Flotter Paradigmenwechsel

 

Von den Mängeln des Ansatzes der »neuen Kriege«

 

Ernst Köhler

 

Neuere Untersuchungen begründen den Topos der »neuen Kriege«. Unser Autor greift einige dieser Untersuchungen auf und sieht in ihnen eine Vernachlässigung der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges – und damit ein Überspringen des Alten im Neuen.

 

Die neue Literatur über den »Wandel der bewaffneten Gewalt« mit ihrer weit ausholenden vergleichenden Kriegstypologie hat ihre Verdienste – schon ihr globaler Horizont wäre da zu nennen und ihre Öffnung für die vielschichtigen politischen und ökonomischen Kontexte jener »neuen Kriege«. Sie hat ihren Gegenstand aus der alten Ecke der Militärgeschichte herausgeholt und zu einem öffentlichen Thema gemacht. Das Studium des einzelnen Krieges kann diese Literatur freilich nicht ersetzen, nicht einmal abkürzen. Eigentlich ein Gemeinplatz – aber diese nicht selten suggestiven Texte über die veränderte Gestalt des Krieges zu Beginn des neuen Jahrtausends lassen es geboten erscheinen, daran zu erinnern: Die Theorie des epochalen Wandels muss sich an der Erforschung des einzelnen Krieges bewähren, nicht umgekehrt das Bild des konkreten Krieges an der Theorie.

Unter diesem Gesichtspunkt will ich auf vier dieser Studien eingehen: Erhard Epplers Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, Herfried Münklers Die neuen Kriege, Ulrich K. Preuß’ Krieg, Verbrechen, Blasphemie und Mary Kaldors Neue und alte Kriege. Keine von ihnen ist frei von einer gewissen Voreiligkeit oder Forciertheit der Argumentation – möglicherweise der Preis für die gedankliche Unvoreingenommenheit und Kühnheit, um die sie sich bemühen. Selbst das kleine, nüchterne Buch von Erhard Eppler, dem ersichtlich weniger an Theorie als an politischer Orientierung gelegen ist, teilt diese Schwäche : »Das zweite, durchgängige Merkmal: Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten, zwischen Kämpfenden und Unbeteiligten, ist außer Kraft gesetzt. Meist sind unschuldige, unwillige, eingeschüchterte, verschreckte und vor allem gänzlich schutzlose Zivilisten die Opfer. Noch im Ersten Weltkrieg kamen auf ein ziviles Opfer zehn getötete Soldaten. Wo die privatisierte Gewalt freie Bahn hat, ist das Verhältnis nahezu umgekehrt. Auf einen getöteten Söldner kommen zwischen acht und zehn umgebrachte Frauen, Kinder, Greise, die mit dem Schießen und Morden nichts zu tun haben wollten.« (Erhard Eppler, S. 60) Und im Zweiten Weltkrieg, ist man versucht zu fragen – in Polen, Weißrussland, Russland? Der epplersche Paradigmenwechsel »vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt«, vom klassischen Krieg zwischen Staaten zur privatisierten Gewalt – im Afrika von heute etwa oder auf dem Balkan von gestern – weiß nichts Rechtes mit dem deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa anzufangen. Und nicht nur der epplersche: Auch in den einschlägigen Büchern von Herfried Münkler, Ulrich K. Preuß und sogar Mary Kaldor, der zweifellos führenden Autorin auf diesem Sektor, trifft man auf diese merkwürdige Leerstelle. Der epochale Bogen von den alten zu den neuen Kriegen scheint den Zweiten Weltkrieg überspringen oder überfliegen zu wollen – das wäre mein erster Einwand. Ich muss sagen, dass schon allein dieses eine Manko für mich die gesamte neue Kriegs- und Gewalttypologie einigermaßen entwertet. Das Defizit, das im Verblassen oder Verschwinden des Zweiten Weltkriegs liegt, stellt aus meiner Sicht die ganze Forschungsrichtung in Frage.

 

Es gibt da freilich gewisse Unterschiede – perfekt ist die Lücke eigentlich nur bei Herfried Münkler. Münkler entdeckt da eine frappierende Ähnlichkeit zwischen dem Erscheinungsbild des Dreißigjährigen Krieges und heutiger Kriegszustände (siehe dazu seinen Artikel in Kommune 4/02) – dazwischen, also zwischen diesen beiden chaotischen Gewaltszenarien, gibt es nur noch den Typus des staatlich kontrollierten und begrenzten Krieges, der irgendwie auch noch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg mit abdecken muss. Aber das ist ein Extremfall. Für die Beiträge von Ulrich K. Preuß und Mary Kaldor muss man eher von einem unbehaglichen und letzten Endes vergeblichen Ringen um eine angemessene historische Verortung des Zweiten Weltkriegs sprechen. Hier zunächst eine charakteristische Passage aus dem Text von Ulrich K. Preuß: »Der Zweite Weltkrieg überschritt im Grunde bereits die Grenzen unseres herkömmlichen Begriffs vom Kriege. Dieser war ja nicht entwickelt worden, um den Streit zwischen unvereinbaren philosophischen Wahrheiten, moralischen Prinzipien oder religiösen Heilserwartungen zu entscheiden – Konflikte also, die nicht in einem Friedensschluss enden können. Wo solche kategorischen Fragen unmittelbar praktisch werden, weil die Menschen nur mit jenen in einer Gemeinschaft zusammenleben wollen, die ihre Antwort teilen, da bedeutet Selbstbehauptung Vernichtung des anderen. Man kann selbst nur in der Integrität der eigenen Wahrheit leben, wenn der andere aus dieser Welt verschwunden ist.« (Ulrich K. Preuß, S. 34) Und das soll der hitlersche Ausrottungskrieg im Osten sein – eine Art Wiederkehr der frühneuzeitlichen Religionskriege also? Offen gesagt: Eher handelt es sich hier um schlechtes Feuilleton – um so etwas wie eine geistesgeschichtliche Überhöhung oder Stilisierung der rassistischen nationalsozialistischen Aggression, wie sie vor Jahrzehnten schon einmal der frühe Ernst Nolte vorgeschlagen hatte. Der Kerneinwand gegen dieses Bild des Zweiten Weltkriegs lautet, dass es nicht annähernd profan genug ist – dass die hochaktive, hochmotivierte, erfindungsreiche und grenzenlose Mitarbeit der gesamten organisierten deutschen Gesellschaft bei diesem Unternehmen tausend Gründe hatte und nicht nur einen – den mörderisch-verzweifelten Willen, »in der Integrität der eigenen Wahrheit« zu leben. Die britische Kriegsforscherin Mary Kaldor hat mit einem Tiefsinn oder Edelkitsch dieser Sorte gewiss nichts am Hut. Und auch dem Druck oder Denkzwang des neuen Periodisierungsmodells gibt sie nicht so beflissen nach wie etwa Eppler oder gar Münkler: »Zugleich aber nahmen die totalen Kriege des 20. Jahrhunderts einige Eigenschaften der neuen Kriege vorweg. In einem totalen Krieg versucht der öffentlich-staatliche Bereich, sich die Gesamtheit der Gesellschaft einzuverleiben, und tilgt so die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem. Als Konsequenz lässt sich nicht mehr zwischen Militär und Zivil, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterscheiden. Im Ersten Weltkrieg galten Fabriken als legitime militärische Ziele. Im Zweiten Weltkrieg wurde, in der Folge der Judenvernichtung, der Begriff ›Genozid‹ in die Rechtssprache aufgenommen. Auf der Seite der Alliierten wurde das unterschiedslose Bombardieren von Zivilisten, das ein dem Genozid vergleichbares Ausmaß an Zerstörung (wenngleich nicht an die Dimension der Ausrottung durch die Nazis heranreichendes) verursachte, mit dem Argument gerechtfertigt, es gelte die Moral des Feindes zu brechen – in der Sprache des Kriegsrechts: als eine ›militärische Notwendigkeit‹.« (Neue und alte Kriege, S. 43) Die Verbindungslinien, die von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu den Kriegen seit dem Ende des Kalten Krieges führen, werden hier zumindest angedeutet – und nicht einfach dogmatisch unterschlagen oder gekappt. Ein eigenes Kapitel gesteht freilich auch Kaldor dem Genozid-Krieg Hitler-Deutschlands nicht zu – sie bringt ihn, als Anhängsel oder Marginalie, im Kapitel »Alte Kriege« unter.

 

Das Problem Mary Kaldors tritt erst in ihrer Interpretation des Bosnienkriegs hervor, dem sie in ihrem Buch ein umfangreiches Kapitel widmet und den sie »zum Musterbeispiel, zum Paradigma der neuen Form von Kriegsführung« erklärt. Die Verfasserin hat diesen Krieg auch genau und umfassend studiert, und so bieten diese Abschnitte eine Analyse von seltenem Niveau und Gedankenreichtum – sie stellen zweifellos den Höhepunkt des Buches dar. Sie führen dennoch in die Irre, wie ich meine – und demonstrieren so den Konstruktionsfehler des zugrunde liegenden Konzepts nachdrücklicher, als schwächere oder flachere Studien es könnten. Der kritische Punkt auch dieses Deutungsversuchs ist die Aufwertung des spätjugoslawischen Nationalismus zur entscheidenden Kraft hinter der blutigen Zerschlagung Jugoslawiens. Damit bleibt Mary Kaldor im Fahrwasser einer vor allem in Westeuropa einflussreichen Denkschule, die sich bis heute beharrlich weigert, die einzigartige politische Verantwortung Belgrads für die Kriege in Kroatien, in Bosnien und um das Kosovo anzuerkennen. Es war zuerst der Machtanspruch des Milosevic-Regimes auf ganz Jugoslawien und dann, nach dem Scheitern dieses im zeitgeschichtlichen Kontext der europäischen Wende von 1989 bereits anachronistischen Zentralisierungsversuchs, die großserbische Aggression, die jede Verhandlungslösung, jede Form der friedlichen Föderalisierung des Gesamtstaates oder auch ein friedliches Auseinandergehen (wie etwa in der Tschechoslowakei) in Jugoslawien unmöglich gemacht hat. Jugoslawien ist zunächst von Belgrad auseinander getrieben und nicht von den Nationalismen seiner Teilrepubliken in Stücke zerrissen worden – selbst der kroatische Nationalismus ist erst in der Abwehr der großserbischen Offensive zu dem geworden, was er dann unter Tudjman war. Für Bosnien drängt sich dieser Zusammenhang eigentlich viel zwingender auf als für Kroatien, und Mary Kaldor muss zu allen möglichen Hilfskonstruktionen greifen, um ihn auch für Bosnien leugnen zu können – etwa zu der anscheinend unzerstörbaren Legende von der kriegseskalierenden Wirkung der deutschen und amerikanischen Anerkennungspolitik. Und die nationale Segmentierung der bosnischen Gesellschaft vor dem Krieg war entgegen Mary Kaldor etwas ganz anderes als die nationalistische Abkapselung, Aufspaltung und Verfeindung im Krieg.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Mary Kaldor an sich mit dem vulgären westlichen Bosnien- und Balkanbild vollständig bricht: »Die Balkanregion, in der verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und die historisch zwischen den sich verschiebenden Grenzen des Osmanischen und des Habsburgerreiches gefangen war, ist dieser Lesart zufolge schon immer durch ethnische Gegensätze und Rivalitäten gekennzeichnet gewesen, durch jahrhundertealte Haßgefühle, die nur oberflächlich überdeckt wurden. Diese ethnischen Gegensätze seien in der kommunistischen Phase vorübergehend unterdrückt worden, nur um mit den ersten demokratischen Wahlen wieder aufzubrechen ... Dieses Verständnis des Krieges, das beispielsweise in David Owens Buch deutlich zutage tritt, beherrschte in Europa die führenden politischen Zirkel und die Verhandlungen auf höchster Ebene ... Diese Betrachtungsweise entspricht genau der von Nationalisten meistens postulierten Ursprungsthese, der zufolge in allen Gesellschaften der Nationalismus tief verwurzelt ist, da alle aus organisch gewachsenen ›Ethnien‹ hervorgegangen seien. Was diese Position nicht erklärt, sind die langen Perioden friedlicher Koexistenz verschiedener Gemeinschaften oder Nationalitäten, genausowenig wie das Aufflammen des Nationalismus an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten.« (Mary Kaldor, S. 56 f.) Die Verfasserin bemüht sich, diese Mythologie durch ein Verständnis des gegenwärtigen Nationalismus oder, wie sie es nennt, der »Politik der Identität« als einer Abwehrreaktion auf die nur schwer zu bewältigenden Erfahrungen des Globalisierungsprozesses zu ersetzen. Ich kenne dazu kaum Analysen von vergleichbarer Dichte – hier nur eine fast beliebige Kostprobe:

»Die neue Politik der Identität ist aus der Desintegration oder dem Zerfall moderner, zumal zentralistischer und autoritärer staatlicher Strukturen hervorgegangen. Der Kollaps der kommunistischen Staaten nach 1989, der Legitimitätsverlust der postkolonialen Staaten in Afrika und Südasien, ja selbst der Niedergang von Wohlfahrtsstaaten in fortgeschrittenen Industrieländern bereitet den Boden, auf dem sie gedeihen kann. – Die neue Politik der Identität speist sich im wesentlichen aus zwei Quellen, und beide haben mit der Globalisierung zu tun. Zum einen kann man sie als Reaktion auf die wachsende Ohnmacht und schwindende Legitimität der herrschenden politischen Klassen ansehen. In diesem Lichte betrachtet, handelt es sich um eine von oben geförderte Politik, die populäre Vorurteile instrumentalisiert und vertieft – eine Form der politischen Mobilisierung, eine Überlebensstrategie für Politiker, die auf der Ebene des Gesamtstaats oder von Regionen innerhalb des Nationalstaates in der nationalen Politik tätig sind. Die Republiken Ex-Jugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion bieten hierfür ebenso Beispiele wie Kaschmir oder Eritrea vor seiner Unabhängigkeit. Zum anderen findet die Politik der Identität einen Nährboden in Wirtschaftsstrukturen, die man als Parallelökonomie bezeichnen kann: neuen Formen legalen und illegalen Broterwerbs, die in den ausgeschlossenen Bereichen der Gesellschaft florieren und denen eine solche Politik Aussicht auf Legitimation ihrer Schattentätigkeit eröffnet.« (Mary Kaldor, S. 124 f.)

In diesem über das ganze Buch immer wieder meisterhaft vergegenwärtigten Panorama des Umbruchs lässt sich ohne weiteres auch ein Slobodan Milosevic unterbringen. Die Frage ist nur, wie man es vermeidet, ihn darin auch gleich zu versenken. Man hat hier sämtliche Momente seines Aufstiegs und seiner Machtentfaltung beieinander. Nur ist eine derartige Zeitdiagnose möglicherweise grundsätzlich außerstande, die Initiative des Belgrader Regimes bei der Entfesselung von Krieg und Genozid in Kroatien, Bosnien und im Kosovo zu erfassen. Was Mary Kaldor betrifft, so fragt sie nicht einmal ernstlich danach. Sie lässt diese eine, spezielle, gezielte Staatszerstörung, hinter der die administrativen Ressourcen, die Planung, die Medienmacht, das militärische Potenzial eines Staates standen, im Bild eines globalen Staatszerfalls untergehen.

 

Erhard Eppler: Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2002 (154 S., 9,00 €)
Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2000 (278 S., 9,90 €)
Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek (Rowohlt Verlag) 2002 (272 S., Abb., 19,90 €)
Ulrich K. Preuß: Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Zum Wandel der bewaffneten Gewalt, Berlin (Wagenbach Verlag) 2002 (160 S., 17,50 €)