Zeitenwende

Über die transatlantischen Beziehungen in der neuen Weltordnung
Ulrich Speck

Europas außenpolitische Schwäche springt seit dem 11. September ins Auge. Der Paradigmenwechsel in der US-Politik, ihre neue weltpolitische Strategie, zielt auf eine Weltordnung ab, die die Europäer herausfordert, ihre Position des skeptischen Ja-aber zu verlassen. In der Abwehr der US-Pläne, die zu einem gefährlichen Unilateralismus tendieren, mischen sich in Deutschland Ignoranz, Antiamerikanismus und sachliche Kritik. Entscheidend wäre, so unser Autor, dass Europa in der globalen Gegenwart ankommt. Seine Staaten, insbesondere Deutschland als ökonomische Weltmacht, sollten ihre Partikularinteressen überwinden und eine multilaterale Weltpolitik entfalten.

 

Europa denkt nicht strategisch«, hat Tony Judt kürzlich festgestellt (Merkur Nr. 643, November 2002). Folgt man dem New Yorker Historiker und Publizisten, dann waren alle Bemühungen der letzten Jahre umsonst. Weder die Zeitenwende von 1989 noch das Fiasko der Balkan-Politik haben dazu geführt, dass die Europäer eine längerfristige Definition der eigenen Rolle entwickelt haben. Es scheint, dass die weltpolitische Unmündigkeit den Jahrzehnten des Kalten Kriegs, in denen der große Bruder Amerika das außenpolitische Sagen hatte, noch immer nicht überwunden ist.

Europas außenpolitische Schwäche ist immer wieder diagnostiziert worden, nach dem 11. September hat sie allerdings an Brisanz gewonnen. Die US-Regierung drängt mehr denn je darauf zu erfahren, wohin Europas außen- und sicherheitspolitische Reise geht; gegebenenfalls setzt sie die EU auch unter Entscheidungsdruck, jüngst etwa mit der Nato-Eingreiftruppe oder in Sachen EU-Mitgliedschaft der Türkei. Zugleich wächst bei den europäischen Bürgern die Ablehnung der neuen weltpolitischen Rolle der USA in dem Maße an, in dem Washington den »Krieg gegen den Terror« in eine Präventivstrategie gegen »Schurkenstaaten« verwandelt. Und nicht zuletzt setzen Kritiker der Bush-Regierung in den USA und anderswo ihre Hoffnungen auf das Potenzial einer europäischen Gegen-Macht. Der Deal der Neunzigerjahre, den USA die weltpolitische Regie und das schmutzige Geschäft des Krieges zu überlassen, sich selbst hingegen auf Wiederaufbau, auf »peace-keeping« und »state-building« zu beschränken, scheint das Dilemma der europäischen Außenpolitik nur zu perpetuieren, nicht aufzulösen.

Wie ein Symptom der Unfähigkeit, eine gemeinsame europäische Linie zu finden, wirkt das Lavieren der Europäer in Sachen Irak-Krieg. Deutschland sagt kategorisch Nein, England kategorisch Ja, Frankreich sagt Ja, aber – nur unter UN-Hoheit. Wieder einmal hat die EU versagt, wieder einmal haben die großen europäischen Staaten nur ihre partikularen Interessen im Blick gehabt, statt an einem Strang zu ziehen.

Hat Europa wirklich versagt? Nehmen wir einmal an, die Dinge wären etwas anders gelaufen, als es den Anschein hat. Nehmen wir an, Schröder, Blair und Chirac haben sich im April oder im Mai letzten Jahres zu einer streng geheimen Konferenzschaltung verabredet. Chirac macht einen Vorschlag. Blair soll die Verbindung zu Bush halten – und die Powell-Position in der Administration stärken, also dafür sorgen, dass Bush die Irak-Frage in den UN-Sicherheitsrat verlagert. Schröder dagegen müsse den »bad guy« spielen und sich einem militärischen Einsatz in jedem Fall verweigern. In Washington werde man zwar mit den Zähnen knirschen, doch könne man diese Haltung mit einer Anti-Kriegs-Stimmung im Land begründen – die ja schließlich nichts anderes sei als das Ergebnis von jahrzehntelanger »reeducation«. Er selbst, so Chirac, werde dann im UN-Sicherheitsrat dafür sorgen, dass die USA keine Blankovollmacht für den Krieg erhalten.

Wie auch immer die Dinge tatsächlich gelaufen sind – wenn man die Fakten nimmt, muss man sie nicht unbedingt als europäisches Versagen deuten. Im Gegenteil. Blair hat offenkundig dazu beigetragen, dass Bush die Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hände des Sicherheitsrats legte. Schröder hat mit seiner kategorischen Absage einen Spielraum eröffnet, in dem Chiracs Widerstand im Sicherheitsrat geradezu als moderat erscheinen musste. Am Ende stand ein Kompromiss mit Washington. Auf diese Weise ist die europäische Skepsis in Sachen Irak-Krieg politisch wirksam geworden, und es wurde ein Alleingang der USA verhindert.

 

Ein taktischer Erfolg, ein Etappensieg, ersetzt freilich noch keine Strategie. Auch wenn die Europäer sich via UN wieder ins Spiel gebracht haben, bleibt die Frage, für welche Ziele sie ihr wieder gewonnenes weltpolitisches Gewicht nutzen wollen. Mehr denn je: Denn der 11. September hat tektonische Verschiebungen in der Weltpolitik ausgelöst, durch die sich die Frage nach einer europäischen Außenpolitik in verschärfter Weise stellt. Die Anschläge von New York und Washington haben eine im Rückblick fast schon beschaulich anmutende, von Optimismus geprägte Phase beendet, die mit dem »annus mirabilis« 1989 begann. Die Erwartung, man werde mit der Überwindung des Kalten Krieges einem ewigen Weltfrieden ein paar deutliche Schritte näher kommen, war die Grundstimmung dieser Zwischenphase, die sich seit Mitte der Neunziger aufs Schönste mit dem Boom der New Economy verband.

Zwar hatten die Katastrophen auf dem Balkan und in Ruanda die Perspektive schon wieder verdüstert. Sichtbar wurde, dass der Ost-West-Konflikt bis 1989 nicht nur Ursache oder Auslöser von Kriegen war, sondern auch als eine Art »Container« gewirkt hatte, der den Ausbruch von kriegerischen Auseinandersetzungen verhinderte. Dennoch, auch Ruanda und Bosnien ließen sich in ein Modernisierungs- und Fortschrittsszenario einbauen: als Schritte auf dem langen Marsch zur pazifizierten Einen Welt, als schmerzhafte Lehrstücke, an denen sich das moralische Bewusstsein der Weltöffentlichkeit schärfte. Die Lehre der Neunzigerjahre bestand darin, dass der Westen gelegentlich zum Eingreifen gezwungen ist, zur »humanitären Intervention«. So wurde in den Katalog der legitimen Kriegsgründe neben die Notwehr, den Verteidigungskrieg, auch die Nothilfe, die Verhinderung von Massenmorden aufgenommen. »Rechte« Vorbehalte, die den universalistischen Ansatz kritisierten und auf den Schutz staatlicher Souveränität beharrten, wurden dabei ebenso überwunden wie die »linke« Ablehnung, die sich aus dem Ideengut des Pazifismus speiste. Das stärkste Argument der Interventionisten war moralisch-geschichtspolitischer Natur, die Berufung auf eine »Lehre« aus dem Holocaust: Nie wieder »bystander« sein, nie wieder »wegschauen«, wenn »ethnische Säuberungen« und andere Massenmorde stattfinden.

Mit dem 11. September hat sich das Szenario verändert. Nicht mehr Menschenrechtspolitik, Holocaust-Analogie und humanitäre Intervention stehen auf der globalen Agenda. Das neue Paradigma heißt »Krieg gegen den Terror«, und sein Imaginäres wird von den Bildern der brennenden und stürzenden Türme des World Trade Center gespeist. Das absolute Böse heißt nicht mehr Hitler, sondern bin Laden oder Saddam Hussein, und an die Stelle des »Nie wieder Auschwitz« ist, zumindest für viele Amerikaner, das »Nie wieder 11. September« getreten. Der Optimismus der Neunzigerjahre, sich trotz aller Schwierigkeiten auf dem unaufhaltsamen Weg zu globaler Verständigung zu befinden, der schlussendlich zu einer Weltregierung führt, ist in den Trümmern der Türme des World Trade Center begraben worden.

Das neue Paradigma des »Krieges gegen den Terror« führt zu einer neuen Aufteilung der Welt. Auf der einen Seite die USA und ihre Verbündeten, auf der anderen Seite die »Schurkenstaaten«, die entweder das »Netzwerk des Terrors« stützen – Afghanistan – oder aber als potenzielle Bedrohung Amerikas gesehen werden, weil sie Massenvernichtungsmittel besitzen (Irak, Iran, Nordkorea). Der Schock, auf eigenem Territorium angegriffen worden zu sein, zum ersten Mal seit Pearl Harbor, hat die Bush-Administration zur unaufhaltsamen Entschlossenheit gebracht, alle Mittel einzusetzen, um Amerika auf dem eigenen Territorium, aber auch weltweit, wieder Sicherheit zu verschaffen. Und sie hat dafür das Mandat, wie die Umfragewerte für Bush ebenso zeigen wie die jüngsten Kongresswahlen.

Vom ersten Moment an definierte Bush dabei die Anschläge als kriegerischen Angriff (Bob Woodward, Bush at War, 2002). Deshalb ist die Wahl des Begriffes »Krieg gegen den Terror« nicht zufällig. Der Begriff beschreibt vielmehr exakt das neue Selbstverständnis Washingtons, die Prämisse, unter der die neue Weltpolitik steht. Für die Bush-Administration handelt es sich bei ihrem weltpolitischen Paradigmenwechsel um eine Antwort auf einen Angriff, mit anderen Worten: um Selbstverteidigung – eine Sichtweise, die die Europäer beim Afghanistan-Krieg noch weitgehend akzeptiert haben. Auch wenn der Zusammenhang von Terrorangriff, al-Qaida und afghanischem Staat zwar nicht im Detail bewiesen wurde, so war er doch in hohem Maße plausibel.

Doch in Sachen Irak bleibt Europa skeptisch. Weder gibt es einen plausiblen Zusammenhang zwischen Saddam und dem Terrorismus, noch fühlt man sich unmittelbar vom Irak bedroht. Aus europäischer Sicht folgt ein Krieg gegen den Irak nicht mehr der Logik von Angriff und Verteidigung, es geht vielmehr um einen Angriffskrieg auf äußerst problematischer völkerrechtlicher Grundlage und mit noch problematischeren Folgen für den Nahen Osten.

Washington dagegen erkennt in der europäischen Skepsis keine ernsthaften Einwände, man sieht sich auch weiterhin in der Logik von Angriff und Verteidigung, wenn auch in einem umfassenderen Rahmen. Bereits vor dem 11. September stand Saddam Hussein in der amerikanischen Bedrohungsanalyse auf Platz zwei, direkt hinter bin Laden. Aus amerikanischer Sicht sind die Anschläge auf New York und Washington die Quittung für Versäumnisse: Hätte man früher gehandelt, wäre einem die Katastrophe erspart geblieben. Aus der Prämisse »Nie wieder 11. September« folgt der Entschluss, das Regime von Saddam Hussein zu stürzen, als Prävention, als Schutz vor weiteren Terrorattacken.

Zugleich verbindet man in der Bush-Administration mit einem Irak-Krieg weitreichendere Überlegungen. Um dem islamistischen Terror seinen Boden zu entziehen, soll nach einem Krieg mit dem Irak ein islamisches Land neuen Typs aufgebaut werden: ein säkularer, demokratischer, marktwirtschaftlicher Modellstaat. Das Vorbild dafür ist der Umbau Westdeutschlands nach 1945 – warum soll nicht wieder funktionieren, was damals funktioniert hat? Indem man in einem Schlüsselstaat der Region ein Modell für die Versöhnung und Vermittlung von Islam, Marktwirtschaft und Demokratie errichtet, hofft man, dem »clash of civilisations« gleichsam das Wasser abzugraben.

 

Über die Realisierbarkeit derartiger Pläne kann man mit guten Gründen geteilter Meinung sein. Doch sie zu ignorieren, wie es die deutsche Öffentlichkeit weitgehend tut, ist selbst wiederum ignorant. Nicht nur, weil man damit die Komplexität der amerikanischen Politik und der politischen Debatte verkennt. Sondern auch, weil man sich wieder einmal auf die Pose des Amerika-Kritikers zurückzieht und sich damit einer konstruktiven Debatte verweigert. Welche Risiken und Chancen ein solches Unternehmen hat, welche Rolle Europa dabei spielen könnte, bleibt unerörtert, in der deutschen Öffentlichkeit wie im Dialog mit Amerika. In Deutschland sucht man lieber nach den »wahren« Motiven für einen Irak-Krieg und wird genau dort fündig, wo man es erwartet hat: Einmal in der Psychologie George W. Bushs, der angeblich seinen Vater rächen will, und in den Restbeständen marxistischer Analyse, in den materiellen Interessen, mit anderen Worten: »Den Amis geht es nur ums Öl.«

So ist der atlantische Graben tiefer geworden. Die Amerikaner vermissen europäische Solidarität und europäisches Verständnis, und die Europäer begegnen den USA mit tieferem Misstrauen denn je. Nur einen Moment lang waren die USA ein verletzter Riese, ein Opfer, dem man seine uneingeschränkte Solidarität versicherte. Rasch wurden die Stimmen lauter, die die Anschläge als Quittung für Amerikas Weltpolitik deuteten, als eine Art höherer Gerechtigkeit. Je deutlicher Bush seinen weltpolitischen Paradigmenwechsel vollzog, desto deutlicher besann man sich in Deutschland auf die Topoi der klassischen Amerika-Kritik. Im Spiegel-Titelbild von Bush als Cowboy kam der alt-neue Konsens zum Ausdruck: Amerika als eine wild um sich schießende, keine Regeln respektierende imperiale Macht, die gnadenlos die eigenen Interessen verfolgt und damit die Welt ins Elend stürzt.

Die legitime und notwendige sachliche Kritik an amerikanischer Politik vermischte sich so mit dem Bodensatz des klassischen Antiamerikanismus, der in deutschen Milieus und Mentalitäten nach wie vor fest verankert ist. Eine Haltung, in der man amerikanische Macht zwar als etwas Unausweichliches – und gegebenenfalls auch leider Notwendiges – hinnimmt, in der man sich aber zugleich der eigenen moralischen Überlegenheit versichert. Erwachsen ist diese Haltung aus der Niederlage von 1945, und entwickelt hat sie sich in inneren Widerständen gegen »reeducation« und Amerikanisierung. In seiner »rechten« Variante hat sich dieser Antiamerikanismus als Kulturaristokratismus formiert, als Verachtung und Abwehr der Massenkultur; eine Abwehrschlacht, die inzwischen längst verloren ist. In der »linken« Variante war er erfolgreicher: Die linke, politisierte Umprägung des Antiamerikanismus trug nicht unerheblich zum Erfolg der Bewegungen von 1968<|>ff. bei. Allerdings mit einer dialektischen Pointe: Mit der Übernahme von Formen und Formeln aus der Sprache und Zeichenwelt der amerikanischen Opposition zwischen Berkeley und Woodstock haben die Achtundsechziger selbst zur kulturellen Amerikanisierung Deutschlands wesentlich beigetragen.

Das antiamerikanische Ressentiment ist in den Neunzigerjahren aufgearbeitet worden (Dan Diner, Richard Herzinger). Doch die Topoi bleiben jederzeit abrufbar. Im Zweifelsfall ist man eher bereit, das zweifellos lange Sündenregister amerikanischer Weltpolitik im 20. Jahrhundert in die Waagschale zu werfen, als anzuerkennen, dass trotz allem die USA die große antitotalitäre Kraft des vergangenen Jahrhunderts waren – einer Kraft, deren Einsatz man selbst eine funktionierende Demokratie und einen beispiellosen Wohlstand verdankt. Wenn man sich hier zu Lande am liebsten mit tatsächlichen und mit potenziellen Opfern Amerikas identifiziert, so tut man dies vor dem Hintergrund einer eigenen, offiziell unausgesprochen bleibenden Opfermythologie.

Was die deutsche Debatte so vertrackt macht, ist die daraus erwachsende Vermischung von sachlichen Argumenten mit antiamerikanischen Ressentiments. Und noch vertrackter wird die Debatte, wenn auch die Kritiker des Antiamerikanismus über ihr aufklärerisches Ziel hinausschießen, wenn sie das Kind gleich mit dem Bade ausschütten und Amerikakritik unter Generalverdacht stellen. Durch wechselseitige Unterstellung spitzt sich die Auseinandersetzung zu, und statt über amerikanische Weltpolitik diskutiert man dann im Grunde nur noch über sich selbst. Statt den Binnenraum des Eigenen zu überschreiten, perpetuiert man jene Provinzialität, die sich im geschützten, von weltpolitischen Entscheidungen abgeschirmten Raum der alten Bundesrepublik herausgebildet hat.

Vor dem Hintergrund der deutschen Debatte erweist sich Schröders »Spagat« in der Irak-Frage nicht als Symptom charakterlicher Schwäche, sondern als Folge struktureller Probleme. Zum einen muss Deutschland innerhalb der EU und auf der Weltbühne handlungsfähig sein, mit anderen Worten, eine an den Realitäten ausgerichtete Politik der Kompromisse betreiben. Zum anderen darf die Regierung die Unterstützung einer Wählerschaft nicht verlieren, die in ihrer Mentalität, in ihren Deutungsmustern und Einstellungen gegenüber eben jener realistischen Politik wenig aufgeschlossen ist. Das war das Dilemma, das sich in der Irak-Frage gezeigt hat: Will man Wahlen gewinnen, muss man »Nein« sagen, will man Europa- und weltpolitisch nicht seinen Einfluss verlieren, muss man gegebenenfalls auch mitspielen. Eine »no-win«-Situation.

Zumindest so lange, wie man darauf verzichtet, außenpolitische Strategien zu entwickeln, und zwar öffentlich und damit verhandelbar. Denn die Vorwürfe an Schröder und Fischer, in der Irak-Frage »umgefallen« zu sein, sind der Preis, den die Regierung dafür zahlt, dass sie die Karten nicht offen auf den Tisch legt. Dafür, dass sie lieber auf Meinungsumfragen schaut wie das Kaninchen auf die Schlange, statt ihre Chance zu nutzen, die Meinungen zu beeinflussen, Begriffe zu prägen, indem sie ihre Position öffentlich zur Sprache bringt und offensiv zur Diskussion stellt. Wenn die deutsche Öffentlichkeit seit 1989 nur äußerst zögerlich den Blick auf die Welt da draußen wendet, dann liegt das auch an einer Politik, die zwischen weltpolitischen Anforderungen und heimatlicher Basis ängstlich hin und her schwankt, statt einen Diskurs in Gang zu bringen, in dem die Leitlinien und Optionen deutscher Außenpolitik in realistischer Weise verhandelt werden, in ihren Möglichkeiten und eben auch in ihren Grenzen. Die Sprachlosigkeit der Regierung und die Ressentiments in der Öffentlichkeit – sie sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Sie bezeichnen die Probleme, mit einer Macht umzugehen, die Deutschland seit 1990 hat, ob es ihm gefällt oder nicht.

 

Angesichts des weltpolitischen Paradigmenwechsels nach dem 11. September wäre eine solche offene Debatte dringlicher denn je. Der Spagat zwischen der Stimmung im eigenen Land und der weltpolitischen Rolle droht die Regierung zu paralysieren. Und das in einem Moment, in dem Deutschland mit Frankreich und England zu den wichtigsten Akteuren Europas gehört, in dem Deutschland den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat übernimmt, in dem die weltpolitische Karte der Einflüsse und Beziehungen neu gezeichnet wird, im Nahen Osten und anderswo.

Mit ihren neuen Strategien versuchen die USA, die Unsicherheiten und Bedrohungen unter Kontrolle zu bekommen, mit allen verfügbaren Mitteln und Methoden. Die Europäer können es sich angesichts dessen nicht mehr leisten, sich auf die bequeme, oft auch selbstgerechte Position zurückzuziehen, die zweifellos vorhandenen Fragwürdigkeiten amerikanischer Politik zu kritisieren. Zum einen haben sie – und das wird gerne übersehen – durchaus auch eigene materielle Interessen, als einzelne Staaten wie als Gesamtorganismus: ökonomische wie geopolitische Interessen, gerade auch in Bezug auf die benachbarte Region des Nahen Ostens. Zum anderen ist der europäische Umgang mit Konflikten von anderen Überzeugungen und Erfahrungen geprägt als der amerikanische. Für Europäer, zumindest für Kontinentaleuropäer, ist der Krieg die Urkatastrophe schlechthin, unbeherrschbar, verheerend für alle Beteiligten. Auch wenn die Neunzigerjahre das »Nie wieder Krieg« aufgeweicht haben – die Bereitschaft, sich moderierend und helfend zu engagieren, ist ungleich größer als die Bereitschaft, im Krieg zu töten und sich töten zu lassen. Für Amerikaner dagegen ist Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, ihre Erfahrung besteht darin, dass man Kriege tatsächlich auch gewinnen kann, heiße wie kalte. Die materiellen und ideellen Interessen der Europäer und der Amerikaner überschneiden sich zwar in weiten Bereichen, sie sind aber eben nicht deckungsgleich. Insofern ist es für Europa von zentraler Bedeutung, seine Differenz nicht nur zur Sprache zu bringen, sondern auch dafür zu sorgen, dass seine Interessen im weltpolitischen Prozess zur Geltung kommen.

Die wesentliche Voraussetzung dafür besteht darin, die Bush-Administration von der Verlockung des Unilateralismus abzubringen. Tony Judt hat die Gefahr eindringlich beschrieben: »Von Powell abgesehen, herrscht in der Bush-Administration der realistische Konsens, dass die Verbündeten für die militärischen Überlegungen der USA nicht ausschlaggebend sind, und sie politisch keine andere Wahl haben, als mitzuziehen, dass daher also nichts gewonnen ist, sie im Vorfeld zu konsultieren oder auf ihre Empfindlichkeiten einzugehen.«

Der amerikanische Unilateralismus ist eine große Bedrohung für Europa, weil er es zu marginalisieren droht. Und er ist eine Gefahr für die Amerikaner selbst, mit unabsehbaren Folgen für das Weltsystem, das eben auf Multilateralismus, auf institutionalisierten Absprachen, Verhandlungen und Kompromissen beruht. Denn wenn Washington der unilateralen Versuchung nicht widersteht, erfährt es einen weltweiten Vertrauens- und Legitimitätsverlust. Was Washington als Unilateralismus bezeichnet, wird andernorts mit anderen Begriffen benannt werden: als Imperialismus oder als Kolonialismus. Der Unilateralismus verspielt jenen Kredit, jenes symbolische Kapital, auf dem, neben ihrer ökonomischen Stärke, die Weltmacht der USA beruht: den Universalismus, die Identifikation Amerikas mit Freiheit und Wohlstand. Die Berufung auf universale Werte überzeugt nur, wenn ihre politische Umsetzung nicht selbstherrlich, sondern im Konsens mit der Weltgemeinschaft geschieht.

Die Abwendung von der Weltgemeinschaft hingegen lässt amerikanische Politik unweigerlich partikular erscheinen. Je mehr Unilateralismus, umso wirkmächtiger wird die Position der Chomskys werden: Dass die Berufung auf universale Werte nichts anderes ist als ein kläglicher Überbau für die Durchsetzung handfester materieller Partikularinteressen. Der Unilateralismus stärkt die Gegenmächte, bis hin zum Terrorismus. Die Anzeichen sind klar sichtbar. Die Washingtoner Blockade in Sachen Kyoto-Protokoll und Internationaler Strafgerichtshof hat bereits erste Konturen einer Art alternativen Globalisierung sichtbar werden lassen. Zumindest in den Augen vieler Globalisierungskritiker und NGOs gelten die USA nicht mehr als Treuhänder einer Weltregierung, sondern als Gegenspieler einer globalen humanitären Moral.

 

Indem sie in Sachen Irak-Krieg die UN wieder ins Spiel gebracht haben, haben die Europäer die Rolle der UN als Welt-Machtzentrum wieder gestärkt und damit dem Multilateralismus in der »neuen Weltordnung« Gewicht verliehen – vorerst jedenfalls. Doch erspart es dieser Etappensieg Europa nicht, zu klären, für welche Positionen es längerfristig steht, gegenüber den USA wie gegenüber anderen Weltregionen. Im Gegenteil: Multilateralismus kann nur funktionieren, wenn jeder der Beteiligten sich über seine Interessen und Ziele im Klaren ist.

Die Definition von Interessen und Zielen Europas muss sich auf allen Ebenen vollziehen, auf der EU-Ebene wie in den europäischen Staaten. Das heißt für Deutschland, dass es höchste Zeit wird, sich endlich von der politischen und mentalen Ordnung des Kalten Krieges zu verabschieden und in der globalen Gegenwart anzukommen: Bonn ist Geschichte, das Biedermeier ist vorbei. So wichtig die Mehrung des Bruttosozialprodukts und dessen gerechte Verteilung als politische Aufgaben auch sind – sie sind längst nicht mehr die einzigen. Sich scheinbar herauszuhalten, von moralischen Höhenkämmen aus das Handeln anderer mit Skepsis und Kritik zu betrachten, mag einem das Gefühl der Überlegenheit geben. Konstruktiv ist es aber nicht, und vor allem ist es weltfremd. Denn die politische Macht der ökonomischen Weltmacht Deutschland ist ein weltpolitisches Faktum, eine tagtäglich wirksam werdende Realität. Die Frage ist längst nicht mehr, ob wir diese Macht wollen oder nicht, die Frage ist, wie, zu welchen Zwecken wir diese Macht benutzen wollen. Und schließlich: Selbst wer darauf verzichtet, zu handeln, kann Schuld auf sich laden – dann eben durch Unterlassen.

Viel Zeit ist nicht mehr. Eigentlich gar keine. Beispiel Naher Osten: Wenn man das Projekt eines langfristigen politischen Umbaus der Region im Sinne eines »liberalen Imperialismus« nicht nur für amerikanische Propaganda hält, muss man sich fragen, welche Haltung Europa dazu einnimmt, inwieweit es die Chancen eines solchen Projekts fördern und seine Risiken minimieren kann. Eine Schlüsselregion, für die Europäer mehr noch als für die Amerikaner: geographische Nachbarschaft, ökonomische Interessen, enge Beziehungen zu Israel und zur Türkei. Und nicht zuletzt eine Region, in der die islamistische Herausforderung ihre Sprengkraft nicht verloren hat. Auch hier gilt: Sich raushalten ist nicht möglich. Wir sind längst Teil des Spiels.