Peter Lohauß
Zunehmende Spannungen zeichnen gegenwärtig die transatlantischen
Beziehungen aus. Die Neupositionierung der USA, ihre Vorstellungen einer neuen
Weltordnung und ihre neue Strategie stoßen vielfach auf Kritik und
Unverständnis. Die Hauptursache für die Meinungsverschiedenheiten ortet unser
Autor in den Unterschieden zwischen dem amerikanischen und dem europäischen
Rechtsverständnis. Daraus entstünden auf beiden Seiten des Atlantiks
unterschiedliche Vorstellungen von Recht, Staat und Politik. Seitens Europa
gäbe es einigen Lernbedarf.
Europäische
Beobachter kommen überwiegend zu der Einschätzung, die USA seien dabei, die
internationale Rechtsordnung zu unterminieren und Verträge willkürlich nach
ihren Großmachtinteressen auszulegen, während sich amerikanische Kommentatoren
darüber irritiert zeigen, dass die Europäer nicht bereit sind, die
erforderliche Verantwortung für eine sichere Welt zu übernehmen. Nun ist die
massive politische Einflussnahme der US-Regierungen zu Gunsten einer globalen
Öffnung der Finanzmärkte für US-Kapital, einseitigen Vorteilen im Welthandel
sowie Sicherung der Rohstofflieferungen unübersehbar. Doch können
imperialistische Interessen anderes nur unzureichend erklären: Die Konstanz
bestimmter außenpolitischer Grundorientierungen über lange Zeit und durch
unterschiedliche Regierungen; die hohe Zustimmung der Bevölkerung und die
zweifelsfrei demokratische Legitimation der Außenpolitik; die historischen
Tatsachen, dass Demokratie und Freiheit in Deutschland und Japan nur durch den
Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg errungen werden konnten, und vor
allem, dass die von den Europäern so hochgehaltene UNO wesentlich von den USA durchgesetzt
und geprägt wurde. Gerade in den Bemühungen der USA, nach dem Anschlag vom 11.
September eine weltweite Koalition gegen den Terrorismus zu festigen, wurden
auch die Haltungen verdeutlicht, aus denen die Amerikaner, unabhängig von
wirtschaftlichen Interessen, eine andere Auffassung der internationalen Ordnung
der Staaten entwickelt haben als die Europäer.
Die neue National Security Strategy
Seit 1986
verlangt ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz vom Präsidenten regelmäßig die
Vorlage einer National Security Strategy (NSS). Die Bush-Regierung kam
dem im September 2002 nach und löste damit – im Unterschied zu den
Vorhergehenden – eine lebhafte Debatte aus. Tatsächlich handelt es sich um die
erste grundlegende Neubestimmung der US-Außenpolitik seit der Strategie des Containment
und der Abschreckung gegenüber dem Sowjet-Kommunismus. Der Untergang der
Sowjetunion, ein neues Verhältnis der verbliebenen Großmächte untereinander und
das Entstehen einer neuen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
machten eine Neubestimmung der Strategie unausweichlich. Hier handelt es sich
gerade nicht um ein Dokument des Unilateralismus und auch nicht lediglich um
eine Legitimation für einen Präventivschlag.
Die Schwerpunkte der neuen
Strategie sind leicht auszumachen: »Wir kämpfen für einen gerechten Frieden –
einen Frieden, der auf Freiheit beruht. Wir werden den Frieden verteidigen,
indem wir Terroristen und Gewaltherrscher bekämpfen. Wir werden den Frieden
bewahren, indem wir gute Beziehungen zwischen den Großmächten aufbauen. Wir
werden den Frieden ausweiten, indem wir freie und offene Gesellschaften auf
jedem Kontinent ermutigen.« In diesen drei Zielen wird der Unterschied zur
letzten NSS der Regierung Clinton vom Dezember 1999 markiert, in der es hieß: »Amerikas
Sicherheit erweitern. Amerikas wirtschaftlichen Aufschwung stärken. Demokratie
und Menschenrechte im Ausland fördern.« Bush geht zu einer proaktiven Strategie
über, er will für den Frieden kämpfen und ihn ausdehnen, während Clinton sich
lediglich im Rahmen des Bestehenden bewegen wollte.
Die erste große Neuerung ist die
Gleichsetzung von Terroristen mit Gewaltherrschern. Sie beruht wesentlich auf
der Gefahr, die von der Verfügung über Massenvernichtungsmittel ausgeht. Aus
europäischer Perspektive ist aber schon unklar, dass und warum sich
amerikanische Außenpolitik überhaupt gegen Gewaltherrscher richtet und richtete
und was damit überhaupt gemeint sein kann. Dagegen wird hier oft auf eine nur
vermeintliche Neuerung der amerikanischen Strategie abgehoben, dem Recht auf
Erstschlag. Im Einklang mit dem internationalen Recht wird in der NSS auf das
Recht einer präventiven Aktion (preemption) Bezug genommen, sofern
dadurch eine unmittelbare schwere Gefahr für eine Nation abgewendet werden
kann. Die strategische Voraussetzung für einen Präventivschlag ist eine
überlegene Vorherrschaft oder Hegemonie und der Ausbau der entsprechenden
Fähigkeiten. Weder das Recht der preemption noch die militärische
Hegemonie werden aber durch die Bush-Regierung neu begründet, sie sind seit
langem Teil der amerikanischen Strategie.
Die zweite und hier oft übersehene
Neuerung ist das Ziel einer engeren Kooperation mit den Großmächten – wobei
Russland und China deutlich vor der EU rangieren – auf der Basis gemeinsamer
Ziele im antiterroristischen Kampf. Mit dem Ende der Blockkonfrontation
bestehen keine unüberwindlichen ideologischen Gegensätze mehr zwischen den
großen Mächten. Gleichzeitig machen die USA ihre hegemoniale Rolle geltend,
indem sie die Maßnahmen, die sie für erforderlich halten, notfalls allein
unternehmen.
Die dritte und entscheidende
Neuerung ist das Ziel des aktiven Kampfes gegen die Ursachen des Terrorismus,
wobei die Analyse deutlich von den bei uns gängigen abweicht. Die
US-Administration sieht in den Gewaltherrschaften der islamischen Länder des
Mittleren Ostens die Hauptursache für Unfreiheit, Unterentwicklung und
individuelle Perspektivlosigkeit der islamischen Völker. Der religiöse
Fundamentalismus entstehe aus der Ausweglosigkeit der inneren Entwicklung, der
Verweigerung individueller Rechte und wirtschaftlicher Freiheiten. Die
Gewaltherrschaften der islamischen Länder sind damit das erste
Sicherheitsproblem Amerikas. Ihre Beseitigung ist der Schlüssel für eine
friedliche wirtschaftliche und politische Entwicklung im Nahen Osten. Mit dem
Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen 1989 fühlt sich die amerikanische
Regierung noch einmal historisch darin bestätigt, dass die Völker der Welt
willens und in der Lage sind, ungerechte Gewaltherrschaften abzuschütteln und
ihr Geschick selbst in Freiheit zu bestimmen, und dass die freie
Marktwirtschaft die einzige Wirtschaftform ist, die den pursuit of happiness
für die Menschen ermöglicht.
In diesem Zielsystem wird der
zweite Irak-Krieg nur eine Episode sein. Die Bush-Regierung schätzt allerdings
die Gefahr im Nahen Osten ähnlich groß ein wie die Roosevelt-Administration die
von Deutschland und Japan ausgehende Gefahr im Zweiten Weltkrieg. Das heißt,
die USA sind offenbar bereit, sich in ähnlicher Weise zu engagieren, und die
Aufbauszenarien nach dem Irak-Krieg werden analog zu den Aufbauszenarien in
Japan und Deutschland nach 1945 entwickelt.
Die im rhetorischen Überschwang
ins Visier genommene »Achse des Bösen« ist keine Kategorie der NSS. Der Nahe
Osten hat zurzeit Priorität, weil von dort die Hauptgefahr ausgeht. Nord-Korea
wird ebenfalls als Bedrohung angesehen, es wird aber im Rahmen der NSS eine
abgestufte andere Strategie entwickelt.
Amerikanisches Rechtsverständnis
Die neue
NSS steht im Einklang mit den grundlegenden Überzeugungen der Amerikaner, die
ihre politische Geschichte und ihre Institutionen prägen. In der neuen NSS wird
das amerikanische Verständnis von Volkssouveränität, Gesellschaft und Staat auf
globaler Ebene angewandt, während die europäischen Kritiker ihr Verständnis der
Beziehungen souveräner Nationalstaaten verallgemeinern, das aus den
europäischen Zivilisationskatastrophen entwickelt wurde.
Die amerikanische Revolution war
gegen den absolutistischen englischen Staat und seine »Tyrannei« gerichtet.
Wurde in Europa die Gesellschaft vom Zugriff der Religion durch den Staat
befreit, so wurde in den USA umgekehrt der Staat der Garant der Religion in der
Gesellschaft. In den drei Gründungsdokumenten der USA sind die bis heute
bestimmenden Grundprinzipien der amerikanischen politischen Kultur bereits
deutlich formuliert.
Die Unabhängigkeitserklärung
stellt klar, dass es das oberste Recht der Menschen ist, ihre eigene Regierung
zu bestimmen, die ihr Leben, ihre Freiheit und ihren pursuit of happiness
sichert. Fundamental ist das Recht des Volkes, ungerechte Regierungen
abzuschütteln. Unter den vielen Anklagen der Unabhängigkeitserklärung gegen die
englische Tyrannei steht auch, dass diese den Amerikanern »fremde« Gesetze
aufgezwungen habe. Die Absolutsetzung der Volkssouveränität gegen jeden
Einfluss von außen bestimmt bis heute alle Beziehungen der USA zu ausländischen
Mächten – etwa im Streit um die Kompetenzen des internationalen
Strafgerichtshofes gegenüber den souveränen Bürgern der USA.
Die Konstitution sieht
lediglich die Verfahren der Wahl und die balance of powers zwischen
Kongress, Präsident und Oberstem Gericht vor. Die Volkssouveränität
konstituiert sich gerade nicht wie in Europa im Staat, sondern verbleibt in der
Gesellschaft und vollzieht sich als Verfahren der geteilten Gewalten. Es wird
ein Rechtsstaat errichtet, jedoch werden hier Konflikte weniger durch Gesetze,
sondern durch gerichtliche Entscheidungen über die Rechte der Individuen
beigelegt. Die Konstitution legt es darauf an, den Machtbereich des Kongresses
möglichst eng zu ziehen, seine Ermächtigungen werden einzeln aufgezählt und
reichten ursprünglich kaum über die Sicherung nach außen und die Regelung des
Geld-, Post- und Rechtswesen hinaus. Ganz im Gegensatz etwa zur deutschen Verfassungstradition
gibt es keine Staatsziele. Auch ist die (Bundes-)Regierung nicht unbeschränkt
zuständig, was sich darin ausdrückt, dass das »Department of State« nicht das
Staatsministerium des Inneren ist, sondern sich ausschließlich mit der
Außenvertretung zu befassen hat.
Bald nach Verabschiedung der
Konstitution wurden – aus Furcht, die eigene Regierung könnte eine neue
»Tyrannei« errichten – in der Bill of Rights die Menschenrechte
nachgetragen, aber wiederum ganz anders strukturiert als in Europa. Während
sich hier die Ausübung aller Menschenrechte im Rahmen der Gesetze zu bewegen
haben – weshalb sie von manchen Rechtstheoretikern als vom Staat zu
garantierende angesehen werden – verbieten die Amerikaner ihrem Kongress,
Gesetze zu erlassen, die ihre Freiheit der Religion, der Rede, der Presse, der
friedlichen Versammlung und der Petition einschränken. Ihre Menschenrechte sind
Abwehrrechte der freien Bürger gegen den Staat.
Hieran knüpft die NSS nahtlos an:
»Die Vereinigten Staaten müssen Freiheit und Rechtstaatlichkeit (justice)
verteidigen, weil diese Prinzipien überall und für alle Völker richtig und wahr
sind ... Amerika muss standhaft für die nicht-verhandelbaren Forderungen der
Menschenwürde eintreten: Die Herrschaft der Gesetze, die Beschränkungen der
absoluten Macht des Staates (!), die freie Rede, die Religionsfreiheit,
Gleichheit vor dem Gesetz, Respekt vor Frauen, religiöse und ethnische Toleranz
und Respekt vor dem Privateigentum.« Die NSS appelliert unmittelbar an die
Völker der Welt und ihre unveräußerlichen Rechte, nicht an die souveränen
Staaten innerhalb der Ordnung des internationalen Rechts.
Da in den USA »Staat« und Religion
strikt getrennt werden, bleiben Präsident und Kongress selbstverständlich frei,
ihr Handeln moralisch und religiös zu rechtfertigen. Sie nehmen damit – genau
wie die Parteien und Interessenverbände – nichts anderes als ihr erstes
Staatsbürgerrecht wahr. Das Verhältnis der Amerikaner zu ihrer Nation kann sich
zivilreligiös aufladen, ohne dass der »Staat« die Funktion verliert, die freie
Religionsausübung vieler unterschiedlicher Bekenntnisse zu schützen. Ist in den
USA die Freiheit zur Religion gewährleistet, sind dort auch die demokratischen
Prinzipien eingehalten; in Europa hingegen verstößt eine moralisch und religiös
argumentierende Regierung gegen die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität
der Verfassungsorgane.
Die Grundkonstellationen der
gesellschaftlich-institutionellen Ordnung sind heute bereits weitgehend im
vorbewussten gesellschaftlichen Raum abgelagert: Während es für Europäer in der
Regel keines Nachdenkens mehr bedarf, um den »Staat« für den Garanten ihrer
Freiheit und sozialen Wohlfahrt zu sehen und die Souveränität der
Nachbarstaaten als Vorbedingung für den Frieden, ja als Bedingung des eigenen
Überlebens anzuerkennen, bedarf es für Amerikaner in der Regel keiner
besonderen Überlegung, um den pursuit of happiness als individuelles
Menschenrecht und zuvörderst als seine private Angelegenheit zu sehen. Von
daher wird scharf zwischen legitimen und illegitimen Regierungen unterschieden,
nur Individuen und Völker haben unantastbare Rechte, nicht die Gewaltherrscher,
auch wenn sie sich als Oberhäupter von Nationalstaaten gerieren. Die
internationale Rechtsordnung der Amerikaner kann deshalb im Wortlaut der neuen
NSS zwischen »uns«, »unseren Freunden«; »unseren Alliierten« und »unseren
Feinden« unterscheiden.
Auch wenn die amerikanische
Verfassung, ihre Institutionen und die gesellschaftlichen Einrichtungen der USA
den Bürgerkrieg nicht verhindern konnten und die Schmach des Rassismus bis
heute nicht besiegt ist, übersehen Europäer leichthin, dass sich diese
politische Grundkonstellation für die Amerikaner seit über 200 Jahren bewährt
hat und heute das kontinuierlichste historische Modell für Freiheit, Demokratie
und Wohlstand darstellt – während das europäische Modell zwar genauso lange
gedanklich konzipiert war, aber in zwei großen Kriegs- und
Zivilisationskatastrophen zusammenbrach und selbst heute in seinem eigenen
erweiterten Raum noch nicht voll verwirklicht wurde.
Europäisches Rechtsverständnis
Europa
lernte mühsam aus seinen historischen Katastrophen. Als Gründungsdatum des
internationalen Rechts gilt der Westfälische Frieden von 1648. Von hier datiert
die Trennung von innerer, überpositiver Moral und äußerem, positiven Recht, die
durch staatliche Zwangsgewalt institutionalisiert wird. Die religiösen
Bürgerkriege wurden befriedet durch die Einbindung der Kirchen in den Staat und
eine mit staatlichem Gewaltmonopol erzwungene Unterwerfung aller unter das weltliche
Recht. In der Französischen Revolution wurde die Souveränität des
absolutistischen Herrschers zerschlagen und die Volkssouveränität konstituiert.
Der allgemeine Wille des Volkes repräsentiert sich im »Staat«. Er beruht auf
der Verfassung als dem Gesetz über den Gesetzen und wird durch die Verfahren
der Legislative und der allgemeinen Wahlen konstituiert. Das deutsche Volk etwa
ist nicht der Souverän Deutschlands, sondern nach herrschender Meinung ein
»Verfassungsorgan« wie der Bundesrat oder das Parlament und wird ausschließlich
im Rahmen der Gesetze tätig (bei den Wahlen nämlich). Dem »Staat« wurde
schließlich auch die Aufgabe zugedacht, nicht nur die abstrakte
Rechtsgleichheit und Sicherheit der ihm unterworfenen Bürger zu sichern,
sondern darüber hinaus die allgemeine materielle Infrastruktur und schließlich
auch die soziale Gleichheit zu gewährleisten.
Der Staat inkorporiert die
Kirchen, steht aber über der Religion, die als Privatsache gilt. Die als
Verfassungsorgan dem Recht verpflichtete Regierung enthält sich weitgehend
religiöser Bezüge. Aus europäischer Sicht wird die amerikanische Lösung der
Religionsfrage meist völlig falsch als hinter die Aufklärung zurückfallend
interpretiert.
In Europa wurde historisch der
religiöse und der soziale Bürgerkrieg durch den Ausbau des souveränen
Nationalstaates und des Wohlfahrtstaates überwunden. Vor der endgültigen
Befriedung fielen allerdings die neuen Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg in
imperialistisch-nationalistischer Aufwallung wiederum übereinander her. Und
erst nach dem Zusammenbruch des Ansturms der rassistischen deutschen
Nationalsozialisten gegen die europäische Zivilisation war der Boden bereitet,
aus dem die Europäische Union als Staatenbund erwuchs, an den die durch Angriff
und Verteidigung gleichermaßen zerrütteten Nationalstaaten einen Teil ihrer
nationalen Souveränitätsrechte abtraten. Erst seither herrscht in Europa die
Vorstellung, man müsse weltweit eine Rechtsordnung souveräner Staaten
konstituieren, die letztlich Freiheit, Demokratie und sozialer Gleichheit
verpflichtet ist. Zwischenstaatliche Gewaltanwendung ist dabei auszuschließen –
wegen der Gefahr des eigenen Untergangs. So wie die Bürger auf die
unumschränkte Ausübung ihrer Freiheitsrechte verzichten und ihr Geschick
insoweit in die Hand des souveränen Nationalstaates legen, der dafür Frieden,
Gewissensfreiheit und soziale Gerechtigkeit garantiert, so verzichten die
souveränen Nationen auf einen Teil ihrer Rechte und die vollständige
Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Europäischen Union und darüber
hinaus der UNO, damit eine internationale Rechtsordnung den Frieden und
weltweite Gerechtigkeit sichern kann.
Wie wenig verwurzelt dieser
historische Fortschritt in Europa ist, zeigt sich daran, dass erst in den
Siebzigerjahren die letzten südeuropäischen Länder ihre Diktaturen
abschüttelten, erst jetzt die osteuropäischen Länder hinzukommen und schon bei
der ersten historischen Prüfung, nämlich beim Wiedererwachen des
nationalistischen Wahns in Jugoslawien, Europa zu einer eigenen Friedenslösung
unfähig war und der Hilfe durch die USA bedurfte. Im Übrigen haben weder
Großbritannien noch Spanien ihre internen Bürgerkriege endgültig beilegen
können.
Bei allen Einschränkungen in der
Umsetzung finden sich doch weitgehend übereinstimmende Werte und Ziele der
europäischen Regierungen. Ein Beispiel hierfür ist die Koalitionserklärung der
Regierung Schröder: Hauptziel ist »die gerechte Gestaltung der Globalisierung
... im Rahmen der multilateralen Verpflichtungen internationaler Organisationen
wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der NATO, der OSZE und dem
Europarat. Grundlagen des außenpolitischen Handelns sind die Beachtung des
Völkerrechts, Eintreten für die Menschenrechte, Dialogbereitschaft,
Krisenprävention, Gewaltverzicht und Vertrauensbildung«. »Unser gemeinsames
Ziel ist es, weltweit ein System globaler kooperativer Sicherheit zu
entwickeln, das allen Menschen ermöglicht, friedlich, frei und ohne Not zu
leben. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik.« Handelndes Subjekt ist hier
die deutsche Regierung, die mit anderen Regierungen der souveränen Staaten der
UNO im Rahmen des gemeinsam gesetzten Rechts handelt. Die weitere
Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und Stärkung der UNO ist ein
ausdrückliches Ziel. Soweit dies nicht möglich ist, wird darüber hinaus zivile
Krisenprävention als Stärkung der Zivilgesellschaft in Krisenregionen
vorgesehen. Aus dieser Grundkonzeption heraus können die inneren Verhältnisse
der anderen souveränen Nationalstaaten kein Thema sein, es werden auch keine
spezifischen deutschen Interessen für irgendwelche Teile der Welt definiert.
Diese Konzeption von Außenpolitik versteht sich in europäischer Aufklärungs-
und Denktradition als universelle, das ist ein weiterer Grund, weshalb die
Grundkonzeption der amerikanischen Außenpolitik, soweit sie hiermit kollidiert,
als voraufklärerisch erscheint.
Alternative Weltfriedenspolitik?
Gegenwärtig
schießen in Europa Spekulationen über die Motive und Ziele der US-Regierung ins
Kraut. Um zu einer nüchternen und an Fakten orientierten Einschätzung der
einzig verbliebenen Supermacht zu gelangen, sollte dabei Folgendes nicht ganz
vergessen werden:
Die USA sind eine differenzierte
demokratische Gesellschaft, in der eine Vielzahl von wirtschaftlichen,
politischen und gesellschaftlichen Interessen und Konflikten abgeglichen werden
muss. Die geschieht nicht unbedingt über die Massenmedien, aber zwangsläufig
über weitgehend öffentlich zugängliche Informationskanäle. Zum Beispiel sind
die wesentlichen legitimierenden Grundlagen für außenpolitische Aktionen in
Kongressdokumenten wie der NSS niedergelegt. Imperialistische oder
fundamentalistische Weltverschwörungspläne entspringen der Fantasie derjenigen,
die behaupten, sie zu enthüllen.
Viele Europäer halten die
Amerikaner für prinzipienlos und nur auf kurzsichtige und kurzfristige
Interessen ausgerichtet. Sie verstehen nicht, dass zum einen die Bevorzugung
des Wertes der Freiheit amerikanischen Regierungen grundsätzlich einen weiteren
Entscheidungsspielraum gewährt als europäischen und dass vor allem der
amerikanische Pragmatismus sehr viel flexibler in der Mittelwahl ist als
europäisch verstandene Treue zu Prinzipien. Die neue Kampfansage gegen den
internationalen Terrorismus und diktatorische Regierungen wird durch eine
Vielzahl von Vorgehensweisen umgesetzt werden, die aus hiesiger Sicht
unvereinbar erscheinen, aus amerikanischer Sicht aber einer langfristigen und
durch feste Wertüberzeugungen untermauerten Strategie folgen. Hierzu gehört
etwa das Bündnis mit saudi-arabischen Fundamentalisten gegen die irakische
Diktatur oder die intensive Förderung zivilgesellschaftlicher Gruppen und
Aktivitäten im Nahen Osten bei gleichzeitiger Kriegsführung gegen den Irak. Man
muss sich nur daran erinnern, dass die USA in der Not der deutschen und
japanischen Aggression im Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion ein treuer
Alliierter waren, um zu wissen, dass die zukünftigen Handlungen der USA aus
ihrer inneren demokratisch-freiheitlichen Orientierung zu schließen sind und nicht
aus ihren gegenwärtigen Alliierten.
Im internationalen Bereich können
nur mindestens gleichwertige Mächte Einfluss ausüben. Allein aus der
militärischen, wirtschaftlichen und politischen Stärke der USA folgt, dass
spezifische europäische Lösungswege internationaler und globaler Konflikte nur
dann eine Chance haben, wenn Europa international politisch handlungsfähig ist.
Eine zu den USA alternative Weltfriedenspolitik wird darüber hinaus ohne eine
eigene militärische Eingreiffähigkeit Europas bloß deklamatorisch bleiben und
kann keine politischen Lösungen zur Beseitigung der Entwicklungsblockaden in
der islamischen Welt finden.
Quellen:
Eine sehr
gute Monographie zum europäisch-amerikanischen (Miss-)Verständnis: Gret Haller:
Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation
und Religion, Berlin 2002.
Die NSS
findet sich im Original unter http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf.
Die
Verfassungsdokumente:
http://www.archives.gov/exhibit_hall/charters_of_freedom/charters_of_freedom.html
Zu den
Unterschieden der amerikanischen und französischen Revolution: Hannah Arendt: Über
die Revolution, München 1965.
Die
inneramerikanische Debatte um die Strategie lässt sich nachlesen in der
Zeitschrift Foreign Affairs: http://www.foreignaffairs.org/.
Deutschsprachige
Darstellungen der amerikanischen Politik in: Aus Politik und Zeitgeschichte
Nr. 48/2.12.2002 unter http:://www.das-parlament.de.
Beiträge zu
Bürgerrechten und Volkssouveränität in: Hauke Brunkhorst und Peter Niesen
(Hrsg.): Das Recht der Republik, Frankfurt am Main 1999.
Zur Lage im
Nahen Osten und die amerikanische Strategie: Peter Pawelka: »Der Staat im
Vorderen Orient – über die Demokratieresistenz in einer globalisierten Welt«,
in: Leviathan 4/2002.