historisch rekonstruiert" wird, ist dieser Chor tatsächlich schon als Reigen auf Frühlingswiesen aufgeführt worden. Gegen vorausgegangene romantische Verfremdung war das erfrischend, aber welchen Reim soll man sich machen? Wenn der Chor ein Tanz ist, dann erinnert er an einen anderen Tanz: die "Sinfonia" am Anfang der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums. Dort antwortet Hirtentanz auf himmlisch tanzende Engel. Die Engel tanzen im Daktylos, die Hirten, naturgemäß etwas schwerer, antworten trochäisch. Die Engel schwingen aufwärts wie Schmetterlinge, die Hirten bleiben an die Erde – den Grundton – gebunden, bilden den Aufschwung aber ab.

Im Eingangschor der Matthäuspassion verschmelzen Grundton und Trochäus zu einer Art fixen Idee. Diese Tänzer in Moll sind depressiv und bleiben doch Tänzer: Auch sie hören eine Botschaft und würden gern froh antworten. Aber wo ist das Frohe? Das müsste ihnen ja einsichtig sein. Sie bewegen sich in der Warteschleife eines unmöglichen Tanzes. Der Chor hat die Form einer Cantus-firmus-Motette, das heißt, über einem bewegten Geschehen erhebt sich unbeirrt ein Choral. In aller Regel dient das Bewegte dazu, den Choral zu exponieren, oft schwebt er ruhig triumphierend über musikalischen Wassern wie die Form überm Stoff. Ein Beispiel findet man passenderweise in der Kantate "Ein feste Burg ist unser Gott". Der Eingangschor der Matthäuspassion weicht davon aber ab. Dieser Cantus firmus schwebt nicht über, sondern ertrinkt in den Wassern. Man hört ihn kaum unter den "Wen"-, "Wie"-, "Was"-, "Wohin"-Rufen der depressiven Tänzer, die wohl vor allem deshalb so intensiv fragen, weil sie die Antwort übertönen wollen. In Peter Schreiers Interpretation ist das hörbar.

Stillstand, in späterer Fortschritts-Musik perhorresziert, wäre hier erwünschteste Ruhe. Wenn Walter Benjamin vom "Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen", spricht, darf man auch an Bach denken.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)