Zeitdiagnose: Erregung

Eine Metabetrachung der anschwellenden gesellschaftlichen Hysterie

Martin Altmeyer

Deutschland im Fieber: BSE, Nazis, Parteispenden – das Skandalkarussel dreht sich immer schneller. Ist die Republik hysterisiert, bewegt sie sich zwischen Verharmlosung und Übertreibung, wie der Spiegel titelte? Unser Autor spürt den deutschen Erregungen nach und analysiert die Hintergründe der Angstlust.

 

Skandale als Inszenierungen des kollektiven Unbewussten

In der Debatte über die "Bovine Spongiforme Enzephalopathie", vulgo: Rinderwahn, kletterte die Fieberkurve der öffentlichen Erregung noch einmal ein paar Grade – ganz so, als ob das Millenniumsjahr in seinem Ausklang zu einem letzten Höhepunkt getrieben werden müsste. Als das erste auf deutschem Boden geborene Rind mit der gefährlichen, auf den Menschen übertragbaren Hirninfektion endlich gefunden war, löste diese Nachricht in den Medien eine wahre Flut der Berichterstattung aus. Dem gewöhnlichen Zeitungsleser etwa prangte das seit zehn Jahren bekannte Unheil von den Schlagzeilen der Titelseiten entgegen, er konnte seine politische Bedeutung in zahllosen Leitartikeln studieren, sich im Wissenschaftsteil über Ursachen und Konsequenzen eingehend informieren und im Feuilleton der Tiefenbetrachtung des Phänomens widmen, während der Schauder der Gefahr vom Kopf in die Gedärme zog. Die von der öffentlichen Meinung getriebene Politik ergriff hektisch Maßnahmen, die vor Jahren schon fällig gewesen wären, und warnte vor dem Fleischgenuss, den sie Tage vorher noch im Einklang mit Agrarindustrie und Metzgerinnung als unbedenklich gepriesen hatte. Im Wechselspiel von Verharmlosung und Übertreibung entwickelte sich ein Erregungsdiskurs, bei dem die Sache selbst aus dem Blick und die Phantasie außer Kontrolle geriet.

Dabei waren wir, als die Kuh und ihre vom Menschen erzeugte ansteckende Verrücktheit zum öffentlichen Skandalthema wurde, noch mittendrin in der emotionalen Aufwallung, die der Tod eines kleinen Jungen im Schwimmbad von Sebnitz ausgelöst hatte. Mit einer Inkubationszeit von drei Jahren diskutierte die Nation die Frage, ob der Sohn eines deutsch-irakischen Ehepaars in der ostdeutschen Kleinstadt wirklich unglücklich ertrunken oder von jungen Neo-Nazis aus rassistischen Motiven barbarisch ertränkt worden ist, gefühllos beobachtet und systematisch vertuscht von der sympathisierenden Gemeinde. Die Anklage der verzweifelten Eltern, die ihre selbst ermittelten Untersuchungsbefunde über die Bild-Zeitung schließlich an die Öffentlichkeit brachten, fand deshalb so große Aufmerksamkeit, weil sie ins Bild der rechten Gefahr passte, die aus dem Osten der Republik drohte und seit dem Sommer die Medien beherrscht hatte. Währenddessen hatte der nationale Diskurs über das Wesen der deutschen Leitkultur gerade eine interessante Wendung gefunden und die interessante Frage aufgegriffen, ob die mörderische Jagd auf Menschen nicht-weißer Hautfarbe, das Anzünden von Asylen oder das Erschlagen von Obdachlosen dieser Kultur der Identität, die immer auch eine der Ausgrenzung ist, praktisch zuzurechnen sind.

Zuvor hatte die Sequenzierung des Humangenoms unter dem irreführenden Schlagwort der "Entzifferung des menschlichen Erbguts" eine Debatte zum Sieden gebracht, die in Deutschland bereits mit den gentechnologischen Züchtungsphantasien von Peter Sloterdijk ein halbes Jahr zuvor angeheizt worden war. Dazwischen lag der weiterhin köchelnde Skandal um die illegalen Parteispenden bei der CDU. Und die Erregungslücken konnten mit der Empörung über den "Menschenzoo" Big Brother, der Angst vor entfesselten Kampfhunden, der Medienschlacht um einen koksenden Fast-Bundestrainer, der Benzinwut oder einem periodisch aufflammenden Börsenfieber (das im rapiden Kursverfall der aufgeblasenen New-Economy-Werte schließlich verlosch und einer Katastrophenstimmung Platz machte) gefüllt werden. Das gesamte Jahr 2000, das schon mit der Aufregung über den Jahrhundertwechsel begonnen hatte, lässt sich im zeitdiagnostischen Rückblick als ununterbrochene Kette von skandalisierten Ereignissen betrachten, bei denen die "heißen" Themen sich übereinander geschoben und die Gesellschaft in Atem gehalten, ja außer Atem gebracht haben.

Solche Verlaufsformen öffentlicher Debatten hysterisch zu nennen, ist schon deshalb nicht unproblematisch, weil sie allmählich die Normalität gesellschaftlicher oder wenigstens: medialer Kommunikation darzustellen scheinen. Sollte die Hysterie wirklich im Begriff sein, zur kommunikativen Norm zu werden? Zudem übernehmen wir damit einen Begriff, der zwar umgangssprachlich in der abwertenden Bedeutung von unecht, übertrieben, theatralisch oder dramatisierend verwendet, in der klinischen Psychopathologie, aus der er eigentlich stammt, aber kaum noch gebraucht wird. Als Krankheitseinheit ist die Hysterie selten geworden, die nach klassischer psychoanalytischer Auffassung in Verhältnissen der Sexualunterdrückung blühte: Was unter der Forderung nach züchtiger Anpassung an Triebhaftem hatte verdrängt werden müssen, kehrte in den hysterischen Symptomen der Konversion wieder, also in jenen somatischen Störungen ohne organische Grundlage, die als unbewusste Kompromissbildungen zwischen sexueller Erfüllung und Versagung verstanden werden konnten. In den verschiedenen Phasen der sexuellen Befreiung während des letzten Jahrhunderts hatte dieses spektakuläre Muster der seelischen Konfliktbewältigung zunehmend seine soziokulturelle Grundlage verloren.

Nun kehrt es – das wäre die These – in den Inszenierungen der Skandale wieder, in denen die westliche Gesellschaft sich mit sich selbst und ihren Hervorbringungen befasst: als unbewusster Modus der kollektiven Konfliktbewältigung, der ein Thema behandelt, indem er es zugleich verfehlt. Im hysterischen Verhaltensmuster wird die Verführung inszeniert und gleichzeitig dementiert; die Übertreibung gehört zu diesem Mechanismus ebenso dazu wie die Verharmlosung. Wenn dieser Vergleich zwischen individueller und kollektiver Pathologie überhaupt erlaubt ist und uns Aufschluss über die Ätiologie der zeitgenössischen Hysterie geben kann, wo wäre dann die Analogie, der wir folgen sollten? Was ist ins Unbewusste der Gesellschaft abgeschoben worden und taucht in vielfachen Verkleidungen als Wiederkehr des Verdrängten auf? Was musste aus der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen werden und sucht sich nun seinen Weg in den verzerrten Diskursen über den Umgang mit der Natur, über rassistische Gewalt, über gentechnologische Möglichkeiten und die anderen Fragen, an denen sich die allgemeine Erregung entzündet? Und was würde passieren, wenn wir das Exkommunizierte in die rationalen Formen der gesellschaftlichen Selbstverständigung zurückholen und uns mit den Tabus befassen, die wir hinter dem Irrationalen vermuten können? Blättern wir, um Material zur Beantwortung dieser Fragen zu sammeln, die Skandalchronik ein wenig zurück ...

 

Der amerikanische Musterskandal – ein hysterisches Skandalmuster

... und beginnen wir mit einer ganz anderen Geschichte, welche die Welt vor einiger Zeit über alle Maßen bewegte und bis ins Jahr 2000 hineinschwappte. Über lange Monate waren die Medien (und wir mit ihnen) mit dem außerehelichen Sexualleben des amerikanischen Präsidenten beschäftigt. Bill Clinton war der erste Vertreter der 68er-Generation in diesem Amt, in das er – als ehemaliger Marihuana-Raucher, Vietnamkriegsgegner und Sympathisant der Friedensbewegung, Befürworter des Rechts auf Abtreibung und der Rechte von Homosexuellen, insgesamt als ein nach den Kriterien unseres politischen Spektrums sozial-liberal bis grün eingestellter Politiker – gegen heftigen Widerstand der "moral majority" auf wundersame Weise gelangt war. Nun hatte er das Oval Office angeblich dadurch entwürdigt, dass er dort mit einer Praktikantin Sex hatte. Das eigentlich Entwürdigende an diesem Skandal, oder besser das eigentlich Skandalöse an diesem Medienereignis, war etwas ganz anderes: Eine Angelegenheit, die in der Diskretion des Privaten hätte bleiben müssen, wurde aus politischen Gründen ans Licht der Öffentlichkeit geholt und in einer Weise ausgeleuchtet, dass kein intimes Detail unentdeckt und unerwähnt blieb – ein ganzes Volk erregte sich an der sexuellen Erregung seines Präsidenten.

Das sozialpsychologisch Interessante an der öffentlichen Behandlung dieser Affäre bestand gerade darin, dass sie zwischen Versagung und Befriedigung jenen Kompromiss erlaubte, den wir in der Psychodynamik des moralischen Rigorismus immer wieder finden können: Das Triebhafte kam gerade dadurch zu seinem Recht, dass es so eifernd aufgespürt und so gnadenlos verfolgt wurde. In seinem grandiosen Epochenroman Underworld hatte Don DeLillo diesen projektiven Mechanismus gerade an der legendären Figur des ehemaligen CIA-Chefs Edgar Hoover vorgeführt, der, selbst homosexuell, nicht nur Kommunisten jagen ließ, sondern auch als Schwulenhasser bekannt war. Nun schien in Gestalt eines bigotten Sonderermittlers dieser Typus des Verfolgers wieder auferstanden; seine überaus detaillierten Untersuchungsergebnisse wurden ins Internet eingespeist und über den Buchmarkt vertrieben, der perverse Redeschwall des Anklägers war im Fernsehen ebenso zu vernehmen wie die intimen Bekenntnisse des Angeklagten. Unter dem Mantel einer justizförmigen Untersuchung waren Voyeurismus, Pornographie und alle möglichen Formen identifikatorischer Teilhabe erlaubt, und man konnte sich ausgiebig und ungestraft mit dem schmuddeligen Sexuellen im Zentrum der Macht beschäftigen. Eine Nation, deren Sexualmoral in weiten Regionen noch vom Puritanismus bestimmt ist, wurde nicht müde, investigatorisch im Schmutz der präsidialen Sünde zu wühlen, um die sträfliche Lust dann vor Gericht zu bringen.

Eine besondere Spielart der kollektiven Sexualbefriedigung könnte man diese als Wahrheitssuche getarnte öffentliche Dauererregung nennen. Sie hatte sadistisch-perverse Züge und endete nur deshalb nicht mit der Amtsenthebung genannten Kastration  des Präsidenten, weil dieser kein Spielverderber sein wollte, sich vor laufenden Kameras für seine triebhafte Verirrung entschuldigte und um geistlichen Beistand für den armen Sünder bat. Verfehlung – Bekenntnis – Reue – Vergebung, so lautete die christliche Formel für den kathartischen Prozess, der Bill Clinton von seiner Schuld befreite und in die Gemeinschaft wieder eingliederte, aus der er sich mutwillig und dem ungezügelten Trieb folgend entfernt hatte. In seinem Subtext thematisierte der Skandal – gerade das macht ihn zu einem Musterskandal – unauflöslich gleich zwei brisante Fragen, welche die amerikanische Gesellschaft nicht zu diskutieren bereit war: die kulturelle Frage einer veränderten Sexualmoral und die nicht weniger brisante Frage eines Generationenwechsels in seiner politischen Führung. Das unangenehme Medienspektakel um Sex im Weißen Haus war eine Ersatzveranstaltung zum gesellschaftlichen Diskurs über postmoderne Lebensentwürfe und politische Optionen einer neuen Generation am Ende des 20. Jahrhunderts.

Bill Clinton eignete sich hervorragend für die kompensatorische Behandlung beider Tabu-Themen; an seiner Person konnte als ebenso aufgeregter wie aufregender Skandal unbewusst agiert werden, was eigentlich der bewussten Selbstverständigung einer verunsicherten und tief gespaltenen Gesellschaft bedurft hätte. Noch die Wahl seines Nachfolgers im Amt des Präsidenten demonstrierte die Folgen der ausgebliebenen Debatte und schien in der Präsentation der Kandidaten zu bestätigen, dass die Tabus ungebrochen sind. George W. Bush dementierte den politischen Generationenbruch, indem er sich als Wiedergänger seines Vaters präsentieren ließ und sich mit dessen Beratern umgab. Al Gore schob die family values und sein eigenes untadeliges Familienleben in den Vordergrund, um zum moralisch diskreditierten Clinton Abstand zu wahren. An den surrealen Begleitumständen der Stimmenauszählung war die anhaltende Spaltung der Nation symbolisch zu erkennen – und entzündete sich sogleich eine bereitliegende neuerliche Erregung, welche auch die nächste Präsidentschaft belasten wird.

 

Der Standardaffekt deutscher Erregungen: Angstlust.

Bei der amerikanischen Präsidentenaffäre mit Monica Lewinsky handelte es sich um eine private Angelegenheit, die politisch ausgeschlachtet wurde, wobei es der sexuelle Inhalt war, der die kollektive Erregung speiste und – freilich symbolisch verzerrt – gesellschaftliche Tabuthemen auf die Tagesordnung setzte. Bei unseren Erregungsdiskursen handelt es sich um öffentliche Angelegenheiten, die so lange in den medialen Nebel eingetaucht werden, bis nur noch eine schwer erkennbare düstere Gefahr übrig bleibt und aus der Fülle der unübersichtlichen Details ein diffuses Gefühl der Bedrohung entsteht, das die Aufmerksamkeit sichert.

Die Skandale in Deutschland folgen im Vergleich mit den USA offenbar einer anderen Dramaturgie, nehmen einen anderen Ausgangspunkt und bedienen scheinbar einen anderen kollektiven Affekt. Aber sie erfüllen die gleiche Ersatzfunktion, indem sie nämlich auf irrationale Weise tabuisierte Fragen behandeln, über die eine republikanische Verständigung in der Gesellschaft nicht stattfindet. Fast ist man geneigt, Amerika zu attestieren, dass es eher durch Sex (als durch Gewalt etwa, die dort zum Alltag gehört) zu erregen ist, während Deutschland eher durch Angst in Aufwallung zu geraten scheint.

Aus der Faszination von Schauermärchen und Kriminalfilmen wissen wir freilich, dass die Angst mit einem libidinösen Gefühl legiert sein kann. Im Thrill steckt auch die geheime Lust, die der Thriller so wunderbar befriedigt: Angstlust. Schauder und Schauer sind, etymologisch miteinander verwandt, visuell stimulierte und von physiologischen Reaktionen begleitete Erregungen, die das Schreckliche auslöst. In der öffentlich agierten Angst vor der Bedrohung durch den Rinderwahn, den Rechtsradikalismus, den Kampfhund, die Laborzüchtungen – oder wie die Gefahren auch immer heißen, gegen die wir uns meinen wehren zu müssen – wird ein lustvolles Bedürfnis mitbefriedigt. Übertreibung und Verleugnung bilden dabei Vorder- und Rückseite desselben Vorgangs: Die Dramatisierung setzt den triebhaften Überschuss frei, der in der Verharmlosung nur scheinbar gebunden wird. Beide Formen der unangemessenen Reaktion gehören zur Dramaturgie der hysterischen Gefahrenabwehr, bei der das tatsächliche Problem und seine wirkliche Dimension aus dem Blick geraten.

Prüfen wir diese gewagte These am BSE-Skandal. Solange das Unheil auf der britischen Insel oder zumindest hinter den Grenzen des Nachbarlandes Frankreich gebannt schien, blieb Deutschland kühl. Die Gefahr lag draußen und konnte projektiv bewältigt werden, die anderen mussten sie bekämpfen, wir selbst waren sauber. Unsere Rinder sind gesund, und wenn sie das nicht sind, kommen sie aus dem Ausland. Die durch den Fleischwolf gedrehten und bedenkenlos verfütterten Kadaver hießen weiterhin Tiermehl, als ob es sich um harmloses Futter für Tiere und nicht um Futter aus Tieren, also um Kadaverbrei handelte, dem auch noch alles Mögliche andere (Altöl z. B.) beigemischt war. Bei den auch in Deutschland aufgetretenen Fällen der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit wurde (und wird immer noch) ein möglicher Zusammenhang mit BSE dementiert: Die erkrankten Personen seien gewiss nicht durch den Genuss von verseuchtem Fleisch infiziert. Zur Strategie der Verharmlosung leistete das Gesundheitsministerium seinen Beitrag, indem es Tipps zum Konsumverhalten gab, anstatt Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung zu ergreifen. Der Landwirtschaftsminister, unter jeder Regierung noch unbestritten der vorderste Lobbyist von Bauernverbänden und Agrar-Industrie, konnte dieser angestammten Aufgabe weiter nachgehen.

Mit dem ersten positiv getesteten Rind deutscher Herkunft brach die gesamte Strategie der Verharmlosung zusammen und wich einer Politik des hysterischen Aktionismus, der die aufgeregten Gemüter beruhigen und Handlungsfähigkeit demonstrieren sollte: Verbot der Tiermehlverfütterung, flächendeckende Schnell-Tests, hektische EU-Initiativen. Gleichzeitig zeichneten sich für die kurzfristigen Fragen, wie die unverkäuflichen Rindermassen und das angehäufte Tiermehl zu entsorgen sind, bereits Lösungen ab: die Rinder zu Tiermehl verarbeiten und an Schweine verfüttern, als Düngemittel verwenden oder in Biogas-Anlagen verfeuern, genmanipulierte Soja-Pflanzen als Ersatzfutter einführen.

Jetzt wird vor allem über öffentliche Kompensationen für die Agrarindustrie verhandelt, die damit aus ihrer Verantwortung für ihre desaströsen Produktionsmethoden entlassen wird und ihre entgangenen Gewinne mit Subventionen ausgleichen kann; Sozialisierung von Verlusten haben wir das einmal genannt. Dafür werden die Konsumenten für ihren hohen Fleischverbrauch getadelt und zur ökologischen Entscheidung an der Theke aufgefordert. Sie sollen weniger Fleisch essen und mehr bezahlen wollen, als ob das Problem verseuchter Lebensmittel vom Käufer (der sie ohnehin nicht mehr kaufen wird) durch marktgerechtes Verhalten zu lösen sei. Genau das aber ist die Suggestion, mit der eine opportunistische Politik das Problem ins Private verlagert, von der Produktions- in die Konsumtionssphäre und von der Lebensmittelkontrolle auf den Lebensmittelgenuss, und Angst verbreitet statt Aufklärung.

Der notwendige Umstieg auf eine artgerechte Tierhaltung und eine umweltverträgliche Landwirtschaft – in Deutschland bezeugen klägliche drei Prozent Anteil aus Bio-Produktion (gegenüber zehn Prozent z. B. in Österreich) das Versagen der Politik – bleibt als mittel- und langfristige Strategie bisher merkwürdig schemenhaft. Dabei könnten die Grünen, die diese selbstverständliche ökologische Forderung schamhaft in ihrem Programm führen, die Gunst der Stunde nutzen, um sich in einer offenen Debatte gesellschaftliche Unterstützung zu besorgen. Man hört auch Entsprechendes aus Parteiführung und Fraktion, wo Kuhn, Schlauch und Loske das bereits verlorene Thema der Ökologie wiederentdeckt haben und Strukturreformen auch in der Landwirtschaft fordern. Zwar untertitelte Die Zeit (7.12.): "Die BSE-Krise macht Angst, den Grünen macht sie Mut" und die tageszeitung (9.12.) fragte merkwürdig verdreht: "Ist die BSE-Krise nun ein Glücksfall für die Grünen?" Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Partei der Ökologie sich lediglich als zahnlose Besserwisserin profiliert, die aus Gründen der Koalitionsdisziplin nicht einmal die Entlassung des völlig diskreditierten Agrar-Lobbyisten in der eigenen Regierung durchsetzen, geschweige denn einen Umschwung in der fehlkonstruierten landwirtschaftlichen Massenproduktion einleiten kann. Das wird auch nicht gehen ohne eine gesellschaftliche Debatte über die Wirklichkeit unserer Ernährung, die Entgleisungen einer entfesselten Nahrungsmittelindustrie und den Beitrag einer verfehlten Subventionspolitik – und Alternativen dazu.

 

Tabus im Diskurs über den neuen Rechtsradikalismus

Es gibt gewiss viele Ursachen für Fremdenfeindlichkeit, weißen Rassismus und die gewaltförmigen Untaten, in denen solche Einstellungen zum praktischen Ausdruck kommen. Die Sozialpsychologie dieses Syndroms ist außerordentlich komplex. Aber es ist unbestreitbar, dass rechtsradikal motivierte Gewalttaten im Nordosten der Republik in einem Ausmaß zugenommen haben, das nach einer spezifischen Erklärung verlangt. Das statistische Risiko eines Bürgers schwarzer Hautfarbe, auf der Straße angegriffen zu werden, ist – auch wenn die Ideologie dazu aus dem Westen kommt – in Brandenburg vierzigmal höher als auf dem Gebiet der alten BRD. Gleichzeitig liegt ein schweres Tabu über diesem kriminologischen Wissen, weil man den ohnehin gebeutelten Ostdeutschen diese Wahrheit nicht auch noch zumuten und die Spaltung nicht vertiefen möchte. Das Gleiche gilt für die anstößige These, dass für das Zivilisationsdefizit im Osten auch der Untertanengeist verantwortlich ist, der sich in der ununterbrochenen Tradition des autoritären Staates – Preußen, Nationalsozialismus, realer Sozialismus – gehalten und in totalitären Erziehungssystemen fortgepflanzt hat.

Die verunglückte Wiedervereinigung selbst und der existenzielle Bruch in der Lebensgeschichte einer ganzen Generation, den sie mit sich brachte, liefert Stoff für eine ungehörte Erzählung, die so lauten könnte: Die Eltern der heutigen Täter haben sich ihre Generationserfahrung rauben lassen und präsentieren sich als doppelte Systemopfer, zunächst des Sozialismus, dann der Marktwirtschaft; sie bieten damit keinerlei Identifikationen mehr an, haben ihre Vorbildfunktion eingebüßt – und ihre verlorenen Kinder revanchieren sich dafür, indem sie sich bei den Ideen ihrer nationalsozialistischen Großeltern bedienen. Von den staatlichen Behörden ganz offensichtlich geduldete "national befreite Gebiete" oder "ausländerfreie Zonen", sind sie nicht so etwas wie Erholungsinseln der Identität, in denen das verletzte Selbstwertgefühl über die Generationsschranken hinweg im Phantasma der weißen Herrenrasse wieder hergestellt werden soll?

Im selbstkritischen Rückblick auf die Wiedervereinigung sollten wir einen zivilisierenden Diskurs über solche Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart führen, die Entwertung von Lebensgeschichten und die Kränkung einer Generation von "Übernommenen" (Kerstin Decker in der taz, 9.12.) thematisieren. Man könnte die Biografie der DDR-Generation auch unter anderen Vorzeichen als bloß denen der Stasi-Vergangenheit rekonstruieren: Wählten Anna Seghers und Bert Brecht nicht mit guten Gründen die "Ostzone"? Waren Stephan Heym und Christa Wolf bloße Parteigänger eines totalitären Systems? War das Selbstbild der frühen DDR, das bessere Deutschland zu sein, ein reiner Trug und Betrug? Das Tabu zu brechen, das über der Vorgeschichte der beiden deutschen Staaten liegt, würde bedeuten, Schattierungen in der Geschichte der DDR zuzulassen, die nicht nur ein "Reich des Bösen" war, und damit auch dem wechselvollen Schicksal ihrer Bürger gerecht zu werden. Stattdessen wird eine Ersatzdebatte geführt, die den gesamten Osten unter Generalverdacht stellt.

In der fatalen Berichterstattung über die Ereignisse von Sebnitz ist der gemeine Rechtsradikalismus zunächst so überzeichnet worden, dass er in einem Akt der Wiedergutmachung an einer zu Unrecht des gemeinschaftlich begangenen Mordes beschuldigten Kleinstadt jetzt wegretuschiert werden muss. Das Medienfiasko war nur möglich, weil die Geschichte alle möglichen Ingredienzien für eine kollektive Hysterie enthielt: eine ausländerfeindliche Gemeinde im Osten, wo Skinheads ungestört ihr Unwesen treiben; der Tod eines unschuldigen Kindes unter den Augen der Öffentlichkeit; die Eltern als binationale Zuwanderer aus dem Westen und Konkurrenten im Ort verhasst, Linke zumal; mindestens nachlässige Untersuchungen durch desinteressierte Behörden, wenn nicht aktive Vertuschung; Selbstermittlungen durch die betroffene Familie; die Bild-Zeitung als Vorkämpferin gegen den Rechtsextremismus. So konnten die bereitliegenden Phantasien aufblühen und die Sicherungen der Realitätsprüfung durchbrennen. Das wirkliche Geschehen wird möglicherweise nicht mehr zu rekonstruieren sein und die Wahrheit wohl im Sog interessierter Legenden verschwinden.

Aber auch die "westlichen" Beiträge zur rechtsradikalen Gewalt unterliegen Tabus. Volker Knigge, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar, berichtete kürzlich auf einem Kongress vor Psychoanalytikern, dass die Konzentrationslager seit neuestem zu Wallfahrtsorten für neofaschistische Jugendgruppen werden. Sie leugnen Auschwitz nicht mehr wie die alten Revisionisten, sie bekennen sich dazu nach der Devise, mit Gaskammern hätte man das Problem der Überfremdung durch türkische Zuwanderung rasch gelöst. Solche Einstellungen lassen sich nicht mehr mit dem Rückgriff auf die Muster der nationalsozialistischen Geisterbeschwörung erklären und durch guten Geschichtsunterricht auflösen. Auf der anderen Seite verschwindet unter dem milden Blick der politischen Korrektheit die Tatsache, dass der Anteil von Jugendlichen türkischer oder maghrebinischer Herkunft an der kriminellen Straßengewalt überproportional hoch ist; und die empirisch gut belegte These, dass diese Jugendlichen aus ihren Familien eine Macho-Kultur übernommen haben, zu der aggressives Männlichkeitsgehabe, gewaltförmige Konfliktlösungen und massive Frauenfeindlichkeit gehören (siehe auch: Klaus-Peter Martin, Deutsche und türkische Jugendliche – zwei Welten, Kommune 9/00, S. 25), gilt unter Linken als suspekt. Auch die Verheißungen einer neoliberalen Welt, die nur Sieger und Verlierer kennt, Starke und Schwache eben, sind dem dichotomen rechten Weltbild nicht so fremd, wie es die fröhlichen Verkünder eines ungebrochenen Zukunftsoptimismus gerne sehen – Nazis sind Pop heißt der Titel einer lesenwerten Untersuchung von Burkhard Schröder. Die extreme Rechte ist moderner, als es ihre gegenmodernen Entwürfe vermuten lassen, sie sollte zum Gegenstand gesellschaftspolitischer Analyse und diskursiver Auseinandersetzung werden, statt sie zum Relikt einer unbewältigten nationalen Vergangenheit zu erklären und auf hysterische Weise aufzuwerten.

 

Das Fieber als Symptom ... aber für was?

Ich schlage also vor, die Fieberkurven der grassierenden Skandale als Symptome zu lesen und den Untergrund der jeweiligen Erregung zu untersuchen, um die eigentlichen Themen zu finden. Man wird dabei in der Regel auf Tabus stoßen. Am verdunkelten Boden des Parteispendenskandals liegt die politische Korruption in Deutschland, und das heißt nichts anderes als der Verfassungsbruch durch die direkte Beeinflussung von Politik durch Geld – und nicht etwa die abenteuerlichen Umstände des Finanztransfers. Das Genfieber, durch die überhitzten Phantasien von dubiosen wissenschaftstheoretischen Hysterikern wie Ray Kurzweil oder Bill Joy geschürt, denen das Feuilleton seine Seiten geöffnet hat, rührt an die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens – ein Geheimnis, das die Entzifferung des Humangenoms gerade nicht löst, wie nämlich Immaterielles aus Materiellem, Subjektives aus Objektivem, Seelisches aus Körperlichem entstehen kann. Der tabuisierte Kern des BSE-Skandals ist nicht das rätselhafte Prion im Hirn des Rindes – sondern die Perversion einer industrialisierten Nahrungsmittelproduktion. Der neue Rechtsradikalismus in Deutschland benutzt den Tabubruch als Marketinginstrument, wenn er mit der Beschwörung der nationalsozialistischen Symbolik die öffentliche Hysterie provoziert – dabei ist er ein Produkt der Gegenwartskultur, die sich ihrer Selbstanalyse verweigert.

Das Selbstreinigungspotenzial von Skandalen wird bekanntlich dadurch realisiert, dass sie am Ende Aufklärung produzieren. Im Stimmengewirr der Erregungsdiskurse müsste man dazu den Text heraushören, der auf die Sache hinweist, an der sich das Aufsehen entzündet. Das ist nicht einfach in Zeiten, wo das mediale Rauschen nach den Gesetzen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit hysterisch an- oder abschwillt. Unter den Wölbungen des Klangteppichs aber deuten sich die wirklich interessanten Fragen an.

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)