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Blockaden der Entwicklung

Otto Singer

Wer kennt nicht die Firma Zapf Umzüge? Einst ein so genannter selbst verwalteter Alternativbetrieb, inzwischen der drittgrößte private Arbeitgeber in Berlin-Kreuzberg und auf dem besten Weg an die Börse. Das Unternehmen fing bescheiden an: Klaus Emil Heinrich Zapf, Jura-Student aus dem Kraichgau in Baden, kaufte einen gebrauchten Ford-Transit und begann mit Entrümpelungen und Klaviertransporten. Allmählich wuchs auch das Umzugsgeschäft und schließlich machte es sich einen Namen als  "West-Berlins bestes Umzugskollektiv". Offensichtlich ein Beispiel für erfolgreiches Unternehmertum und schumpetersche Dynamik. Ganz so, wie wir uns den guten Kapitalismus vorstellen. Die Innovativen sind erfolgreich, Märkte entfalten sich und wir alle profitieren schließlich vom produktiven Eigennutz des kreativen Entrepreneurs. Solche marktwirtschaftlichen Möglichkeiten der Existenzgründung gibt es nicht überall. In vielen Teilen der Welt herrscht nicht nur Armut, es ist auch kaum möglich, Unternehmen zu gründen und aufzubauen. Die unternehmerischen Entfaltungsmöglichkeiten, wie sie das Beispiel des Umzugsspezialisten Zapf kennzeichnen, fehlen entweder oder sind in unterschiedlichster Weise eingeschränkt. Es gibt einen Schutzraum für ein paar wenige etablierte Firmen (und oft in Staatsbesitz), sodass es für Newcomer kaum möglich ist, mit neuen Ideen und produktiveren Methoden neue Güter und Dienste anzubieten.

Wenn wir die Rückständigkeit der Entwicklungsländer betrachten, wird kaum einmal nach den Möglichkeiten unternehmerischen Handelns gefragt. Es ist viel die Rede von Armutsbekämpfung und der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums. Seltener wird indessen auf die Durchsetzung von Marktreformen verwiesen und nur vereinzelt wird die Reform der institutionellen und strukturellen Gegebenheiten für das unternehmerische Handeln thematisiert.(1) Warum sind gerade kleine Unternehmen, soweit sie überhaupt legal existieren, vielfach der Willkür der Bürokratie ausgesetzt und vom Ausschluss aus Märkten bedroht? Und warum ist der Finanzsektor vielfach durch Privilegien gekennzeichnet, der es nur wenigen Unternehmen ermöglicht, zu ökonomisch vertretbaren Konditionen in Kreditbeziehungen einzutreten? Dies alles lässt sich mit dem Wirkmechanismus eines weltweit sich durchsetzenden kapitalistischen Handlungsprinzips nicht erklären. Hier ist eine andere Dialektik von Arm und Reich am Werke. Die Ungleichheit und die ökonomische (und auch die politische) Entrechtung hat nur wenig mit Marktfreiheit und Kapitalismus zu tun.

Erstaunlicherweise wissen wir gar nicht sehr viel über die Voraussetzungen für eine erfolgreiche kapitalistische Entwicklung. Die historische Forschung verweist zwar vielfach auf die impliziten gesellschaftlichen Faktoren (wie etwa die kulturellen Grundlagen) und den notwendigen Zusammenhang mit anderen Wachstumsvoraussetzungen (wie etwa Bildung, Technik oder auch die klimatischen Bedingungen). Gleichwohl kennen wir keinen eindeutigen Schlüssel zur Prosperität. Warum kann ein Unternehmen wie Zapf in Berlin sich auf dem Markt so schnell etablieren und warum wird ein Unternehmensgründer in der dritten Welt vielfach in die Schattenwirtschaft abgedrängt? Die Entwicklungspolitik hat es bisher nicht vermocht, die institutionellen Hemmnisse einer erfolgreichen ökonomischen Entwicklung zu beseitigen. Und sie hat auch zu wenig nach diesen institutionellen Defekten geforscht. Der jüngste Weltentwicklungsbericht betont zwar, dass die politischen und rechtlichen Grundlagen für eine umfassende Entwicklung zu schaffen seien. In diesem Zusammenhang wird – was keineswegs unwichtig ist – vor allem an Partizpation, Gleichheit vor dem Gesetz und demokratische Entscheidungsprozesse gedacht. Übersehen wird auch nicht, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch durch gesellschaftliche Diskriminierung oder den Ausschluss einzelner Gruppen der Bevölkerung behindert wird.

Es gibt aber noch andere, zentrale Schwachstellen. Sie zeigen sich dort, wo die Entfaltung unternehmerischer Initiative behindert wird, dort, wo produktiver Leistungswillen verkümmert oder überhaupt nicht entstehen kann. Natürlich, es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften, die Bildungssysteme existieren vielfach nur in Ansätzen und erlauben keine allgemeine Grundbildung für alle Menschen. Wir wissen aber auch, dass es viele gut qualifizierte Leute in den Entwicklungsländern gibt, die keine Möglichkeiten haben, ihre Talente und ihre Fertigkeiten ausreichend zu verwerten (und wir sehen auch die Verlockungen der prosperierenden Länder, die diese gut ausgebildeten Menschen mit green cards anziehen). Auf einen wesentlichen Defekt der Entwicklungsfähigkeit hat Hernando de Soto in seinem neuen Buch hingewiesen. (2) Er versucht zu erklären, warum mehr als eine Dekade nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Zwangswirtschaften die von vielen erwartete (und von einigen befürchtete) kapitalistische Revolution, von der schon vorher Peter Berger (3) sprach, nicht eingetreten ist. Er versucht den Grund dafür zu finden, warum der Kapitalismus nur in einem kleinen Teil der Welt erfolgreich ist, während er in einem großen Teil der dritten Welt nur wenig Forschritte macht und auch in den Transformationsökonomien nur in einer sehr vorläufigen Form existiert.

Der Ansatz von de Soto verweigert sich den "linken" oder "rechten" Konzeptionen der Entwicklung. Zu Recht verweist de Soto darauf, dass beide nur den Status quo zementieren. Die rechten Entwürfe waren in der Regel nichts anderes als die Verteidigung der Vorrechte einzelner Gruppen gegen den Rest der Gesellschaft, die Linke verteidigte sie (zumindest im Ergebnis) mit dem illusorischen Vorwand, die Benachteiligten zu schützen oder zu unterstützen. Beide Seiten forderten immer umfangreiche staatliche Eingriffe in die Ökonomie; und beide haben keinen Blick für die institutionellen Hindernisse, die den Benachteiligten systematisch den Zugang zur ökonomischen Aktivität behindern. Die Schaffung rechtlicher und institutioneller Grundlagen für effektives unternehmerisches Handeln wird dagegen von beiden Seiten nur selten thematisiert. Es wird in der Entwicklungspolitik aber heute allgemein anerkannt, dass eine marktwirtschaftliche Entwicklung erforderlich ist, und die Frage, ob die zentralen Entwicklungsimpulse in der Dritten Welt vom Staat oder vom Markt her zu kommen hätten, wird nicht mehr als Entweder-oder behandelt.

Die Betonung institutioneller Aspekte knüpft an Gedanken der neuen Institutionenökonomie an, die heute auch in der entwicklungspolitischen Debatte langsam Fuß fassen. (4) Für de Soto geht es aber nicht um das allgemeine Problem von Transaktionskosten, wichtig erscheinen ihm vor allem die Formen und die Struktur der ökonomischen und sozialen Verfügungsrechte (Property Rights). Ein Thema, das bereits bei Marx zu einer zentralen Kategorie wurde, dort aber in ein dualistisches Klassenkampfmodell gezwängt wurde, das auf die Abschaffung privater ökonomischer Verfügungsrechte drängte und seine Anhänger in einen fatalen historischen Zerstörungswahn trieb. Es wurde übersehen, dass gerade die privaten und individuellen Verfügungsrechte, die auf einem demokratisch legitimierten und transparenten Rechtssystem beruhen, auch die Grundlage für effizientes Wirtschaften bilden und damit einen allgemeinen Zugang zu Wohlstand und Selbstverwirklichung bieten. Und übersehen wurde zugleich, dass die Definition dieser Property Rights, die immer in den Zusammenhang mit anderen, auch kollektiven Rechten und Regelungen gestellt sind, einen recht langen historischen Weg benötigt, bis diese ökonomisch funktionieren und gleichzeitig die Basis für die uns heute geläufige Zivilgesellschaft abgeben können. Der erfolgreiche Kapitalismus im Westen ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses der Herausbildung dieser grundlegenden Eigentumsrechtsverhältnisse.

De Soto legt die Erkenntnis nahe, dass die Rechtssysteme der Entwicklungsländer immer nur Teilelemente der westlichen Eigentums-Verrechtlichungen übernommen haben und immer mit anderen, damit nicht kompatiblen, Gesellschaftselementen verknüpft worden sind. Der "Kapitalismus" in der dritten Welt (und auch in den Transformationsökonomien) ist deshalb zumeist nur eine Karikatur der westlichen Marktwirtschaften, in der einzelne mächtige Schichten oder Eliten – oft auf der Grundlage eines rigiden politischen Systems, aber auch durch kulturelle und ethnische Ausschließungen – ihre Pfründe und ihre Privilegien sichern und bewahren können (was die Linke fälschlicherweise immer als Ausdruck des ungezügelten Kapitalismus interpretiert). Die ambivalenten Eigentumsstrukturen in diesen Ländern zementieren diese Privilegienökonomie (etwa über staatlich garantierte Monopole). Als Folge der verkrusteten Eigenstumsstrukturen ist nur eine Form der Liberalisierung möglich, nämlich in der Schattenwirtschaft. Diese Untergrundökonomie, die in vielen Ländern einen beträchtlichen Teil der produktiven Gesamtleistung ausmacht,(5) wird von de Soto als eine latente Form einer künftigen kapitalistischen Entwicklung angesehen. Allerdings: Die Informalität des Vermögens, insbesondere des Immobilienvermögens der Armen in Entwicklungsländern, verhindert, dass dieses Vermögen als Kapital fungieren kann. Damit wird den Armen die Möglichkeit der Teilnahme an einer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung genommen.

Doch dieses Kapital der Armen ist nur totes Kapital, weil es zwar etwa als Haus genutzt werden kann, nicht aber – wie im Westen – als Grundlage für Investitionen und produktive Grundlage des Wirtschaftens. Mangels Legalisierung kann die Immobilie weder verkauft noch als hypothekarische Sicherheit beliehen werden. Und da das Grundstück nicht förmlich registriert ist, verfügt es nicht einmal über eine Adresse. Die Folge: Der faktische Eigentümer (oder besser: der Besitzer) wird nicht mit Infrastrukturleistungen beliefert und die Teilnahme am politischen Leben wird dadurch ebenfalls verhindert. Er muss dann zwar auch keine Steuern zahlen, dies ist aber weder für den Unternehmer noch für das Gemeinwesen ein Vorteil, da der Untergrundunternehmer vielfach zur Zahlung von Schutz- oder Schmiergeldern gezwungen ist, die keine ganz vorteilhafte oder gar effiziente Form der öffentlichen Güterversorgung ermöglicht. (6) Dennoch: Diese informellen Unternehmer sind ein wesentlicher Kern der  Wirtschaft in den Entwicklungsländern. Es ist der latente Mittelstand und damit auch die Grundlage einer künftigen Zivilgesellschaft. Was fehlt, ist der allgemeine Zugang zu formellen und offiziellen Systemen des Eigentumsrechts. Man könnte eine solche Transformation der Eigentumsrechts-Strukturen auch als trickle-up-Economics bezeichnen. Und dieser Prozess ermöglicht dann Erfolgsgeschichten wie jener der Firma Zapf in Kreuzberg.

Anmerkungen

1 So etwa im jüngsten World Development Report der Weltbank, der sich ganz dem Thema Armutsbekämpfung widmet und dabei die Strategie zum Abbau der Armut in den Zusammenhang mit den institutionellen Wachstumsfaktoren der Entwicklung stellt; allerdings werden die unternehmerischen Kapazitäten nur in geringem Maß thematisiert: http://www.worldbank.org/poverty/wdrpoverty/report/index.htm

2 Hernando de Soto 2000: The mystery of Capital, Why Capitalism Triumphs in the West and Fails Everywhere Else. London: Bantam Press.

3 Es ist gleichwohl ein interessantes und immer noch wichtiges Buch: Peter Berger 1986: The Capitalist Revolution. New York: Basic Books.

4 Vgl. dazu etwa auch die Themen der von der Weltbank getragenen Konferenz Beyond Economics: Multi-disciplinary Approaches to Development (11.–13. Dezember 2000) in Tokio: http://www.gdnet.org/tokyo2000/. Als Überblick vgl. auch Doner, R., Schneider, B., 2000: The New Institutional Economics, Business Associations and Development. Genf: International Institute for Labour Studies: http://teddy.law.cornell.edu/public/english/bureau/inst/papers/2000/dp110/index.htm

5 Einen umfassenden Überblick zur Schattenökonomie geben Schneider, F., Enste, D., 2000: Shadow Economies: Size, Causes, and Consequences. Journal of Economic Literature 38, 77-114.

6 Auch bei uns gibt es solche Bereiche, etwa die halb- und extralegale Untergrundökonomie der Prostitution; auch aus ökonomischen Gründen ist deshalb eine faktische Verrechtlichung auf legaler Basis angezeigt.

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)