Falsche Fronten

Altersübergreifende Solidarität oder "Kampf der Generationen"?

Christoph Butterwegge

Das geistig-politische Klima der Bundesrepublik wird seit geraumer Zeit maßgeblich durch einen Diskurs über Veränderungen im Altersaufbau der Gesellschaft und im Verhältnis der Generationen beeinflusst. Dieser demografische Wandel erfordere, heißt es, schmerzhafte Eingriffe in soziale Besitzstände und staatliche Sicherungssysteme. Man fordert einen "neuen Generationenvertrag", der letztlich auf die Entwertung des Alters hinausläuft: "Der alte Mensch wird zum ‚Sozialballast‘ oder ‚Humanballast‘, der eigentlich entsorgt werden müsse". Generationen werden gegeneinander ausgespielt. Dabei ginge es um andere Leitlinien in der Sozialpolitik.

"Gierige Greise" und "unersättliche Senior(inn)en" fungieren in den Massenmedien als Feindbilder, während "das Kind" und "die Familie" geradezu Fetischcharakter annehmen. "Doppelverdiener" und "hedonistische Singles" ohne Nachwuchs bezichtigt man, die Finanzprobleme des Wohlfahrtsstaates, insbesondere der Alterssicherung, erzeugt und nicht für die "normale" Reproduktion der Gesellschaft gesorgt zu haben. Da ist vom "Luxus eines unabhängigen, kinderlosen Lebens" die Rede, durch den die Betreffenden ihre Verantwortung dem "eigenen Volk gegenüber" missachteten (Susteck 1995: 20). Als mögliche Gegenmaßnahme erwägt man "Strafsteuern" für Kinderlose, wobei ignoriert wird, dass die Steuerbelastung der Ledigen ohne Kinder wesentlich höher ist als jene der Familien(-väter) (vgl. Dinkel 1995: 13).

Sozial- wird auf Familienpolitik reduziert, diese jedoch zur "Gesellschaftsreform" emporstilisiert (siehe Wingen 1995). Entsolidarisierung und (Teil-)Privatisierung des Sozialstaates firmieren unter dem Gütezeichen einer größeren Generationengerechtigkeit. So schrieb Elisabeth Niejahr unter dem Titel "Arme Junge, reiche Alte" in der ZEIT (21.10.99) über Alternativen zum Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung: "Bei kapitalgedeckten Systemen sorgt jede Generation für sich selbst, etwa durch Aktienfonds, Lebensversicherungen oder durch Einzahlungen in staatliche oder betriebliche Pensionsfonds."

Die von der rot-grünen Bundesregierung zusammen mit den früheren Regierungsparteien CDU/CSU und FDP geplante Rentenreform soll einen "fairen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen von Jung und Alt" herbeiführen, beinhaltet jedoch eine Kürzung der Zahlungen an die Versicherten und eine finanzielle Entlastung der Arbeitgeber, die sich am Aufbau eines Kapitalstocks zur privaten Alterssicherung nicht beteiligen müssen. Zwar sind die Leistungen des Sozial(versicherungs)staates in Deutschland wegen seiner Bindung an die "Normalbiografie", das "Normalarbeitsverhältnis" und die "Normalfamilie" ungleich auf die Generationen verteilt. Da die meisten per Sozialversicherung abgedeckten Existenzrisiken (z. B. Berufs- und Erwerbsunfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit) erst in einem höheren Lebensalter auftreten, könnte man von einem sozialpolitischen Altersbias sprechen, sollte ihn jedoch weder überschätzen noch den Schluss ziehen, dass ein Abbau des Wohlfahrtsstaates einen (wie auch immer gearteten) Vorteil für Jüngere bedeuten würde.

In einer alternden, aber nicht "vergreisenden" Gesellschaft mit sich – aus anderen Gründen: Stichwort "Globalisierung" – verschärfenden Interessengegensätzen hat die populärwissenschaftliche Literatur über einen angeblich bevorstehenden "Krieg der Generationen" medial Hochkonjunktur. Hierbei handelt es sich um die journalistische Dramatisierung eines gesellschaftlichen Verteilungskampfes (vgl. Behrend 1996: 264). Dieser lenkt – auf dem Rücken von Rentner(inne)n ausgetragen – von den tatsächlichen Konfliktlinien, insbesondere der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung (vgl. dazu: Schäfer 1999), eher ab.

 

"Generationengerechtigkeit" – ideologischer Kampfbegriff oder sinnvolle Leitlinie der Sozialpolitik?

Mit dem zunächst einmal plausiblen Ruf nach (mehr) Generationengerechtigkeit wird das eigentliche Problem (einer wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb jeder Generation) auf geschickte Weise eskamotiert. Pointiert formuliert: Wer die Jungen gegen die Alten aufwiegelt, nimmt die Arbeitgeber aus der Schusslinie, lenkt von unternehmerischen Rationalisierungsstragien, Massenentlassungen und zunehmender Mehrarbeit ab. Dass man sich mehr für Anlagetipps, Aktienkurse und Berufskarrieren als für Kinderarmut und Babyklappen interessiert, die hierzulande seit kurzem wieder existieren, ist jedoch keine Konsequenz mangelnder Generationensolidarität, sondern der bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sämtliche Altersgruppen übergreifen.

In einer reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik sind viele Kinder arm (vgl. hierzu: Butterwegge 2000), was umso mehr erstaunt, als sie gleichzeitig die Überalterung, mangelnden Nachwuchs und einen nachlassenden Kinderreichtum der Familien beklagt. Im Unterschied zu den meisten anderen Erscheinungsformen der Armut weckt Kinderarmut tiefe Emotionen und negative Assoziationen im Zusammenhang mit dem Reizthema "Sicherung der Renten" und "Generationenvertrag", das in den Massenmedien oft unter reißerischen Überschriften abgehandelt wird. Typisch für die polemische und wenig gehaltvolle Art, wie der Sensationsjournalismus das Thema aufgreift, war ein Bericht des Magazins Stern (v. 11.5.1995) über den angeblichen "Sozialfall Deutschland" mit dem Titel "Die Verlierer", welcher mit den Worten beginnt: "Kinder, die heute geboren werden, sind eigentlich schon pleite. Denn eine Generation von Egoisten hat sich den Sozialstaat zur Beute gemacht und verprasst die Zukunft ihrer Kinder. Sie hinterlässt Schulden in Billionenhöhe und ein Sozialsystem, das vor dem Kollaps steht. Doch jetzt fangen die Jungen an, gegen die Schmarotzer im Wohlfahrtsstaat aufzumucken."

Tatsächlich wirkt die soziale Polarisierung bei den Jüngeren nicht anders als bei den Älteren: Die tendenziell zunehmende Armut geht mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum einher, ja sie bildet geradezu dessen Kehrseite. Es gab noch nie vergleichbar viele Haushalte ohne materielle Sorgen und noch nie so viele Kinder mit einem großen Vermögen in der Bundesrepublik wie heute. Um dadurch Steuervorteile (z. B. mehr Freibeträge pro Familie) zu erlangen, übertragen Eltern ihren Wertpapierbesitz schon kurz nach der Geburt auf ihre Kinder, was nicht zulezt durch die Erbschafts- und Schenkungssteuerreform der liberal-konservativen Bundesregierung begünstigt wurde. Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren verfügen über eine Geldsumme in Höhe von 15 Milliarden DM, die unter anderem in den Konsum und "Jugendfonds" großer Kapitalgesellschaften fließt.

Der öffentliche Diskurs über Kinderarmut hat sich nicht erst seit der Kontroverse um den zehnten Kinder- und Jugendbericht und die Kritik der damaligen Familienministerin Claudia Nolte (CDU) an seinem Armutsbegriff vor der Bundestagswahl am 27. September 1998 intensiviert, ist aber eher ambivalent, weil keineswegs immer auf die Belange von Kindern und Jugendlichen fokussiert. Ähnliches gilt für Debatten über die "Vergreisung" der Gesellschaft und hieraus möglicherweise erwachsende Finanzierungsprobleme. Statt darüber nachzudenken, wie man aus einer Verschiebung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch (z. B. durch Verbreiterung der Basis des Rentensystems: Einbeziehung von Selbstständigen, Freiberuflern und Beamten) bewältigen kann, benutzt man sie als willkommenes Argument für Kürzungen und funktioniert die Demographie zu einem Mittel sozialpolitischer Demagogie um.

Mit der Begründung, letztlich entscheide die Kinderzahl über das Funktionieren der Alterssicherung (Albers 1997: 137) wird Pronatalismus, durch das NS-Regime jahrzehntelang diskreditiert, wieder salonfähig gemacht. Selbst ein Kommune-Autor lobt die "langfristig angelegte Familienpolitik in Frankreich, Schweden oder Dänemark", weil sie "immerhin einen Beitrag zur Stabilisierung der Geburtenrate" leiste (siehe Kunz 2000: 48).

Wiewohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, hängen die Renten nicht von der Biologie ab (vgl. Schui 1994; ergänzend: Rosenberg 1990). Vielmehr handelt es sich hierbei um eine politische Frage, um Entscheidungen zur (Um-)Verteilung des trotz stagnierender oder sinkender Bevölkerungszahl weiter wachsenden Bruttoinlandsprodukts. Tatsächlich fehlen keine (deutschen) Babys, höchstens Beitragszahler/innen, die man durch eine konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit genauso gewinnen kann wie durch die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, Erleichterung der Zuwanderung (vgl. Butterwegge/Hentges 2000) oder die Erweiterung des Versichertenkreises und Einbeziehung neuer Bevölkerungsgruppen in die Sozialversicherung (vgl. Steffen 2000). Im globalen Rahmen besteht sogar ein oft genug als "Bevölkerungsexplosion" skandalisierter Geburtenüberschuss.

"Familienfundamentalismus" nennt Thomas Ebert (1995: 365 f.) jene "theoretisch radikale und auch politisch militante Rückbesinnung auf vormoderne Wertorientierungen", die eine systematische "Transferausbeutung" der Eltern durch den Sozialstaat unterstellt und ihn zur Wiedergutmachung durch höhere Entlastungen und/oder Leistungen für die Kindererziehung auffordert. Ebert kritisiert, dass diese Ideologie den gesellschaftlich produzierten Reichtum auf den Fortpflanzungsmechanismus zurückführt, letztlich selbst das von der Kindergeneration erarbeitete Sozialprodukt als Eigentum der Eltern begreift und ein partnerschaftliches Verständnis der Geschlechterrollen konterkariert.

Martin Kohli (1999: 128) erinnert daran, dass der Diskurs über "intergenerationelle Gerechtigkeit", wie er in den USA schon seit Mitte der Achtzigerjahre geführt wurde, meist "eine verkappte Kritik am Wohlfahrtsstaat überhaupt" war, und hebt hervor, dass er auch hierzulande als "Vehikel für den neo-liberalen Versuch zum Sozialstaatsabbau insgesamt" herhalten muss. Schon bei Reimer Gronemeyer (1991: 128) verband sich der Diskurs über die Generationengerechtigkeit mit einer Abqualifizierung der Bismarck‘schen Sozialpolitik: "Die Vorsorge für das Alter wird seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts der individuellen Entscheidung entzogen und geregelt durch die Großinstitutionen der sozialen Sicherung. Damit sind der Familie als dem Dach der Generationen die Stützpfeiler entzogen worden: Bismarck hat der Familie den Rest gegeben." Gronemeyer schiebt dem modernen Sozialstaat die Schuld am "demographischen Niedergang" unserer Gesellschaft zu. Heidi Schüller (1995: 74) sieht darin gleichfalls die Wurzel allen Übels: "Unser Sozialsystem entwickelt sich zur Generationenfalle." Schließlich moniert Jörg Tremmel (1996: 26) die seines Erachtens unsolide Haushaltspolitik: "Um den immer teurer werdenden Sozialstaat zu finanzieren, stellt die herrschende Generation ungedeckte Wechsel auf die Zukunft aus. Die Zeche zahlen eines Tages jene, die heute jung sind."

 

Familien- und Bevölkerungspolitik: Bekämpfung der Kinderarmut oder der Kinderlosigkeit?

Immer häufiger erscheinen Kinder nicht nur als "Kostenfaktor auf zwei Beinen", sondern auch als Privateigentum ihrer Eltern, das eine staatliche Subventionierung verdient. Karin Müller-Heine (1999: 60) stellt fest, "daß in Deutschland die Auffassung an Bedeutung gewinnt, Kinder zu haben und aufzuziehen, sei primär eine Leistung für die Gesellschaft, für die diese auch zu bezahlen habe". Konrad Adam (1996: 13) erklärt die sinkende Geburtenrate ökonomi(sti)sch: "Nachdem der Nutzen, den die Kinder bringen, sozialisiert worden ist, die Kosten dagegen zu weit überwiegenden Teilen an den Privaten hängenblieben, ist die Familie zum schlechten Geschäft geworden. Und schlechte Geschäfte sucht der renditebewußte Deutsche zu vermeiden." Statt hieraus den Schluss zu ziehen, dass Renditeerwägungen nicht in den Mittelpunkt der Familienplanung gehören, fordert der Welt-Journalist, dass die Kindererziehung eine höhere Rendite (auf Kosten der Kinderlosen) abwerfen müsse. Er behauptet, die Jungen würden seitens der Alten übervorteilt, zeiht die kinderlosen Paare des Egoismus und geißelt die Benachteiligung der Familien mit Kindern durch die Politik, möchte ihnen aber im Grunde noch mehr Verpflichtungen (z. B. die Familienpflege der Alten) aufbürden, um den Sozialstaat auf diese Weise zu "entschlacken".

Wer über Kinderarmut spricht, um das Armutsproblem insgesamt verniedlichen und den sozialen Abstieg von Millionen Erwachsenen ignorieren zu können, missbraucht die junge Generation. Ein weiteres Beispiel dafür, wie deren vermeintliche Interessen für eine unsoziale Politik vereinnahmt werden, liefert Hans-Olaf Henkel (1998: 11 f.) mit seiner Aufforderung, Nachhaltigkeit auch im Rahmen der Sozialpolitik zu verwirklichen: "Mein Anliegen verweist auf die Verantwortung für die Interessen unserer Kinder. Der Grundgedanke ist ebenso faszinierend wie einfach. Wenn es möglich war, die Verpflichtung zum Umweltschutz in allen Schichten, in allen Generationen und in allen Parteien zu verankern, wenn die gesamte deutsche Gesellschaft heute bereit ist, zugunsten nachfolgender Generationen in saubere Flüsse, klarere Seen und mehr Wälder zu investieren, dann müßte sie doch auch bereit sein, unseren Kindern nicht immer weiter steigende Zinszahlungen und marode Sozialversicherungssysteme zu hinterlassen."

Henkels Vorwort zu seinem Buch Jetzt oder nie endet mit einer vermutlich die eigene Taktik charakterisierenden Überlegung, einem Rat an die Regierung und einem pathetischen Schlusssatz: "Reformen, die mit der Verantwortung für kommende Generationen plausibel begründet werden können, haben eine gute Chance, von Medien und Öffentlichkeit akzeptiert und vom Wähler honoriert zu werden. Nachhaltigkeit ist kein Reservat der Umweltpolitik. Wenn die Politik schon zu ‚Bündnissen‘ aufruft, dann sollte sie zu einem ‚Bündnis für Nachhaltigkeit‘ in der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik einladen. Wir schulden es unseren Kindern" (Henkel 1998: 12). Was der scheidende Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) meint, wird erkennbar, wenn er das neoliberale Modell eines um Markt- und Konkurrenzmechanismen "angereicherten" Wohlfahrtsstaates mit den Lebensinteressen künftiger Generationen legitimiert: "Ludwig Erhard hat die Marktwirtschaft sozial gemacht. Heute müssen wir die Sozialpolitik mit marktwirtschaftlichen Instrumenten renovieren, im eigenen Interesse und weil wir es unseren Kindern schulden" (Henkel 1998: 25 f.).

Wenngleich es auf den ersten Blick verlockend erscheint, den Begriff "Nachhaltigkeit" nicht nur im Ökologiebereich, sondern auch im Bereich des Sozialen und der Sozialkpolitik zu verwenden (vgl. etwa Opielka 2000), sei ausdrücklich davor gewarnt. Was angesichts der Endlichkeit natürlicher Ressourcen im Umweltsektor wichtig ist, muss dort, wo es um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Wirtschaft, Staatsapparaten und sozial Bedürftigen geht, noch lange nicht richtig sein. Die populäre Formel der "Nachhaltigkeit" auf die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- oder Bildungspolitik zu übertragen, bedeutet für Micha Brumlik (1999: 1464), einen "Bruch mit den Prinzipien einer liberalen, repräsentativen Demokratie" in Kauf zu nehmen: "Die Gleichsetzung von Steuerbelastungen mit schwindenden Ressourcen stellt ... auf der theoretischen Ebene einen massiven Kategorienfehler dar, der politisch nicht nur zu einem Abbau öffentlicher Investitionen zugunsten aller möglichen privaten ‚Vorsorgesysteme‘ sowie zu einer weiteren Zunahme öffentlicher Armut zugunsten ungleich verteilten privaten Reichtums führt."

Selbst die Verfassung der Bundesrepublik steht zur Disposition, wenn Heidi Schüller (1997: 57) den "besitzstandsklammernden Seniorenverbänden", einer "routineerschöpften Politikerkaste" sowie "erstarrten Verwaltungen und Lobbyistenorganisationen" zugunsten "mutiger Reformen für unsere Kinder" entgegentritt: "Das berechtigte Vertrauen der Jungen auf eine Zukunft mit realistischen Chancen, auf eine Zukunft, in der sich persönliches Engagement und Leistungsbereitschaft lohnen, darf nicht enttäuscht werden. Insofern sind wir aufgefordert, das Bestehende in Frage zu stellen – bis hin zum Grundgesetz." Schüller (1995: 179 f.) sprach sich allen Ernstes dafür aus, Hochbetagten das Wahlrecht zu entziehen, wie das Pluralwahlrecht den Eltern umgekehrt mehr Stimmen und damit den Interessen ihrer Kinder mehr Gewicht verleihen soll.

Veränderungen der gesellschaftlichen Altersstruktur können sowohl zu einem wachsenden Einfluss der Senior(inn)en auf die öffentlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse wie auch zu dem genauen Gegenteil führen. Ob sich letztlich die "Logik der Politik" (mehr Stimmen für ältere Wahlbürger/innen entsprechen einem größeren Gewicht) oder die "Logik der Ökonomie" (Kinder als "knappes Gut", das besonders hofiert werden muss) durchsetzt, wird ganz maßgeblich über die demokratische Qualität der Gesellschaftsentwicklung entscheiden. Jener ausgeprägte Jugendkult, der die Marktwirtschaft, das Beschäftigungssystem und die Werbebranche dominiert, darf kein Vorbild für die Zivilgesellschaft sein.

Kaum eine politische Grundsatzentscheidung wurde in der Öffentlichkeit so einhellig begrüßt wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung der Familien (genauer: von Ehepaaren mit Kindern) vom 10. November 1998. Was die Medien als höchstrichterlichen Ukas zur Besserstellung "der Familien" feierten, war ein verfassungsrechtlich wie (sozial-)politisch fragwürdiger Eingriff in die Steuerhoheit des Gesetzgebers zugunsten der Besserverdienenden und Vermögensbesitzer/innen. Statt durch Konzentration des Familienlastenausgleichs auf ein einheitliches Kindergeld die sozialen Unterschiede zu verringern, vertiefen die Erhöhung des Kinderfreibetrages und die Einführung eines Betreuungs- sowie eines Erziehungsfreibetrages für (gut verdienende) Ehepaare die Kluft zwischen Arm und Reich, was weder bedürftigen Kindern noch der Gesellschaft insgesamt dient. Denn davon profitieren die Reichen mit Kindern, nicht die armen Kinderreichen, um deren Besserstellung es geht.

Kinderarmut sollte bekämpft werden, ohne in einen "Familienfundamentalismus" zu verfallen, der die Rückkehr zu vormodernen und -demokratischen Werthaltungen impliziert. Bevölkerungspolitik bietet keinen Ausweg im Hinblick auf demographische Veränderungen der Gesellschaftsstruktur. Wer (seine) Kinder als Kapitalanlage ("Humankapital") begreift, gelangt leicht zu einer "biologischen Produktionstheorie", der die menschliche Fortpflanzung auch noch im Zeitalter der Hochtechnologie und der Globalisierung als Quelle des gesellschaftlichen Reichtums gilt (vgl. Ebert 1995: 367). Man kann zwischen einer "fundamentalistischen", auf Statussicherung für Eltern gegenüber Kinderlosen derselben Schicht gerichteten, und einer "emanzipatorischen" Familienpolitik unterscheiden, die ganz andere Ziele verfolgt: "Sie geht von der Diagnose aus, daß gesellschaftliche Strukturprobleme, sei es am Arbeitsmarkt, in der Einkommensverteilung, am Wohnungsmarkt, im Verkehr und im Städtebau, in der Chancenverteilung zwischen Männern und Frauen oder im Bildungswesen, in erster Linie zu Lasten von Kindern gehen." (Ebert 1995: 369)

Statt jene Menschen materiell besser zu stellen, die Kinder haben, sind jene Kinder besser zu stellen, die keine gut situierten Eltern haben oder von ihnen vernachlässigt werden. Es muss darum gehen, Kinder direkt und unabhängigig von der jeweiligen Familienform wie von der Erwerbsbiografie ihrer Eltern zu unterstützen. Dies impliziert, dass sich die Rechte eines Kindes aus seiner eigenen Identität als Kind statt aus seiner Beziehung zu einem anspruchsberechtigten Elternteil ableiten (vgl. z. B. Joos 1997: 76). Kinderarmut kann nicht durch die Aufwertung traditioneller Familienformen, sondern nur durch die Bereitstellung und Verbesserung der sozialen Infrastruktur und entsprechender Dienste für die davon (potenziell) Betroffenen wirksam bekämpft werden (vgl. Bäcker/Stolz-Willig 1994: 13 ff.; Bäcker 2000: 267).

Literatur

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)