Hitlers Russland
Liest man heute die mit heißer Feder verfassten Dokumente
des „Historiker-Streites“, den namhafte Wissenschaftler um die Semantik der
Singularität des nationalsozialistischen Judenmordes führten, so erstaunt die
polemische Herrschaft des Verdachts, die jede sachliche Diskussion um die
Einordnung der NS-Epoche in die Geschichte verunmöglichte. Nun geht es gar
nicht darum, die Einzigartigkeit des Genozids anzufechten, als vielmehr die
Bezüge herzustellen, in denen das Nazi-System und seine führenden Politiker
ihre Ideologie und insbesondere ihre den jeweiligen Situationen angepasste
Politik entwarfen. Dabei hat, so unser Autor, der Bolschewismus als „Vorbild
und Schreckbild“ eine nicht geringe Rolle gespielt, auch wenn Hitler und
Himmler vom bolschewistischen Russland und von der Sowjetunion Stalins kein
kohärentes Bild hatten, eher ein „Schüttelbild“.
Dem „Historiker-Streit“ der späten Achtzigerjahre lag, bevor
er sich auf eine „Kontroverse um die Einzigartigkeit des
nationalsozialistischen Judenmordes“(1) verengte, die weiter gehende These
Ernst Noltes vom „kausalen Nexus“ zwischen Bolschewismus und
Nationalsozialismus zu Grunde.(2) Der kurzschlüssige und apologetische
Charakter dieser Formel hat mit dazu beigetragen, dass die sachliche Frage
selbst unbeantwortet blieb: Ob nicht tatsächlich die terroristisch
durchgesetzte Machteroberung der Bolschewiki in der Phase von Weltkrieg,
Revolution und Nachkrieg (um in den Kategorien Noltes zu sprechen) die
„Grundemotionen“ Hitlers und seiner Gefolgsleute entscheidend bestimmt, den
„ursprünglichen“ oder „zentralen Impuls“ der NS-Bewegung gebildet und ihr
zugleich als „Vorbild und Schreckbild“ gedient habe.
Diese Frage ist umso legitimer, als Noltes These den
Auffassungen vieler seiner radikalsten Kritiker weitaus näher stand und steht,
als diese wahrhaben möchten. Nicht zufällig war es gerade Ernst Nolte gewesen,
der in der alten Bundesrepublik in den Sechzigerjahren unter dem Applaus der
Linken den Gattungsbegriff des „Faschismus“ wissenschaftlich rehabilitiert hat.
Damit, so sagte er noch 1997 in seinem Briefwechsel mit François Furet, habe er
„der marxistischen Auslegung ein gutes Stück näher“ gestanden als der
„klassischen Totalitarismustheorie“. Und was hätten die Marxisten je anderes
behauptet, „als dass die Faschismen verzweifelte und zum Scheitern verurteilte
Reaktionen der Bourgeoisie gegen das siegreiche Vordringen der proletarischen
und sozialistischen Bewegung gewesen seien“.(3) Was Nolte in seinen späteren
Schriften getan hat, war im Wesentlichen nur eine Verschiebung der Wertungen;
das Erklärungsschema selbst blieb gegenüber seinen frühen Faschismusschriften
mehr oder weniger gleich.
Im Grunde ist die Vorstellung eines gegenseitigen Bedingungszusammenhangs
von kommunistischer Revolution und faschistischer Gegenrevolution aber zur
vorherrschenden Auffassung der Historiographie überhaupt geworden. Und gerade
für Deutschland gilt es als feststehend, dass eine Trias von Antibolschewismus,
Antisemitismus und Russophobie (oder Slawophobie) die Nazis mit einem weiten
Spektrum der deutschen Öffentlichkeit verbunden und ihrem Aufstieg zur
stärksten Partei und zur Machtübernahme 1933 erst den Boden bereitet habe.
Soviel ist sicher richtig: Als im September 1919 der anonyme
Bewohner der Männerheime, Kasematten und Kasernen Adolf Hitler – wie ein
„Schläfer“ ohne Auftrag, aus dem „es“ plötzlich zu sprechen beginnt – sein
Talent als Demagoge entdeckte und „beschloss, Politiker zu werden“, da war
dieser ewige Weltkriegsgefreite in der Tat „wie das synthetische Produkt aller
Ängste, Pessimismen, Abschieds- und Abwehrgefühle“ (Joachim Fest), die seine
Volks- und Zeitgenossen bewegten. Die Frage ist allerdings, wie diese Affekte
genauer zu beschreiben wären.
Einen neuen, ungewohnten Zugang hat Wolfgang Schivelbusch
mit seiner jüngsten Arbeit eröffnet, worin er die mentale Verfassung der
Weimarer Republik als eine „Kultur der Niederlage“ beschrieben hat, die wegen
des unheroischen und demütigenden Charakters des militärischen Zusammenbruchs
1918, der keine innere Kompensation fand, stärker als in anderen, historisch
vergleichbaren Fällen (der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871) zur
„Schaffung einer imaginären – klinisch gesprochen: einer
neurotisch-halluzinatorischen – Ersatzwelt“ drängte.(4)
Tatsächlich war diese Niederlage, die eher einem
„Militärstreik“ glich als der Kapitulation eines geschlagenen Heeres,
beispiellos und in mancher Hinsicht mysteriös. Noch „nie zuvor (hatte) eine
Nation die Waffen gestreckt, deren Armeen so tief im Feindesland standen“.(5)
Auch Niall Ferguson stellt am Ende seiner Geschichte des Ersten Weltkriegs
fest: „Es gibt noch immer keine allgemeine Erklärung für die deutschen
Massenkapitulationen am Ende des Jahres 1918.“(6)
Der französische Oberkommandierende Marschall Foch war
jedenfalls auch im Nachhinein davon überzeugt, dass die deutsche Armee „im
November 1918 hinter dem Rhein hätte standhalten können“.(7) Das konvergiert in
gewisser Weise mit dem Urteil Arthur Rosenbergs, des kommunistischen
Historikers der Weimarer Republik, der es für unbezweifelbar hielt, dass ein
Sturz Ludendorffs und die Einsetzung einer demokratischen Regierung durch die
Reichstagsmehrheit, ein Verzicht auf Brest-Litowsk und die Rückführung des
Ostheeres, schließlich ein „fester politischer Block
Deutschland-Russland-Österreich“ in der Lage gewesen wäre, „von der Entente
einen billigen Frieden (zu) erhalten“.(8)
Stattdessen führte die Politik der letzten deutschen
Reichsleitung zur totalen Überspannung aller militärischen und zivilen Kräfte
des Reiches bei skrupelloser Nährung des russischen Bürgerkriegs von beiden
Enden der Lunte her, dem roten wie dem weißen; und in der Schlusspanik des
Herbstes 1918 dann zum überraschenden Waffenstillstandsersuchen, das den
Zusammenbruch einleitete. Die infame Legende vom „Dolchstoß“ in den Rücken der
Front, die die Hauptverantwortlichen im Moment ihres Scheiterns ausgaben, wies
bereits den Weg voraus zur „Flucht in den Hass“ (Anneliese Thimme)(9).
Hitlers „Grundemotion“ lässt sich auf diesem Hintergrund
bereits vollkommen anders dechiffrieren. Es ging offenkundig um die
Externalisierung der Scham der Kapitulation, die durch Friedrich Eberts
Trostformel „Im Felde unbesiegt“ eben nicht mehr getröstet, sondern im
Gegenteil angestachelt wurde. Hitlers späterer, stilisierter Lebensbericht in Mein
Kampf ist an keiner Stelle so authentisch und literarisch prägnant wie in
der Schilderung des „Kriegserlebnisses“. Aber nicht erst mit der Revolution von
1918, sondern mit dem Burgfrieden von 1914 beginnt in seiner ideologisierten
Rückinterpretation das Verhängnis.
Damals, als auch die Arbeiter treu zur Fahne eilten, habe
der „Marxismus, dessen letztes Ziel die Vernichtung aller nichtjüdischen
Nationalstaaten ist und bleibt“, sich „die Tarnkappe der Lüge über die Ohren“
gezogen und „frech die nationale Erhebung mit“ gemimt. Solcherlei Verrat aber
hätte eine nationale Regierung (anders als die von jüdischem Gemauschel
umgebene Regierung Bethmann Hollwegs und Wilhelms II.) niemals dulden dürfen:
„Es wäre die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, ... die Verhetzer
dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten. Wenn an der Front die Besten
starben, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen.“(10)
Überdeutlich ist in diesen Passagen, dass Hitlers
„ursprünglicher“, vernichtender Hass nicht den Organisatoren irgendeines
revolutionären „Klassenmords“, sondern den vermeintlichen Vaterlandsverrätern
und Zersetzern der Fronten im Weltkrieg galt, die als „Novemberverbrecher“ im
Augenblick der ruhmlosen Niederlage eine demokratisch-parlamentarische Republik
gründeten – ohne jeden „Klassenmord“, was dem Vernichtungsimpuls gegen dieses
„Ungeziefer“ keinerlei Abbruch tat. Im Gegenteil: Der unbekannte Weltkriegsgefreite
zeigte sich selbst zu jedem beliebigen Klassen- oder Rassenmord bereit, wenn
das nur die Schmach hätte abwaschen können. Und allein die Metapher des
„Ungeziefers“ deutete auf ein völlig anderes „Schreckbild“ als das
bolschewistischer Massen-Exekutionen: Es ist das Bild einer Infektion, einer
Vergiftung und Verseuchung, die fataler ist als jeder Dolchstoß oder Mord.
Soweit Nachrichten aus dem Bürgerkrieg in Russland oder die
Geiselmorde im Münchner Luitpold-Gymnasium während der Räterepublik im April
1919 für die Hitlerschen Grunddispositionen eine Rolle gespielt haben, dann
allenfalls als Entblockierung eigener mörderischer Aggressionen. Was in Noltes
Modell die treuherzige Vorstellung eines Impulses zur „Gegenvernichtung“ aus
ehrlicher gutbürgerlicher Empörung annimmt, dürfte recht exakt den Tatbestand
dessen erfüllt haben, was in der Psychologie als „Projektion“ bezeichnet wird.
Man kann diesen Sachverhalt auch sehr viel weiter fassen. Im
Grunde – so meine schon früher entwickelte These – haben sich alle totalitären
Massenbewegungen des Zeitalters aus der sozialen Grundenergie eines nach innen
gerichteten Revanchismus gespeist, die kommunistischen ebenso wie die
faschistischen Typs. Entstanden jeweils im Moment des politischen und
militärischen Zusammenbruchs, könnte man sie als Projekte zur „Fortführung des
Weltkriegs mit anderen Mitteln“ beschreiben – nämlich mit den Mitteln
politischer Diktatur, ideologischer Mobilisierung, organisatorischer Erfassung,
wirtschaftlicher Planung, allgemeiner Militarisierung und radikaler
Homogenisierung des Sozialkörpers. Dieser Weg eines Wiederaufstiegs als Phönix
aus der Asche des Weltkriegs setzte hier wie dort das Stahlbad eines
Bürgerkriegs voraus, der sich der Soldaten als des entscheidenden
„revolutionären Subjekts“ bediente und sich wesentlich aus den Erbitterungen
und Fanatismen der Niederlage nährte.(11)
Dabei griffen diese neuen totalitären Bewegungen auf ihre Weise die Versprechen und Erwartungen auf, die durch den Krieg geweckt worden waren. Diese hatten sich keineswegs nur auf imperiale Landnahmen und Machtzuwächse, sondern ebenso auf die Perspektiven eines inneren Ausgleichs, demokratischer Teilhabe und sozialer Anerkennung gerichtet. Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ und „Kriegssozialismus“ transportierten (nicht nur in Deutschland) auch schwärmerische Aspirationen einer neuen Einfachheit, Sittlichkeit, Bindung und Sinngebung des Lebens, einer Aufhebung der Kontingenzen und Ambivalenzen der Moderne.
Diese Erwartungen hatten, je länger der Krieg dauerte, statt
Abkühlung und Ernüchterung eine immer weitere Steigerung erfahren. Mit seinen
auf alle Seiten des sozialen Lebens zugreifenden „totalen“ Tendenzen bedeutete
der Weltkrieg im sozialen Gefüge und kulturellen Habitus der beteiligten
Gesellschaften vielfach bereits eine tiefer greifende Umwälzung als die
politischen Revolutionen, die an seinem Ende standen. Jedenfalls war der Krieg
selbst der Beginn und die Grundlage aller Revolutionen des Zeitalters.
Die Veränderungen in der „Heimat“ (die sich als
Verbürgerlichung, Kommerzialisierung, Feminisierung, „Verjudung“ und
Egalisierung sowie als Verfall hergebrachter Lebensformen und angestammter
Autorität darstellten) wurden von denen „im Feld“ jedoch vielfach als Verrat
empfunden, erst recht nach der Rückkehr, als sich die demobilisierten oder
verwundeten Soldaten und Offiziere einer massiven sozialen Degradierung
unterworfen sahen. Dieser latente Interessens- und Lebenskonflikt zwischen
Militär und Zivil, der sich im Krieg bereits zu den giftigsten Aversionen
gesteigert hatte, wurde nach Kriegsende noch überhöht durch die Erinnerung an
den „Männerbund“ der Schützengräben (mit allen homophilen und halbreligiösen
Komponenten)(12), der in den Landschaften des Todes die letzte menschliche
Zuflucht und Bindung geboten hatte und daher in einem keineswegs mystischen,
sondern sehr elementaren Sinne sakrosankt war; und abermals durch Gefühle der
Überlebensschuld gegenüber den an der Front „zurückgelassenen“ Toten, mit denen
die rückkehrenden Frontkämpfer in „tragischer Identifikation“ lebten.(13)
Zugleich erschienen die Mittel des Krieges – zentrale Organisation und Planung, einheitliches Kommando und kollektive Gesamtziele – den Kriegsteilnehmern im Chaos der Nachkriegsjahre als das einzige probate Mittel zur Bewältigung der sozialökonomischen Krisen und als Modell einer stabilen und gerechten Gesellschaft. Eine korporative Sozialordnung, in der die Idee der Nation mit der des Sozialismus verschmolz, erschien ihnen unabweisbar und geradezu natürlich. Klar war auch, dass den demobilisierten Soldaten und Offizieren in einer solchen Sozialordnung das Primat zukommen musste.
Schließlich fehlte der Republik von Weimar von Beginn an ein
„legitimierender Gründungsmythos“ in Form eines „heroischen oder wenigstens in
der nationalen Mythologie heroisierbaren Aktes“, wie Detlev Peukert gesagt
hat.(14) Jedenfalls gab es nichts, was die Kränkung der Niederlage symbolisch
und sozial hätte kompensieren und die frei flottierenden sozialen und psychischen
Energien der Weltkriegsteilnehmer hätte binden können.
Schon aus dieser Perspektive wird deutlich, dass das Bild
einer beherrschenden bürgerlich-kleinbürgerlichen „Revolutions-“ oder
„Bolschewismusfurcht“ für die Situation von 1918/19 schwerlich zutreffen kann.
Nicht bare Furcht vor Gewalt und Umsturz, sondern eher eine zurückgestaute
Aggression, die kein Objekt fand, kennzeichnete die sozialpsychologische
Grundsituation in Deutschland.
Die „große Angst“, von der man – in Analogie oder direkter
Fortsetzung der „grande peur“ des europäischen Adels und Bürgertums in den
Jahrzehnten nach der französischen Revolution – gesprochen hat, war ohnehin
weit vieldeutiger. Das große Thema, die „geschichtliche Aufgabe“ der Jahre
1918/19 war zunächst die staatliche Neuordnung Europas, das heißt die Bildung
neuer National- oder Nationalitätenstaaten auf den Fundamenten der
zusammengebrochenen östlichen Vielvölkerreiche. Die Losung des
„Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ dürfte denn auch größere Massen in
Bewegung gesetzt haben als die Parolen des revolutionären Sozialismus oder
Kommunismus.
Auch wo es zu radikalsozialistischen Umstürzen kam, wie in
Russland oder (für kurze Zeit) in Ungarn, waren nationale und soziale Fragen
unmittelbar miteinander verschränkt. Die ungarische Räterepublik war geradezu
prototypisch eine Aktion nationaler Selbstverteidigung vermittels
sozialistischer Mobilisierung der Massen und Zentralisierung aller Ressourcen,
was immer ihre (vielfach jüdischen) Führer und Ideologen sich sonst noch
vorgestellt haben.
Nicht anders die Bolschewiki, die den Bürgerkrieg 1918/19
als einen nationalen Verteidigungskrieg gegen eine „imperialistische
Intervention“ deklariert hatten und im Krieg mit Polen 1920 ganz offen an die
Sache „Russlands“ appellierten, und zwar des großen Russland (Rossija), die mit
der Sache des Sozialismus in eins gesetzt wurde. Die Losung eines
„vaterländischen Krieges“, die Lenin bereits im Frühjahr 1918 erstmals erhob,
sprach eine reale Motivlage an, die einen nicht geringen Teil der Offiziere der
alten Zarenarmee in die Reihen der Roten Armee brachte. Und es war keineswegs
bloße Demagogie, wenn gerade ein jüdischer Bolschewik wie Trotzki sich im
Bürgerkrieg oder im polnischen Krieg 1920 nationaler Rhetoriken wie der
„Sammlung der russischen Erde“ oder der „Freiheit und Unabhängigkeit Russlands“
bediente.(15)
Eben diesen Geist einer kriegerischen Selbstbehauptung im Namen des Sozialismus wie der Nation gegenüber den westlichen Siegermächten versuchte Karl Radek den spartakistischen Schwarmgeistern auf dem Gründungsparteitag der KPD einzupauken. Er traf auf denselben Defätismus wie sein Gegenspieler Eduard Stadtler, der Führer der „Antibolschewistischen Liga“, der eine militante antibolschewistische Massenmobilisierung in eine Demonstration nationaler Geschlossenheit gegenüber den Versailler Siegern und in einen Impuls für einen korporativen „deutschen Sozialismus“ hatte umwandeln wollen. Vom einen wie vom andern konnte keine Rede sein. Spartakisten und Antibolschewisten in Deutschland waren 1919/20 gleichermaßen schwach und desorientiert.
Unterdessen machten sich im Alltagsleben der Republik
„Subversionen“ ganz anderer Art geltend. „Wie der Walzer zur Revolution von
1989 und der Cancan .... zur Julirevolution von 1830, so gehörten die so
genannten Jazztänze im Berlin der Jahreswende 1918/19 zum Novemberumsturz.“(16)
So noch einmal Wolfgang Schivelbusch. Und als die Tanzwütigsten erwiesen sich
die jungen Frauen. In den Zwanzigerjahren, und gerade in den Zeiten der
Hyperinflation, wurde daraus ein Phänomen, das der Psychologe Fritz Giese 1925
als „Girlkultur“ bezeichnete(17) – die sichtbarste und emotional (weil
erotisch) wahrscheinlich eingreifendste Form der Amerikanisierung, die das
Weimarer Deutschland in sukzessiven Schüben geprägt hat.
Charakteristisch genug, sprachen zeitgenössische Beobachter
– ironisch, angst- oder hasserfüllt – vom „Bolschewismus im Ballsaal“, obschon
mit dem real existierenden Bolschewismus alles Mögliche, nur keine Jazztänze
verbunden werden konnten. Aber es war längst zur Manie geworden, den Begriff
des „Bolschewismus“ als universelle Metapher der Auflösung alter Ordnungen und
Sitten, Kunst- und Lebensauffassungen zu verwenden. So findet man pädagogische
Warnschriften gegen den „sexuellen Bolschewismus“ der Jugend ebenso wie
Brandreden gegen den „Musikbolschewismus“ der Neutöner oder gegen den
„Kunstbolschewismus“ der Expressionisten und Abstrakten, ohne dass die
geringsten Bezüge zu Sowjetrussland und zur radikalen Linken vorlagen oder auch
nur behauptet worden wären.(18)
Die „große Angst“ dieser Epoche dürfte also nur zum Teil
(und eher zum kleineren Teil) den sozialrevolutionären Umsturzbewegungen
gegolten haben. Und selbst der Affekt gegen den „Bolschewismus“ meinte häufig
Phänomene, die mehr der rapiden Amerikanisierung der Alltagskultur als
irgendeiner fiktiven „Sowjetisierung“ entsprangen. Plakativ gesagt, ging es
nicht allein und nicht einmal in erster Linie um Guillotinen oder
Erschießungskommandos, um rote Kommandeure und Kommandeusen, sondern um
„zerhackte“ Verse oder Bilder, um aufgelöste Harmonien und entwertete
Geldzeichen, um kurze Haare und Damenwahl beim Tanz.
So galt auch Hitlers „große Angst“, wenn schon, dem
Weltumsturz in all seinen Erscheinungsformen. Als dessen Demiurgen aber
entdeckte er im Moment seines politischen Erwachsens „den Juden“ – dem alles,
„was Menschen zu Höherem streben lässt, sei es Religion, Sozialismus,
Demokratie, ... nur Mittel zum Zweck, Geld und Herrschgier zu befrieden“, sei. In
diesem frühesten politischen Credo Hitlers vom September 1919 ist vom
Bolschewismus mit keinem Wort die Rede. Es handelt ausschließlich vom Judentum
als „Rassentuberkulose der Völker“, die restlos „entfernt“ werden muss.(19)
Ähnlich wie „Bolschewismus“, wurde auch „Versailles“ alsbald
zu einer Metapher, die unendlich mehr Themen und Stoffe transportierte, als
sich mit dem harschen Friedensdiktat selbst annähernd verbinden ließen. Es
ging, um noch einmal Joachim Fest zu zitieren, um „einen Akt des metaphysischen
Verrats und der tiefen Untreue gegen sich selbst; denn es lieferte Deutschland,
das romantische, gedankentiefe, unpolitische Deutschland ... eben jener
westlichen Zivilisationsidee aus, die es in seinem Wesen bedrohte“.(20)
Das waren aber genau jene essenzialistischen
Gegenüberstellungen und Selbstzuschreibungen, die bereits den Kern der
„deutschen Idee“ im Weltkrieg gebildet hatten. Dieser hatte sich militärisch
wie politisch-ideologisch immer mehr zu einem totalen Krieg Deutschlands gegen
den (erstmals so bezeichneten und als historisch-politische Einheit
betrachteten) „Westen“ entwickelt. In einer endlosen Kette antithetischer
Begriffe war das „deutsche Wesen“ in seiner fundamentalen Differenz zum
„westlichen Ungeist“ herausgearbeitet worden. In dieser Literatur stand der
„Bürger“ dem „Bourgeois“, die „Kultur“ der „Zivilisation“, die „Sittlichkeit“
dem „formalen Recht“, die „Persönlichkeit“ dem „Individuum“, aber auch der
„Sozialismus“ (im deutschen Sinne von Gemeinwirtschaft) dem westlichen
„Kapitalismus“ (als reiner Privatwirtschaft) gegenüber. Das war keine bloße
staatliche Kriegspropaganda gewesen, sondern eine genuine geistige Produktion,
an der sich mit wenigen Ausnahmen alles beteiligte, was Rang und Namen hatte.
In diesem System der „Ideen von 1914“ galt Russland als der nächste potenzielle Verbündete und das logische Objekt einer deutschen „Kulturarbeit“. Je übertrieben despotischer der Zarismus gezeichnet wurde, umso moralisch großartiger leuchtete das Bild des von seinen großen Dichtern repräsentierten, so grausam beleidigten russischen Volkes. Tatsächlich fand die weitgespannte deutsche Revolutionierungstätigkeit im Osten nicht nur in Gestalt der Bolschewiki eine Vielzahl bereitwilliger Verbündeter. In den westlich-demokratischen Gesellschaften musste die deutsche Politik dagegen von einer mehr oder minder homogenen Einheit von Regierung und Volk ausgehen; hier waren keine politischen Eroberungen zu machen, höchstens militärische. Die Welt der Schützengräben und des Materialkriegs im Westen war eine geschlossene, lebensfeindliche Sphäre, in der allenfalls der „Kampf als inneres Erlebnis“ (Ernst Jünger) ausgelebt werden konnte. Auch der totale U-Boot-Krieg im Atlantik trug diese erstickenden, klaustrophoben Züge. Der Osten dagegen stand weit offen und bot ein Feld politischer und militärischer Manöver und Fantasien größten Stils.
Diese ideologischen und psychologischen Grunddispositionen
der Kriegszeit waren allenfalls in der ersten, frischen Panik des Zusammenbruchs
im Winter 1918/19 von einer akuten „Bolschewismusfurcht“ überspielt worden.
Allerdings war diese durch die sozialdemokratische Regierung und die liberale
Presse auch künstlich dramatisiert worden, um der Entente mit einer
Bolschewisierung Deutschlands zu drohen und so eine Milderung der
Friedensbedingungen zu erreichen. Manche gingen umgekehrt davon aus, dass die
Versailler Mächte das „im Felde unbesiegte“ Deutschland in ähnlicher Weise mit
dem Bolschewismus infizieren wollten, wie es die deutsche Reichsleitung eben
erst (jedenfalls in ihren Allmachtsfantasien) mit Russland getan hatte.
So firmierten die Bolschewiki gerade in der antisemitischen
Agitation der Zeit – etwa in den Schriften des jungen Alfred Rosenberg oder des
deutschen Herausgebers der „Protokolle der Weisen von Zion“, Müller von Hausen
– als Höllenhunde des internationalen Kapitalismus. Dietrich Eckart, der erste
Mentor Hitlers, stellte noch im Herbst 1919 einen echten „deutschen
Bolschewismus“ einem falschen „jüdischen Bolschewismus“ gegenüber. Alle diese
Beweisführungen liefen darauf hinaus, dass die bolschewistische
Radikalsozialisierung nur die betrügerische Form der Übernahme aller nationalen
Reichtümer und Ressourcen durch das internationale Kapital war. Diese
Abgrenzung war die primäre und eigentliche Bedeutung des Begriffs
„Nationalsozialismus“.
Im Übrigen wurden alle akuten Bolschewismus-Ängste nicht nur
von der Erregung über das Versailler Friedensdiktat, sondern auch bereits von
der wachsenden Spannung mit den neuen Staaten im Osten, besonders mit Polen,
überlagert. Gegen das „weiße“ Polen aber stand das „rote“ Sowjetrussland, das
sich seit dem Sommer 1918 seinerseits im offenen Krieg mit den westlichen
Siegermächten sah. Das musste alle deutschen Einstellungen entscheidend prägen.
Schon die Ermordung der (halb deutschen) Zarenfamilie in der Zeit von
Brest-Litowsk war in der deutschen Presse und Publizistik mit einer
verblüffenden Kälte aufgenommen worden. Die Flut der „weißen“ Emigranten aus
Russland, die nach Deutschland hineinströmte, weckte kaum genuine Anteilnahme.
Dass die Mehrzahl bald weiter nach Westen zog, hatte außer sozialen Gründen
auch damit zu tun, dass sie in Deutschland früher als sonst wo als „gewesene
Menschen“ galten.
Aber auch die im Osten kämpfenden „Baltikumer“ fühlten sich
im Sommer 1919 (nach der Unterzeichnung in Versailles) von der deutschen
Politik und Öffentlichkeit verraten und verkauft. Nicht zuletzt deshalb wuchs
gerade unter den militanten Antibolschewisten und Freikorpskämpfern der ersten
Stunde die stille oder auch offen erklärte Bewunderung für das Regime der
Bolschewiki, das sich dem Zugriff der Siegermächte des Westens durch die
Mobilisierung einer totalen Kriegs- und Bürgerkriegsbereitschaft entzogen
hatte. Mehr noch: Mit dem Angriff auf Polen 1920 trat das neue Sowjetrussland
als eine entschieden revisionistische Macht in die Arena, die sich an die
Spitze einer Front der „jungen“ und „proletarischen“ Völker gegen das
Versailler Weltsystem setzte und einen sozial- und nationalrevolutionären deutschen
Revanchismus deutlich ermunterte. Vor allem für die konspirative Zusammenarbeit
mit der Reichswehr gab es jenseits aller nüchtern-materiellen Interessen eine
Ebene genuiner ideeller Verbundenheit, die in breite deutsch-nationale Milieus
diffundierte.(21)
Die frühesten Äußerungen Hitlers zum Bolschewismus und zu Russland lagen noch auf einer ähnlichen Linie wie die der traditionellen Antisemiten vom Schlage Müller von Hausen. Darin galt nicht erst die Revolution, sondern der 1914 gegen Deutschland heimtückisch entfesselte Weltkrieg als das entscheidende Mittel für den Griff des internationalen Judentums nach der Weltherrschaft – gerade indem die den Juden verhasstesten, weil ihrer Herrschaft feindlichsten Völker, Deutsche und Russen, aufeinander gehetzt wurden.
So bewegten sich die außenpolitischen Vorstellungen der
NSDAP bis 1923 noch im Rahmen einer „sehr primitiv verstandenen
Bismarcktradition“ (Paul Kluke).(22) Rosenberg etwa stellte die Konstellation
der Mächte in eine starre geopolitische Kontinuität, wenn er 1921 im Völkischen
Beobachter als Bismarck-Exeget schrieb: „Mit Frankreich werden wir nie
Frieden haben, mit Russland nie die Notwendigkeit eines Krieges.“(23)
Zwar stießen die verschiedenen Pläne oder Gedankenspiele,
notfalls auch mit dem sowjetischen Russland in eine enge Zusammenarbeit zu
treten, wie sie in Kreisen der Reichswehr und Industrie, der
Nationalrevolutionäre und Deutschnationalen, aber auch auf dem linken Flügel
der Nazipartei selbst (im Umkreis der Strasser-Brüder) gehegt wurden, bei
Hitler und Rosenberg von Beginn an auf heftige Ablehnung – aber vor allem
deshalb, weil sie ein Verrat am gemeinsamen Kampf beider Völker gegen die
jüdische Zersetzung und damit an der einzig zukunftweisenden Bündnisoption
Deutschlands waren: der mit einem wieder hergestellten „nationalen Russland“.
Von dieser Position aus lehnte Hitler die wiederholten
kommunistischen Avancen für einen gemeinsamen Kampf gegen Versailles ab – so in
einer Rede im April 1922 zum Vertrag von Rapallo: „Die Blätter wussten zu
berichten, dass Deutschland durch das Bündnis mit Russland einen großen Erfolg
erzielt habe. Wo ist nun dieser Erfolg? Nicht die Völker haben sich gefunden,
sondern die führenden Juden (Beifall).“ Einem „Genossen der KPD“, der sich zu
Wort gemeldet hatte, erklärte Hitler laut Polizeibericht: „... ein
Zusammengehen wäre wohl möglich; aber solange man unsere Versammlungen sprengt
und unsere Leute blutig schlägt, ist dies unmöglich“. Im Übrigen – wäre der
Umsturz vom 9. November 1918 „ehrlich gemeint gewesen“, dann „hätte er eine
Folge haben müssen: Kampf gegen den kapitalistischen Westen“.
Stattdessen sei Deutschland unterminiert und alles unternommen worden, den
„Judenstaat“ auch hier aufzurichten. Statt mit den „Verderbern Russlands zu
verhandeln“, müsse es darauf ankommen, „das russische Volk aufzurufen, seine
Peiniger abzuschütteln, um ihm dann näher treten zu können“.(24)
Gegenüber einem künftigen „nationalen Russland“, das als
natürlicher Verbündeter Deutschlands galt, konnten natürlich keine Ansprüche
auf „Lebensraum“ geltend gemacht werden. Das Wort selbst tauchte in der frühen
NS-Publizistik so gut wie nicht auf. Im ersten Parteiprogramm von 1922 war zwar
von einer „großzügigen Ostsiedlung“ die Rede. Aber diese habe sich, so
Rosenberg in seinen Erläuterungen zum Programm, zunächst auf die „Raumsicherung
im heute polnisch-tschechischen Osten“ zu konzentrieren.(25)
Erst nach der Niederlage des Münchner Putschversuchs im
November 1923, in den Monaten des gegen ihn und seine Mitkämpfer angestrengten
Hochverrats-Prozesses, begann Hitler, seine früheren Strategien zu überprüfen.
In einem kaum beachteten Zeitschriften-Beitrag im April 1924 kam er auf die
imperialen Optionen des Wilhelminischen Reiches zurück, zwischen denen es vor
1914 haltlos geschwankt habe, obwohl sie alternativ zueinander gestanden
hätten: „... entweder man entschloss sich unter Verzicht auf Seehandel und
Kolonien, unter Verzicht auf Überindustrialisierung usw., Bauernland zu
gewinnen; dann mussten die deutschen Regierungen erkennen, dass dies nur im
Bunde mit England gegen Russland zu erreichen war; oder man
wollte Seemacht und Welthandel, dann konnte aber auch nur ein Bündnis mit
Russland gegen England in Frage kommen, selbst um den Preis eines
rücksichtslosen Aufgebens des gänzlich unmöglichen Habsburgerreiches“.(26)
Aus dem gesamten Kontext geht hervor, dass Hitler – anders
als bisher – nun zur ersteren Option tendierte. Dieses gedankliche renversement
des alliances hatte mit handfesten Veränderungen der Weltlage zu tun. Der
„Faschismus“ unter Führung Mussolinis hatte sich in Italien als ein neues
autoritär-korporatistisches Staatsmodell und als Faktor einer revisionistischen
Europa- und Weltpolitik etabliert, mit dem Deutschland sich potenziell
alliieren konnte. Großbritannien hatte sich in der Ruhrkrise von 1923
deutlicher als zuvor von Frankreich distanziert und wurde von Hitler nun
(entgegen der wilhelminischen Kriegspropaganda) als ein imperiales „Herrenvolk“
par excellence herausgestellt. Dagegen konnte der Tod Lenins und der Streit der
(vorwiegend nicht-russischen, meist jüdischen) Diadochen um die Nachfolge als
ein „Fingerzeig des Schicksals“ gedeutet werden, dass das seiner nationalen
Eliten beraubte, frisch zusammengezimmerte neue Staatsgebilde der UdSSR „reif
zum Zusammenbruch“ sei. Danach würde es sich kaum mehr um die Wiederherstellung
des alten Russischen Großreiches handeln, sondern um seine Aufteilung, zumal
das „weiße Russland“ der Emigranten als ernst zu nehmender Machtfaktor
inzwischen ausschied.
Erst im zweiten Band von „Mein Kampf“, der Anfang 1927
erschien, zog Hitler aus seiner apokalyptisch-antisemitischen Weltschau auch
die Konsequenz einer expliziten globalpolitischen Neuorientierung, in deren
Zentrum nun „das Verhältnis Deutschlands zu Russland“ stand. Alle Tendenzen der
„Ostorientierung“, wie er sie offensichtlich auch unter den Anhängern der
eigenen Partei voraussetzte, gelte es nun „ohne Rücksicht auf ‚Traditionen‘ und
Vorurteile“ durch eine neue „Ostpolitik“ zu ersetzen, deren oberster
Gesichtspunkt es sein müsse, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und
Boden dieser Erde zu sichern“.(27)
Diese abenteuerliche und radikale Wendung erhielt einen
Schein von Realismus und Plausibilität allein durch eine spekulative Annnahme,
die Hitler als „Fingerzeig des Schicksals selbst“ deklarierte: „Indem es (das
Schicksal) Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen
Volke jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und
garantierte.“ Vom „germanischen Kern seiner oberen leitenden Schichten“ habe
Russland Jahrhunderte lang gezehrt. „Er kann heute als restlos ausgerottet und
ausgelöscht angesehen werden. An seine Stelle ist der Jude getreten. So
unmöglich es dem Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch des Juden
abzuschütteln, so unmöglich ist es dem Juden, das mächtige Reich auf die Dauer
zu erhalten ... Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das
Ende der Judenherrschaft wird auch das Ende Russlands sein.“(28)
Goebbels „Ex oriente lux“
Mit der in Mein Kampf erstmals zusammenhängend
dargelegten neuen Politik und Ideologie konnte sich Hitler nach seiner
Entlassung aus der Festungshaft im Sommer 1925 in der ihm halb entglittenen
Partei nur gegen heftige Widerstände wieder durchsetzen. Der Strasser-Flügel,
der die Mehrzahl der norddeutschen Landesverbände repräsentierte und mit dem
jungen Goebbels einen neuen, wirkungsvollen Agitator und Literaten gewonnen
hatte, vertrat eine völkisch-nationalistische Position, worin Sowjetrussland –
bei aller handfest ausgetragenen Rivalität mit den Kommunisten – nicht nur
einen potenziellen Bündnispartner, sondern sogar ein latentes Vorbild abgab
(fast so, wie es Karl Radek 1923 in seinen „Schlageter“-Fantasien eines
revolutionären Bündnisses von Kommunisten und Nationalisten gegen die
französische Ruhrbesetzung ausgemalt hatte).
Als die linke Parteifronde auf einer Führertagung im Februar
1926 wieder an die Kandare genommen wurde, notierte Goebbels in seinem
Tagebuch: „Ich bin wie geschlagen. Welch ein Hitler? Ein Reaktionär? ... Unsere
Aufgabe ist die Zertrümmerung des Bolschewismus. Bolschewismus ist jüdische
Mache! Wir müssen Russland beerben! 180 Millionen!!! ... Ich bin wie vor den
Kopf geschlagen.“(29)
Diese Erschütterung war authentisch – und bezeichnet eine
andere, womöglich sogar majoritäre „Grundemotion“ innerhalb der NS-Bewegung wie
des gesamten deutsch-völkischen und nationalistischen Lagers. Bei Goebbels (als
Rheinländer und Abkömmling verarmter „Stehkragenproletarier“) verband sich ein
wütender Antikapitalismus, der zum Hauptobjekt seines Hasses „den Westen“ und
das „jüdische Börsenkapital“ wählte, mit einer zeittypischen Russophilie, die
durch und durch literarisiert war, vor allem durch exzessive
Dostojewski-Lektüren. Goebbels (ungedruckter) autobiografischer Roman Michael
Voormann und seine ab 1924 geführten Tagebücher waren voller schwüler
literarisch-politischer Bekenntnisse, worin Russland geradezu eine Erlöserrolle
zugewiesen wurde, die der Hitlers und der NS-Bewegung korrespondierte. So
notierte er etwa nach erneuter Lektüre einer Dostojewski-Erzählung im Juli
1924: „Russland, wann wirst Du erwachen? Die alte Welt sehnt sich nach deiner
erlösenden Tat! Russland, Du Hoffnung einer sterbenden Welt! Wann wird es Tag
werden?“(30)
Nur Tage später notiert er nach einem Gespräch mit
Parteifreunden: „Ex oriente lux. Im Geiste, im Staate, im Geschäft und in der
großen Politik ... Unsere herrschenden Kreise haben den Trieb nach dem Westen,
weil die westlichen Mächte die klassischen Staaten des Liberalismus sind ...
Aus dem Osten kommt der neue Staatsgedanke der individuellen Gebundenheit und
verantwortlichen Zucht dem Staate gegenüber.“ Anzeichen einer neuen Hungersnot
in Russland sah er als das Fanal einer erlösenden Krisis: „Russische Männer,
jagt das Judenpack zum Teufel und reicht Deutschland eure Hand. Zum kommenden
Menschen. In Russland liegt der Schlüssel der europäischen Frage.“(31)
Als Schriftleiter des Parteiorgans Nationalsozialistische
Briefe ging Goebbels 1925 so weit, Lenin und Hitler, Bolschewismus und
Nationalsozialismus ganz in eine Reihe zu stellen. So behauptete er, dass sich
in Russland seit dem Tode Lenins und der Ausschaltung Trotzkis derselbe Prozess
einer „großen völkischen Reinigung“ vollziehe wie in Deutschland. Ein vom
„jüdischen Internationalismus befreites“, in einen „sozialistischen
Nationalstaat“ transformiertes Russland werde „der uns von Natur gegebene
Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens“ sein.
Lenin, der das russische Volk tiefer verstanden habe als
jeder Zar, wurde den deutschen Kommunisten geradezu als Kronzeuge
gegenübergestellt: „Lenin opferte Marx und gab dafür Russland die Freiheit. Sie
[die Führer der KPD] wollen die deutsche Freiheit nun Marx opfern.“(32) Gleich
nach der Niederschrift seines (wie er hoffte, wegweisenden) Aufsatzes über
„Bolschewismus und Nationalsozialismus“ notierte er: „Ich möchte einmal für ein
paar Wochen zu Studienzwecken nach Russland.“ (21.Oktober 1925) Und wenig
später: „Ich finde es grauenhaft, dass die Kommunisten und wir uns gegenseitig
die Köpfe einschlagen ... Brief von und an Strasser. Wo können wir einmal mit
führenden Kommunisten zusammenkommen?“ (31.1.26) (33)
Im Frühjahr 1926, als der Kampf zwischen „Elberfeld“, das
die Parteilinke zum „Mekka des deutschen Sozialismus“ ausbauen wollte, und
„München“ voll entbrannt war, veröffentlichte Goebbels ein Buch unter dem
programmatischen Titel Die zweite Revolution. Darin fand sich ein
fiktiver Brief an einen fiktiven russischen Revolutionär (den dostojewskihaften
Iwan, der schon in dem noch ungedruckten Jugendroman „Michael“ das Pendant des
deutschen Helden abgegeben hatte), worin es schon mit Blick auf die
Gegenargumente der Münchner Parteikamarilla hieß: „Darum schauen wir nach
Russland, weil es am ehesten mit uns den Weg zum Sozialismus geben wird.“ Ein
deutsch-russisches Bündnis sei imperativ, „nicht darum, weil wir den
Bolschewismus, weil wir die jüdischen Träger des Bolschewismus lieben, sondern
weil wir im Bunde mit einem wahrhaft nationalen und sozialistischen Russland
den Anfang unserer eigenen nationalen und sozialistischen Selbstbehauptung
erkennen“.(34) Hitler, der die Fraktionen miteinander kämpfen ließ, seine
Agitation aber zunehmend stärker auf die bürgerliche Mitte ausrichtete, umwarb
den glänzenden jungen Agitator und zog ihn nach und nach auf seine Seite, indem
er seine deutsch-völkischen und antisemitischen Affekte stimulierte – vor allem
aber, indem er ihm die Eroberung des „Sündenpfuhls“ Berlin anbot. Nichts hätte
für den geltungsgeilen Aufsteiger bestechender sein können. Für das glitzernde
Berlin gab Goebbels sein inneres Russland dran.
In der Propaganda, die die Nationalsozialisten ab 1930 zu triumphalen Wahlsiegen und binnen zwei, drei Jahren an die Macht führte, spielten die Themen und Thesen aus Mein Kampf allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Die Forderung nach „Lebensraum im Osten“ durch einen Sturz des „jüdischen Bolschewismus“ mit anschließendem „neuen Germanenzug“ kam in den Wahlprogrammen der Partei und in den Brandreden Hitlers oder Goebbels explizit kaum vor.
Tatsächlich hatte sich die Welt binnen weniger Jahre wieder
gründlich verändert. Auch die Nazipartei war in der zweiten Hälfte der
Zwanzigerjahre vom deutschen Amerikafieber erfasst worden, in dessen Zentrum
die mit dem Namen Henry Ford verknüpften Produktions- und Lebensformen standen,
auch wenn die antisemitischen Konnotationen (wie in Fords Kampfschrift „The
International Jew“ von 1920) daraus inzwischen verschwunden waren. Gegenüber dem
Bild der USA als aufstrebender Weltmacht verblasste das der Briten, die Hitler
gerade noch zum Vorbild eines „Herrenvolks“ hatte erheben wollen.
Radikal verändert stellte sich ab 1929/30 auch wieder das
Bild der Sowjetunion in der Periode der forcierten Industrialisierung und der
Stalinschen „Fünf-Jahr-Pläne“ dar. Die Verfolgung der Trotzkisten wurde in
allen politischen Lagern als Ausschaltung des „jüdisch-bolschewistischen“
Elements verstanden, und damit zugleich als Übergang zu einer Großmachtpolitik älteren
Stils, die Rückbezüge auf Traditionen des vergangenen Russischen Reiches
keineswegs scheute. Auch die Nazipartei hatte der zwiespältigen Bewunderung
Rechnung zu tragen, die diese Politik – gerade durch ihre Rücksichtslosigkeit –
in nationalistischen, deutsch-völkischen und deutsch-nationalen Kreisen sowie
bei Teilen der Groß- und Schwerindustrie fand. Die Werberede, die Hitler im
Januar 1932 vor dem Düsseldorfer Rhein-Ruhr-Club hielt, war denn auch dazu
bestimmt, die deutliche Reserve unter den Industriemagnaten gegenüber seinem
abenteuerlichen Programm und seiner pöbelhaften Massenpartei zu zerstreuen.
In einer geschickten Wendung rühmte Hitler zunächst die
natürliche autoritär-hierarchische Ordnung im Wirtschaftsleben wie in der
Armee, der gegenüber die parlamentarische Demokratie an sich schon eine Art
Kommunismus sei! Dann erst kam er auf den Bolschewismus zu sprechen, der nicht
„nur eine in Deutschland auf einigen Straßen herumtobende Rotte“ sei, aber auch
keine bloße „neue Produktionsmethode“ – sondern „eine Weltauffassung, die im
Begriffe steht, sich den ganzen asiatischen Kontinent zu unterwerfen, und ...
die ganze Welt langsam erschüttern und zum Einsturz bringen“ werde. Von Lenin
werde man dereinst vielleicht mit derselben Verehrung reden wie heute von Jesus
Christus oder Buddha. Es handele sich um eine „gigantische Erscheinung“, die
aus der Welt nicht mehr weggedacht werden könne und „zwangsläufig eine der
Voraussetzungen zu unserem Bestand als weiße Rasse zerstören“ müsse.
Hier, so könnte man meinen, wäre Hitlers Antibolschewismus
endlich einmal zu Tage getreten. Doch sind zwei Dinge deutlich: Zum einen ging
es dem Redner ganz offensichtlich darum, seine Partei als die Garantin einer
nationalen Gegenrevolution herauszustreichen. In dieser Hinsicht trug der
prononcierte Antikommunismus Hitlers sehr berechnende Züge – nicht anders als
später im Umgang mit den Staatsmännern des Westens, vor allem Großbritanniens.
Die Furcht der Industriellen vor dem Anwachsen kommunistischer und
klassenkämpferischer Stimmungen war in den Zeiten der Wirtschaftskrise
zweifellos real. Nur gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Hitler sie teilte.
Er hatte sich intern wiederholt abfällig über die revolutionäre Potenz der
deutschen Kommunisten geäußert, ähnlich wie Goebbels, der die Aktivitäten
seiner Gegenspieler aus alter Affinität besonders eng verfolgte und schon
Anfang 1932 keine Gefahr mehr in ihnen sah.
Umso bemerkenswerter war die völlige Neubewertung der
Sowjetunion im Verhältnis zu dem in Mein Kampf gezeichneten Bild. Hatte
sie dort als ein vom Judentum ausgehöhltes, „vom Schicksal selbst“ dem
kolonisierenden Zugriff des deutschen Herrenmenschentums ausgeliefertes Gebilde
firmiert, so hier nun als überlebensgroße Bedrohung durch einen Staat, der eine
Weltbewegung repräsentiert und dessen Begründer womöglich als Religionsstifter
in die Geschichte eingehen wird. Vom Kampf um „Lebensraum“ konnte unter diesen
Prämissen nicht die Rede sein, wie auch das Wort vom „jüdischen Bolschewismus“
an keiner Stelle fiel.(35)
Weder mit seinem manischen Antisemitismus noch mit seinen
fantastischen Ostraumplänen hätte Hitler vor diesem Publikum auch reüssieren
können. Aber die doppelte Zwangslage des Reiches, die er drängend beschrieb:
die Schuldenlast durch die westlichen Sieger und Gläubiger und die
Unterminierung des Reiches durch die stärker werdenden Kommunisten als
Bürgerkriegspartei – das machte durchaus Eindruck. Die nationale Erhebung, die
er versprach, sollte zur rigorosen Ausschaltung des „Marxismus“ (somit auch der
Gewerkschaften und jeder organisierten Interessenvertretung) und zur Errichtung
einer neuen, korporativen Ordnung führen, die bei allen Ähnlichkeiten zum
erfolgreichen italienischen Faschismus Züge einer originären deutschen
„Volksgemeinschaft“ tragen würde. Dafür erntete er immerhin lebhaften Beifall,
allerdings nur ein eher bescheidenes Spendenaufkommen. Irgendein Mandat der
Machtübernahme und Kriegsvorbereitung, das Hitler auf dieser legendenumwobenen
Sitzung seitens der „Großindustrie“ erteilt worden sein soll, ist nicht
feststellbar.
Auch nach 1933 blieb die Position der Nazipartei gegenüber
dem Bolschewismus und der Sowjetunion schwankend, nicht nur
praktisch-politisch, sondern auch theoretisch-weltanschaulich.(36) In der Phase
der „Antikomintern“-Politik von Anfang 1935 bis Ende 1938 wurden die alten
Schemen des „jüdischen Bolschewismus“ zu neuem Leben erweckt – jedoch in steter
Konkurrenz mit der komplementären These vom „asiatischen“ Charakter, der auf
das Stalinsche System besser zu passen schien, sich allerdings auch mit
gefährlich positiven Konnotationen verbinden ließ.
Alle diese widersprüchlichen Weltanschauungselemente blieben
im Übrigen stets den praktischen Zwecken und Imperativen der inneren und
äußeren Politik untergeordnet: sei es zur Legitimation der antijüdischen
Maßnahmen; sei es zur einseitigen Brechung der „Fesseln von Versailles“ und zur
Schaffung eines eigenen, als „Antikomintern-Pakt“ deklarierten Bündnissystems
mit Japan und Italien, dessen Spitze gegen die westlichen Mächte auf diese
Weise kaschiert wurde. Vor allem gegenüber den britischen Konservativen mit
ihrer Politik des „Appeasement“ leistete diese Propaganda eine Zeit lang gute
Dienste.
Als Organisation freilich war die 1936 gegründete
„Antikomintern“ nichts als eine subalterne Unterabteilung des Goebbelsschen
Propagandaministeriums. Am wirksamsten waren noch die Propagandaschriften, die
aus dem Erfahrungsfundus enttäuschter Rückkehrer, darunter prominenter
Ex-Kommunisten, sowie verbitterter Flüchtlinge aus dem „Sowjetparadies“ (wie es
stets höhnisch hieß) schöpfen konnten. Schon im Winter 1938/39 mussten die
Propagandisten der „Antikomintern“ ihre Arbeit allerdings wieder einstellen –
einer internen Mitteilung ihres Leiters Taubert zufolge, „um nicht die Wirkung
der antijüdischen Propaganda zu schwächen“, die nach der „Kristallnacht“ des 9.
November 1938 auf Volltouren lief.
Diese Propaganda richtete sich angesichts des negativen
Echos in der westlichen Öffentlichkeit nun mit voller Wucht „gegen die Macht
einer gewissen internationalen Presse“, die Deutschland verleumde.(37) In
seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 bezichtigte Hitler vor allem die
US-amerikanische Regierung und Öffentlichkeit der Feindseligkeit – und führte
dies auf das Wirken des „internationalen Finanzjudentums“ zurück, welches
bestrebt sei, „die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen“. Wenn dies
aber geschehe, „dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und
damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse
in Europa“.(38)
Damit rekurrierte Hitler auf die antisemitische Basisversion
vom Bolschewismus als einem terroristischen Instrument des „internationalen
Finanzjudentums“, welches demnach das eigentliche Subjekt aller derartigen
Umtriebe war. Zugleich zeigte sich aber auch eine strukturelle Ähnlichkeit mit
dem „Antifaschismus“ der Komintern, demzufolge die faschistischen Bewegungen
ebenfalls nur als terroristische Stoßtrupps des internationalen Finanzkapitals
galten. Diese subtile Botschaft kam an. In Stalins „Kastanienrede“ vom 10. März
wurden die bürgerlichen Westmächte bezichtigt, die „faschistischen Mächte“
Japan und Deutschland in einen Konflikt mit der Sowjetunion hineinzutreiben,
für den es, wie Stalin kühl bemerkte, überhaupt „keine sichtbaren Gründe“
gebe.(39)
Bereits im Februar 1939 begann ein regelrechter Wettlauf
zwischen dem Reichsführer SS und dem Amt Rosenberg zur „Gewährleistung einer
nationalsozialistisch zuverlässigen wissenschaftlichen Berichterstattung über
die Sowjet-Union“ (wie sie Martin Bormann namens des Führers gefordert hatte).
In diesem Geiste hielt Rosenberg vor Diplomaten und Vertretern der
ausländischen Presse einen Vortrag zur Frage: „Müssen weltanschauliche Kämpfe
staatliche Feindschaften ergeben?“ – was er ausdrücklich verneinte.(40)
Tatsächlich fand die im August/September 1939 geschlossene
Weltkriegs-Allianz des nationalsozialistischen Deutschen Reichs und der
bolschewistischen Sowjetunion in der jeweiligen Ideologie keine gravierenden
Hindernisse – und im steten Rekurs auf die „traditionelle“ deutsch-russische
Verbundenheit wie in der Stoßrichtung gegen das „internationale“ Finanzkapital
sogar eine recht tragfähige Basis. Der Völkische Beobachter pries den
Pakt gar als die „Wiederherstellung eines natürlichen Zustandes“.(41) In einem
Schreiben an Mussolini vom März 1940 bestätigte Hitler auch auf höchster
staatspolitischer Ebene die Auffassung des Duce, dass das sowjetische Regime
sich vom internationalen Bolschewismus zu einem russischen Nationalismus
entwickelt habe.(42)
Mit dem Überfall im Juni 1941 – auf den es keinerlei
ideologische Vorbereitungen gab – wurden über Nacht die Schleusen der
antibolschewistischen Propaganda erneut geöffnet. Goebbels vermerkte in seinem
Tagebuch zynisch, nun gelte es „die antibolschewistische Walze“ wieder
aufzulegen.(43) Vor allem die Offiziere und Soldaten der „Barbarossa“-Armee
mussten indoktriniert werden, nicht nur um diesen neuen Krieg selbst zu
begründen, sondern um die Außerkraftsetzung aller völkerrechtlichen Regelungen
für die Behandlung von Kriegsgefangenen wie Zivilpersonen zu legitimieren. In
den harschen Formeln der militärischen Befehle und Geheimbefehle (angefangen
mit dem „Kommissarsbefehl“) wie in der begleitenden Propagandaliteratur erwies
sich erneut die plastische Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der NS-Ideologie,
die sich je nach Autor, Adressat und Situation der Hassformeln des „jüdischen
Bolschewismus“, „slawischen Untermenschen“ oder „Asiatentums“ bediente und
damit jedem etwas bot.
Auch Rosenberg hatte auf einer internen Sitzung vor Beginn
des Feldzugs die Propaganda, die ihn begleiten sollte, von vornherein Lügen
gestraft: „Wir führen ... heute nicht einen ‚Kreuzzug‘ gegen den Bolschewismus,
allein um die ‚armen Russen‘ vor diesem Bolschewismus für alle Zeiten zu
erretten, sondern um deutsche Weltpolitik zu treiben ... Ein Krieg mit dem
Ziel, ein ungeteiltes Russland zu errichten, scheidet deshalb aus. Stalin mit
einem neuen Zaren zu vertauschen oder gar einen nationalistischen Führer
einzusetzen in diesem Gebiete, das würde alle Energien erst recht einmal gegen
uns mobilisieren.“(44) Es war also ein Eroberungs- und Versklavungskrieg gegen
Russland selbst, nicht gegen „den Bolschewismus“. Dem entsprach die
Proklamation eines „Großen Vaterländischen Krieges“ von Seiten der sowjetischen
Führung.
Hannah Arendts Feststellung: „Freiheit vom Inhalt der
eigenen Ideologie charakterisiert die innerste Schicht der totalitären Hierarchie“(45),
findet in Hitlers Monologen im Führerhauptquartier oder in seinen
Tischgesprächen schlagende Bestätigung. Bei derselben Gelegenheit, bei der er
forderte, die unterworfenen Völker Russlands „auf möglichst niedrigem
Kulturniveau zu halten“, da sie „in erster Linie die Aufgabe haben, uns
wirtschaftlich zu dienen“, sprach er bewundernd über Stalin. Wenn dieser „beim
russischen Volk in den vergangenen Jahren Methoden angewandt habe, wie sie
damals Karl der Große beim deutschen Volk angewandt hätte, so dürfe man mit
Rücksicht auf den derzeitigen kulturellen Stand der Russen nicht den Stab
darüber brechen“ – so wenig wie über Karl, den der gute Rosenberg in seinem
unlesbaren Mythus des 20. Jahrhunderts noch als „Sachsenschlächter“
verschrieen habe, nur weil er die erforderliche „staatliche Organisation durch
Gewalt zusammengebracht“ habe.(46)
Vom „jüdischen Bolschewismus“ ist hier wie in den meisten
internen Erörterungen der Naziführung über die Sowjetunion kaum die Rede – und
je länger der Krieg im Osten dauerte, umso weniger. Im Gegenteil, auch die
Verwendung der Juden im Sowjetapparat erschien jetzt als Akt staatsmännischer
Klugheit. So nannte Hitler Stalin sogar einen der größten lebenden Menschen, da
er es geschafft habe, „aus dieser slawischen Kaninchenfamilie einen Staat zu
schmieden“, wofür er sich habe „zwangsläufig der Juden bedienen“ müssen.(47)
Stalins „großem Aufräumen in der Generalität“(48) stand Hitler ebenfalls mit
einigem Verständnis gegenüber und war heilfroh, „dass es Stalin nicht gelungen
sei, die kommunistische Anschauung der gesamten Roten Armee einzuimpfen“, da
diese sonst womöglich – wie eine „Weltanschauungsdivision“ auf der Halbinsel
Kertsch im Mai 1942 – „bis zum Sterben kämpfe“.(49) Er selbst beklagte immer
öfter, dass er zu Gunsten des alten Offizierskorps auf die Heranbildung eines
„revolutionären Offiziers- und Generalsnachwuchses“ verzichtet habe.(50)
Und noch wenn Hitler rechtfertigend von der „ungeheuren
Gefahr“ sprach, die der „geniale“ Stalin „mit seinen Weltrevolutionsplänen und
seinem beabsichtigten Überfall auf Mittel- und Westeuropa“ 1941 bedeutet habe,
da „hinter Stalin ... der Jude“ stehe(51) – dann klang das völlig anders als
die Feststellung in Mein Kampf, wonach es „dem Juden“ konstitutionell
unmöglich sei, „das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten“.(52) Was war aber
dann übrig vom „Fingerzeig des Schicksals selbst“, der ihm in seiner
Festungshaft Russland als das große Kolonialland im Osten „angewiesen“ hatte?
Man könnte diese Kette vollkommen widersprüchlicher
Äußerungen, die sich je nach Kriegs- und Großwetterlage drehten und wendeten,
fast beliebig vermehren. Hatte Goebbels noch Mitte 1942 den wachsenden
Widerstand der Roten Armee als „die durch wildwütigen Terror zur
Widerstandskraft organisierte primitive Animalität des Slawentums“ denunziert,
so musste er im März 1945 „zu der peinlichen Überzeugung kommen, dass die
militärische Führerschaft der Sowjetunion aus einer besseren Klasse
zusammengesetzt ist als unsere eigene“.(53) Dies freilich nur für das eigene
Tagebuch.
Und wenn Hitler in seinen letzten Tagen vom „stärkeren
Ostvolk“ sprach, dem die Zukunft gehöre, während er in seinem Bormann
diktierten „Testament“ noch einmal den Popanz des „jüdischen Bolschewismus“
beschwor, so war das offenkundig nur der letzte legitimatorische Titel, auf den
er sich noch hätte berufen können.(54) Noch absurder: Selbst in diesen letzten
Diktaten sprach Hitler wieder anerkennend davon, dass Stalin die jüdische
Intelligenz, die er zur Zersetzung des Zarenreichs einst gebraucht habe,
inzwischen erfolgreich liquidiert habe. War es also jetzt Stalin und dem
„stärkeren Ostvolk“ aufgetragen, dem Weltjudentum in Gestalt der westlichen
Plutokratie entgegenzutreten?
Was bleibt also von der geläufigen Vorstellung, dass sich
eine Trias von Antibolschewismus, Antisemitismus und antislawischem
Rassendünkel in der fixen Zielvorstellung von „Lebensraum“ und Judenvernichtung
konkretisiert habe? Gerade dieser Nexus ist zweifelhaft. Zwar steht außer
Frage, dass die Entscheidung zur „Endlösung der Judenfrage“ im Zusammenhang des
Hitlerschen „Ostfeldzuges“ gefallen ist. Die neueren Forschungen konvergieren
überwiegend jedoch in dem Befund, dass es sich um einen Prozess kumulativer
Entscheidungen handelte, in denen nur weniges von vornherein feststand. Und
wenn eine Reihe von Indikatoren auf den Dezember 1941 als eine nochmalige
„Zäsur im Gesamtgeschehen“ (Dan Diner)(55) hindeuten, dann hatte das
offensichtlich mit der Kriegserklärung an die USA zu tun. Am Tag darauf, am 12.
Dezember 1941, erklärte Hitler jedenfalls seinen versammelten Reichs- und
Gauleitern, nun werde seine „Prophezeiung“ in Erfüllung gehen, dass die Juden,
die diesen neuen Weltkrieg zu verantworten hätten, ihre „Vernichtung erleben“
würden.(56) Damit spielte er eindeutig auf seine Reichstagsrede vom Januar 1939
an.
Ein halbwegs kohärentes Bild vom bolschewistischen Russland
und von der Sowjetunion Stalins ist bei alledem nicht zu erkennen. Es handelte
sich, wie Manfred Weißbecker treffend schrieb, „gleichsam um ein
‚Schüttelbild‘“(57), in dem die längst abgedroschenen Themen und Topoi wie in
einem endlosen Recycling in immer neuer Legierung auftauchten. Statt durch
genuine ideologische Überzeugungen waren Reden und Handeln eher durch eine die
Massen steuernde und konditionierende Propaganda bestimmt, deren abrupte
Tendenzwechsel jeweils praktischen Bedürfnissen gehorchten.
Im Weltbild und in der geschichtlichen Ambition Hitlers und
seiner Führungsgarde hat es vielleicht nur zwei feste Pole gegeben: Erstens die
Überzeugung, dass allein der Kampf um das „größere Reich“ durch Gewinnung neuen
„Lebensraums“ auf dem Boden des europäischen Kontinents den Bestand des
deutschen Volkes als dem Kern der „weißen“ arisch-germanischen Rasse würde
sichern können; und zweitens, dass es zur Ausbildung eines gesunden,
kampffähigen Volkskörpers der „Entfernung der Juden überhaupt“(58) als des
schlechthin feindlichen, zersetzenden Gegenparts bedürfe. Alles andere war
offen und dem Gang der Geschichte, dem „Schicksal“, dem politischen Geschick
und dem Kriegsglück anheim gegeben.
Die mehrfache Radikalisierung dieser Ziele und Ambitionen unterlag allerdings einer Logik der Steigerung, worin jeder der unvermuteten, durch die Fehler und Schwächen der überrumpelten Gegner errungenen diplomatischen und militärischen Triumphe nur den Weg bereitete zur zwangsläufigen Überspannung aller Kräfte und zur maßlosen Entgrenzung aller Ziele. Es musste immer weiter, immer vorwärts gehen. Jeder Rückschlag konnte nur mit der Steigerung der eingesetzten Mittel beantwortet werden. Ausrottungen und Versklavungen größten Stils waren in diesem Projekt von vornherein einkalkuliert und nahmen mit den ersten Anzeichen des künftigen Scheiterns immer monströseren Umfang an. So weit dies einer Ratio folgte, war das die kollektive Bindung der „Volksgenossen“ im Verbrechen, das heißt, der mehr oder weniger bewusste Abbruch und das systematische Verbrennen aller politischen und moralischen Brücken, die etwa noch zu einem friedlichen Ausgleich und zur zivilisierten Existenz einer Nation unter Nationen hätten zurückführen können.
Auch im Rückblick auf die Weimarer Republik und die
Machtergreifung der Nationalsozialisten stellt sich der „Nexus“ mit dem
bolschewistischen Russland vollkommen anders dar, als es dem geläufigen Bild
eines virulenten Komplexes aus Antikommunismus, Antisemitismus und
Russlandfeindschaft entspricht. Die eigentliche Grundverspannung der Republik
war vielmehr die zwischen einer zunehmenden ökonomischen und kulturellen Westintegration
und einer vagen „Ostorientierung“ als politisch-intellektueller Abwehr und
Affektbildung, die von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten reichte,
aber auch maßgebliche Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mitte sowie
der brodelnden Weimarer Kulturszene erfasste.
Teil dieses Syndroms waren auch die (zum Teil konspirativen)
Nebenpolitiken, die die Reichswehrführung, Teile der Großindustrie und
bestimmte Berufsverbände und Interessengruppen mit und gegenüber Sowjetrussland
trieben. Sie alle waren ein Stück „geheimes Deutschland“ im Wartestand: auf die
Krise, den Führer, eine globale Verschiebung der Kräfte. Aber nie, so oft und
intim unter führenden Militärs von Reichswehr und Roter Armee darüber geredet
wurde, kamen beide Länder in die Nähe eines effektiven politisch-militärischen
Bündnisses. Es entstanden informelle Verbindungen, persönliche Affinitäten,
eine Art virtueller Waffenbrüderschaft – aber nichts, was den Veränderungen der
Politik nach 1933 und im Weltkrieg hätte standhalten können.
Man kann das dahin verallgemeinern, dass die Beziehungen der
Weimarer Republik zu Sowjetrussland insgesamt einen Zug des Virtuellen trugen.
Nach offiziöser Version sollten das Abkommen von Rapallo 1922 und der daran
anschließende „Berliner Vertrag“ 1926 ein diplomatisches „Gegengewicht“ bilden.
Aber zu was eigentlich? Soweit sich 1925 nach Locarno ein Spielraum einer
konstruktiven Politik nach Westen ergab, wurde er jedenfalls nicht genutzt.
Wäre der Antibolschewismus eine so dominante Haltung in der Weimarer Politik
und Publizistik gewesen, wie er überwiegend gezeichnet worden ist, dann hätte
der Weg der Weimarer Republik mit ganz anderer Geradlinigkeit zur
Westintegration führen müssen. Tatsächlich dürfte aber niemand im politischen
Spektrum der Weimarer Zeit mehr in einer Außenseiterposition gewesen sein als
Leute wie der Industrielle Arnold Rechberg oder der verabschiedete General Max
Hoffmann, die vorschlugen, sich mittels eines offensiven und prinzipiellen
Antibolschewismus eng an die Westmächte anzuschließen, vor allem an die USA,
die bis 1932 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR
verweigerten.
Es war eher umgekehrt: Eine illusionäre „Ostorientierung“
hielt die Republik ständig in ihrem Bann und suggerierte ihr die Möglichkeit
einer Politik der „freien Hand“ oder des „Gleichgewichts“, die zu ihrer Halt-
und Bodenlosigkeit wesentlich beitrug. Diese Vorstellungen dienten als Surrogat
der beschädigten Weltmachtträume – und hielten sie zugleich am Leben. Die
elementare Weltkriegserfahrung, dass im Westen kein Durchkommen war, während
der Osten in unbestimmter Gärung und „offen“ lag, gab das Grundmuster aller
fundamentalistischen deutschen Selbsterfindungen ab. Wenn das rote Moskau das
neue Mekka der „jungen Völker“ war, konnte Berlin das neue Medina werden, von
dem aus sich noch unbekannte, entgrenzte Reichsbildungen denken ließen.
Wenn es also einen „Nexus“ zwischen Bolschewismus und
Nationalsozialismus gab, dann lag er in dieser Dauerentzündung der imperialen
Fantasien. Er lag andererseits in der Verschärfung aller Kategorien von Politik
und Krieg. So wie die beiden Armeen aneinander Maß nahmen, sich aneinander
schulten, neue Vernichtungstechniken explorierten, sich in virtuellen
Kriegsszenarien übten und einen Kaderstock beliebig ausdehnbarer technisierter
Massenarmeen ausbildeten, so war es zum Teil auch auf dem Felde der politischen
Theorie, der Philosophie oder der „Geopolitik“.(59) Auch
Bevölkerungswissenschaftler, Eugeniker, Hirnforscher und Rassenkundler –
darunter nicht wenige, die im NS-Reich später zu den „Vordenkern der
Vernichtung“ (Götz Aly/Susanne Heim) zählen sollten –, haben sich nicht zuletzt
über das Studium der sowjetischen Literatur und Praxis ausgebildet, in der
ähnlich „kühn“ und von konventionellen Hemmungen unbeschwert gedacht, geforscht
und experimentiert wurde.(60)
Hier wie dort ging es um eine positive Rivalität, einen
Wetteifer in der hohen Kunst der Zuspitzung und des Denkens in Kategorien des
„Ernstfalls“ (statt einer drögen, zivilen Normalität). In diesem Sinne haben
wir uns nicht getäuscht, als wir 1968/69 in sozialwissenschaftlichen
Universitätsseminaren und Schulungsgruppen in Frankfurt obligatorisch Carl
Schmitts „Begriff des Politischen“ als Parallellektüre zu Lenins „Staat und
Revolution“ lasen.
* Die
nachfolgende Darstellung beruht auf meiner unlängst fertig gestellten, noch
unveröffentlichten Arbeit Rom oder Moskau – Deutschland, der Westen und die
Revolutionierung Russlands 1914–1924.
1
Vgl. „Historikerstreit“. Die
Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der
nationalsozialistischen Judenvernichtung, München – Zürich 1987
2
Die maßgebliche
Argumentation Noltes findet sich in seinem Buch: Der europäische Bürgerkrieg
1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/M.-Berlin 1987
3
François Furet/Ernst Nolte: „Feindliche Nähe“. Kommunismus
und Faschismus im 20. Jahrhundert. Ein Briefwechsel, München 1998, S. 40 f.
4
Ebenda, S. 38
5
Ebenda, S. 229
6
Niall Ferguson: Der falsche
Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 371
7
Zitiert nach Wolfgang
Schivelbusch, Kultur der Niederlage, S. 227 ff.
8
Arthur Rosenberg: Die
Entstehung der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S. 208 f. – Hier zitiert nach
Ebenda, S. 228
9
Anneliese Thimme, Flucht in
den Mythos, S. 151; hier zitiert nach Ebenda, S. 242
10
Adolf Hitler, Mein Kampf, S.
185/186
11
Vgl. Gerd Koenen, Utopie der
Säuberung, Berlin 1998; hier insbesondere das Kapitel „Weltkrieg und totalitäre
Bewegungen“
12
Cora Stephan, Das Handwerk
des Krieges, Berlin 1998, S. 241 ff.
13
Wolfgang Schivelbusch,
Kultur der Niederlage, S. 279
14
Detlev Peukert: Die Weimarer
Republik, Frankfurt/M. 1987, S. 15 f.
15
Es würde zu weit führen, das
hier auszuführen – aber die Vorstellung vom quasi natürlichen
„Internationalismus“ der jüdischen Kommunisten ist selbst kurzschlüssig. Fragt
man nach den mentalen Dispositionen für die prominente Beteiligung jüdischer
Aktivisten und Ideologen am bolschewistischen Projekt, kann man z.B. auf die
Daseinsweise der osteuropäischen Juden als „imperiale Bevölkerungen“ verweisen,
die vom Zerfall der Vielvölkerreiche und der Entstehung neuer Nationalstaaten
(nicht nur in ihren Angstfantasien, sondern in der blutigen Realität der Jahre
1918/19) Unheil zu erwarten hatten. Insofern hatte es einige sozialpsychologische
und sozialökonomische Schlüssigkeit, wenn jüdische Sozialisten versuchten,
„mittels eines die nationalen Fragen neutralisierenden ‚Internationalismus‘ die
in Auflösung begriffenen Strukturen der übernationalen Imperien neu zu codieren
und in marxistischen Termini zu rationalisieren“ (Dan Diner, Papier zur
Konferenz „Jüdische Fragen – Kommunistische Antworten“, Leipzig, November 2001)
Man kann auch sagen: Diese handfeste Interessenlage und Neigung disponierte die
Juden bzw. eine radikale Fraktion dieser Population zur Rolle eines sekundären
sozialistischen Reichs- und Staatsvolks. In diesem Sinne waren Trotzkis
russisch-nationale Selbstberufungen durchaus ernst gemeint. Natürlich waren sie
inter-national erweiterbar, wie jede historische Reichsbildung. Dass auch Lenin
einen jüdischen Großvater hatte, wie er selbst und seine Schwestern durchaus
wussten, aber niemals preisgaben, war damals nicht bekannt. Im Gegenteil: Lenin
wurde – auch in der Literatur der deutschen Antibolschewisten – stets als
„Urrusse“ gezeichnet, allenfalls mit asiatischem Einschlag, was wiederum keine
durchweg negative Konnotation war. Eine Durchsicht der antibolschewistischen
und antisemitischen Literatur der Jahre 1918/19 ff. zeigt, dass der Topos des
„jüdischen Bolschewismus“ in Deutschland ungleich schwächer vertreten war als
zur selben Zeit in der westlichen Presse. (Vgl. meinen Aufsatz: Überprüfungen
an einem „Nexus“. Der Bolschewismus und die deutschen Intellektuellen nach
Revolution und Weltkrieg 1917-1924. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche
Geschichte, 1995, S. 359-391; sowie meine eingangs erwähnte, noch unpublizierte
Arbeit „Rom oder Moskau. Deutschland, der Westen und die Revolutionierung
Russlands 1914-1924“, Ms.)
16
Wolfgang Schivelbusch,
Kultur der Niederlage, S. 23 f.
17
Fritz Giese: Girlkultur.
Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl,
München 1925. Darauf bezieht sich Schivelbusch zentral in seinem Exkurs „Der
Tanzboden der Inflation und die Girlmaschine“, S. 319-327
18
So zum Beispiel eine
Broschüre von L. Hoppe: Sexueller Bolschewismus und seine Abwehr. Hrsg. von der
Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte und des Deutschen
Nationalkomitees zur Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels, Vaterländische
Verlags- und Kunstanstalt, Berlin 1921, die überhaupt keinen Bezug auf den
Bolschewismus im politischen Sinne nimmt. – Auch in der Arbeit von Eckhard
John: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918-1938
(Stuttgart-Weimar 1993) lassen sich – jenseits des im Untertitel gewählten
Aspekts – Beispiele finden, die den hier angesprochenen Gesichtspunkt belegen.
19
Brief an Adolf Gemlich. Hier
zitiert nach Ernst Deuerlein: Der Aufstieg der NSDAP 1919-1933, S. 201 ff.
20
Ebenda, S. 141
21
Wolfgang Zeidler berichtet
in seiner Studie über „Reichswehr und Rote Armee“ schon über die Anfänge der
professionellen Zusammenarbeit 1921/22: „Frunzes Auffassung von der
Überlegenheit des Angriffs, weil ‚sich allein darin schon der stärkere Willen
offenbart‘, entsprach ganz den im deutschen Heer von 1914 gültigen
Anschauungen. So trafen die für das Seecktsche Führerheer geschriebenen
Reglements mit ihrer starken Hervorkehrung willensmäßiger Faktoren in der Roten
Armee auf eine verblüffende Geistesverwandtschaft.“ (S. 42) Wolfgang Zeidler:
Reichswehr und Rote Armee 1920-1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen
Zusammenarbeit, München 1994
22
Paul Kluke:
Nationalsozialistische Europaideologie. In: Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte, H. 3, 1955, S. 242; sowie Günther Schubert: Anfänge
Nationalsozialistischer Außenpolitik, Köln 1963
23
Arthur Rosenberg im Völkischen
Beobachter vom 31.7.1921. Hier zitiert nach Wolfgang Horn: Ein unbekannter
Aufsatz Hitlers aus dem Frühjahr 1924. In: Vierteljahreshefte für
Zeitgeschichte, H. 3, 1968, S. 280-294; hier S. 284
24
Rede „Genua als Völker- und
Börsenkonferenz“. Nach dem Bericht im Völkischen Beobachter vom 21.
April 1922. In: Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, S. 629 ff.
25
So in der Originalfassung
von 1922, S. 16. In der Zusammenstellung der Schriften und Reden Rosenbergs von
1943, S. 134 ff. liest sich der (durch mehrfache Überarbeitungen
gekennzeichnete) Passus schon sehr viel großräumiger.
26
Adolf Hitler: Warum musste
ein 8. November kommen? In: Deutschlands Erneuerung, H. 4/1924. Hier
zitiert nach Wolfgang Horn, Ein unbekannter Aufsatz Hitlers, S. 282
27
Ebenda, S. 739
28
Ebenda, S. 742 f.
29
Ebenda, S. 161 f.
30
Die Tagebücher von Joseph
Goebbels. Sämtliche Fragmente. Hrsg. von Elke Fröhlich, Bd. 1 (1924-1930),
München u.a. 1987, Eintrag vom 15.VII.24, S. 42 f.
31
Ebenda, Eintrag vom
30.VII.24, S. 53 f.
32
Joseph Goebbels:
Nationalsozialismus und Bolschewismus. In: Nationalsozialistische Briefe
vom 15.10.1925. Hier zit. nach Ralf Georg Reuth: Goebbels. Eine Biographie,
München 1995, S. 93, 96
33
Joseph Goebbels, Tagebuch,
S. 158
34
In: Das russische Problem.
In: Nationalsozialistische Briefe vom 15.11.1925. Wieder veröffentlicht
in: Ders., Die zweite Revolution. Briefe an Zeitgenossen, Zwickau 1926
35
Vollständiger Text der Rede
in: Max Domarus (Hrsg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945 (2 Bde),
Würzburg 1962/63, Bd. 1, S. 68 ff. – Vgl. auch die Schilderung der Situation
und der Reaktionen bei Joachim C. Fest: Hitler, Berlin-Frankfurt/M. 1995, S.
430 ff.
36
Vgl. „Ein kausaler Nexus‘?
Zur Realgeschichte von Antibolschewismus und Antifaschismus. In: Utopie der
Säuberung, S. 191-214
37
Vgl. Walter Laqueur:
Deutschland und Russland, Berlin 1965; insbesondere das Kapitel
„Antikomintern“, S. 209-236; hier insbes. 228 ff.
38
Text der Rede bei Max
Domarus (Hrsg.), Hitler – Reden und Proklamationen, Bd. 2, S. 1058
39
Stalin: Rechenschaftsbericht
an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B), 10. März 1939. In:
J. W. Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin (DDR) 1948, S. 686-689
40
Vgl. Manfred Weißbecker,
Russlandbild Hitlers und der NSDAP, S. 28 ff.
41
Theodor Seibert: Der
Brückenschlag. In: Völkischer Beobachter vom 23.8.1939. Hier zitiert
nach Weißbecker, S. 30
42
Alexander Nekrich: Pariahs, Partners, Predators, New York 1997, S. 157
43
Joseph Goebbels, Tagebücher,
Bd. 4, S. 713
44
Aus den Akten des Amtes
Rosenberg zitiert in: Ebenda, S. 37
45
Hannah Arendt: Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft, III. Totale Herrschaft, München – Zürich 1986, S.
606
46
Henry Picker: Hitlers
Tischgespräche, Stuttgart 1951; hier nach der unveränderten Neuausgabe
Frankfurt/M.-Berlin 1989, S. 214
47
So nach einer Aufzeichnung
Koeppens vom 23.9.1941. Hier zitiert nach Rainer Zitelmann: Hitler. Selbstverständnis
eines Revolutionärs, Stuttgart 1991, S. 442
48
Ebenda, S. 447
49
Ebenda, S. 313
50
Ebenda, S. 52
51
Ebenda, S. 448
52
Adolf Hitler, Mein Kampf, S.
742 f.
53
Joseph Goebbels, Tagebücher,
Eintrag vom 16. März 1945
54
Hitlers Politisches
Testament. Die Bormann-Diktate vom Februar bis April 1945, Hamburg 1981, S. 116
55
Dan Diner: Das Jahrhundert
verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, S. 222. – Diner
bezieht sich an dieser Stelle auf Christian Gerlach: Die Wannsee-Konferenz. In:
Werkstatt Geschichte, 1997, S. 11 f.
56
Vgl. Joseph Goebbels,
Tagebücher, Teil II, Bd. 2, München 1992, S. 498 f.
57
Manfred Weißbecker,
Russlandbild Hitlers und der NSDAP, S. 53
58
So heißt es bereits in
Hitlers frühester politischer Äußerung, seinem Brief an Adolf Gemlich vom
September 1919. Zitiert nach: Ernst Deuerlein: Der Aufstieg der NSDAP
1919-1933, Düsseldorf 1968, S. 201 ff.
59
Vgl. das Kapitel „Raum als
Schicksal“: Die Internationale der Geopolitik. In: Karl Schlögel, Ostbahnhof
Berlin Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998,, S.
255-272
60
Aus der mittlerweile
reichhaltigen Literatur seien nur erwähnt: Susanne Heim: Bevölkerungsökonomie,
Deportation und Vernichtung. In: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.):
Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation, Essen 1999, S. 501–534;
Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene in Deutschland – Eugenik in der Sowjetunion:
Ein Vergleich. In: Dietrich Beyrau (Hrsg.): Im Dschungel der Macht, S. 360–377
(dort auch in einigen anderen Beiträgen Hinweise auf direkte oder indirekte
Kooperationen); Ludwig Aschoff: Vergleichende Völkerpathologie oder
Rassenpathologie. Tagebuch einer Reise durch Russland und Transkaukasien
(1930), Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Susan Gross Solomon,
Pfaffenweiler 1998. Vgl. schließlich auch meine Darstellung in: Utopie der
Säuberung, Kapitel „Der sozialistische Übermensch“, S. 125–145