In den Iden des November 2002 zeigte sich der Strukturwandel einer
medialisierten Öffentlichkeit in seiner ganzen Doppelgesichtigkeit. Sie hat
allerdings mit den Schwächen der Regierung zu tun.
Wer hätte gedacht, dass die
versammelte Presse über Wochen den zivilen Ungehorsam gegen eine demokratisch
gewählte Bundesregierung schüren, dass in Deutschland die »vierte« Gewalt unter
Führung des FAZ-Feuilletons einmal unisono zur Rebellion (oder doch nur,
wie man dem beißenden Spott ihrer eigenen Sonntagszeitung entnehmen
kann, zur »Salonrebellion«?) gegen die dritte aufrufen würde? Als ob der
Staatsnotstand ausgebrochen wäre, wurde auf der einen Seite gezielt eine
Stimmung der Rebellion geschürt und unverhohlen die Machtfrage gestellt – aber
scharf wurden auch die wirklichen Defizite der Koalitionspolitik umrissen, die
mit ihren ebenso halbherzigen wie widersprüchlichen Reformprojekten der tief
gehenden Krise von Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat nicht gerecht zu werden
schien. Die Leistungseliten der Republik, um den sicher geglaubten Wahlsieg
gebracht, ließen Endzeitstimmung verbreiten. Kanzlerdämmerung. Gerhard Schröder
zeigte Wirkung. Er musste Rücktrittsabsichten dementieren und lenkte die
massive Kritik schließlich auf seine Partei um, indem er deren Schlingerkurs
öffentlich als Kakophonie denunzierte.
Seit vor Weihnachten die Ankündigung einer pauschalen
Abgeltungssteuer und die Verabschiedung der ersten »Hartz«-Gesetze allenthalben
Zustimmung auslöste, ist der gewaltige Proteststurm abgeebbt. Die
»Medienkampagne«, die Joschka Fischer (der es freilich besser weiß) darin
erkannt haben will, ist vorerst eingestellt. Die Barrikaden der
Konterrevolution sind vorübergehend abgebaut. Der bürgerliche Aufruhr gegen die
rot-grüne Inkompetenz hat sich einstweilen gelegt. Aber die bourgeoise
Forderung nach dem autoritären Staat liegt noch in der Luft, die polyphone
Erklärung des Ausnahmezustands von unten ist lediglich ausgesetzt, nicht
zurückgenommen. Es herrscht die trügerische Ruhe nach dem Sturm, der jederzeit
wieder entfacht werden kann.
Die Arbeitslosigkeit bedroht den Zusammenhalt der
Gesellschaft
Vor allem ist der gesellschaftliche
Reformbedarf mitnichten erledigt, welcher der dreisten Inszenierung erst ihre
scheinbare Legitimation verschaffte. Er ist noch nicht einmal erkannt, behaupte
ich, weder von der Regierung, noch von ihren medialen Kritikern – und schon gar
nicht von der ihre Wahlniederlage ignorierenden Opposition, die ihre Strategie
des Putsches zunächst mit einem Untersuchungsausschuss über Lüge und Betrug
moralisch zu munitionieren suchte und nun auf Kooperation umgeschwenkt ist.
Worin aber besteht dieser Bedarf denn? In der Reduktion der Arbeitslosigkeit
durch Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und Verbilligung der Arbeit, im Abbau
von bürokratischen Investitionshindernissen, in der Beschleunigung von trägen
Prozeduren, in der Deregulierung überregulierter Verfahren, im Aufbrechen
verkrusteter Strukturen, in der Einschränkung korporatistisch organisierter
Interessenvertretungen, im Umbau der Sozialsysteme durch Einnahmeerhöhung,
Leistungsreduktion, Wahlmöglichkeit und Eigenbeteiligung ... und so weiter? Das
gesamte Sanierungsprogramm ist inzwischen jedermann bekannt und wird in
neoliberaler oder sozialdemokratischer Manier rauf- und runterdekliniert. Und
all das wird man irgendwie auch machen müssen. Aber zu welchem Zweck? Um wieder
Vollbeschäftigung zu erreichen? Um das Wirtschaftswachstum endlich in Gang zu
bringen? Um den Sozialstaat zu sichern?
Das sind Illusionen von gestern, Fantasmen einer vergangenen
Zeit, realitätsfremder Ausdruck eines interessierten Daueroptimismus, den die
Gesetze von Produktion und Produktivitätssteigerung in der zeitgenössischen
Marktwirtschaft Tag für Tag dementieren. Im Zeitalter der kapitalistischen
Globalisierung ist die Exklusion weltweit das soziale und kulturelle Problem
Nummer eins. Und die gesellschaftliche Desintegration ist auch das Kernproblem
der deutschen Innenpolitik. Die Entwicklung einer Zwei-Drittel-Gesellschaft
zugelassen zu haben – das ist der wirkliche Skandal, den die Politik im wieder
vereinigten Deutschland verantworten muss. Auf Dauer ein Drittel der Bevölkerung
und mehr von der produktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
auszuschließen und auf den Status von bestenfalls Zuwendungsempfängern zu
reduzieren – darin besteht die eigentliche Zukunftsgefahr für ein Land, dessen
Verfassung die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Und diesen sozialen
Sprengstoff als Frage von Arm oder Reich verharmlosen zu wollen, in ein
quantitatives Konsumproblem von weniger oder mehr zu verwandeln, das mit
Transferleistungen zu lösen oder mindestens zu mildern ist – hier liegt der
wesentliche Irrtum unserer politischen Klasse. Weder die geschäftsführende
rot-grüne Regierung mit eher »linken« (d.h. vor allem sozialdemokratischen)
Antworten noch ihre schwarz-gelbe Vorgängerin mit ihren »rechten«
(neoliberal-konservativen) Konzepten sind bisher der neuen Herausforderung
gerecht geworden, welche eine zunehmend desintegrierte Gesellschaft stellt:
ihren inneren Zusammenhalt wieder herzustellen.
Jenseits von Sozialdemokratie und Neoliberalismus?
Axel Honneth hat (aus einer
sozialphilosophischen Perspektive) den Grünen empfohlen, gegenüber der fatalen
Desintegrationsdynamik, die auf der abgedunkelten Kehrseite einer
zusammenwachsenden Welt greift, einen erweiterten Gerechtigkeitsbegriff ins
politische Spiel zu bringen. Er setzt dabei auf das besondere
Reflexionspotenzial der Grünen. Wie keine andere Partei sind sie gerade deshalb
prädestiniert, auf die unvermeidliche Auflösung alter Sozialordnungen und
Wertorientierungen lernbereit und produktiv zu reagieren, weil sie ihre
moralische Sensibilität in der Konfrontation mit den paradoxen
Modernisierungsprozessen des Kapitalismus herausgebildet und im Lauf ihrer
Geschichte eine Kultur des diskursiven Aushandelns entwickelt haben. Historisch
nicht gebunden an bestimmte soziale Interessen scheinen sie am ehesten in der
Lage, politische Ziele zu formulieren, die sich universalisieren lassen.
Gerechtigkeit als zentrale und verschiedene Politikbereiche integrierende
Leitidee beschränkt sich nach dieser Empfehlung nicht auf den engen Bereich materieller
Chancengleichheit und ihre immateriellen Ressourcen (wie etwa Schulbildung oder
berufliche Qualifikation), sondern umfasst gewissermaßen das Ganze einer
globalisierten Lebenswelt: den Schutz der natürlichen Umwelt und den sparsamen
Umgang mit begrenzten Ressourcen, die Einbeziehung zukünftiger Generationen,
das respektvolle Zusammenleben verschiedener Kulturen.
Aber der traditionelle Theoriediskurs der Linken, der sich
seit Bourdieu und dank Le Monde diplomatique als Furcht und Abscheu
erregenden Teufelsersatz das Schreckgespenst des Neoliberalismus hält, der für
die soziale Kälte verantwortlich ist und auch hinter jeder anderen globalen
Schweinerei zu stecken scheint – dieser fatale Diskurs der Gewissheiten erlebt
gegenwärtig eine Renaissance. Eine reformistische Strategie der
gesellschaftlichen Veränderung kann deshalb immer damit rechnen, dass sie von
links mit dem Vorwurf des Neoliberalismus belegt wird und sich dagegen
vorbeugend zu verteidigen hat. Insbesondere die Grünen mussten sich bei ihren sozial-
und wirtschaftspolitischen Vorschlägen anhören, diese seien neoliberal
kontaminiert. Das hat ihre Sozialdemokratisierung beschleunigt, die ihr nicht
nur von Oswald Metzger vorgeworfen wird. Aber die durch eine Klientel- und
Subventionspolitik, durch staatliche Überregulation und durch den Korporatismus
der Verbände verkrusteten Strukturen sind in Zeiten einer offeneren
Weltwirtschaft offenbar nicht mehr in der Lage, Vollbeschäftigung und soziale
Risikoabsicherung zu garantieren – im Gegenteil, der Versuch ihrer
Aufrechterhaltung leistet einer sozialen Desintegration weiteren Vorschub, und
die strukturkonservativen Gewerkschaften sind daran nicht unbeteiligt. Die
Zweidrittelgesellschaft ist bereits ein Ergebnis dieser entropischen
Entwicklung, nicht erst die Folge des Neoliberalismus.
Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst wird weitere
Arbeitsplätze kosten und die Kommunen zwingen, ihre Dienstleistungen weiter
einzuschränken, wenn sie nicht in den Ruin treiben wollen. Sie werden
Schwimmbäder und andere Kultureinrichtungen schließen, weil sie gerade noch das
feste Personal bezahlen, nicht aber mehr den Betrieb finanzieren können. Die
deutsche Theaterlandschaft, einzigartig in der Welt, ist bedroht, wenn für die
Aufführungen das Geld fehlt, das stattdessen für die fixen Kosten eines
aufgeblähten Personalapparats fließt und wenn starre Tarifbestimmungen flexible
Lösungen verhindern. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Die Bühnen
beginnen notgedrungen, sich von den Zwängen eines Systems zu befreien, das sie
an den unvermeidlichen Anpassungen hindert und so ihre künstlerische Existenz
gefährdet. Das hoch verschuldete Berlin tritt aus dem kommunalen
Arbeitgeberverband aus, um eigene Lösungen für die Probleme einer Großstadt zu
finden; es werden sich Nachfolger finden. Selbstbestimmung, Eigenverantwortung,
unternehmerisches Handeln sind gefragt in einer Situation, in der der Ruf nach
Subventionen, nach Versorgung, nach Vater Staat und Mutter Sicherheit
offenkundig selbst jener Krankheit entstammt, für deren Medizin er sich hält.
Die Sanierung der Volkswirtschaft verlangt die Selbstbeteiligung ihrer Agenten,
das Gleiche verlangt die Sanierung des Sozialstaats.
Drei grüne Einsichten
anderer Art
Die rot-grüne Regierung tut sich
schwer mit solchen Aufgaben, weil sie innenpolitisch auf einem »linken« Ticket
ihre Mandatsverlängerung erreicht hat. Als Kollateralschaden lähmt dieses Erbe
eines erfolgreichen Wahlkampfes nun ihre Handlungsfähigkeit. Aber auch aus der
außenpolitischen Sackgasse, in die sie sich in der Irak-Frage auf einem
deutschen Sonderweg hineinmanövriert hat, beginnt sie sich allmählich zu
befreien. Warum sollte ihr das nicht auch beim Abbau der Arbeitslosigkeit und
beim Umbau der Sozialsysteme gelingen? Sie müsste sich dazu allerdings einigen
unbequemen Einsichten stellen:
Erstens ist die Regierung eines technologisch so hoch
entwickelten, im Weltmaßstab so überaus reichen und mächtigen Staates im
Zentrum Europas keine Truppe von Bastlern, die bloß an peripheren
Stellschrauben drehen kann, um das volkswirtschaftliche Geschehen zu
beeinflussen. Das ist ein systemtheoretisch aufgebrezeltes Alibiargument, das
konzeptionelle Schwächen kaschiert. Mit ihrer gesellschaftlichen Verankerung
und der parlamentarischen Mehrheit, in der sich diese Verankerung ausdrückt,
wäre eine selbstbewusste Reformkoalition durchaus in der Lage, ihren
demokratischen Führungsanspruch zur Geltung zu bringen, indem sie die
entscheidenden Weichen für einen notwendigen Kurswechsel stellt und entsprechende
Rahmenbedingungen schafft.
Zweitens müsste Rot-Grün einsehen, dass sie einem in
Deutschland aus historischen Gründen nur marginal entwickelten rechten
Populismus Auftrieb verschafft, wenn sie einer wachsenden Arbeitslosigkeit
zusieht (wir sind inzwischen schon bei 10 % mit steigender Tendenz), um bloß
ihre eigene Klientel nicht zu verprellen. Die soziale Desintegration droht
nämlich zu einem Punkt zu treiben, an dem die Ausgeschlossenen versucht sind,
ihrer Entwürdigung und Missachtung durch eine reaktionäre Mobilisierung zu
entgehen.
Und drittens müsste man sich der Einsicht stellen, dass der
sozialdemokratische Tanker auf einem ideologischen Kurs fährt, der geradewegs
ins Verderben führt, weil er nach dem Motto »Mehr desselben« einer weiteren
Exklusion Vorschub leistet. Für alle Fälle sollte deshalb eine schwarz-grüne
Option eröffnet werden – und wenn sie den Grünen nur dazu dient, selbst ins
Ruder zu greifen, um einen Kurswechsel zu erzwingen.