Neuere Untersuchungen begründen den Topos der »neuen
Kriege«. Unser Autor greift einige dieser Untersuchungen auf und sieht in ihnen
eine Vernachlässigung der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges – und damit ein
Überspringen des Alten im Neuen.
Die
neue Literatur über den »Wandel der bewaffneten Gewalt« mit ihrer weit
ausholenden vergleichenden Kriegstypologie hat ihre Verdienste – schon ihr
globaler Horizont wäre da zu nennen und ihre Öffnung für die vielschichtigen
politischen und ökonomischen Kontexte jener »neuen Kriege«. Sie hat ihren
Gegenstand aus der alten Ecke der Militärgeschichte herausgeholt und zu einem
öffentlichen Thema gemacht. Das Studium des einzelnen Krieges kann diese
Literatur freilich nicht ersetzen, nicht einmal abkürzen. Eigentlich ein
Gemeinplatz – aber diese nicht selten suggestiven Texte über die veränderte
Gestalt des Krieges zu Beginn des neuen Jahrtausends lassen es geboten
erscheinen, daran zu erinnern: Die Theorie des epochalen Wandels muss sich an
der Erforschung des einzelnen Krieges bewähren, nicht umgekehrt das Bild des
konkreten Krieges an der Theorie.
Unter
diesem Gesichtspunkt will ich auf vier dieser Studien eingehen: Erhard Epplers Vom
Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt, Herfried Münklers Die neuen Kriege,
Ulrich K. Preuß’ Krieg, Verbrechen, Blasphemie und Mary Kaldors Neue
und alte Kriege. Keine von ihnen ist frei von einer gewissen Voreiligkeit
oder Forciertheit der Argumentation – möglicherweise der Preis für die
gedankliche Unvoreingenommenheit und Kühnheit, um die sie sich bemühen. Selbst
das kleine, nüchterne Buch von Erhard Eppler, dem ersichtlich weniger an
Theorie als an politischer Orientierung gelegen ist, teilt diese Schwäche :
»Das zweite, durchgängige Merkmal: Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und
Zivilisten, zwischen Kämpfenden und Unbeteiligten, ist außer Kraft gesetzt.
Meist sind unschuldige, unwillige, eingeschüchterte, verschreckte und vor allem
gänzlich schutzlose Zivilisten die Opfer. Noch im Ersten Weltkrieg kamen auf
ein ziviles Opfer zehn getötete Soldaten. Wo die privatisierte Gewalt freie
Bahn hat, ist das Verhältnis nahezu umgekehrt. Auf einen getöteten Söldner
kommen zwischen acht und zehn umgebrachte Frauen, Kinder, Greise, die mit dem
Schießen und Morden nichts zu tun haben wollten.« (Erhard Eppler, S. 60) Und im
Zweiten Weltkrieg, ist man versucht zu fragen – in Polen, Weißrussland,
Russland? Der epplersche Paradigmenwechsel »vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt«,
vom klassischen Krieg zwischen Staaten zur privatisierten Gewalt – im Afrika
von heute etwa oder auf dem Balkan von gestern – weiß nichts Rechtes mit dem
deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa anzufangen. Und nicht nur der
epplersche: Auch in den einschlägigen Büchern von Herfried Münkler, Ulrich K.
Preuß und sogar Mary Kaldor, der zweifellos führenden Autorin auf diesem
Sektor, trifft man auf diese merkwürdige Leerstelle. Der epochale Bogen von den
alten zu den neuen Kriegen scheint den Zweiten Weltkrieg überspringen oder
überfliegen zu wollen – das wäre mein erster Einwand. Ich muss sagen, dass
schon allein dieses eine Manko für mich die gesamte neue Kriegs- und
Gewalttypologie einigermaßen entwertet. Das Defizit, das im Verblassen oder
Verschwinden des Zweiten Weltkriegs liegt, stellt aus meiner Sicht die ganze
Forschungsrichtung in Frage.
Es gibt da freilich gewisse Unterschiede – perfekt ist die Lücke eigentlich nur
bei Herfried Münkler. Münkler entdeckt da eine frappierende Ähnlichkeit zwischen
dem Erscheinungsbild des Dreißigjährigen Krieges und heutiger Kriegszustände
(siehe dazu seinen Artikel in Kommune 4/02) – dazwischen, also zwischen
diesen beiden chaotischen Gewaltszenarien, gibt es nur noch den Typus des
staatlich kontrollierten und begrenzten Krieges, der irgendwie auch noch den
Ersten und den Zweiten Weltkrieg mit abdecken muss. Aber das ist ein
Extremfall. Für die Beiträge von Ulrich K. Preuß und Mary Kaldor muss man eher
von einem unbehaglichen und letzten Endes vergeblichen Ringen um eine
angemessene historische Verortung des Zweiten Weltkriegs sprechen. Hier
zunächst eine charakteristische Passage aus dem Text von Ulrich K. Preuß: »Der
Zweite Weltkrieg überschritt im Grunde bereits die Grenzen unseres
herkömmlichen Begriffs vom Kriege. Dieser war ja nicht entwickelt worden, um
den Streit zwischen unvereinbaren philosophischen Wahrheiten, moralischen
Prinzipien oder religiösen Heilserwartungen zu entscheiden – Konflikte also,
die nicht in einem Friedensschluss enden können. Wo solche kategorischen Fragen
unmittelbar praktisch werden, weil die Menschen nur mit jenen in einer
Gemeinschaft zusammenleben wollen, die ihre Antwort teilen, da bedeutet
Selbstbehauptung Vernichtung des anderen. Man kann selbst nur in der Integrität
der eigenen Wahrheit leben, wenn der andere aus dieser Welt verschwunden ist.«
(Ulrich K. Preuß, S. 34) Und das soll der hitlersche Ausrottungskrieg im Osten
sein – eine Art Wiederkehr der frühneuzeitlichen Religionskriege also? Offen
gesagt: Eher handelt es sich hier um schlechtes Feuilleton – um so etwas wie
eine geistesgeschichtliche Überhöhung oder Stilisierung der rassistischen
nationalsozialistischen Aggression, wie sie vor Jahrzehnten schon einmal der
frühe Ernst Nolte vorgeschlagen hatte. Der Kerneinwand gegen dieses Bild des
Zweiten Weltkriegs lautet, dass es nicht annähernd profan genug ist – dass die
hochaktive, hochmotivierte, erfindungsreiche und grenzenlose Mitarbeit der
gesamten organisierten deutschen Gesellschaft bei diesem Unternehmen tausend
Gründe hatte und nicht nur einen – den mörderisch-verzweifelten Willen, »in der
Integrität der eigenen Wahrheit« zu leben. Die britische Kriegsforscherin Mary
Kaldor hat mit einem Tiefsinn oder Edelkitsch dieser Sorte gewiss nichts am
Hut. Und auch dem Druck oder Denkzwang des neuen Periodisierungsmodells gibt
sie nicht so beflissen nach wie etwa Eppler oder gar Münkler: »Zugleich aber
nahmen die totalen Kriege des 20. Jahrhunderts einige Eigenschaften der neuen
Kriege vorweg. In einem totalen Krieg versucht der öffentlich-staatliche
Bereich, sich die Gesamtheit der Gesellschaft einzuverleiben, und tilgt so die
Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem. Als Konsequenz lässt sich
nicht mehr zwischen Militär und Zivil, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten
unterscheiden. Im Ersten Weltkrieg galten Fabriken als legitime militärische
Ziele. Im Zweiten Weltkrieg wurde, in der Folge der Judenvernichtung, der
Begriff ›Genozid‹ in die Rechtssprache aufgenommen. Auf der Seite der
Alliierten wurde das unterschiedslose Bombardieren von Zivilisten, das ein dem
Genozid vergleichbares Ausmaß an Zerstörung (wenngleich nicht an die Dimension
der Ausrottung durch die Nazis heranreichendes) verursachte, mit dem Argument
gerechtfertigt, es gelte die Moral des Feindes zu brechen – in der Sprache des
Kriegsrechts: als eine ›militärische Notwendigkeit‹.« (Neue und alte Kriege,
S. 43) Die Verbindungslinien, die von den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu
den Kriegen seit dem Ende des Kalten Krieges führen, werden hier zumindest
angedeutet – und nicht einfach dogmatisch unterschlagen oder gekappt. Ein
eigenes Kapitel gesteht freilich auch Kaldor dem Genozid-Krieg
Hitler-Deutschlands nicht zu – sie bringt ihn, als Anhängsel oder Marginalie,
im Kapitel »Alte Kriege« unter.
Das Problem Mary Kaldors tritt erst in ihrer Interpretation des Bosnienkriegs
hervor, dem sie in ihrem Buch ein umfangreiches Kapitel widmet und den sie »zum
Musterbeispiel, zum Paradigma der neuen Form von Kriegsführung« erklärt. Die
Verfasserin hat diesen Krieg auch genau und umfassend studiert, und so bieten
diese Abschnitte eine Analyse von seltenem Niveau und Gedankenreichtum – sie
stellen zweifellos den Höhepunkt des Buches dar. Sie führen dennoch in die
Irre, wie ich meine – und demonstrieren so den Konstruktionsfehler des zugrunde
liegenden Konzepts nachdrücklicher, als schwächere oder flachere Studien es
könnten. Der kritische Punkt auch dieses Deutungsversuchs ist die Aufwertung
des spätjugoslawischen Nationalismus zur entscheidenden Kraft hinter der blutigen
Zerschlagung Jugoslawiens. Damit bleibt Mary Kaldor im Fahrwasser einer vor
allem in Westeuropa einflussreichen Denkschule, die sich bis heute beharrlich
weigert, die einzigartige politische Verantwortung Belgrads für die Kriege in
Kroatien, in Bosnien und um das Kosovo anzuerkennen. Es war zuerst der
Machtanspruch des Milosevic-Regimes auf ganz Jugoslawien und dann, nach dem
Scheitern dieses im zeitgeschichtlichen Kontext der europäischen Wende von 1989
bereits anachronistischen Zentralisierungsversuchs, die großserbische
Aggression, die jede Verhandlungslösung, jede Form der friedlichen
Föderalisierung des Gesamtstaates oder auch ein friedliches Auseinandergehen
(wie etwa in der Tschechoslowakei) in Jugoslawien unmöglich gemacht hat.
Jugoslawien ist zunächst von Belgrad auseinander getrieben und nicht von den
Nationalismen seiner Teilrepubliken in Stücke zerrissen worden – selbst der
kroatische Nationalismus ist erst in der Abwehr der großserbischen Offensive zu
dem geworden, was er dann unter Tudjman war. Für Bosnien drängt sich dieser
Zusammenhang eigentlich viel zwingender auf als für Kroatien, und Mary Kaldor
muss zu allen möglichen Hilfskonstruktionen greifen, um ihn auch für Bosnien
leugnen zu können – etwa zu der anscheinend unzerstörbaren Legende von der
kriegseskalierenden Wirkung der deutschen und amerikanischen
Anerkennungspolitik. Und die nationale Segmentierung der bosnischen
Gesellschaft vor dem Krieg war entgegen Mary Kaldor etwas ganz anderes als die
nationalistische Abkapselung, Aufspaltung und Verfeindung im Krieg.
Das
alles ist umso bedauerlicher, als Mary Kaldor an sich mit dem vulgären
westlichen Bosnien- und Balkanbild vollständig bricht: »Die Balkanregion, in
der verschiedene Kulturen aufeinandertreffen und die historisch zwischen den
sich verschiebenden Grenzen des Osmanischen und des Habsburgerreiches gefangen
war, ist dieser Lesart zufolge schon immer durch ethnische Gegensätze und
Rivalitäten gekennzeichnet gewesen, durch jahrhundertealte Haßgefühle, die nur
oberflächlich überdeckt wurden. Diese ethnischen Gegensätze seien in der
kommunistischen Phase vorübergehend unterdrückt worden, nur um mit den ersten
demokratischen Wahlen wieder aufzubrechen ... Dieses Verständnis des Krieges,
das beispielsweise in David Owens Buch deutlich zutage tritt, beherrschte in
Europa die führenden politischen Zirkel und die Verhandlungen auf höchster
Ebene ... Diese Betrachtungsweise entspricht genau der von Nationalisten
meistens postulierten Ursprungsthese, der zufolge in allen Gesellschaften der
Nationalismus tief verwurzelt ist, da alle aus organisch gewachsenen ›Ethnien‹
hervorgegangen seien. Was diese Position nicht erklärt, sind die langen
Perioden friedlicher Koexistenz verschiedener Gemeinschaften oder
Nationalitäten, genausowenig wie das Aufflammen des Nationalismus an bestimmten
Orten und zu bestimmten Zeiten.« (Mary Kaldor, S. 56 f.) Die Verfasserin bemüht
sich, diese Mythologie durch ein Verständnis des gegenwärtigen Nationalismus
oder, wie sie es nennt, der »Politik der Identität« als einer Abwehrreaktion
auf die nur schwer zu bewältigenden Erfahrungen des Globalisierungsprozesses zu
ersetzen. Ich kenne dazu kaum Analysen von vergleichbarer Dichte – hier nur
eine fast beliebige Kostprobe:
»Die
neue Politik der Identität ist aus der Desintegration oder dem Zerfall
moderner, zumal zentralistischer und autoritärer staatlicher Strukturen
hervorgegangen. Der Kollaps der kommunistischen Staaten nach 1989, der
Legitimitätsverlust der postkolonialen Staaten in Afrika und Südasien, ja
selbst der Niedergang von Wohlfahrtsstaaten in fortgeschrittenen
Industrieländern bereitet den Boden, auf dem sie gedeihen kann. – Die neue
Politik der Identität speist sich im wesentlichen aus zwei Quellen, und beide
haben mit der Globalisierung zu tun. Zum einen kann man sie als Reaktion auf
die wachsende Ohnmacht und schwindende Legitimität der herrschenden politischen
Klassen ansehen. In diesem Lichte betrachtet, handelt es sich um eine von oben
geförderte Politik, die populäre Vorurteile instrumentalisiert und vertieft –
eine Form der politischen Mobilisierung, eine Überlebensstrategie für
Politiker, die auf der Ebene des Gesamtstaats oder von Regionen innerhalb des
Nationalstaates in der nationalen Politik tätig sind. Die Republiken
Ex-Jugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion bieten hierfür ebenso Beispiele
wie Kaschmir oder Eritrea vor seiner Unabhängigkeit. Zum anderen findet die
Politik der Identität einen Nährboden in Wirtschaftsstrukturen, die man als
Parallelökonomie bezeichnen kann: neuen Formen legalen und illegalen
Broterwerbs, die in den ausgeschlossenen Bereichen der Gesellschaft florieren
und denen eine solche Politik Aussicht auf Legitimation ihrer Schattentätigkeit
eröffnet.« (Mary Kaldor, S. 124 f.)
In
diesem über das ganze Buch immer wieder meisterhaft vergegenwärtigten Panorama
des Umbruchs lässt sich ohne weiteres auch ein Slobodan Milosevic unterbringen.
Die Frage ist nur, wie man es vermeidet, ihn darin auch gleich zu versenken.
Man hat hier sämtliche Momente seines Aufstiegs und seiner Machtentfaltung
beieinander. Nur ist eine derartige Zeitdiagnose möglicherweise grundsätzlich
außerstande, die Initiative des Belgrader Regimes bei der Entfesselung von
Krieg und Genozid in Kroatien, Bosnien und im Kosovo zu erfassen. Was Mary
Kaldor betrifft, so fragt sie nicht einmal ernstlich danach. Sie lässt diese
eine, spezielle, gezielte Staatszerstörung, hinter der die administrativen
Ressourcen, die Planung, die Medienmacht, das militärische Potenzial eines
Staates standen, im Bild eines globalen Staatszerfalls untergehen.
Erhard
Eppler: Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und
Kommerzialisierung der Gewalt, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2002
(154 S., 9,00 €)
Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung,
Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2000 (278 S., 9,90 €)
Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek (Rowohlt Verlag) 2002 (272
S., Abb., 19,90 €)
Ulrich K. Preuß: Krieg, Verbrechen, Blasphemie. Zum Wandel der bewaffneten
Gewalt, Berlin (Wagenbach Verlag) 2002 (160 S., 17,50 €)