Ausschluss, Entwürdigung, Missachtung

 

Die gesellschaftliche Desintegration ist das Kernproblem der deutschen Innenpolitik

 

Martin Altmeyer

 

In den Iden des November 2002 zeigte sich der Strukturwandel einer medialisierten Öffentlichkeit in seiner ganzen Doppelgesichtigkeit. Sie hat allerdings mit den Schwächen der Regierung zu tun.

 

Wer hätte gedacht, dass die versammelte Presse über Wochen den zivilen Ungehorsam gegen eine demokratisch gewählte Bundesregierung schüren, dass in Deutschland die »vierte« Gewalt unter Führung des FAZ-Feuilletons einmal unisono zur Rebellion (oder doch nur, wie man dem beißenden Spott ihrer eigenen Sonntagszeitung entnehmen kann, zur »Salonrebellion«?) gegen die dritte aufrufen würde? Als ob der Staatsnotstand ausgebrochen wäre, wurde auf der einen Seite gezielt eine Stimmung der Rebellion geschürt und unverhohlen die Machtfrage gestellt – aber scharf wurden auch die wirklichen Defizite der Koalitionspolitik umrissen, die mit ihren ebenso halbherzigen wie widersprüchlichen Reformprojekten der tief gehenden Krise von Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat nicht gerecht zu werden schien. Die Leistungseliten der Republik, um den sicher geglaubten Wahlsieg gebracht, ließen Endzeitstimmung verbreiten. Kanzlerdämmerung. Gerhard Schröder zeigte Wirkung. Er musste Rücktrittsabsichten dementieren und lenkte die massive Kritik schließlich auf seine Partei um, indem er deren Schlingerkurs öffentlich als Kakophonie denunzierte.

Seit vor Weihnachten die Ankündigung einer pauschalen Abgeltungssteuer und die Verabschiedung der ersten »Hartz«-Gesetze allenthalben Zustimmung auslöste, ist der gewaltige Proteststurm abgeebbt. Die »Medienkampagne«, die Joschka Fischer (der es freilich besser weiß) darin erkannt haben will, ist vorerst eingestellt. Die Barrikaden der Konterrevolution sind vorübergehend abgebaut. Der bürgerliche Aufruhr gegen die rot-grüne Inkompetenz hat sich einstweilen gelegt. Aber die bourgeoise Forderung nach dem autoritären Staat liegt noch in der Luft, die polyphone Erklärung des Ausnahmezustands von unten ist lediglich ausgesetzt, nicht zurückgenommen. Es herrscht die trügerische Ruhe nach dem Sturm, der jederzeit wieder entfacht werden kann.

 

Die Arbeitslosigkeit bedroht den Zusammenhalt der Gesellschaft

Vor allem ist der gesellschaftliche Reformbedarf mitnichten erledigt, welcher der dreisten Inszenierung erst ihre scheinbare Legitimation verschaffte. Er ist noch nicht einmal erkannt, behaupte ich, weder von der Regierung, noch von ihren medialen Kritikern – und schon gar nicht von der ihre Wahlniederlage ignorierenden Opposition, die ihre Strategie des Putsches zunächst mit einem Untersuchungsausschuss über Lüge und Betrug moralisch zu munitionieren suchte und nun auf Kooperation umgeschwenkt ist. Worin aber besteht dieser Bedarf denn? In der Reduktion der Arbeitslosigkeit durch Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und Verbilligung der Arbeit, im Abbau von bürokratischen Investitionshindernissen, in der Beschleunigung von trägen Prozeduren, in der Deregulierung überregulierter Verfahren, im Aufbrechen verkrusteter Strukturen, in der Einschränkung korporatistisch organisierter Interessenvertretungen, im Umbau der Sozialsysteme durch Einnahmeerhöhung, Leistungsreduktion, Wahlmöglichkeit und Eigenbeteiligung ... und so weiter? Das gesamte Sanierungsprogramm ist inzwischen jedermann bekannt und wird in neoliberaler oder sozialdemokratischer Manier rauf- und runterdekliniert. Und all das wird man irgendwie auch machen müssen. Aber zu welchem Zweck? Um wieder Vollbeschäftigung zu erreichen? Um das Wirtschaftswachstum endlich in Gang zu bringen? Um den Sozialstaat zu sichern?

Das sind Illusionen von gestern, Fantasmen einer vergangenen Zeit, realitätsfremder Ausdruck eines interessierten Daueroptimismus, den die Gesetze von Produktion und Produktivitätssteigerung in der zeitgenössischen Marktwirtschaft Tag für Tag dementieren. Im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung ist die Exklusion weltweit das soziale und kulturelle Problem Nummer eins. Und die gesellschaftliche Desintegration ist auch das Kernproblem der deutschen Innenpolitik. Die Entwicklung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft zugelassen zu haben – das ist der wirkliche Skandal, den die Politik im wieder vereinigten Deutschland verantworten muss. Auf Dauer ein Drittel der Bevölkerung und mehr von der produktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben auszuschließen und auf den Status von bestenfalls Zuwendungsempfängern zu reduzieren – darin besteht die eigentliche Zukunftsgefahr für ein Land, dessen Verfassung die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Und diesen sozialen Sprengstoff als Frage von Arm oder Reich verharmlosen zu wollen, in ein quantitatives Konsumproblem von weniger oder mehr zu verwandeln, das mit Transferleistungen zu lösen oder mindestens zu mildern ist – hier liegt der wesentliche Irrtum unserer politischen Klasse. Weder die geschäftsführende rot-grüne Regierung mit eher »linken« (d.h. vor allem sozialdemokratischen) Antworten noch ihre schwarz-gelbe Vorgängerin mit ihren »rechten« (neoliberal-konservativen) Konzepten sind bisher der neuen Herausforderung gerecht geworden, welche eine zunehmend desintegrierte Gesellschaft stellt: ihren inneren Zusammenhalt wieder herzustellen.

 

Jenseits von Sozialdemokratie und Neoliberalismus?

Axel Honneth hat (aus einer sozialphilosophischen Perspektive) den Grünen empfohlen, gegenüber der fatalen Desintegrationsdynamik, die auf der abgedunkelten Kehrseite einer zusammenwachsenden Welt greift, einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff ins politische Spiel zu bringen. Er setzt dabei auf das besondere Reflexionspotenzial der Grünen. Wie keine andere Partei sind sie gerade deshalb prädestiniert, auf die unvermeidliche Auflösung alter Sozialordnungen und Wertorientierungen lernbereit und produktiv zu reagieren, weil sie ihre moralische Sensibilität in der Konfrontation mit den paradoxen Modernisierungsprozessen des Kapitalismus herausgebildet und im Lauf ihrer Geschichte eine Kultur des diskursiven Aushandelns entwickelt haben. Historisch nicht gebunden an bestimmte soziale Interessen scheinen sie am ehesten in der Lage, politische Ziele zu formulieren, die sich universalisieren lassen. Gerechtigkeit als zentrale und verschiedene Politikbereiche integrierende Leitidee beschränkt sich nach dieser Empfehlung nicht auf den engen Bereich materieller Chancengleichheit und ihre immateriellen Ressourcen (wie etwa Schulbildung oder berufliche Qualifikation), sondern umfasst gewissermaßen das Ganze einer globalisierten Lebenswelt: den Schutz der natürlichen Umwelt und den sparsamen Umgang mit begrenzten Ressourcen, die Einbeziehung zukünftiger Generationen, das respektvolle Zusammenleben verschiedener Kulturen.

Aber der traditionelle Theoriediskurs der Linken, der sich seit Bourdieu und dank Le Monde diplomatique als Furcht und Abscheu erregenden Teufelsersatz das Schreckgespenst des Neoliberalismus hält, der für die soziale Kälte verantwortlich ist und auch hinter jeder anderen globalen Schweinerei zu stecken scheint – dieser fatale Diskurs der Gewissheiten erlebt gegenwärtig eine Renaissance. Eine reformistische Strategie der gesellschaftlichen Veränderung kann deshalb immer damit rechnen, dass sie von links mit dem Vorwurf des Neoliberalismus belegt wird und sich dagegen vorbeugend zu verteidigen hat. Insbesondere die Grünen mussten sich bei ihren sozial- und wirtschaftspolitischen Vorschlägen anhören, diese seien neoliberal kontaminiert. Das hat ihre Sozialdemokratisierung beschleunigt, die ihr nicht nur von Oswald Metzger vorgeworfen wird. Aber die durch eine Klientel- und Subventionspolitik, durch staatliche Überregulation und durch den Korporatismus der Verbände verkrusteten Strukturen sind in Zeiten einer offeneren Weltwirtschaft offenbar nicht mehr in der Lage, Vollbeschäftigung und soziale Risikoabsicherung zu garantieren – im Gegenteil, der Versuch ihrer Aufrechterhaltung leistet einer sozialen Desintegration weiteren Vorschub, und die strukturkonservativen Gewerkschaften sind daran nicht unbeteiligt. Die Zweidrittelgesellschaft ist bereits ein Ergebnis dieser entropischen Entwicklung, nicht erst die Folge des Neoliberalismus.

Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst wird weitere Arbeitsplätze kosten und die Kommunen zwingen, ihre Dienstleistungen weiter einzuschränken, wenn sie nicht in den Ruin treiben wollen. Sie werden Schwimmbäder und andere Kultureinrichtungen schließen, weil sie gerade noch das feste Personal bezahlen, nicht aber mehr den Betrieb finanzieren können. Die deutsche Theaterlandschaft, einzigartig in der Welt, ist bedroht, wenn für die Aufführungen das Geld fehlt, das stattdessen für die fixen Kosten eines aufgeblähten Personalapparats fließt und wenn starre Tarifbestimmungen flexible Lösungen verhindern. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die Bühnen beginnen notgedrungen, sich von den Zwängen eines Systems zu befreien, das sie an den unvermeidlichen Anpassungen hindert und so ihre künstlerische Existenz gefährdet. Das hoch verschuldete Berlin tritt aus dem kommunalen Arbeitgeberverband aus, um eigene Lösungen für die Probleme einer Großstadt zu finden; es werden sich Nachfolger finden. Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, unternehmerisches Handeln sind gefragt in einer Situation, in der der Ruf nach Subventionen, nach Versorgung, nach Vater Staat und Mutter Sicherheit offenkundig selbst jener Krankheit entstammt, für deren Medizin er sich hält. Die Sanierung der Volkswirtschaft verlangt die Selbstbeteiligung ihrer Agenten, das Gleiche verlangt die Sanierung des Sozialstaats.

 

Drei grüne Einsichten anderer Art

Die rot-grüne Regierung tut sich schwer mit solchen Aufgaben, weil sie innenpolitisch auf einem »linken« Ticket ihre Mandatsverlängerung erreicht hat. Als Kollateralschaden lähmt dieses Erbe eines erfolgreichen Wahlkampfes nun ihre Handlungsfähigkeit. Aber auch aus der außenpolitischen Sackgasse, in die sie sich in der Irak-Frage auf einem deutschen Sonderweg hineinmanövriert hat, beginnt sie sich allmählich zu befreien. Warum sollte ihr das nicht auch beim Abbau der Arbeitslosigkeit und beim Umbau der Sozialsysteme gelingen? Sie müsste sich dazu allerdings einigen unbequemen Einsichten stellen:

Erstens ist die Regierung eines technologisch so hoch entwickelten, im Weltmaßstab so überaus reichen und mächtigen Staates im Zentrum Europas keine Truppe von Bastlern, die bloß an peripheren Stellschrauben drehen kann, um das volkswirtschaftliche Geschehen zu beeinflussen. Das ist ein systemtheoretisch aufgebrezeltes Alibiargument, das konzeptionelle Schwächen kaschiert. Mit ihrer gesellschaftlichen Verankerung und der parlamentarischen Mehrheit, in der sich diese Verankerung ausdrückt, wäre eine selbstbewusste Reformkoalition durchaus in der Lage, ihren demokratischen Führungsanspruch zur Geltung zu bringen, indem sie die entscheidenden Weichen für einen notwendigen Kurswechsel stellt und entsprechende Rahmenbedingungen schafft.

Zweitens müsste Rot-Grün einsehen, dass sie einem in Deutschland aus historischen Gründen nur marginal entwickelten rechten Populismus Auftrieb verschafft, wenn sie einer wachsenden Arbeitslosigkeit zusieht (wir sind inzwischen schon bei 10 % mit steigender Tendenz), um bloß ihre eigene Klientel nicht zu verprellen. Die soziale Desintegration droht nämlich zu einem Punkt zu treiben, an dem die Ausgeschlossenen versucht sind, ihrer Entwürdigung und Missachtung durch eine reaktionäre Mobilisierung zu entgehen.

Und drittens müsste man sich der Einsicht stellen, dass der sozialdemokratische Tanker auf einem ideologischen Kurs fährt, der geradewegs ins Verderben führt, weil er nach dem Motto »Mehr desselben« einer weiteren Exklusion Vorschub leistet. Für alle Fälle sollte deshalb eine schwarz-grüne Option eröffnet werden – und wenn sie den Grünen nur dazu dient, selbst ins Ruder zu greifen, um einen Kurswechsel zu erzwingen.