Pfeifen verboten, klatschen keine Pflicht

Eine Reportage aus den Augusttagen 1968 in Bratislava

Peter Repka

Die direkt unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse im Rahmen des Einmarschs der Roten Armee in die CSSR im August 1968 entstandene Reportage wurde erstmals am 22. August 1990 in gekürzter Form von der Zeitschrift Kultúrny Civot publiziert. Die Kommune dokumentiert die Reportage hier nun erstmals und vollständig auf Deutsch.

"Meine Reportage für Mladá tvorba hatte ich am Nachmittag abgetippt und in die Druckerei getragen. Dann schlenderte ich – wie stets nach der Arbeit – durch die Stadt, um einem Freund das Fahrrad, mit dem ich in Krakau gewesen war,  zurückzubringen. Das Wetter war angenehm, die Leute kauften sich Karten für eine Dampferfahrt, die Donau blinkte im grellen Sonnenlicht. Männer in leicht verschwitzten Hemden mit Aktentaschen unterm Arm traten aus den Ämtern. Für einen friedvollen Sommerabend, an dem ein lindes Lüftchen weht, hat Bratislava nicht genug Gartenlokale. In der Druckerei arbeiteten sie gerade an der nächsten Nummer des Wochenblatts Civot, in der ein Bericht über unsere Grenzsoldaten erscheinen sollte. GLAUBEN WIR DEN JUNGS! "Wenn uns jemand – da sei Gott davor – unerwartet überfällt, sind wir imstande ihn aufzuhalten, bis Verstärkung kommt!"

Mit Freunden trank ich bis zum späten Abend Whisky. Er war kühl und dunkel "wie Tee". Wir kamen auf ein paar ausgezeichnete Ideen. Ein Picknick wollten wir machen, zusammen auf einer Wiese sitzen, baden und Volleyball spielen, auf der Hütte bei Miky Gulasch kochen. Und auch für unser gutes altes Europa wollten wir uns viel stärker einsetzen als bisher, jede Menge Vorsätze. Wir waren selbstbewusst und (damals habe ich mich noch geschämt, aber heute sage ich es) verliebt in unser eigenes Land.

Zur selben Stunde rief der damalige Vizeminister des Inneren Viliam Šalgoviè eine handverlesene Gruppe von Mitarbeitern der Staatssicherheit zu einer Krisensitzung zusammen. Der Leiter der Presseagentur ÈTK war aus seinem Urlaub in der UdSSR zurückgeeilt. Gegen sechs Uhr abends wies er sein Büro an, dass ohne sein Wissen keine Nachricht über die Tschechoslowakei hinaus gelangen dürfe. Bei Hrušovo, auf der ungarischen Seite der Donau, werden im Glanz der von der Sonne blutrot gefärbten Wellen heimlich die letzten Vorbereitungen vor der Befehlserteilung  getroffen. In dieser Nacht wird hier eine Pontonbrücke gebaut.

Die Nacht ist schwül, eine Augustnacht. Ich liebe es, nachts auf dem Nachhauseweg am Rundfunk vorbeizugehen. Da muss ich immer an jene nächtlichen Aufnahmen aus dem Jahre 1964 denken – an die Begeisterung der jungen Techniker, die ihren vorzüglichen Arbeitsplatz beim Rundfunk riskierten, nur um mit uns im Studio bis Mitternacht Gedichte aufzunehmen, Gedichte, die zwar nie gesendet, aber später immerhin von ein paar Leuten gehört wurden. Sie waren einsame Läufer. In der Nacht saß immer jemand im Rundfunk, Licht brannte, man trank Kaffee und erwartete auf den Sonnenaufgang.

Beim Rundfunkgebäude am Leninplatz ist der "Merkur", eine Kneipe, in der schon so mancher Regisseur ein Gläschen trank, wenn eine Sache fertig war und auf Sendung ging. Das Licht der Straßenlaternen scheint durch das Blattwerk der Bäume, nichts regt sich, der asphaltierte Bürgersteig ist klebrig, wie mit Bier übergossen. Barfuß in Sandalen, unsere Füße sind staubig, im verqualmten Raum haben Miky und ich den Wodka Marke Kord zurückgewiesen, weil er wie Parfüm schmeckt. Dann müssen wir uns zwischen Wodka wyborowa und Moskovskaja entscheiden. Wir sind erschöpft, trinken den Moskauer, starren ins Leere, zusammenhanglos fasele ich etwas von Tamara, von meiner Sibirienreise, doch auch das ist ermüdend, der Ventilator setzt aus. Noch zwei, drei Stunden und die Sonne geht auf. Liebend gerne würden wir baden.

Im sauberen kühlen Bett ausgestreckt, höre ich Panzer.

Von der Stadtmitte aus (dort sind die Hurban-Kasernen, fällt mir ein) eilen die brüllenden Panzer hinaus, in die Felder. Selbst bei Sonnenaufgang ist der Durst da. Weit und breit kein Tau.

– Arme Kerlchen, die Soldaten, bedaure ich sie schläfrig, da war mal wieder einer scharf auf Alarm.

Morgens um halbfünf weckt mich mein Vater.

– Die Russen haben uns überfallen! Steh auf! Die Russen besetzen uns!

"Behalte diesen trüben, traurigen Morgen gut in Erinnerung, mein liebes Kind."

In diesem Moment dachte ich, der Jüngste Tag sei angebrochen. Etwas Riesiges, Atemabschnürendes und Morbides war hautnah, ich traute meinen Augen nicht, aber es war deutlich zu spüren. Das Blut im Staub der Erde war warm, als sei es lebendig.

Ich setzte mich ans Telefon, mir zitterten die Hände. Die Freunde hoben nicht ab.

Da unten auf dem Pflaster, auf den Straßenbahngleisen rattern die Ketten fremder Panzer. Ich wähle die Privatnummer eines bekannten Sportreporters und bitte ihn, einen Aufruf an die Welt zu richten, damit sie die Sowjets nicht zu den olympischen Spielen in Mexiko zulassen. Hier vor unseren Fenstern geht was Schlimmes, Dreckiges vor, es ist Krieg. Hier ...

So sind wir pathetisch geworden, die ganze Nation. So sind wir wieder in die Geschichte eingetreten, mit Tränen in den Augen.

– Ja, ja, aber ob ich es noch bis zum Rundfunk schaffe ...

Die Welt ist verrückt geworden, die Welt hat keinen Sinn, alles ist umgekippt, unsere Regierung ist ebenso hilflos wie du, Durchschnittsreporter. Junge fremde Soldaten (sie verstehen unsere Sprache nicht) mit seltsam zusammengepresstem Kiefer, voller Angst. Die ängstliche unsterbliche Armee. Ein dreijähriger Junge ist hingefallen und fängt an zu weinen, ein Soldat der unerschrockenen und unbesiegbaren Armee erstarrt, reißt die Maschinenpistole hoch.

Steh auf und geh. In die Straßen, in deine Stadt. Ein bleicher Morgen, ich gehe die fast menschenleere Straße hinunter. Alles dauert schrecklich lange. An den Ständen liegen lächerliche Zeitungen aus, mit Nachrichten von gestern. Der Tod ist durch die Stadt gefahren und hat die Gerechten eingeschüchtert. Ich weiß jetzt, was gemeint ist, wenn man von einem sagt, das Herz habe sich ihm zusammengekrampft. Nirgendwo ein fester Punkt. Ich lebe seit meiner Kindesbeinen in diesem Stadtteil Bratislavas, bei der Brauerei, ich erinnere mich an alles, was uns, die wir hier leben, traurig gemacht hat, doch das hier ist das Schlimmste. An der Stelle, wo wir Klickern gespielt haben – steht ein Panzer, an den Stellen, wo wir Verstecken und Fußball gespielt, wo wir das erste Mal geraucht haben – steht ein Panzer. Unter den Kastanien, wo ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst habe – steht ein Panzer. Ein Panzer fährt auf die Kirche zu.

Der Priester am Altar der Blumentalkirche liest wie üblich die erste Frühmesse. Mit bebender Stimme. Und als er sich nach dem Evangelium umdreht, bleibt er eine Weile stehen und – sagt nichts. So hat er eine Weile geschwiegen,  Aug in Auge mit den Gläubigen, und ich war wütend, weil er nichts gesagt hat, kein Sterbenswort. Erst viel später habe ich begriffen, dass diese Frühmesse, in die ich aus Angst gegangen bin, an diesem Tag die einzige menschliche Handlung war, die so geblieben ist wie sonst, unverändert seit Jahrhunderten. Im Durcheinander und in der Hoffnungslosigkeit dieses ersten Tages war die Liturgie etwas Festes, Zeremonielles, Starkes und Dauerhaftes. Die Messe ändert sich nicht, selbst wenn Krieg ausbricht. Da sind keine Kriegsmessen, da ist keine Liebe, die das Böse segnet. Da ist Bangigkeit. Da ist das Vor-sich-selbst-hingestellt-Sein. Da ist Schmerz. Keiner kann uns helfen, wenn wir uns nicht selbst helfen. Eine Predigt war nicht nötig, jeder hatte nur er selbst zu bleiben im Augenblick der Wahrheit. Ein Wunder geschah, wir verfielen nicht in Selbsttäuschung.

An diesem Tag verkaufte niemand Blumen vor der Kirche. Um alles in der Welt kann ich mich nicht daran erinnern, ob Bettler da gewesen sind. Es waren bestimmt welche da. Ja, ich glaube, dass welche da waren.

Vor der Hauptpost stiegen Offiziere der Angreifer aus einem Panzer, sie beratschlagten sich und studierten (von Ferne nicht lesbare) Karten oder Pläne ihrer Bewegung und Aufstellung vor dem Gebäude.

Die Menschen traten ihre Arbeit an. Und die fremden Soldaten, mit denen keiner kämpfen wollte, fühlten sich wie geohrfeigt.

– Ty zdes rabotaješ? Skolko ludej zdes rabotajet? (Du arbeitest hier? Wie viele Menschen arbeiten hier?; Anm.d.Ü.)

– Rund zweitausend.

– Sag, dass sie alle nach Hause gehen sollen, sag es im Radio durch, meinte der rund fünfzigjährige Major – Figur, Gang und Schnauzbart á la Stalin -, der jeden (wohl im Geiste des Internationalismus) gleich duzte. Er teilte die Soldaten in zwei Gruppen auf und befahl die Räumung  des Gebäudes. Noch nicht mal zehn Uhr, und der Arbeitstag war schon zu Ende. Man begann Radio zu hören, zwischen Angst und Hoffnung, unter Verlust sämtlicher Illusionen.

Im neunten Stock stand eine Wache beim Aufzug, dessen Türen geöffnet waren, damit sie jederzeit hinunterfahren konnten. Aus Schreibtischen hatten sich die Soldaten eine Barrikade gebaut. Sie schafften 42 Kisten Munition und zwei Kisten von Hand zu bedienender Maschinenpistolen hinauf. Auf der Terrasse hatten sie in jeder Ecke schwere Maschinengewehre aufgestellt, und in die Mitte des Gebäudes, wo das Dach höher war, platzierten sie ein Maschinengewehr zur Flugabwehr (von fünf Soldaten zu bedienen). Das bunte Völkchen da unten, das sie aus der Arbeit verjagt haben, befindet sich im Sichtfeld des Fadenkreuzes, mitten in der eigenen Stadt. Es reicht ein Druck auf den Abzug.

Die fremden Streitkräfte suchen krampfhaft nach etwas, in Sprüngen rücken sie über die Plätze. "Die schießen und morden, und wir arbeiten."

Ich sitze in der Kühle der Redaktion, in Unterhosen, und Beatka flickt meine Hose zusammen, die ich mir beim Lauf durch die überfüllten Straßen zerrissen habe. Sie weint und sieht nicht, was sie näht – bis zum Abend wird es halten, und dann, dann ... Er raucht, Peter raucht.

Am 21.8.1968 habe ich angefangen zu rauchen.

Morgens um halb sieben kamen zwei Männer in Zivil (sie sprachen slowakisch) in das Rundfunkgebäude an der Zochova-Straße. In ihren feierlichen schwarzen Anzügen gingen sie zum Direktor des Tschechoslowakischen Rundfunks und teilten ihm mit, dass weiter gesendet werden könne, aber

1. unter Aufsicht und

2. getrennt von Prag.

Der Direktor rang mit sich und sagte schließlich: Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Bis heute weiß er nicht, wie erleichtert seine Angestellten damals gewesen sind.

Die großen Städte sind seit dem Morgen besetzt. Die Okkupanten rücken in die kleineren Städte ein. In Jihlava sehen unsere bewaffneten Soldaten aus den Kasernen hilflos den schrecklichen Vorgängen zu. Ein junger Mann stellt sich den heranrollenden Panzern direkt in den Weg. Der Panzerführer scheint einen Moment lang zu zögern und fährt langsamer. Auch der Mann schwankt. Der Panzerführer gibt Gas, die Maschine heult auf, doch der Mann bleibt stehen. Die Menschen riskierten ihr Leben, um seinen zerquetschten toten Körper von der Straße wegzuziehen. "Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren ..." Steh auf und lauf, im Namen der Opfer, steh auf und lauf!

Um acht Uhr sind wir schon alle in der Redaktion. Schockiert, angstvoll, ja, am ganzen Leibe zitternd. Draußen vor dem Fenster, im Garten des Slowakischen Nationalrats, überall Panzer.

Wir schweigen. Auch der Rundfunk Bratislava ist verstummt. Jemand hatte dem Sprecher gesagt: Du brauchst nichts mehr zu sagen, sie sind schon hier. Die Soldaten aus den gepanzerten Transportwagen waren auf Nummer sicher gegangen. Sie hatten den Sender unterbrochen. Sechs Soldaten waren an der Pforte zurückgeblieben und ließen keinen hinein. Ihr Kommandant war höflich. Angeblich kannte er hier jemanden. Eine Gruppe von Moskauer Journalisten sollte die provisorische Nachrichtenübertragung sicherstellen. Ihr Befehl lautete, nur Material aus der Zeit vor Januar 1968 zu bringen. Sie griffen nach dem, was ihnen im Archiv als erstes ins Auge fiel – die Silvesterestrade des Jahres 1967. Unter diesen Journalisten war, so hieß es, auch ein Genosse, der noch vor Jahresfrist den Korrespondenten des Moskauer Rundfunks in Bratislava markierte. In jener Zeit hatte er mit unseren Redakteuren immer Volleyball gespielt.

Plötzlich ist unsere Redaktion voller Leute, voller unbekannter Leute von der Straße. Es muss etwas getan werden. Es muss etwas getan werden. Die Leute stehen da, und wir blicken uns in die Augen. Finger beginnen in die Maschine zu hämmern.

An alle. An alle. An alle. An alle. An alle. An alle.

Ewige Schande – sie währt länger als ein Menschenleben – fällt auf den, welcher widerstandslos der Gewalt nachgibt! Unwürdig die Nation, welche die Sklaverei akzeptiert! Wir haben keine Waffen in den Händen, und dennoch sind wir nicht machtlos! Unsere Verachtung ist jetzt die stärkste Waffe. Auf, zeigen wir, dass wir stärker sind als Panzer, Granaten, Maschinengewehre! Lasst uns stolz und frei bleiben!

Wir haben keine gemeinsame Sprache mit ihnen! Strafen wir sie durch Schweigen! Warten wir ab, unsere Zeit wird kommen! Lassen wir uns nicht provozieren! FÜR DAS TSCHECHISCHE UND SLOWAKISCHE VOLK. DIE WAHRHEIT WIRD SIEGEN!

Ein etwa achtzehnjähriges Mädchen reißt atemlos das Papier aus der Maschine, setzt sich an eine andere Maschine und schreibt. Ihre Freundin überlegt, wo sie es vervielfältigen kann. Im Schriftstellerverband setzen sich einige alte Herren hin und schreiben – einen Antrag zum Kauf von Cognac. Ihre Hoffnungslosigkeit ist größer, ihr hatten sie ihr Leben geweiht, sie hatten dieser Sowjetunion geglaubt. Das Radio: Wir können nicht mehr sprechen, sie sind schon hier, sie ... die Stimme verstummt, der Apparat heult auf ... Stille. Die Störung kommt nicht von unserem Empfänger.

London. Eva aus Bratislava, ein super Au-pair-girl, hübsches Gesicht, dunkles Haar, weißer leichter Mantel: "Ich kam gegen 10.30 an. Helena saß gerade beim Frühstück – die Zeitung in der Hand – 2. p.m. RUSSIAN INVADED CZECHS. Erleichtert fingen wir an zu lachen, es wird interessante Neuigkeiten geben, wir sind mal wieder im Brennpunkt der ersten Seiten. Noch immer ist  nichts in unser Bewusstsein vorgedrungen. Der Schrecken der Schlagzeile hat uns nicht erreicht. Die Engländer übertreiben gern. Als Marta vom Einkauf zurückkommt, vermeldet sie Einzelheiten. Es klingt frostig. Helen ruft am Flughafen an. Schock. Die Flüge sind eingestellt, die Verbindung ist unterbrochen. Langsam wird es ernst."

Wir rennen mit unserem Text zum Haus der Bildung, wo uns ein junger Schauspieler hingeschickt hat. Ein grauhaariger Herr, fast schon ein Rentner, glättet die Matritze, verteilt die durchdringend riechende Farbe gleichmäßig auf der Walze, krempelt die Ärmel hoch, öffnet den obersten Hemdenknopf, dreht die Kurbel und sagt, eine Zigarette zwischen den Lippen:

– Das letzte Mal habe ich so etwas während des Aufstands gemacht.

Vor dem Gemüseladen rissen mir die in der Schlange Wartenden die meisten Flugblätter aus der Hand. Einige wollten mir Fünfkronenscheine geben. Auf der Nachrichtenwand vor dem ÈTK-Büro war unser zweiter Text. Zehn Minuten später hingen dort rund zwanzig Erklärungen. Die Menschen waren alle im selben Moment zu sich gekommen, wie auf den Schlag einer Zauberrute. Ich renne durch das okkupierte Bratislava, und es geht mir gut. Allein in Bratislava habe ich dreihunderttausend Mitbürger – jetzt eigentlich Brüder und Schwestern. Dieses Gefühl hatte jeder. Das gemeinsame Unglück lehrte uns, einander zu lieben, dem anderen gegenüber aufmerksam zu sein. An diesem Tag lernten wir, dass auch ein liebevoll gereichtes Glas Wasser eine große Sache ist.

Die Straßen sind abgesperrt. Wir machen den fremden Soldaten klar, was sie getan haben, dass sie nicht bei sich zu Hause sind, dass sie kein Recht dazu haben, dass sie alle Gesetze verletzt haben. Arme Teufel, sie pflichten selbst bei, dass sie nicht wissen, was sie da machen, sie erfüllen Befehle, sitzen auf den Panzern, sinnen vielleicht über das nach, was sie gesehen haben, als sie endlich mal in die weite Welt reisen durften. Etwas unbequem zwar, in Panzern, aber immerhin. (Touristenverkehr – UdSSR: Jeder hundertachtzigste Bürger konnte im Jahre 1967 ins Ausland reisen. In der Tschechoslowakei ist im gleichen Zeitraum jeder sechste Bürger ins Ausland gereist.) Jetzt sitzen sie da, erfüllen eine wichtige Aufgabe, schützen diese Leute vor der Demokratie, und die schicken sie weg. Ach, Welt, wie bist du kompliziert, da muss Ordnung gemacht werden.

Und in der Überzeugung, dass daheim in der Gubernija alles einfacher ist, umklammern die Soldaten sicherheitshalber die geladenen Maschinenpistolen in ihren Händen fester. Sie sind sauer, dass wir sie nicht willkommen geheißen haben. Na, Ivan, wie würdest denn du chinesische Panzer im Geiste des Internationalismus auf dem Roten Platz begrüßen? Würdest du jubeln, Blumen bringen, Vodka anbieten? Selbst Jewgenij Jewtuschenko, inzwischen Staatsdichter, frohlockte nicht, als ihr Angst um den Ussuri hattet: "Über unsre Grenze schleicht der dumpfe Geist/ des göttergleichen Khan/ Ohnmächtig droht der Scheinheilige/ von Besessenheit gequält:/ Sterilisieren! Und zielt auf Wahrheit und Gewissen .../ In der verqualmten Dämmerung/ hüpfen sie vor dem neuen Khan/ mit ihren Köchern/ Doch wenn sie ausschwärmen/ schlägt die Glocke zum Alarm/ und es wird genügend Siege geben/ für ein neues Kulikofeld."

– Ivan, warum machst du so etwas? Ivan, ich knie hier nieder, auf unserer heiligen Erde, und auf Knien bitte ich dich: Verschwinde.

Der kleine Soldat, ein asiatischer Junge, hat Tränen in den Augen und schweigt. "Russische Kinder, spielt nicht bei uns Soldat, geht heim, haltet euch an Mamas Rockzipfel fest." Einige sind radikal: "Kommt den Primitivlingen nicht zu nahe, sie haben Läuse!" Einige dürsten nach Vergeltung: "Russen, ihr seid keine Feigen, Mao wird es euch noch zeigen."

Ein weiterer Text muss vervielfältigt werden, wir rennen auf den Platz. Man hört Geschieße, das ich im ersten Moment nicht wahrgenommen habe. Jano reißt mich während einer minutenlangen wütenden Feuersalve russischer Soldaten zur Seite. Es ist immer noch absurd, mitten in der Stadt, am helllichten Tag. Peter Legner, einer wie wir, ein paar Schritte von uns entfernt, tot. Die Frauen in der Kirche, wohin sie vor der Schießerei geflüchtet sind, weinen. Wir stehen in einer Seitenstraße, Schießpulver in der Luft, in den Händen Flugblätter, die ... was? Steh auf und geh, steh auf und geh weiter. Ein Krankenwagen fährt an uns vorbei. Ein blutüberstömtes Kind, sie haben ein Kind getötet. Wir wollen uns schlagen, wir wollen uns schlagen. Sich nur nicht provozieren lassen. Selbst wenn sie auf die Kirchenglocken schießen, selbst wenn eine halbe Million von ihnen auf den Panzern sitzt. Wir sind stärker, weil wir denken, weil wir fühlen, weil wir am Mittag, punkt zwölf Uhr, alle, die ganze Stadt, das ganze Land zwei Minuten lang auf den Straßen stillstehen, die Hymne singen und weinen. Unter dem Dach irgendeines alten Gebäudes drehen Mädchen die Kurbeln, um zu vervielfältigen, was wir im Stillen denken, damit wir es in der Stadt verteilen können. Eine von ihnen geht mit mir.

 

London. "12.30 – Nachrichtenzeit. Endlich fange ich an zu kapieren. Mein Kopf, voll Bitterheit in meinen Händen, das Make-up zerfließt unter den Tränen. Ich greife nach der Zeitung, nein, nein, das kann man nicht lesen. Das ist doch nicht möglich. Die Debatte mit Lisbeth ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Bescheuert. 12.45. Moritz ruft an. Die Ärmste, ich muss zu ihr zum Victoria. Ich kaufe die Evening News – im Zug schäme ich mich nicht wegen meiner Tränen. Die vermodernden Damen gegenüber sind aus Stein. Engländerinnen. Die britische Regierung drückt die Solidarität ihres Volkes aus. Gleichgültige, in sich selbst versunkene Alltagsgesichter. Was anderes kann man letztendlich erwarten.

Kde domov mùj. Where is my home?

Fernsehnachrichten – das ist schlimmer als die auf Papier. Studenten sitzen vor den Panzern. Rauch steigt zum Himmel auf. Vor der russischen Botschaft eine Demonstration.

Sieben Getötete. Dubèek haben sie eingesperrt. Keine Angst, du hast einen guten Samen gesät, es werden einmal Eichen daraus. Die Nationen sind aufgewacht, man darf nicht länger schlafen. Nur – keinen Widerstand leisten. Keinen Widerstand leisten? Drehst du dich nicht im Grabe herum, Samko? Fälle!"

 

Vor dem Gebäude der Pravda sprangen wir auf einen Lastwagen, wir schrien und rezitierten bis zur Heiserkeit.

"... und gäbst du auch dein Leben in diesem wilden Streit<R>fälle nur und wähl´ den Tod,<R>sei nie zur Sklaverei bereit."

Mädchen, Mädchen, wir brauchen eine Flasche Klebstoff. Hundertmal haben wir uns verloren, hundertmal wiedergefunden, wir kleben Flugblätter an die Schaufenster, die ganze Stadt müssen wir abklappern. Die Frau vom Buffet gibt uns Klebstoff, eine ganze Literflasche, und belegte Brötchen dazu, für das Bier reicht die Zeit nicht. Wir müssen uns beeilen. Vor dem Hochschulklub ist ein Mikrofon installiert. Mädchen, Mädchen, die Rezitation vom Lastwagen ist verklungen, wir stehen Panzern gegenüber, die ihre Rohre schwenken, wir stehen da, und unten klatschen die Leute. Mir läuft es kalt über den Rücken.

Eine Prozession mit Fahnen und Gesang zieht die Zochova-Straße hinunter, um den Rundfunk zu befreien. Schon drängen sie sich hinein, und die Soldaten zielen auf die Menschen, die eine Fahne überreichen. Es wird ein Massaker geben, befürchtet der Rundfunkredakteur. Er entreißt den Leuten die Fahne, um sie hinauszuhängen, wie er sagt, er bittet die Ankömmlinge, sich nicht abschießen zu lassen. Wir müssen am Leben bleiben. Und den fremden Soldaten erklärt er:

– Tolko flag. Tolko flag. (Nur eine Fahne; Anm.d.Ü.)

– Auf Halbmast, ruft das Volk.

Das war wohl die erste Fahne auf Halbmast in Bratislava.

Es wurde ein Lautsprecher ins Fenster montiert, vom Zimmer der ehemaligen Zensurbehörde aus sprachen sie zu den guten Leuten, auch vom Flur aus wurde gesprochen, und wenn sie nicht mehr konnten, schalteten sie um nach Bystrica und Prag.

Um halb drei kamen wieder die Russen mit ihrem Transporter, wütend, dass Bratislava sendete. Erst da erfuhren sie, dass Banská Bystrica das bekommen hatte, was sie den vor dem Rundfunk versammelten Menschen mitteilten: Verbindungen, wunderbare Verbindungen. Das Weißbuch der sowjetischen Journalisten schreibt dazu auf Seite 125: "Alle illegalen Radiosender waren durch ein kompliziertes System miteinander verbunden. Kein Zweifel, dass dieses System schon vor dem 21. August geschaffen wurde." Gewiss, schon jahrelang waren alle Studios des Tschechoslowakischen Rundfunks durch ein kompliziertes System über mehrere Schaltkreise untereinander verbunden. In der Nacht vom 20. auf den 21. August hatten die Verbindungstechniker vom Kollaborateur Hoffman die Anweisung bekommen, die legalen Schaltkreise zu entkoppeln. Die Übertragung des Aufrufs, den das Präsidium des Zentralkomitees der KSÈ an das Volk der Republik gerichtet hatte, war morgens um halb zwei während des ersten Satzes unterbrochen worden. Ein ganzer Schaltkreis war jedoch erhalten geblieben, entweder hatte man ihn vergessen oder die Techniker wussten, dass der Befehl, den sie erfüllen sollten, sehr schlimm war, sehr schlimm für das Volk dieses Landes. Es war ein historisches Ereignis, dass dieser Schaltkreis erhalten werden konnte.

In der Hauptpost fühlten sich die Soldaten nicht wohl. Sie hatten andauernd das Gefühl, dass sich in den Räumlichkeiten noch jemand versteckt hielt. Misstrauisch hörten sie dieses Geschramme und andere verdächtige Geräusche, die aus einigen Räumen drangen, ja sie rissen sogar ihre Maschinenpistolen hoch, um bereit zu sein zum Kampf mit dem Konterrevolutionär. Der Pförtner hatte alle Hände voll zu tun, um sie davon zu überzeugen, dass dieser Krach notwendig und bei uns eine ganz normale Sache war. Ein Fernschreiber. Der Kommandant der Wache gab jedoch nicht so schnell auf.

– Na gut, aber warum schreibt es, wo doch keiner da ist?

– Hör zu, Major, das ist so ein Gerät, auf dem du einen Brief schreiben und sofort die Antwort bekommen kannst.

– Na gut, aber warum schreibt die Maschine so viel? Warum hat sie so viel aufgeschrieben?

Er nahm ein Lineal und Maß nach, wieviel Meter beschriebenen Papiers sich hinter dem Fernschreiber auftürmten. Zum Glück kam ihr vorgesetzter Offizier und erklärte den Soldaten die Bedeutung der Maschine, die so viel Misstrauen erzeugt hatte.

"Balaganov schüttelte bekümmert das Haupt. Von den Kulturzentren der Welt hatte er außer Moskau nur Kiew, Melitopol und Schmerinka kennen gelernt. Im übrigen war er überzeugt, dass die Erde eine Scheibe ist."

 

London. "Czechoslovak Embassy. Sie haben nicht gelogen. Die Bobbys und die Studentenköpfe. Die Litauer, die Masse der Ukrainer – ihre Hymne ist beeindruckend. Die Polen sind entsetzt und schämen sich für die Teilnahme ihrer Streitkräfte. Die Reporter – das Fernsehen. Ein Kranz auf einer Mauer – zum Gedenken an die Opfer bei uns. (Eine aus Bratislava, Universität.) Ein Appell entsteht. Ich biete meine Schreibkünste an, wir steigen irgendwo hinauf, himmelwärts, auf einen Dachboden, ein ziemliches Durcheinander, zu viele Leute, aufgeregte Gespräche, ich schreibe einen Appell, wir empfangen das Freie Radio, schnell ins BBC TV, sie nehmen ihn an, wahrscheinlich werden sie ihn morgen vor der Demonstration senden.

Vor der Botschaft sammelt eine kleine Engländerin Unterschriften unter einen kurzen, die Aggression verurteilenden Text, der an die UNO geschickt werden soll. Ein junger Mann, ein neurotischer Typ um die fünfundzwanzig, dünnbärtig, mit nervös umherschweifenden Augen hinter der Brille, nimmt erst den Kuli in die Hand, hält dann aber inne.

– Nein, nein, lieber nicht, daheim sind meine Eltern, die hatten schon eine Menge Schwierigkeiten, da habe ich Angst.

Komischer Kauz, es war ihm sichtlich unangenehm, er schämte sich. Sie beruhigte ihn, es ist ja kein Muss, wir verstehen ...

 

Vor der Brücke hielt ein Kameramann ein Auto an und zog den Film aus seiner Kamera. "Nehmen Sie das, nehmen Sie das mit raus, damit die Welt sieht, was hier los ist."

Früher Abend. Keine zwölf Stunden trennen uns vom gestrigen Frieden. Wir sind gealtert. In ein paar Minuten ist eine gesamte Generation erwachsen geworden. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, es wimmelt, wir atmen schwer. Mit der Flasche Klebstoff, kaputt, staubig, fix und fertig (auf unserem Plakat an der Štúr-Straße mit Menschenblut besiegelte Worte) sitze ich mit diesem Mädchen auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstands, der voller Metallkäfer ist. Auf dem Rücken haben sie weiße Kreuze als Erkennungszeichen – Lenins Kreuzritter. Das Mädchen sitzt in seinem neuen Rock auf dem Gehsteig, es fiebert. Unser Anblick muss elend sein. Auf einmal wachen wir auf. Was ist mit unseren Familien? Sind wir hungrig? Wo sind wir? Ist das noch unsere Heimat? Was hier geht vor? Mir wird bewusst, dass ich über dieses Mädchen, das heute den ganzen Tag mit mir herumgerannt ist (in gegenseitiger Aufmunterung: steh auf und geh), gar nichts weiß, bis auf eines – dass sie sich für diesen Tag nicht schämen muss.

– Wie heißt du?

– Viera.

Gut. Gut, dass du Viera (slowakisch: viera – der Glaube, Anm.d.Ü.) heißt.

Ein älterer Mann kommt angerannt. Sie haben sie getötet, getötet, getötet, stammelt er. Wie verrückt renne ich mit Viera zur Philosophischen Fakultät. HIER HABEN SIE SIE GETÖTET – EIN 17-JÄHRIGES MäDCHEN! Margita Košanová, Danka, es ist schon ein Jahr her, und ich bin immer noch ganz fertig, wenn ich diese Zeilen schreibe.

Ein kleiner Soldat hat, von der Donau her, mit dem Maschinengewehr seine internationale Pflicht erfüllt. Danka hatte es nicht mehr geschafft, hinter der Steinsäule der Fassade in Deckung zu gehen. Mit der bloßen Hand schlägt keiner einen Panzer durch. Mir tun die jungen Leute von der Moskva leid, sie tun mir leid wegen ihrer internationalen Pflicht, Wehrlose zu erschlagen. Vielleicht bin ich für sie, wenn sie so wollen, ein tollwütiger Kleinbürger, doch es tut mir leid, daß eine so vielköpfige Gesellschaft wie die UdSSR ihre Kinder das Hassen lehrt. Welche Schuld lasten sie uns an – dass wir das friedliche Zusammenleben mit allen Menschen, ja, auch mit denen, die im Westen leben, propagiert haben? Für sie sind, ihrem Weißbuch zufolge, Demokratie, Humanität, freie Willensäußerung und schöpferische Initiative nur liberalistische Phrasen. Sie können nicht verstehen, dass etwas, was sich Papa Iljitsch ausgedacht hat, nicht unbedingt das Allergenialste sein muss. Das macht mir angst.

He, Ivan, der du Danka Košanová getötet hast, wie fühlst du dich, wie sind deine Träume, schläfst du gut? Eure Flugblätter erinnern uns ständig daran, dass ihr uns mit eurem Blut losgekauft habt, aber bei uns sagt man, dass die gute Sache sich selbst lobt. Nun, jetzt ist unser heiliges Blut geflossen. Doch wir sind weniger, wir können Blut nicht in Hektolitern messen.

Ein Stoßgebet zum Himmel: Wann werdet ihr mit unserer Befreiung fertig sein?

Und die Antwort aus dem Hubschrauber: Wir werden gehen, wenn wir unsere edle Mission erfüllt haben.

Aus der Druckerei haben sie Kultúrny Civot gebracht. Wir sitzen auf dem Rasen und verteilen die Zeitungen. Heute umsonst – morgen für Kopeken. Auf einem Tisch, an dem sonst Frauen Früchte verkaufen, haben wir einen Unterschriftenstand eingerichtet. FÜR DIE FREIHEIT, FÜR DUBÈEK, FÜR DIE DEMOKRATIE, FÜR UNSER GLÜCK, FÜR DEN ABZUG DER FREMDEN STREITKRÄFTE, FÜR DIE WÜRDE DES MENSCHLICHEN WESENS. Voll Trauer unterschreiben wir für die ersten Opfer unter uns. Eine verweinte Mutter mit ihrem Töchterchen auf dem Arm kommt vorbei. "Mami, warum schreibst du?" "Damit es dir gut geht, mein Liebes." Ein alter Mann im Rollstuhl kommt, Arbeiter kommen, drücken uns die Hand, unterschreiben wortlos und gehen weiter. Man hat uns ein Paket mit Essen gebracht. Viera, die am Morgen wieder aufgetaucht ist, tröstet die Leute.

Bis zum heutigen Tag bewahrt irgendeiner von uns jene fünfzigtausend Unterschriften auf, die wir am Nachmittag dieses ersten Tages gesammelt haben. Nach einer Woche wussten wir nicht, was damit. An die UNO schicken. Wir haben sie nicht abgeschickt. Die Welt schwingt schöne Reden, aber sie hilft uns nicht. Wir müssen wissen, dass uns keiner erniedrigen kann, solange wir uns nicht selbst erniedrigen, wir müssen diejenigen sein, die sich durch kein Geschenk verführen, durch keine Drohung beugen lassen, wir müssen das können, wenn wir überdauern wollen. Das haben wir unterschrieben. Besser aufrecht stehend zu sterben als auf Knien zu leben.

"Diese Schlacht haben wir gewonnen. Aber wir wissen, dass der Kampf noch nicht zu Ende ist. Doch ebenso, wie wir die Okkupation der Republik abgelehnt haben, lehnen wir auch die Okkupation des Geistes ab. Wir werden immer und unter jeglichen Umständen für die Freiheit des Wortes, der Gedanken und der Ideen eintreten."

Die Soldaten der Okkupationsarmeen sind hungrig.

 

London. "Abend. Unser ewiges Wort an der Kirchentür für die Russen. Gott, vergib ihnen. Und stärke unsere teure Heimat.

Wir haben schon eine Fahne am Auto. Das Blau stammt aus Helenas Halstuch. Wir haben einen berührt, der von zu Hause gekommen ist. Gestern noch bist du daheim gewesen.

Endlich verspüre ich Hunger. Es ist 3.30 a.m. Die Unseren zu Hause, Gott beschütze sie. Meine Goldigen, ob ich euch jemals wiedersehe? Mein Herz blutet, ich weine wie ein kleines Kind. Oj, rjabina kudrjavaja ...

... za mirnyj trud otcov a za šèastje našich materej? (...für die friedliche Arbeit der Väter und das Glück unserer Mütter; Anm.d.Ü.) Wohl kaum.

Und Manko? Der durchlebt jetzt seine kritischsten Tage, er legt gerade die Reifeprüfung für das Leben ab."

 

Kinder fürchten sich vorm Wind, Männer vor der Nacht. Nachts kommen die Schatten. Diese Nacht hat bewirkt, dass bei der Olympiade in Mexiko sowjetische Sportler zu unseren hinübergeschlichen sind, um sie zu umarmen und sich mit ihnen ablichten zu lassen. Als unsere Jungs nicht davon begeistert waren, gingen die Sowjets betreten und mit undurchdringlichen Mienen weg. Es kamen Nächte, die wir am Radio durchwachten.

Wir sind "die Jugend, die nicht die harte Schule des Lebens durchlaufen musste", sofern man freilich die Umstände, wie uns die Kindheit gestohlen wurde, nicht als eine gewisse Schule des Lebens oder zumindest als Erfahrung bezeichnen möchte. Wer Saint-Exupérys Kleinen Prinzen gelesen hat, der weiß, was das ist, und warum mir heute traurig zumute ist. "Die Jugend, welche nicht die harte Lebensschule durchlaufen hat", wie das Weißbuch der Nachrichtengruppe sowjetischer Journalisten behauptet, "diese Jugend war formbares Material für die Meister subversiver Tätigkeit." Eine Lektüre, bei der ich wieder auf das gestoßen bin, was wir uns vom zartesten Kindesalter an aus der Schulbank gemerkt haben: Alle westlichen Zeitungen sind eine "laute Fanfare des Pentagon". So behauptet es die laute Fanfare des Kreml. Die sowjetischen Journalisten begründen unwiderlegbar, dass es wirklich nötig gewesen sei, mehr als eine halbe Million bis an die Zähne bewaffneter Streitkräfte in die Tschechoslowakei zu schicken", denn "in der Tschechoslowakei tauchten immer mehr langhaarige junge Leute auf", die sogar Reklame für Coca Cola auf ihren Trikothemden trugen!

Eine Welt der Angst. Ein Gesicht, das sich versteckt. Die Häuser schwarz, schwarze Zylinder der Dächer. Den Laden dichtmachen. Die Welt hat nicht mehr genug Gefühl auf’s Brot, nichts mehr übrig für das Leid.

Einen schönen Feiertag hat Jana heute. Tränen in Venedig.

 

Und es ward Abend und es ward Morgen, der zweite Tag. Auch die Leute sahen, dass das, was hier getan wurde, schlimm war.

 

Was für ein Tag ist heute eigentlich? Welche Stunde? Ist es warm? Kalt? Geht die Sonne auf? Sie schießen auf einen Krankenwagen. Die Sprecher sitzen schon drei Tage am Mikrofon. Ein russischer Abgesandter: Die Sitzung des Sicherheitsrats ist eine widerliche Komödie.

Am Morgen ist die ganze Stadt in Schwarz. Wie wenn im Märchen Trauer herrscht, so haben wir die Stadt in einen schwarzen Rock gehüllt. Auf dem Bürgersteig kleine Grabhügel aus Blumen für die toten Fußgänger. Zu ihrer würdigen Ehrung ganze Haufen Geld, von dem keiner etwas wegnimmt, bis auf einige fremde Soldaten. Eine Verkäuferin verkaufte kein Brot an einen russischen Soldaten, der setzte sich auf die Erde und weinte bitterlich.

Vor den sich drehenden tödlichen Rohren der Panzer halten Studenten auf den Stufen zur Universität einen Hungerstreik ab. Andrea ist gekommen und bietet uns an, bei ihnen daheim zu wohnen. Eine verrückte Autofahrt. Wir werfen Exemplare von Kultúrny Civot aus dem Fenster. Ein sowjetischer Jeep verfolgt uns, doch der Fahrer eines Trolleybusses, ein Goldschatz, versperrt ihm an der Kreuzung den Weg. Wieder hören wir die TASS lügen: "Nach den Nachrichten, die aus der Tschechoslowakei kommen, ist die Lage im Land im großen und ganzen normal."

 

London. "Ich habe das Freie Radio erwischt. Wie schön, sie zu hören. Was für ein Unterschied zwischen unseren Leuten und den Kollaborateuren mit ihren widerlichen Stimmen. Ein Frauenzimmer, irgendeine Russin, stellenweise die Sprache der Schande, der ekelhaft pathetische Tonfall der Fünfzigerjahre. Müssen das armselige Geister sein. Die Unsrigen dagegen sind phantastisch, es ist herzergreifend, wie und was sie senden – daheim, vor den Fremdlingen, für ihre Leute. Es ist schrecklich, liebe Nation, sei tapfer! (Die Verräter sind für immer aus dem Herzen des Volkes geschleudert worden.) Ich zittere am ganzen Leib, wenn ich mir all das Grauenhafte, Gemeine und Schmutzige vorstelle. Ich habe die Pravda gesehen. Haben auch unsere Leute an ihr mitgearbeitet? Ich hoffe, ja. So gerne hätte ich mitgeholfen, und ich spüre, dass ich mächtig Angst habe, um so mehr bewundere ich die daheim (im Grunde bin ich ein Angsthase und vielleicht sogar ein Feigling)."

"Bürger, sucht Verbindung zum legalen Nachrichtensender des Tschechoslowakischen Rundfunks. Informiert die Mitarbeiter über alles Wesentliche, was in eurer Umgebung passiert ist. Die Informiertheit beseitigt das Gefühl der Einsamkeit und hilft uns durchzuhalten."

Morgens nach acht trafen sich in Bratislava etwas mehr als zwanzig Leute. Das war der harte Kern eines Kollektivs, das sich von wirklich überraschenden legalen Orten aus mit Aufrufen an die Radio– und Kommunikationstechniker auf den Wellen des Äthers meldete. Sendet uns mit allen möglichen Mitteln, sendet an die Antennen aus allen möglichen Richtungen. Hier meldet sich die Stadt an der Donau, es meldet sich die freie Slowakei, Slowaken, Brüder ...

Alle waren jetzt Mitarbeiter des Tschechoslowakischen Rundfunks. Hier das persönliche Zeugnis von einem, der dabei war: "Die Russen sprachen von vierzehn Funkgeräten, die wir aus der BRD bekommen haben sollten. Doch wir haben nicht einmal das benutzt, was sie uns zu Hause anboten, und es hing nicht mit dem Rundfunk zusammen. Wir haben keine anderen Mittel als die legalen benutzt. Ausgesprochen ängstlich waren wir um Legalität bemüht. Anfangs herrschte zwar totale Desorganisation, es wurde ja direkt vor der Nase der vebündeten Streitkräfte gesendet. Erst später zogen wir uns aus dem Stadtzentrum zurück."

Freiwillig teilten sie sich in Gruppen auf. Die Redaktionen mussten in Wohnungen sein. Fünf, sechs Leute bildeten eine Redaktion. Die Beiträge aus den einzelnen Redaktionen trafen an einer Stelle zusammen, jedoch nicht direkt in der Zentrale, von der aus gesendet wurde. "Dort rissen sich die Jungs das Mikrofon gegenseitig aus den Händen, es wurde auf interessante Weise gesendet, aber immer aus Einrichtungen des Rundfunks. Eine Gruppe in Prag sendete mit dem Wissen der verbündeten Soldaten. Es war ihnen gelungen, sie davon zu überzeugen, dass sie im Dienst der Prager Bäckereien standen und per Funk die Verteilung des Brotes organisierten. "Die Stadt an der Donau und die Stadt des Getreides (Sendung in ungarischer Sprache) waren in einem Raum. Die Techniker sagten zu den Sprechern: Macht wenigstens eine Pause, wenn ihr euch das Mikrofon übergebt, damit es so aussieht, als würden wir umschalten."

 

"Wir wechseln den Standort!"

Sobald die eine Station verstummt, meldet sich eine andere. "Sucht uns auf Langwelle. Sie stören uns sogar schon auf Langwelle, versucht es wieder auf Mittelwelle. Wir sind mit euch, seid mit uns."

 

In der Hauptpost sind die fremden Soldaten schon allmählich heimisch geworden. Viel Dreck, Wasser und Matsch auf den Gängen. Elf Toiletten waren verstopft und verunreinigt. Über die Gänge verbreitete sich ein großer Gestank. Alles machten sie im Laufschritt. Am Morgen entdeckten sie wieder einen verschlossenen Raum mit verdächtigen Geräuschen. Ein eingeschalteter Kühlschrank stand darin. Am 22. August waren die fremden Soldaten von Morgen an irgendwie nervös, es herrschte eine ungewohnte Hektik, sie hatten eine Ladung Munition bekommen (86 kleinere Kisten und zwei große Kisten von 80 x 80 x 40 Zentimetern). Nach dem Ausladen der Waffen und der Munition fuhren die Autos in Richtung Bahnhof. Die Waffen wurden an die Soldaten verteilt.

Es war ein trauriger, trüber Morgen. Leichter Nebel fiel, der sich nach sieben Uhr auflöste, es blieb den ganzen Tag über klar. Punkt 8.10 Uhr ertönten aus einem Panzerwagen drei schwere Salven, die wie ein Signal für eine ihrer Aktionen waren. Die Schießerei dauerte ununterbrochen von 8.20 bis 8.47 Uhr. Die Soldaten begannen mit der Verbreitung der Nachricht über eine Sitzung von Konterrevolutionären im Gebäude des Slowakischen Nationalrats, von dessen Dach aus jemand angeblich einen sowjetischen Soldaten erschossen habe. Man sagt, dieser Soldaten sei schon tot an diese Stelle gebracht worden und es habe angeblich mehrere solcher wandernder Toter gegeben. Im Gebäude des SNR waren nur Angestellte des SNR und legal gewählte Volksvertreter. Auch bei dieser Aktion wurden – trotz großer Anstrengungen – keine Konterrevolutionäre gefunden. Etwas später begannen die Soldaten weitere Kisten auszupacken.

Punkt 9.25 Uhr fing das Feuer wieder an, diesmal auf dem Neubau der Slowakischen Technischen Hochschule. Nach einer längeren Schießerei machten die Soldaten einen Blitzangriff. Außer den verbündeten Soldaten schoss keiner, der Platz war schon den zweiten Tag durch ihre Panzer und gepanzerten Transportfahrzeuge hermetisch abgeriegelt. Oben im Gebäude, das zwei geräumige Treppenhäuser besitzt, stießen zwei sowjetische Gruppen aufeinander. Danach behandelten sie auf dem Platz die Verwundeten, ein Hubschrauber holte sie ab. "Ich kann bezeugen, wie sie die TH angriffen und wie sie sich auf diese Tat konzentrierten. Nur ein paar Leute konnten ihr Vorgehen verfolgen."

"Am Nachmittag entdeckte ich das leergeräuberte Buffet im fünften Stock. Ich war überrascht, als der Major zu den Soldaten sagte, sie sollten es zuhängen, damit es so aussehe, als sei alles geschlossen. Als ich mich wunderte, sagte er zu mir, es gebe da noch einiges an Waren."

Zum Mittagessen bekamen die Soldaten eine Art Gulasch. Mit den Händen fischten sie das Fleisch aus dem Kessel.

Dazu das Weißbuch auf Seite 124: "In Bratislava schoss man aus versteckten Waffen auf sowjetische Soldaten."

 

An alle An alle An alle An alle An alle An alle.

"Bürger! Wir erleben jetzt den zweiten Tag. Wir werden noch viele bittere Tage erleben. Vor dem Gewissen der Welt und vor ihrem eigenen Gewissen werden es diejenigen verantworten müssen, die das verschuldet haben. Doch heute geht es um mehr. Jetzt werden falsche Propheten aufstehen! Sie werden uns auffordern, die Fahnen zu hissen. Wenn Fahnen – dann schwarze. Für unsere Opfer. Lasst euch nicht provozieren. Die Verräter und Kollaborateure suchen Unterstützung. Unterstützt sie nicht – auch nicht unwissentlich. Hört immer nur auf diesen Wahlspruch: DIE WAHRHEIT WIRD SIEGEN!"

 

Die Mädchen wurden schöner in diesen Tagen. Sie waren traurig, stolz und schön.

Die Soldaten hielten Filme ans Licht, die für uns ungewöhnliche östliche Bräuche festgehalten hatten. Ich hatte eine Trikolore am Hemdenaufschlag, da hielt mich ein mir unbekannter Bursche an: Kamerad, tu das weg, sie schießen drauf. Auch auf Mädchen in Schwarz schießen sie. Steckt euch keine Blumen an, denn das ist eine Provokation! Hört auf zu leben, denn das ist eine Provokation!

In der Zeit, als wir feststellten, dass die Dinge sowohl legal als auch freiheitlich sein konnten, schoss ein anderer in die Fenster des Operationssaals einer Kinderklinik. Die Soldaten nahmen die Transistorgeräte mit, darauf wickelten die kleinen Buben Briketts ein und hielten sie ans Ohr – auch die nahmen sie mit, und die Buben fragten: Èasy ne nado? (Braucht ihr keine Uhren? Anm.d.Ü.) Irgendjemand schrieb damals den schönen Satz: "Keiner der Erschossenen hatte sich geweigert zu sterben, womit er zur Konsolidierung beitrug." Ján geht mit einem Filzstift durch die Stadt und schreibt Parolen an: "Uns bleibt eine große Waffe – unser Gedächtnis. Zeichnen wir alles darin auf, unterstützen wir es mit Kampftechnik: fotografieren, filmen, Plakate und Aufrufe schreiben. Dies alles wird vor der Welt Zeugnis ablegen. Unser Gedächtnis wird einst aussagen, was bei uns seit diesem Aschermittwoch des 21. VIII. 1968 geschehen ist, unser Gedächtnis wird einst die Namen derer aussprechen, die heute der russischen Geheimpolizei helfen. Unser Gedächtnis wird Kronzeuge sein."

GEBT VLASTA NAHRUNG. ATKA LIQUIDIERT. ATKA LIQUIDIERT. Wir warten auf die Nachricht: KATKA IST IM KREISSSAAL! Dann wird es ganz schlecht stehen. Einmal schrieben meine Freunde und ich die ATRAPPE – Geschichte einer möglichen Katastrophe. Wir hatten alles ziemlich genau vorausgesehen, doch ich schäme mich, denn wir hatten eine prachtvolle menschliche Eigenschaft vergessen – die Fähigkeit, sich zusammenzutun und einander im Unglück zu helfen. "Passiver Widerstand: Halt aus! Hör nicht auf! Schreibe, male an die Wände! Auf Fenster, Mauern, Dächer, auf den Bürgersteig, das Straßenpflaster, den Panzer der Tanker, auf die Stirn des Verbrechens. Überschwemme die Gewalt mit der nackten gefolterten Wahrheit. Werde nicht zur Zielscheibe der Gewalt. Wappne dich mit Gelassenheit. Verachte! Lies! Klebe an! Schicke weiter! Schreibe, zeichne in dich hinein.  Halt aus! Hör nicht auf! Sei treu! Sei Wahrheit! Gib die Freiheit nicht auf!"

Auf dem Roten Platz fünfzehn Menschen. Verbannung.

"Lenin, wach auf, Breschnew ist verrückt geworden."

"HALTET DIE ERDE AN, ICH WILL AUSSTEIGEN!"

Das Weißbuch, Seite 128-129: "... die der Art und dem Ort der Herausgabe nach voneinander unabhängigen Aufrufe hatten gleichen Charakter und Inhalt. Es war erkennbar, dass den Autoren der Flugblätter über eine einheitliche Liste mit provokativen Parolen verfügten, die bewiesen, dass es sich nicht um zweifelhafte persönliche Meinungen handelte, sondern um eine wütende, professionelle Provokationstätigkeit, die von einem Zentrum geleitet wurde."

Ich kenne dieses Zentrum, von dem aus alles geleitet wurde – das menschliche Herz, das noch nicht aufgehört hatte, sein Heimatland zu lieben. Die Herren auf der Burg wundern sich, wie stolz die legendäre Donau fließt ... aber das hat es alles schon mal gegeben. Übrigens, ich kenne ein Land, in dem am ersten Mai zentral Parolen ausgegeben werden, damit die Leute wissen, was sie zu rufen haben.

Ein russischer Klassiker hat einmal geschrieben: "In Russland gibt es Familiennamen, bei denen du ausspuckst und dich wahrhaftig bekreuzigst, wenn du sie hörst."

 

Die Polizisten waren in diesen Tagen prachtvoll, plötzlich begannen wir sie als Menschen zu schätzen. "Sicherheitskräfte, übt keinen Verrat! Die Nation wird es euch nicht vergessen."

"Schon heute kostet das alles unsere Nationen Milliarden. Geben wir ihnen nichts, was wir nicht müssen. Die Nahrungsmittel brauchen unsere Kinder und wir alle. Sollen diejenigen sie versorgen, die sie hier hergeschickt haben. Weder unser Volk noch seine Repräsentanten haben sie eingeladen."

In der Hitze sitzen die Setzer nur in Unterhosen da, sie arbeiten bis zum Umfallen, tippen goldene Worte, mühen sich weiter ab, obwohl ein Kommandant der fremden Soldaten hier war und mit Erschießung gedroht hat.

"Bis jetzt ist es ihnen weder gelungen, eine Kollaborationsregierung aufzustellen, noch zu beweisen, was sie von Anfang an behauptet haben, nämlich dass die Invasion eine Hilfe bedeute. Diese große Lüge ist vor der ganzen Welt über alle Zweifel erhaben entlarvt worden."

Das war damals, als selbst Mitglieder der ehemaligen Pressezensur Neuigkeiten kolportierten und in der Auflagenzeile einer hastig und unter Aufopferung gemachten Zeitung die Bemerkung erschien: Verzeihen Sie uns alle Rechtschreibfehler, sie sind das kleinste Übel, das uns dies alles eingebrockt hat.

Das Weißbuch, Seite 129: "Reaktionäre Elemente versuchten die Leser davon zu überzeugen, dass die Parolen vom Austritt aus dem Warschauer Pakt (und von der Neutralität; Anm. d. Verf.) von Kollektiven der Werktätigen unterschrieben und ausgehängt worden seien ... Das Leben hat gezeigt, dass alles Erfindung gewesen ist."

Eine schöne Erfindung, leider bisher unerreichbar für unsere Nation, die sich mit allen Fasern nach Frieden sehnt und niemals irgendjemand überfallen hat. Es scheint, dass sich damals wirklich einige Millionen inständig nach Neutralität gesehnt haben. Gesetzt den Fall natürlich, dass keiner unsere Sehnsüchte besser kennt als wir selbst.

Spät nachts erfuhren wir dann doch davon. Es hatte uns also wirklich jemand verurteilt. Die Kommunistische Partei Luxemburgs (wie viele Mitglieder?) hatte das Eingreifen der Sowjetunion gutgeheißen.

 

In dieser Nacht ritten ihre Patrouillen zu Pferd. In dieser Nacht sahen sich zwei unserer Bürger in einer Kneipe in Trenèin Pornofotos an, was den gleich daneben trinkenden russischen Offizieren nicht entging. Sie boten für die Fotos augenblicklich einen Kanister Benzin, den sie unserem Bürger in die Wohnung bringen wollten. Nach Mitternacht kamen sie tatsächlich mit dem Benzin und einer Flasche Cognac.

– Davaj! Gib die Nutten her!

Als sie den Cognac ausgetrunken hatten, gerieten sich die Uniformierten in die Wolle. Jedem gefiel dasselbe Foto.

Das Radio: Die verbündeten Armeen sind demoralisiert. Sie werden ausgetauscht.

 

Eine Riesenkonspiration begann. Am Sonntagmorgen zu einem Zeitpunkt, als laut Fahrplan weder ein Zug ankommen noch abfahren sollte, trafen sich auf dem Bahnhof Bratislava-Nivy dreißig unauffällige Leute. Alle vom Tschechoslowakischen Rundfunk, aber aus konspirativen Gründen taten sie so, als würden sie einander nicht kennen und wären rein zufällig dort, als hätten sie nur Lust auf die poetische Atmosphäre einer verlassenen kleinen Bahnstation gehabt. Jeder verstellte sich, so gut er konnte. Einige spazierten am Ondrej-Friedhof herum, die Erfahreneren lasen interessiert in einem Buch, und der mit der größten Erfahrung radelte locker in der Gegend herum und pfiff vor sich hin. Auf den Wink aus einem grauen Auto begaben sich alle dreißig "unauffällig" zum Zentralmarkt, wo sie sich wie Spatzen auf dem Geländer an der Kreuzung niederließen. Hier flüsterte ihnen jemand zu, sie sollten auseinander gehen, weil Šalgoviè-Leute unter ihnen seien. Dies alles dauerte vom Morgen an bis halb elf.

Eine der Redaktionsgruppen verlieh sich zu Ehren dieses Ereignisses das konspirative Abzeichen (alle hatten es) VK – ve¾ka konšpirácia (große Konspiration; Anm.d.Ü.).

Einige Eifrige nutzten die Situation, um persönliche Rechnungen aus der Vergangenheit zu begleichen. Im provisorischen Sprecherstudio drängte sich einer der Sprecher in den ersten Tagen vehement ans Mikrofon. "Meine Stimme ist den Hörern bekannt, und darum muss ich zum Volk sprechen." Diesen Herrn befiel später die Angst, so dass er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Auch einige bekannte Schauspieler und Schriftsteller – sie waren die Ausnahme, aber dennoch – bekamen Angst. "Die Russen werden uns an der Stimme erkennen."

In dieser Nacht trugen Maja und ich ein Tonbandgerät durch die leere Straße (Ausgangssperre), auf der Panzerwagen patrouillierten; jemand hatte es uns gebracht, weil er meinte, wir sollten mit dem Rundfunk in Kontakt sein.

"Über den freien legalen Rundfunk wollen auch junge Katholiken sprechen. Trotz der bedrückenden Atmosphäre, welche die fremden Soldaten um uns herum erzeugen, freuen wir uns, dass zwischen uns und vielen unserer Freunde, welche die Öffentlichkeit für unfriedliche Elemente gehalten und als Hooligans bezeichnet hat, im Bemühen um das gemeinsame Ziel, das ihr Leben erfüllt, eine Einheit entstanden ist. Zu dieser Freundschaft und Brüderlichkeit führt uns nicht nur die gemeinsame Bedrohung, sondern auch der Glaube an einen gemeinsamen Vater zusammen. Diesen wollen wir bitten: Schenke denen, die für die Freiheit kämpfen, in der die Würde des Menschen liegt, tapferen Mut und die ungebrochene Kraft, bis zum Ende durchzuhalten."

Vlado hat schon eine ganze Woche nicht geschlafen. Er ist erschöpft, er lebt von Tabletten und Zigaretten.

Wir müssen, muntern wir einander auf.

 

Und es ward Morgen, der siebte Tag.

In unserer Gegend ist es nicht Brauch, die Brunnen zu vergiften, und dennoch standen die fremden Soldaten eine halbe Stunde lang von Durst gequält an einem Brunnen, bis sie den ersten Mann, der vorbeikam, anhielten und zwangen zu trinken. Und das Wasser war gut, Mineralwasser.

Was fehlt noch zur völligen Entehrung? Da kommt einer ins Haus, erschießt ein Kind und greift mit seinen Händen nach unseren persönlichen Sachen. Ich verstehe schon wieder nichts mehr, wieder verliere ich jeglichen Kontakt zur Welt. Ich bete mich in den Schlaf, feige, stinkfeige. Nicht vergessen, nicht vergessen! Die Quälerei ist immer die gleiche, und sie besteht darin, dass wir stets mehr in den eigenen Vorstellungen leben als in der Wirklichkeit.

Die Stadt erstrahlte im Schein der Kerzen.

Ende. Wir haben das Ende erreicht. Die Stille hat uns eingeholt. Wir sind ratlos. Kein Gedanke, keine Zukunft. Ende der Bewegung. Station der Trauer. Zum Verrücktwerden. Du hast keine Macht über dich. Wieder musst du von Grund auf lernen, dich wie ein freier Mensch zu bewegen. Wozu? Von allen abgeschrieben.

Damals hatten sie schon die Plakate heruntergerissen. Die "städtischen Galerien" der Volkskunst wurden entfernt. In den Kinosälen schluchzten die Menschen auf, wenn sie das alles in der Wochenschau noch einmal sahen.

Nach ungewöhnlichen, hektischen, tragischen und anstrengenden Tagen saßen drei Männer am Radio. Plötzlich kullerten einem jeden von ihnen Tränen über die Wangen.

– Wir müssen schrecklich gut sein.

– Die Menschen müssen einander lieben.

 

Unsere tschechoslowakischen Soldaten erhielten vom Künstlerensemble der verbündeten Streitkräfte eine Einladung zu einem Freundschaftstreffen mit buntem Programm. Im Befehl, der unsere Soldaten die Teilnahme vorschrieb, war zu lesen: "Pfeifen verboten, klatschen keine Pflicht!"

Aus dem Slowakischen von Angela Repka

Anmerkung:

Entstanden 1969 und erstmals veröffentlicht in Kultúrny Civot 19/22.8.1990; im August 1998 erstmals in der Slowakei erschienen in Peter Repkas Reportagenband Steh auf und geh, der 1970 schon einmal gedruckt, aber damals im Zuge der "Normalisierung noch vor der Auslieferung eingestampft wurde.

 

Peter Repka

wurde am 14.1.1944 in Bratislava geboren und studierte dort Maschinenbau. Von 1966 bis 1970 war er Redakteur der Literaturzeitschrift Mladá tvorba (Junges Schaffen), um die sich seinerzeit die junge geistige Elite der Slowakei zu scharen verstand. Im Jahre 1963 gründete er zusammen mit Ivan Lauèík und Ivan Štrpka die Dichtergruppe "Einsamer Läufer", die dem offiziellen Anpassungsdruck ihr aufrüherisches Streben nach einem eigenen Weg entgegensetzte. Im Frühjahr 1965 reiste Allen Ginsberg eigens nach Bratislava, um die rebellischen jungen Dichter zu treffen. Peter Repka debütierte 1969 mit dem preisgekrönten Gedichtband Das Huhn in der Kathedrale. Sein Reportagenbuch Steh auf und geh wurde 1970 im Zuge der sich verschärfenden "Normalisierung" sofort nach dem Druck wieder eingestampft.

Aufgrund seiner Heirat siedelte der Autor 1973 in die Bundesrepublik Deutschland über. Seit dem Umbruch 1989 ist er wieder im slowakischen Literatur– und Kulturleben präsent. Inzwischen sind die ersten beiden Bände seines Lyrikprojekts EI-SEN-BAH-NEN unter dem Titel Ei-sen-bah-nen (1992) und Weggefährtin Wüste (1996) in der Slowakei erschienen. Seit Juni 2000 gibt es die Ei-sen-bah-nen in einer bibliophilen Buchausgabe auf deutsch (Edition Thanhäuser, übertragen von Angela Repka, mit Holzschnitten von Christian Thanhäuser).

Im September 1994 würdigte die Slowakische Akademie der Wissenschaften in Bratislava das lyrische Schaffen der "Einsamen Läufer", das nach den Worten des renommierten slowakischen Literaturwissenschaftlers und Kritikers Milan Hamada "in unserer Dichtung, ja in unserer Kultur, einen einzigartigen Stellenwert" hat, mit einem internationalen Symposium.

Das Buch Steh auf und geh erfuhr im August 1998, dreißig Jahre nach dem Ende des Prager Frühlings, eine Neuauflage, erweitert um die auch als singuläres literarisches Zeitdokument wertvolle Reportage über den Einmarsch der Sowjets und ihrer Bruderarmeen in Bratislava.

 

COPYRIGHT:

Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)