Thomas
Charlier
Vom Traum
zum Albtraum
Rationalisierung und Industrialisierung in der Medizin
Die in einem chaotischen Umsetzungsprozess befindliche großkoalitionäre
»Gesundheitsreform« stellt eine forcierte Formalisierung dar und folgt der Idee
eines gleichmacherischen Gesundheitsmarktes. Der verwandelt tendenziell alle
Gesunden in Kranke – und untergräbt das Solidarprinzip. Die Industrialisierung
der Medizin wird die Spaltung zwischen den BürgerInnen vertiefen.
Der Druck
auf grundlegende Veränderungen im Bereich der Gesundheitsversorgung hat in den
letzten Jahren unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation erheblich
zugenommen. Lange Zeit hatte es den Anschein, die Anwendung des Prinzips der
formalen Rationalität und der permanenten Effizienzsteigerung bliebe auf die
Sphären der Technik, der Produktion und der Verwaltung beschränkt. Ein
Dienstleistungsbereich wie die Medizin und noch ausgeprägter die
Psychotherapie, in der die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient eine
so entscheidende Rolle spielt, schien ein von Rationalisierungsprozessen kaum
erfassbares Reservat zu sein.(1)
Die Entwicklungen der letzten
Jahre und ihre Zuspitzungen in Form des vom Gesetzgeber ausgeübten Zwanges zur
Implementierung von Disease-Management-Programmen, von immer weitgreifenderen
Forderungen nach Qualitätssicherung sowie dem Vorhaben, ein staatlich
kontrolliertes Institut für Qualitätssicherung einzuführen, das über die
Einführung medizinischer Innovationen in das System der gesetzlichen
Krankenversicherung entscheiden soll, haben uns eines Besseren belehrt.
Für den erhöhten
gesellschaftspolitischen Druck, auch den medizinischen Bereich bis hin zur
psychotherapeutischen Versorgung dem kapitalistischen Rationalisierungsgedanken
zu unterwerfen, sind verschiedene Faktoren verantwortlich:
– Der hohe
volkswirtschaftliche Anteil des Gesundheitswesens von derzeit 10,5 Prozent in
Deutschland sowie 4,2 Millionen Beschäftigten fordert seine Einbeziehung in
allgemeine volkswirtschaftliche Steuerungsprozesse.
– Die wirtschaftlichen
Globalisierungsprozesse, die mit einer verstärkten Konkurrenz um die Ansiedlung
von Unternehmen einhergehen, führen zu einem wachsenden Druck, den Anstieg der
so genannten Lohnnebenkosten, zu denen auch die Arbeitgeberbeiträge zur
Krankenversicherung gehören, zu verhindern.
– Die
gesetzliche Krankenversicherung hat ein Finanzierungsproblem. Ursächlich
hierfür ist nicht eine viel beschworene Kostenexplosion im Gesundheitswesen.
Der erwähnte Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt von circa
10,5 Prozent hat sich in den letzten 20 Jahren trotz erheblicher medizinischer
Innovationen kaum erhöht. Ursächlich für die krisenhafte Finanzsituation des
Gesundheitssystems ist vielmehr ein Einnahmeproblem infolge der gravierenden
demographischen Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der anhaltend hohen
Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus sind die gesetzlichen Krankenversicherungen in
den letzten 20 Jahren kontinuierlich dazu benutzt worden, Einnahmeausfälle in
anderen sozialen Bereichen zu kompensieren. Die auf diese Art und Weise durch
verschiedene gesetzliche Maßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
entzogenen Mittel addieren sich auf einen Betrag von annähernd 20 Milliarden
Euro.
– Ein
explosives Wachstum hat es allerdings in der Tat im Bereich des technisch
Machbaren in der Medizin gegeben. Die Kosten für moderne bildgebende Verfahren
wie zum Beispiel Computertomographie und Magnetresonanztomographie sowie mehr
oder weniger innovative pharmazeutische Produkte, die zu immens hohen Preisen
und mit einem umfassenden Marketing-Bombardement auf dem Markt platziert
werden, usurpieren einen immer größer werdenden Teil des Ausgabenkuchens und
drohen den bisherigen Kostenrahmen zu sprengen. Die Budgetierungsmaßnahmen der
kassenärztlichen Vereinigungen sowie der Regierung (Arzneimittelbudget) haben
nur als eine Art Notbremse gewirkt. Als relativ plumpe Kostendämpfungsstrategien
sind sie gegen die argumentativen und juristischen Angriffe der hierdurch eingeschränkten
industriellen Interessengruppen dauerhaft nicht zu legitimieren und auch nicht
mit ausreichender Sicherheit justiziabel.
– Als
explosionsartig kann man wohl auch die Zunahme an Informiertheit bei potenziellen
Patienten durch leicht zugängliche Informationsquellen hinsichtlich medizinischer
Fragestellungen, etwa durch das Internet, bezeichnen. Diese zunehmende Informiertheit
von Patienten ist ein durchaus zu begrüßender Vorgang, der die Chancen des
Einzelnen auf gute medizinische Behandlung erhöhen kann. Allerdings geht diese
Transparenz und zunehmende Informiertheit keineswegs mit Kostensenkungen
einher, sondern führt ganz im Gegenteil zu vermehrter Einholung von »Zweitmeinungen«
und Doppeluntersuchungen.
– Neben
dem Bestreben nach Verminderung oder Abschaffung des Arbeitgeberanteils an den
Kosten der Krankenversorgung besteht ein ausgeprägtes Drängen der
pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, sich der budgetbedingten Fesselung
ihrer Absatzmöglichkeiten zu entledigen, einen Zuwachs ihrer Umsätze zu erreichen,
ohne dies über steigende Anteile an den Lohnnebenkosten mitfinanzieren zu
müssen.
– Nicht
zuletzt diese gegensätzlichen und innerhalb des bisherigen Gesundheitssystems
tatsächlich nicht miteinander zu vereinbarenden Ziele sind es, die den Bestand
der bisherigen solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung in Frage stellen,
das Hauptmotiv für die derzeitige Entsolidarisierungskampagne abgeben und unter
dem Vorwand von mehr Freiheit und Eigenverantwortlichkeit einer zunehmenden
Privatisierung des Krankheitsrisikos das Wort reden. Nur der Ausstieg aus dem
Solidarprinzip in der Krankenversicherung kann die Quadratur des Kreises ermöglichen,
dass nämlich mehr Geld ins System kommt, um die erwünschten Umsatzsteigerungen
von pharmazeutischer Industrie, Medizintechnik und elektronischen
Datenverarbeitungssystemen zu erzielen, ohne dass gleichzeitig die Beiträge zur
Krankenversicherung und damit die Lohnnebenkosten der Unternehmen steigen.
Nun stellt allerdings eine
derartige Abkehr vom Solidarprinzip, von der sozialstaatlichen Garantie einer
weit gehenden Zugangsgleichheit zu den Leistungen des Gesundheitssystems, einen
tief greifenden Einschnitt in ein demokratisches Gleichheitsprinzip dar.
Selektionsprozesse, wie sie für eine zukünftige Zuteilung oder Vorenthaltung
von medizinischen Leistungen erforderlich sind, stehen von daher unter einem
hohen Druck, ihre Kriterien legitimieren zu müssen. Ein zunehmend größer
werdender Teil der bisher durch die gesetzlichen Krankenversicherungen abgedeckten
medizinischen Leistungen, deren finanzieller Umfang wahrscheinlich in nicht
allzu ferner Zeit den Umfang der als notwendig eingestuften Leistungen
übersteigen wird, muss als nicht wirklich notwendig definiert werden.
An dieser
Stelle erhält das System der Qualitätssicherung, wie es seit 1995 durch
gesetzliche Vorgaben im Sozialgesetzbuch V verankert ist, seine zentrale,
nämlich ordnungspolitische Funktion, die Selektion von medizinischen
Institutionen, Methoden und Techniken zu legitimieren.(2) Unentbehrlich hierfür
ist ein einheitliches codierbares Diagnoseschema, wie es mit dem ICD 10
inzwischen schon staatlich verordnet ist. Unentbehrlich auch ein umfassendes
Gebäude von Leitlinien und standardisierten Behandlungsmanualen, um dem
zukünftigen abgespeckten Standard der medizinischen und psychotherapeutischen
Behandlungen dennoch das Etikett der Rationalität und des medizinisch
Ausreichenden aufkleben zu können.
Die so genannten Disease-Management-Programme,
wie sie für Diabetes, koronare Herzerkrankung, obstruktive Lungenerkrankungen
und Brustkrebs derzeit auf den Weg gebracht werden , sind die Speerspitze einer
Offensive gegen die bisherige Priorität der persönlichen Arzt-Patient-Beziehung
und deren Ersetzung durch eine Anbindung an unterschiedliche
Management-Programme, die nicht mehr notwendigerweise von Ärzten geleitet
werden müssen. Die üblicherweise in den Kontext einer persönlichen
Arzt-Patient-Beziehung eingebetteten Einzelmaßnahmen sind in diesen Programmen
aus diesem Zusammenhang gelöst und in kleinste Einzelsegmente zerlegt, sodass
deren Handhabung sowie Verwaltung durch ein bürokratisches System möglich wird.
Hier kann meines Erachtens von einer zunehmenden Tendenz zur Industrialisierung
der Medizin gesprochen werden. Der Dokumentations- und Datenverarbeitungsaufwand
nimmt hierbei ein Ausmaß an, das von einer herkömmlichen ärztlichen
Einzelpraxis kaum oder nicht mehr zu leisten ist. Das Spannungsfeld zwischen
Individualisierung und Standardisierung, in dem sich die Medizin seit ihrer zunehmenden
wissenschaftlichen Fundierung selbstverständlich bewegt, erfährt eine weit
reichende Veränderung. Die persönliche Arzt-Patient-Beziehung, die auf Vertrauen
und ärztliche Verantwortung aufgebaut war, was natürlich nicht bedeutete, dass
Vertrauen nicht auch missbraucht und teilweise unverantwortlich gehandelt
wurde, wird tendenziell durch ein technokratisches System ersetzt, in dem
Standardisierbarkeit, statistische Rationalität, elektronische Dokumentation
und Vernetzbarkeit sowie Transparenz eine neue, evidenzbasierte, rationale
Basis bilden sollen.
Bei dieser so genannten Evidence
Based Medicin (EbM), einem Begriff, dem in der aktuellen gesundheitspolitischen
Diskussion eine zentrale Rolle zukommt, droht aus dem Blick zu geraten, dass
Ärzte keine Krankheiten, sondern kranke Menschen behandeln. Die
höchstpersönliche Beziehung zwischen Patient und Arzt kann nur dann optimale
therapeutische Wirksamkeit entfalten, wenn sie der Individualität beider
Partner gerecht wird und nicht durch von außen in dieses Beziehungsgeflecht hineingetragene
Standards und Reglementierungen gestört wird. Epidemiologische Erkenntnisse,
statistische Mittelwerte oder so genannte Restrisiken sind für den Vergleich
und die Beurteilung von alternativen therapeutischen Konzepten unentbehrlich
und es ist völlig unstrittig, dass Standardisierungen in vielen Bereichen zu
besseren Behandlungserfolgen geführt haben. Als ein Beispiel seien hier nur die
Erfolge in der Behandlung kindlicher Leukämien angeführt. Dennoch sind
Standardisierungen für die Behandlung des individuell kranken Patienten nur von
eingeschränkter Bedeutung. Kranke Menschen sind niemals nur Objekt, sondern
Subjekt mit einer ganz eigenen Biographie, die Symptomatik, Verlauf und
Bewältigung einer Krankheit wesentlich beeinflusst. Standards oder Leitlinien
können ärztliche Verantwortung nicht ersetzen, ohne dass es zu einer
verantwortungslosen Medizin kommt, die sich nicht mehr dem einzelnen Patienten,
sondern nur mehr der regulären Erfüllung von Leitlinien und Vorschriften
verantwortlich fühlt und bei der die Vermeidung juristischer Risiken höchste
Priorität hat.
Derzeit dominiert in Medizin und
Gesundheitspolitik der Traum der Neopositivisten, mit Hilfe formalisierter
Schlussfolgerungen zur Wahrheit zu gelangen. Als evident soll ausschließlich
dasjenige gelten, was bestimmten formalisierten Verfahren der Generierung,
Auswertung und Präsentation von Daten gehorcht.(3) Die Überlebenschancen im
EbM-Wettstreit sind ungleich verteilt. »Goldstandard« der evidenzbasierten
Medizin sind randomisierte doppelblinde Studien, deren Durchführung derart kostspielig
ist, dass die klinische Forschung zunehmend nur noch im Bereich der pharmazeutischen
Industrie stattfindet, wo sie allerdings Zulassungs- und Marketingsinteressen
zu gehorchen hat. Die Folge ist, dass mit Priorität nur Therapien erforscht und
mit randomisierten Studien für die Evidenzbasierung gekürt werden, die patentierbar
und Gewinn versprechend sind. Verlierer unter den Spielregeln der evidenzbasierten
Medizin sind dagegen Therapien ohne Aussicht auf breite Vermarktung oder ohne
finanzstarke industrielle Rückendeckung: zum Beispiel alle nicht pharmakologischen
oder technisch gestützten Therapien. Ungeachtet ihrer Wirksamkeit besteht für
diese durch die EbM-Vorgaben benachteiligten Therapien die Gefahr, dass sie
sukzessive aus der Patientenbehandlung verschwinden. Die Akzeptanz des Konzepts
der evidenzbasierten Medizin fördert von daher eine Industrialisierung und Ökonomisierung
der Medizin. Der Stellenwert des auf ärztlicher Erfahrung beruhenden
individuellen Urteils droht als grundsätzlich unzuverlässig eliminiert zu
werden. Solange man wie die Befürworter des Konzepts der EbM davon ausgeht,
dass der Arzt von sich aus nicht beurteilen kann, ob er mit einer Behandlung
dem konkreten Patienten hilft, nicht hilft oder schadet, muss er folgerichtig
ferngesteuert werden durch beispielweise Epidemiologen, Statistiker, Staat und
Krankenkassen. Der Arzt als autonome Instanz mit einer eigenen Verantwortung
wird unter dieser Prämisse entmündigt und wird zum Erfüllungsgehilfen
beziehungsweise -beauftragten klinischer (industrieller) Forschung.
Einhergehend
mit der Technisierung und Ökonomisierung der Medizin ist eine Veränderung
der diesbezüglichen Begrifflichkeit zu beobachten. Aus Patienten werden
Kunden, aus Ärzten Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen. Die
Arzt-Patient-Beziehung, in der Vertrauen eine grundlegende Rolle spielt, wird
zunehmend in ein merkantiles Vertragssystem verwandelt. Größtmögliche
Transparenz des Marktes wird gefordert, damit der Kunde dieses Marktes in der
Lage ist, seine Marktentscheidungen auf der Grundlage rationaler Kriterien zu
treffen. Die »Befreiung« des Patienten aus dem paternalistisch geprägten
Arzt-Patient-Verhältnis wird unter dem Schlagwort des mündigen und souveränen
Kunden gefeiert. Unbeachtet bleibt hierbei, dass die Asymmetrie des
Arzt-Patient-Verhältnisses, wenn überhaupt, auch durch die
Informationsmöglichkeiten des Internets höchstens verringert, aber nicht
beseitigt werden kann. Für den Medizinkunden verschiebt sich das Problem des Vertrauens
stattdessen nur von der Person des Arztes auf zum Beispiel die Verantwortlichen
von medizinischen Webseiten im Internet, die in vielen Fällen – für den Kunden/Patienten
undurchschaubar – von Pharmaunternehmen oder anderen Interessengruppen
finanziert oder gesponsert werden. Das in der augenblicklichen Reformdebatte
viel gepriesene hyperrationale Bild eines mündigen Patienten, der sich als
individueller Nutzenmaximierer verhält, relativiert sich natürlich auch in
erheblichem Ausmaß, wenn man die Feststellung der Krankenkassen beachtet, dass
die Versicherten einen Großteil ihrer individuellen Gesundheitskosten durch
eine Inanspruchnahme medizinischer Leistungen innerhalb der letzten Monate
ihres Lebens verursachen. Es liegt auf der Hand, dass die »Konsumentensouveränität«
in dieser Phase des letzten Lebensabschnittes in der Regel erheblich
eingeschränkt ist.
Für den »harten Kern« von
Krankheit gilt, dass der Patient den Zeitpunkt und die Art der medizinischen
Leistung, die er in Anspruch nehmen kann, nicht selbst voraussehen kann.
Krankheit ist ein vom Individuum kaum steuerbares Ereignis, sondern ein
allgemeines Lebensrisiko. Erkrankungen gehen mit Unsicherheit, Schwäche, Abhängigkeit
und Hilfsbedürftigkeit einher, alles Faktoren, die in einem durch Marktmechanismen
bestimmten Gesundheitsbereich eine Chancengleichheit der Marktteilnehmer von
vorneherein verunmöglichen. Wettbewerb und Markt zwingen darüber hinaus zur
Erschließung neuer, möglichst profitträchtiger Märkte.(4) Das Ziel eines marktbestimmten
Gesundheitssystems ist tendenziell die Umwandlung aller Gesunden in Kranke,
wobei der »harte Kern« von Krankheit für die Akteure eines rein marktbestimmten
Gesundheitssystems nur von randständigem Interesse sein wird.
Aus der Erkenntnis heraus, dass
die Marktmechanismen im Gesundheitswesen teilweise nicht funktionieren,
versuchen Ökonomen den Wert medizinischer Maßnahmen mittels »Health Technology
Assessments« zu bestimmen. »Das Versprechen zahlreicher Gesundheitsökonomen
geht dahin, mit Hilfe eines universalen Effektivitätsmaßes nicht nur
Interventionen mit ähnlichem Behandlungsziel ..., sondern auch völlig
unterschiedliche medizinische Maßnahmen anhand ihrer relativen Kosteneffektivität
vergleichbar zu machen und damit rationale Entscheidungen über eine optimale Ressourcenallokation
zu ermöglichen.«(5)
In ihrer praktischen Umsetzung
entspricht die Logik der Kosteneffektivität einem auf medizinische Konsequenzen
fokussierten utilitaristischen Kalkül. Andere Werte als die Maximierung des
durchschnittlichen medizinischen Nutzens werden damit systematisch
ausgeklammert. »Betrachtet man Gesundheit jedoch aus einer philosophisch-ethischen
Perspektive als ein ›Konditionales Gut‹, dessen hinreichendes Vorhandensein die
Realisierung individueller Lebensentwürfe erst ermöglicht, so wirft dies anders
geartete gerechtigkeitsethische Fragen auf, die den Bezugsrahmen des
medizinischen Utilitarismus sprengen.«(6) Eine Fokussierung auf die Maximierung
des durchschnittlichen medizinischen Nutzens steht zum Beispiel in diametralem
Gegensatz zur derzeitigen gesellschaftlichen Präferenz der Hilfe für
Schwerkranke im Vergleich zur Steigerung des Wohlbefindens wenig
beeinträchtigter Patienten.
Wie es
aussieht, wenn das Gesundheitssystem zunehmend unter ein ökonomisches Diktat
gerät, lässt sich auch schon heute unter anderem in den USA und in Großbritannien
studieren. Unter der Sichtweise einer ökonomischen Rationalität macht es
natürlich Sinn, dass kostenträchtige medizinische Leistungen mit Austritt aus
dem Erwerbsleben rationiert werden. Der Einsatz eines künstlichen Hüftgelenkes
zu Lasten des allgemeinen Gesundheitssystems ist in Großbritannien ab dem 70.
Lebensjahr kaum mehr möglich. Die entsprechende Äußerung des Vorsitzenden der
Jungen Union Mißfelder, dass ab einem bestimmten Alter auch Krücken statt eines
künstlichen Hüftgelenks eine ausreichende medizinische Versorgung sein könnten,
pointiert die Richtung, in die sich der Diskussionsprozess in den letzten
Jahren und Monaten auch in Deutschland bewegt hat. Jedes formalisierte medizinische
System, das im Widerspruch zur Beobachtung, Erfahrung, Urteilskraft und
Kreativität des Arztes steht und die Notwendigkeit eines Schutzes der
persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient missachtet, wird über kürzer
oder länger zu sozialer und menschlicher Destruktion führen.
Ein Forscherteam um den
kanadischen Internisten P. J. Devereaux von der McMaster-Universität in
Hamilton/Ontario hat Studien ausgewertet, in welche die Daten von 38 Millionen
Männern und Frauen eingegangen sind, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren
an einem von insgesamt 26000 amerikanischen Hospitälern stationär behandelt
wurden. Dabei ergab sich als Resultat, dass in den auf Gewinn ausgerichteten
Kliniken in privater Trägerschaft die Sterblichkeit höher war als bei solchen
Kliniken, die keine Aktionäre oder Investoren zufrieden stellen müssen. Das
schlechtere Ergebnis der profitorientierten Krankenhäuser dürfte den Autoren
zufolge in erster Linie auf einen Mangel an qualifiziertem Personal
zurückgehen, weil mit der Einsparung von Personal Profite erhöht werden können.
Wie die Autoren schreiben, verfügen solche Kliniken im Durchschnitt über
deutlich weniger ausgebildete Fachkräfte als die anderen Zentren. Gestützt
werden diese Ergebnisse von einer amerikanischen Erhebung, an der sich 3800
amerikanische Krankenhäuser beteiligten. Das Risiko tödlicher Komplikationen
erwies sich dabei umso größer, je weniger Ärzte und qualifizierte
Krankenschwestern pro Krankenbett zur Verfügung standen. Vergleichbar
schädliche Auswirkungen hatte ein administrativer »Wasserkopf«: Die Sterblichkeit
der Patienten erhöhte sich in dem Maße, wie die Klinikverwaltung ihr Personal
aufstockte.(7)
Es bleibt abzuwarten, ob die hier
dargestellte, derzeit fast unwiderstehlich anmutende Tendenz einer Industrialisierung
der Medizin das bundesrepublikanische Gesundheitswesen dem kapitalistischen
Verwertungsinteresse entsprechend weitgehend umgestalten kann, oder ob die
hierfür verwendeten Instrumente sich nicht in naher Zukunft als pseudorational
erweisen werden. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass zum Beispiel die mit viel
politischem Druck vorangetriebenen Disease-Management-Programme einen
Milliarden teuren Datenfriedhof produzieren könnten, ohne dass die angestrebte
Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker erreicht werden kann.
1
Bruns, Georg: »Rationalisierung und Rationierung – ein neues
Denken in der Medizin und seine Bedeutung für die Psychoanalyse«, in: Psyche-Z
Psychoanal 55, 2001, S. 738–750.
2
Ebd., S. 743.
3
Kienle, G. S: »Evidenzbasierte Medizin – Konkurs der
ärztlichen Urteilskraft«, in: Deutsches Ärzteblatt 2003; 11: A 2142–2146
(Heft 33).
4
Dörner, K.: Deutsches Ärzteblatt 2002; 99: A
2462–2466(Heft 38).
5
Schlander, M.: Deutsches Ärzteblatt 2003; 100: A
2140–2141(Heft 33).
6
Ebd., S. 2141.
7
Lutterotti, N. von: »Patienten in der Profitfalle«, in: FAZ,
10.4.03.