Gemeinsame Werte – verschiedenes Recht

 

Die Weltordnung aus amerikanischer und europäischer Sicht

 

Peter Lohauß

 

Zunehmende Spannungen zeichnen gegenwärtig die transatlantischen Beziehungen aus. Die Neupositionierung der USA, ihre Vorstellungen einer neuen Weltordnung und ihre neue Strategie stoßen vielfach auf Kritik und Unverständnis. Die Hauptursache für die Meinungsverschiedenheiten ortet unser Autor in den Unterschieden zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Rechtsverständnis. Daraus entstünden auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedliche Vorstellungen von Recht, Staat und Politik. Seitens Europa gäbe es einigen Lernbedarf.

 

Europäische Beobachter kommen überwiegend zu der Einschätzung, die USA seien dabei, die internationale Rechtsordnung zu unterminieren und Verträge willkürlich nach ihren Großmachtinteressen auszulegen, während sich amerikanische Kommentatoren darüber irritiert zeigen, dass die Europäer nicht bereit sind, die erforderliche Verantwortung für eine sichere Welt zu übernehmen. Nun ist die massive politische Einflussnahme der US-Regierungen zu Gunsten einer globalen Öffnung der Finanzmärkte für US-Kapital, einseitigen Vorteilen im Welthandel sowie Sicherung der Rohstofflieferungen unübersehbar. Doch können imperialistische Interessen anderes nur unzureichend erklären: Die Konstanz bestimmter außenpolitischer Grundorientierungen über lange Zeit und durch unterschiedliche Regierungen; die hohe Zustimmung der Bevölkerung und die zweifelsfrei demokratische Legitimation der Außenpolitik; die historischen Tatsachen, dass Demokratie und Freiheit in Deutschland und Japan nur durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg errungen werden konnten, und vor allem, dass die von den Europäern so hochgehaltene UNO wesentlich von den USA durchgesetzt und geprägt wurde. Gerade in den Bemühungen der USA, nach dem Anschlag vom 11. September eine weltweite Koalition gegen den Terrorismus zu festigen, wurden auch die Haltungen verdeutlicht, aus denen die Amerikaner, unabhängig von wirtschaftlichen Interessen, eine andere Auffassung der internationalen Ordnung der Staaten entwickelt haben als die Europäer.

 

Die neue National Security Strategy

Seit 1986 verlangt ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz vom Präsidenten regelmäßig die Vorlage einer National Security Strategy (NSS). Die Bush-Regierung kam dem im September 2002 nach und löste damit – im Unterschied zu den Vorhergehenden – eine lebhafte Debatte aus. Tatsächlich handelt es sich um die erste grundlegende Neubestimmung der US-Außenpolitik seit der Strategie des Containment und der Abschreckung gegenüber dem Sowjet-Kommunismus. Der Untergang der Sowjetunion, ein neues Verhältnis der verbliebenen Großmächte untereinander und das Entstehen einer neuen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus machten eine Neubestimmung der Strategie unausweichlich. Hier handelt es sich gerade nicht um ein Dokument des Unilateralismus und auch nicht lediglich um eine Legitimation für einen Präventivschlag.

Die Schwerpunkte der neuen Strategie sind leicht auszumachen: »Wir kämpfen für einen gerechten Frieden – einen Frieden, der auf Freiheit beruht. Wir werden den Frieden verteidigen, indem wir Terroristen und Gewaltherrscher bekämpfen. Wir werden den Frieden bewahren, indem wir gute Beziehungen zwischen den Großmächten aufbauen. Wir werden den Frieden ausweiten, indem wir freie und offene Gesellschaften auf jedem Kontinent ermutigen.« In diesen drei Zielen wird der Unterschied zur letzten NSS der Regierung Clinton vom Dezember 1999 markiert, in der es hieß: »Amerikas Sicherheit erweitern. Amerikas wirtschaftlichen Aufschwung stärken. Demokratie und Menschenrechte im Ausland fördern.« Bush geht zu einer proaktiven Strategie über, er will für den Frieden kämpfen und ihn ausdehnen, während Clinton sich lediglich im Rahmen des Bestehenden bewegen wollte.

Die erste große Neuerung ist die Gleichsetzung von Terroristen mit Gewaltherrschern. Sie beruht wesentlich auf der Gefahr, die von der Verfügung über Massenvernichtungsmittel ausgeht. Aus europäischer Perspektive ist aber schon unklar, dass und warum sich amerikanische Außenpolitik überhaupt gegen Gewaltherrscher richtet und richtete und was damit überhaupt gemeint sein kann. Dagegen wird hier oft auf eine nur vermeintliche Neuerung der amerikanischen Strategie abgehoben, dem Recht auf Erstschlag. Im Einklang mit dem internationalen Recht wird in der NSS auf das Recht einer präventiven Aktion (preemption) Bezug genommen, sofern dadurch eine unmittelbare schwere Gefahr für eine Nation abgewendet werden kann. Die strategische Voraussetzung für einen Präventivschlag ist eine überlegene Vorherrschaft oder Hegemonie und der Ausbau der entsprechenden Fähigkeiten. Weder das Recht der preemption noch die militärische Hegemonie werden aber durch die Bush-Regierung neu begründet, sie sind seit langem Teil der amerikanischen Strategie.

Die zweite und hier oft übersehene Neuerung ist das Ziel einer engeren Kooperation mit den Großmächten – wobei Russland und China deutlich vor der EU rangieren – auf der Basis gemeinsamer Ziele im antiterroristischen Kampf. Mit dem Ende der Blockkonfrontation bestehen keine unüberwindlichen ideologischen Gegensätze mehr zwischen den großen Mächten. Gleichzeitig machen die USA ihre hegemoniale Rolle geltend, indem sie die Maßnahmen, die sie für erforderlich halten, notfalls allein unternehmen.

Die dritte und entscheidende Neuerung ist das Ziel des aktiven Kampfes gegen die Ursachen des Terrorismus, wobei die Analyse deutlich von den bei uns gängigen abweicht. Die US-Administration sieht in den Gewaltherrschaften der islamischen Länder des Mittleren Ostens die Hauptursache für Unfreiheit, Unterentwicklung und individuelle Perspektivlosigkeit der islamischen Völker. Der religiöse Fundamentalismus entstehe aus der Ausweglosigkeit der inneren Entwicklung, der Verweigerung individueller Rechte und wirtschaftlicher Freiheiten. Die Gewaltherrschaften der islamischen Länder sind damit das erste Sicherheitsproblem Amerikas. Ihre Beseitigung ist der Schlüssel für eine friedliche wirtschaftliche und politische Entwicklung im Nahen Osten. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen 1989 fühlt sich die amerikanische Regierung noch einmal historisch darin bestätigt, dass die Völker der Welt willens und in der Lage sind, ungerechte Gewaltherrschaften abzuschütteln und ihr Geschick selbst in Freiheit zu bestimmen, und dass die freie Marktwirtschaft die einzige Wirtschaftform ist, die den pursuit of happiness für die Menschen ermöglicht.

In diesem Zielsystem wird der zweite Irak-Krieg nur eine Episode sein. Die Bush-Regierung schätzt allerdings die Gefahr im Nahen Osten ähnlich groß ein wie die Roosevelt-Administration die von Deutschland und Japan ausgehende Gefahr im Zweiten Weltkrieg. Das heißt, die USA sind offenbar bereit, sich in ähnlicher Weise zu engagieren, und die Aufbauszenarien nach dem Irak-Krieg werden analog zu den Aufbauszenarien in Japan und Deutschland nach 1945 entwickelt.

Die im rhetorischen Überschwang ins Visier genommene »Achse des Bösen« ist keine Kategorie der NSS. Der Nahe Osten hat zurzeit Priorität, weil von dort die Hauptgefahr ausgeht. Nord-Korea wird ebenfalls als Bedrohung angesehen, es wird aber im Rahmen der NSS eine abgestufte andere Strategie entwickelt.

 

Amerikanisches Rechtsverständnis

Die neue NSS steht im Einklang mit den grundlegenden Überzeugungen der Amerikaner, die ihre politische Geschichte und ihre Institutionen prägen. In der neuen NSS wird das amerikanische Verständnis von Volkssouveränität, Gesellschaft und Staat auf globaler Ebene angewandt, während die europäischen Kritiker ihr Verständnis der Beziehungen souveräner Nationalstaaten verallgemeinern, das aus den europäischen Zivilisationskatastrophen entwickelt wurde.

Die amerikanische Revolution war gegen den absolutistischen englischen Staat und seine »Tyrannei« gerichtet. Wurde in Europa die Gesellschaft vom Zugriff der Religion durch den Staat befreit, so wurde in den USA umgekehrt der Staat der Garant der Religion in der Gesellschaft. In den drei Gründungsdokumenten der USA sind die bis heute bestimmenden Grundprinzipien der amerikanischen politischen Kultur bereits deutlich formuliert.

Die Unabhängigkeitserklärung stellt klar, dass es das oberste Recht der Menschen ist, ihre eigene Regierung zu bestimmen, die ihr Leben, ihre Freiheit und ihren pursuit of happiness sichert. Fundamental ist das Recht des Volkes, ungerechte Regierungen abzuschütteln. Unter den vielen Anklagen der Unabhängigkeitserklärung gegen die englische Tyrannei steht auch, dass diese den Amerikanern »fremde« Gesetze aufgezwungen habe. Die Absolutsetzung der Volkssouveränität gegen jeden Einfluss von außen bestimmt bis heute alle Beziehungen der USA zu ausländischen Mächten – etwa im Streit um die Kompetenzen des internationalen Strafgerichtshofes gegenüber den souveränen Bürgern der USA.

Die Konstitution sieht lediglich die Verfahren der Wahl und die balance of powers zwischen Kongress, Präsident und Oberstem Gericht vor. Die Volkssouveränität konstituiert sich gerade nicht wie in Europa im Staat, sondern verbleibt in der Gesellschaft und vollzieht sich als Verfahren der geteilten Gewalten. Es wird ein Rechtsstaat errichtet, jedoch werden hier Konflikte weniger durch Gesetze, sondern durch gerichtliche Entscheidungen über die Rechte der Individuen beigelegt. Die Konstitution legt es darauf an, den Machtbereich des Kongresses möglichst eng zu ziehen, seine Ermächtigungen werden einzeln aufgezählt und reichten ursprünglich kaum über die Sicherung nach außen und die Regelung des Geld-, Post- und Rechtswesen hinaus. Ganz im Gegensatz etwa zur deutschen Verfassungstradition gibt es keine Staatsziele. Auch ist die (Bundes-)Regierung nicht unbeschränkt zuständig, was sich darin ausdrückt, dass das »Department of State« nicht das Staatsministerium des Inneren ist, sondern sich ausschließlich mit der Außenvertretung zu befassen hat.

Bald nach Verabschiedung der Konstitution wurden – aus Furcht, die eigene Regierung könnte eine neue »Tyrannei« errichten – in der Bill of Rights die Menschenrechte nachgetragen, aber wiederum ganz anders strukturiert als in Europa. Während sich hier die Ausübung aller Menschenrechte im Rahmen der Gesetze zu bewegen haben – weshalb sie von manchen Rechtstheoretikern als vom Staat zu garantierende angesehen werden – verbieten die Amerikaner ihrem Kongress, Gesetze zu erlassen, die ihre Freiheit der Religion, der Rede, der Presse, der friedlichen Versammlung und der Petition einschränken. Ihre Menschenrechte sind Abwehrrechte der freien Bürger gegen den Staat.

Hieran knüpft die NSS nahtlos an: »Die Vereinigten Staaten müssen Freiheit und Rechtstaatlichkeit (justice) verteidigen, weil diese Prinzipien überall und für alle Völker richtig und wahr sind ... Amerika muss standhaft für die nicht-verhandelbaren Forderungen der Menschenwürde eintreten: Die Herrschaft der Gesetze, die Beschränkungen der absoluten Macht des Staates (!), die freie Rede, die Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Respekt vor Frauen, religiöse und ethnische Toleranz und Respekt vor dem Privateigentum.« Die NSS appelliert unmittelbar an die Völker der Welt und ihre unveräußerlichen Rechte, nicht an die souveränen Staaten innerhalb der Ordnung des internationalen Rechts.

Da in den USA »Staat« und Religion strikt getrennt werden, bleiben Präsident und Kongress selbstverständlich frei, ihr Handeln moralisch und religiös zu rechtfertigen. Sie nehmen damit – genau wie die Parteien und Interessenverbände – nichts anderes als ihr erstes Staatsbürgerrecht wahr. Das Verhältnis der Amerikaner zu ihrer Nation kann sich zivilreligiös aufladen, ohne dass der »Staat« die Funktion verliert, die freie Religionsausübung vieler unterschiedlicher Bekenntnisse zu schützen. Ist in den USA die Freiheit zur Religion gewährleistet, sind dort auch die demokratischen Prinzipien eingehalten; in Europa hingegen verstößt eine moralisch und religiös argumentierende Regierung gegen die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität der Verfassungsorgane.

Die Grundkonstellationen der gesellschaftlich-institutionellen Ordnung sind heute bereits weitgehend im vorbewussten gesellschaftlichen Raum abgelagert: Während es für Europäer in der Regel keines Nachdenkens mehr bedarf, um den »Staat« für den Garanten ihrer Freiheit und sozialen Wohlfahrt zu sehen und die Souveränität der Nachbarstaaten als Vorbedingung für den Frieden, ja als Bedingung des eigenen Überlebens anzuerkennen, bedarf es für Amerikaner in der Regel keiner besonderen Überlegung, um den pursuit of happiness als individuelles Menschenrecht und zuvörderst als seine private Angelegenheit zu sehen. Von daher wird scharf zwischen legitimen und illegitimen Regierungen unterschieden, nur Individuen und Völker haben unantastbare Rechte, nicht die Gewaltherrscher, auch wenn sie sich als Oberhäupter von Nationalstaaten gerieren. Die internationale Rechtsordnung der Amerikaner kann deshalb im Wortlaut der neuen NSS zwischen »uns«, »unseren Freunden«; »unseren Alliierten« und »unseren Feinden« unterscheiden.

Auch wenn die amerikanische Verfassung, ihre Institutionen und die gesellschaftlichen Einrichtungen der USA den Bürgerkrieg nicht verhindern konnten und die Schmach des Rassismus bis heute nicht besiegt ist, übersehen Europäer leichthin, dass sich diese politische Grundkonstellation für die Amerikaner seit über 200 Jahren bewährt hat und heute das kontinuierlichste historische Modell für Freiheit, Demokratie und Wohlstand darstellt – während das europäische Modell zwar genauso lange gedanklich konzipiert war, aber in zwei großen Kriegs- und Zivilisationskatastrophen zusammenbrach und selbst heute in seinem eigenen erweiterten Raum noch nicht voll verwirklicht wurde.

 

Europäisches Rechtsverständnis

Europa lernte mühsam aus seinen historischen Katastrophen. Als Gründungsdatum des internationalen Rechts gilt der Westfälische Frieden von 1648. Von hier datiert die Trennung von innerer, überpositiver Moral und äußerem, positiven Recht, die durch staatliche Zwangsgewalt institutionalisiert wird. Die religiösen Bürgerkriege wurden befriedet durch die Einbindung der Kirchen in den Staat und eine mit staatlichem Gewaltmonopol erzwungene Unterwerfung aller unter das weltliche Recht. In der Französischen Revolution wurde die Souveränität des absolutistischen Herrschers zerschlagen und die Volkssouveränität konstituiert. Der allgemeine Wille des Volkes repräsentiert sich im »Staat«. Er beruht auf der Verfassung als dem Gesetz über den Gesetzen und wird durch die Verfahren der Legislative und der allgemeinen Wahlen konstituiert. Das deutsche Volk etwa ist nicht der Souverän Deutschlands, sondern nach herrschender Meinung ein »Verfassungsorgan« wie der Bundesrat oder das Parlament und wird ausschließlich im Rahmen der Gesetze tätig (bei den Wahlen nämlich). Dem »Staat« wurde schließlich auch die Aufgabe zugedacht, nicht nur die abstrakte Rechtsgleichheit und Sicherheit der ihm unterworfenen Bürger zu sichern, sondern darüber hinaus die allgemeine materielle Infrastruktur und schließlich auch die soziale Gleichheit zu gewährleisten.

Der Staat inkorporiert die Kirchen, steht aber über der Religion, die als Privatsache gilt. Die als Verfassungsorgan dem Recht verpflichtete Regierung enthält sich weitgehend religiöser Bezüge. Aus europäischer Sicht wird die amerikanische Lösung der Religionsfrage meist völlig falsch als hinter die Aufklärung zurückfallend interpretiert.

In Europa wurde historisch der religiöse und der soziale Bürgerkrieg durch den Ausbau des souveränen Nationalstaates und des Wohlfahrtstaates überwunden. Vor der endgültigen Befriedung fielen allerdings die neuen Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg in imperialistisch-nationalistischer Aufwallung wiederum übereinander her. Und erst nach dem Zusammenbruch des Ansturms der rassistischen deutschen Nationalsozialisten gegen die europäische Zivilisation war der Boden bereitet, aus dem die Europäische Union als Staatenbund erwuchs, an den die durch Angriff und Verteidigung gleichermaßen zerrütteten Nationalstaaten einen Teil ihrer nationalen Souveränitätsrechte abtraten. Erst seither herrscht in Europa die Vorstellung, man müsse weltweit eine Rechtsordnung souveräner Staaten konstituieren, die letztlich Freiheit, Demokratie und sozialer Gleichheit verpflichtet ist. Zwischenstaatliche Gewaltanwendung ist dabei auszuschließen – wegen der Gefahr des eigenen Untergangs. So wie die Bürger auf die unumschränkte Ausübung ihrer Freiheitsrechte verzichten und ihr Geschick insoweit in die Hand des souveränen Nationalstaates legen, der dafür Frieden, Gewissensfreiheit und soziale Gerechtigkeit garantiert, so verzichten die souveränen Nationen auf einen Teil ihrer Rechte und die vollständige Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Europäischen Union und darüber hinaus der UNO, damit eine internationale Rechtsordnung den Frieden und weltweite Gerechtigkeit sichern kann.

Wie wenig verwurzelt dieser historische Fortschritt in Europa ist, zeigt sich daran, dass erst in den Siebzigerjahren die letzten südeuropäischen Länder ihre Diktaturen abschüttelten, erst jetzt die osteuropäischen Länder hinzukommen und schon bei der ersten historischen Prüfung, nämlich beim Wiedererwachen des nationalistischen Wahns in Jugoslawien, Europa zu einer eigenen Friedenslösung unfähig war und der Hilfe durch die USA bedurfte. Im Übrigen haben weder Großbritannien noch Spanien ihre internen Bürgerkriege endgültig beilegen können.

Bei allen Einschränkungen in der Umsetzung finden sich doch weitgehend übereinstimmende Werte und Ziele der europäischen Regierungen. Ein Beispiel hierfür ist die Koalitionserklärung der Regierung Schröder: Hauptziel ist »die gerechte Gestaltung der Globalisierung ... im Rahmen der multilateralen Verpflichtungen internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der NATO, der OSZE und dem Europarat. Grundlagen des außenpolitischen Handelns sind die Beachtung des Völkerrechts, Eintreten für die Menschenrechte, Dialogbereitschaft, Krisenprävention, Gewaltverzicht und Vertrauensbildung«. »Unser gemeinsames Ziel ist es, weltweit ein System globaler kooperativer Sicherheit zu entwickeln, das allen Menschen ermöglicht, friedlich, frei und ohne Not zu leben. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik.« Handelndes Subjekt ist hier die deutsche Regierung, die mit anderen Regierungen der souveränen Staaten der UNO im Rahmen des gemeinsam gesetzten Rechts handelt. Die weitere Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und Stärkung der UNO ist ein ausdrückliches Ziel. Soweit dies nicht möglich ist, wird darüber hinaus zivile Krisenprävention als Stärkung der Zivilgesellschaft in Krisenregionen vorgesehen. Aus dieser Grundkonzeption heraus können die inneren Verhältnisse der anderen souveränen Nationalstaaten kein Thema sein, es werden auch keine spezifischen deutschen Interessen für irgendwelche Teile der Welt definiert. Diese Konzeption von Außenpolitik versteht sich in europäischer Aufklärungs- und Denktradition als universelle, das ist ein weiterer Grund, weshalb die Grundkonzeption der amerikanischen Außenpolitik, soweit sie hiermit kollidiert, als voraufklärerisch erscheint.

 

Alternative Weltfriedenspolitik?

Gegenwärtig schießen in Europa Spekulationen über die Motive und Ziele der US-Regierung ins Kraut. Um zu einer nüchternen und an Fakten orientierten Einschätzung der einzig verbliebenen Supermacht zu gelangen, sollte dabei Folgendes nicht ganz vergessen werden:

Die USA sind eine differenzierte demokratische Gesellschaft, in der eine Vielzahl von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen und Konflikten abgeglichen werden muss. Die geschieht nicht unbedingt über die Massenmedien, aber zwangsläufig über weitgehend öffentlich zugängliche Informationskanäle. Zum Beispiel sind die wesentlichen legitimierenden Grundlagen für außenpolitische Aktionen in Kongressdokumenten wie der NSS niedergelegt. Imperialistische oder fundamentalistische Weltverschwörungspläne entspringen der Fantasie derjenigen, die behaupten, sie zu enthüllen.

Viele Europäer halten die Amerikaner für prinzipienlos und nur auf kurzsichtige und kurzfristige Interessen ausgerichtet. Sie verstehen nicht, dass zum einen die Bevorzugung des Wertes der Freiheit amerikanischen Regierungen grundsätzlich einen weiteren Entscheidungsspielraum gewährt als europäischen und dass vor allem der amerikanische Pragmatismus sehr viel flexibler in der Mittelwahl ist als europäisch verstandene Treue zu Prinzipien. Die neue Kampfansage gegen den internationalen Terrorismus und diktatorische Regierungen wird durch eine Vielzahl von Vorgehensweisen umgesetzt werden, die aus hiesiger Sicht unvereinbar erscheinen, aus amerikanischer Sicht aber einer langfristigen und durch feste Wertüberzeugungen untermauerten Strategie folgen. Hierzu gehört etwa das Bündnis mit saudi-arabischen Fundamentalisten gegen die irakische Diktatur oder die intensive Förderung zivilgesellschaftlicher Gruppen und Aktivitäten im Nahen Osten bei gleichzeitiger Kriegsführung gegen den Irak. Man muss sich nur daran erinnern, dass die USA in der Not der deutschen und japanischen Aggression im Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion ein treuer Alliierter waren, um zu wissen, dass die zukünftigen Handlungen der USA aus ihrer inneren demokratisch-freiheitlichen Orientierung zu schließen sind und nicht aus ihren gegenwärtigen Alliierten.

Im internationalen Bereich können nur mindestens gleichwertige Mächte Einfluss ausüben. Allein aus der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Stärke der USA folgt, dass spezifische europäische Lösungswege internationaler und globaler Konflikte nur dann eine Chance haben, wenn Europa international politisch handlungsfähig ist. Eine zu den USA alternative Weltfriedenspolitik wird darüber hinaus ohne eine eigene militärische Eingreiffähigkeit Europas bloß deklamatorisch bleiben und kann keine politischen Lösungen zur Beseitigung der Entwicklungsblockaden in der islamischen Welt finden.

 

 

Quellen:

Eine sehr gute Monographie zum europäisch-amerikanischen (Miss-)Verständnis: Gret Haller: Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002.

Die NSS findet sich im Original unter http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf.

Die Verfassungsdokumente: http://www.archives.gov/exhibit_hall/charters_of_freedom/charters_of_freedom.html

Zu den Unterschieden der amerikanischen und französischen Revolution: Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1965.

Die inneramerikanische Debatte um die Strategie lässt sich nachlesen in der Zeitschrift Foreign Affairs: http://www.foreignaffairs.org/.

Deutschsprachige Darstellungen der amerikanischen Politik in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 48/2.12.2002 unter http:://www.das-parlament.de.

Beiträge zu Bürgerrechten und Volkssouveränität in: Hauke Brunkhorst und Peter Niesen (Hrsg.): Das Recht der Republik, Frankfurt am Main 1999.

Zur Lage im Nahen Osten und die amerikanische Strategie: Peter Pawelka: »Der Staat im Vorderen Orient – über die Demokratieresistenz in einer globalisierten Welt«, in: Leviathan 4/2002.