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US-Wahl: Verschwörungen und andere Theorien

"Das Volk habe gesprochen, hatte US-Präsident Bill Clinton noch in der Wahlnacht des 7. November gesagt, aber man habe noch nicht ganz verstanden, was es meint. Vier Wochen nach dem Votum scheint das Resultat festzustehen. Statistiker, Techniker, Psychologen, Semantiker und Juristen haben sich mit dem ominösen Ergebnis beschäftigt, das 107 Millionen US-Wähler und insbesondere sechs Millionen Einwohner Floridas der Welt ältester Demokratie bescherten. Doch es waren Richter, die – wie die Verfassung es vorsieht – am Ende entschieden: Der 43. Präsident der USA wird aller Voraussicht nach George W. Bush heißen", schreibt Rolf Paasch in der FR (8.12.00).

Ist damit das Wahldrama erledigt oder bleiben die offen zu Tage getretenen tiefen Risse in der US-amerikanischen Gesellschaft unüberbrückbar? Andrian Kreye ist in seinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung (15.12.00) skeptisch:

"Für beide Parteien ist mit dem flauen Ende der großen Krise ein neuer, übermächtiger Gegner am Horizont aufgetaucht: der Zweifel. Nicht an den Politikern. Am System an sich. Mag sein, dass für den Großteil der amerikanischen Bevölkerung schon bald der Alltag einkehrt. Doch an der Basis brodelt es. Und mangels Alternativen wird sie sich im Zweiparteienland der USA ein gefährliches Ventil suchen: nämlich in Form der Verschwörungstheorien, einer schon traditionellen Form der amerikanischen Folklore. Verschwörungstheorien gibt es rechts wie links von der politischen Mitte – und noch nie haben sie sich so hartnäckig gehalten wie heute. Natürlich gibt es die vernünftigen Zweifler, die ganz gesunde Reformen des politischen Systems einfordern. Die nicht einsehen, dass eine Regierung ihrem Volk so wenig traut, dass nicht die Wähler, sondern die Wahlmänner den Präsidenten bestimmen. Deren Stimmen werden im Wust der Rechtsfragen verloren gehen, die die Gerichte und Ausschüsse noch einige Monate beschäftigen werden. Doch an den Rändern der Gesellschaft rühren sich schon Stimmen, die trotz ihrer Irrationalität nicht zu unterschätzen sind. Die ersten Spuren sind schon gelegt. Und zwar von ganz oben. Bundesrichter John P. Stevens kritisierte die Entscheidung seines eigenen Supreme Court mit den mittlerweile geflügelten Worten: ‚Auch wenn wir die Identität des wahren Siegers dieser Präsidentschaftswahl nie mit vollständiger Sicherheit kennen werden, steht die Identität des Verlierers doch fest: Das Vertrauen der Nation in den Richter als unparteiischen Wächter der Rechtsstaatlichkeit.’ Und das schlechte Gewissen der Nation, Reverend Jesse Jackson, schimpfte: ‚Bush mag der legale Präsident sein, doch er wird ohne die moralische Autorität regieren. Er verdankt sein Amt nicht den Wählern, sondern dem Obersten Gerichtshof.’ Das ist kein Gerede, das ist eine Fundamental-Kritik am System", urteilt Kreye.

Serge Halimi und Loic Wacquant richten ihr Augenmerk auf das "Bild einer ziemlich kranken Demokratie". In Le Monde diplomatique (15.12.00) schreiben sie: "Wir entdecken ein durch und durch inegalitäres Wahlverfahren. Wir entdecken, dass jeder Bundesstaat für sich darüber entscheiden kann, wer an der Wahl teilnehmen darf, und jeder Wahlbezirk darüber, wo, wann und wie diese Teilnahme zu erfolgen hat. Wir entdecken den Krieg der Anwaltskanzleien, die Verquickung der Gerichte, den Entzug des Wahlrechts für Millionen Amerikaner, die Vorauswahl der Kandidaten nach dem Kriterium des Geldes, die inhaltsleere und verdummende politische Werbung, die Pseudo-Diskussionen im Fernsehen, an denen nur die Sprecher der Einheitspartei mit zwei Köpfen teilnehmen, eine irrsinnige, von der Konkurrenzideologie verdorbene Medienlandschaft ... Der Faktor Geld war in diesem Wahlkampf so dominant, dass in beiden Parteien die Vorwahlen – wie erwartet – von dem Kandidaten gewonnen wurden, der mehr Gelder als seine Mitbewerber mobilisieren konnte. Geld erschließt den Zugang zu den Medien, und die Medien erschließen den Zugang zur Öffentlichkeit. Wer nicht zu der Einheitspartei mit den zwei Köpfen gehört, ist daher von vornherein aus dem Rennen, sodass sich widerspenstige Wähler leicht mit dem Totschlagargument des ‚kleineren Übels’ einschüchtern lassen. Demgegenüber erscheint die Frage, ob auch alle Wähler die Möglichkeit haben, zur Urne zu gehen, als völlig zweitrangig: Die Wahl findet an einem Wochentag statt, die Öffnungszeiten der Wahlbüros variieren je nach Wahlbezirk und hängen von der finanziellen Ausstattung der örtlichen Verwaltung ab: In den reichen Vororten der Weißen muss niemand anstehen, in den armen Stadtvierteln der Farbigen bilden sich lange Warteschlangen. Fast vergisst man darüber den undemokratischen Charakter des indirekten Wahlsystems. ... Dieselbe Regelung, die damals von den weißen Männern ersonnen wurde, um das politische System abzuschotten, führt zweihundert Jahre später zu dem Resultat, dass die Bewohner der kleinen ländlichen Staaten mit überwiegend weißer und konservativer Bevölkerung bei Wahlen mehr Gewicht haben als ihre Mitbürger in anderen Staaten."

Auch das juristische Gezerre erscheint den Autoren nicht als Beleg für eine "tief gespaltene" Gesellschaft und "sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen ihnen eigentlich keine ernsthaften Differenzen gibt. Die USA sind mitnichten ,tief gespalten‘, sie zerfallen vielmehr in zwei gleich große, apathische Teile. Dass 49,3 Prozent der wahlberechtigten Amerikaner der Wahl fernblieben und die endlose Auszählung der Stimmen – bis auf wenige Ausnahmen – unter allgemein ruhigen Bedingungen vonstatten ging, zeigt zur Genüge, dass die beiden ‚offiziellen’ Kandidaten wenig Begeisterung auslösen konnten."

Was sich in diesen Vorgängen zeige, habe mit einer Krise des Regierens nichts zu tun. Vielmehr seien sich beide Parteien und Kandidaten inhaltlich so nah, dass die "wirkliche Wahl" zwischen Bush und Gore mitunter einer Parodie auf die Demokratie geglichen habe:

"Nicht nur, dass die beiden Hauptkandidaten ihre Wahlkampfthemen voneinander abkupferten, oft waren es auch dieselben Industrielobbyisten, die ihre Werbung und ihre Berater finanzierten. So erklärte Amoco-Chef John Browne unumwunden: ‚Wir würden den Sieg der einen wie der anderen Partei begrüßen.’ Außerdem verständigten sich Gore und Bush darauf, die anderen Kandidaten – namentlich den ‚grünen’ Ralph Nader und den konservativen Patrick Buchanan – von allen vier großen Fernseh-Diskussionen fern zu halten.

Obwohl das auf einen Wahlgang beschränkte Wahlverfahren solche Drittkandidaten ohnehin schon übermäßig benachteiligt und obwohl Letztere bei weitem nicht über die finanziellen Mittel ihrer Mitbewerber verfügen, hielt man es für notwendig, dem aufwendigen Hindernislauf noch eine weitere Hürde hinzuzufügen: die De-facto-Ausgrenzung aus der öffentlichen Diskussion. War die Konkurrenz erst einmal vernichtet, brauchte man nur noch zu verkünden, dass an der Wahl des ‚kleineren Übels’ absolut kein Weg vorbeiführe. Gegen dieses Sündenregister – das die Demokratie unendlich viel schwerer belastet als die fehlerhafte Auszählung der Stimmen von einigen hundert im Ausland stationierten Soldaten – richtete sich vor allem der Zorn der institutionalisierten Linken", notieren die beiden und ziehen ein düsteres Fazit: "Allerdings sollte der fast schon pittoresk anmutende Charakter der jüngsten Präsidentschaftswahl das Wesentliche nicht verbergen: Die amerikanische Politik, die in aller Welt für ihren demokratischen Charakter gepriesen wird, hat selbst noch den Schein der Autonomie verloren. Von wirtschaftlichen Interessen durchsetzt, befolgt sie brav die Vorgaben der Medien und der Justiz, die ihrerseits dem ehernen Gesetz des Geldes unterliegen. Amerika hat der übrigen Welt durchaus eine Lektion erteilt, aber es ist keine Lektion in staatsbürgerlichem Verhalten."

Ohne politisches Urteil, aber mit einem erhellenden Blick über die "Messbarkeit der Dinge" beschäftigt sich Heinz Zimmermann mit dem Zählwirrwarr in den USA in seinem Beitrag für die Neue Züricher Zeitung (14.12.00): "Der Mensch unterliegt einer Fehleinschätzung, was die Messbarkeit der Dinge betrifft: Man glaubt, je detaillierter und raffinierter ein Messverfahren wird, umso klarer und eindeutiger müsse das Resultat ausfallen. Das ist grundlegend falsch." Denn: "Komplexe Systeme reagieren unter Umständen drastisch auf den Präzisionsgrad von Beobachtungen, aber dementsprechend auch auf Messfehler – vielleicht nicht sogleich, sondern erst nach einer Weile. Umgekehrt heisst es, dass Dinge bei genauerer Messung unschärfer oder in ihrer Interpretation arbiträrer werden", schreibt er einführend zur Chaostheorie und folgert für die US-amerikanische Wahl: "Es können Tausende von Stimmzetteln noch so häufig nachgezählt werden, deren Gültigkeitskriterien und Auswertungsverfahren noch so häufig verändert werden, es können die besten Rechtsanwälte und Richter der Nation die bestehenden Gesetze noch so raffiniert interpretieren – ein Problem wird dadurch nicht gelöst, nämlich die Frage, wie eine mehrheitlich als fair betrachtete Wahl durchgeführt werden kann. Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis das Ganze führt, wird dieses als arbiträr betrachtet werden; einige Leute werden damit einfach besser leben können als andere. Ich hätte deshalb vorgeschlagen, dass die Würfel entscheiden sollen. Gut, das Ergebnis würde als zufällig betrachtet, aber das Verfahren wäre zumindest nachvollziehbar, was vom derzeitigen chaotischen Prozess nicht behauptet werden kann. Der Zufall wird von den meisten Leuten als Selektions- und Ordnungsprinzip halt doch eher akzeptiert als das Chaos."

Ebenfalls in der NZZ zieht Georg Kohler (22.11.00) Schlussfolgerungen genereller Art in Anlehnung an Thomas Hobbes, nicht ohne zuvor auf "eine politische Theorie der Unschärferelation" einzugehen – der Frage nämlich, wann ein Loch auf einem Stimmzettel ein Loch ist und aus einer Stimme ein Votum macht: "Damit eine demokratische Ordnung funktioniert, braucht es zuletzt auch Prozeduren, die gerade dort an- und einsetzen, wo Stimmen nicht mehr gezählt und Mehrheiten nicht mehr festgestellt werden können. Ergo basiert – pointiert gesagt – jede Demokratie auf einer Diktatur von Regeln und Schiedsrichtern. Das ist auch der tiefere Sinn der Begriffsverbindung, die wir so leichthin in einem Zug aussprechen und die ,rechtsstaatliche‘ Demokratie nennen. Zweitens: Was ‚Volkssouveränität’ heisst und scheinbar die absolute Herrschaft der Mehrheit bezeichnet, ist als dauerhafte Ordnung nur möglich im Gefüge jener Regeln, die eine ‚Verfassung’ ausmachen und deren Effektivität von zwei Bedingungen abhängt: von der stillschweigenden Bereitschaft der überwiegenden gesellschaftlichen Kräfte, ihnen zu gehorchen, und von der Etablierung handlungsfähiger Instanzen, die tatsächlich letzte Entscheidungen zu treffen imstande sind. Die wirkliche Staatskrise beginnt dann, wenn diese zwei Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. Drittens: ‚Auctoritas non veritas facit legem’ (Eine oberste Macht, nicht Wahrheit oder Richtigkeit, ist die Grundlage der Gesetze), sagt der sehr nüchterne Hobbes. Demokratie-theoretisch gewendet spricht der Satz aus, was schon das Fazit der zweiten These ist: Dass nicht Mehrheiten allein, sondern ebenso Verfassungsloyalität (also Gehorsam) und – letztlich – zufällige Entscheidungen von Einzelnen die demokratische Ordnung stiften und erhalten. Solche Einsichten eröffnen ein weites Feld. Man kann mit ihnen einige unserer liebsten Ansichten über die Demokratie relativieren – die Ideen der ‚Gleichheit’, der ‚aktiven Beteiligung’ und der ‚Volkssouveränität’. Denn ‚Demokratie’ muss offensichtlich immer die intelligente Mischung zweier Faktoren sein: des Bestimmungswillens aktueller Mehrheiten und der Herrschaft von Gesetzen. Sie impliziert dadurch sowohl Egalität der Bürger (one man, one vote ) wie Inegalität (zwischen Schiedsrichtern und Publikum). Also eine ‚Diktatur’ von Regeln und Richtern."

Redaktion: Michael Blum

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Januar 2001 (19. Jg., Heft 1/2001)