Ereignisse
& Meinungen
Balduin
Winter
Europa,
verfassungslos
Manche
sprachen nachher von Debakel oder Fiasko. Und mahnten Besonnenheit ein. Zuvor
hatten sie auf der Regierungskonferenz von Brüssel im Dezember 2003 den Entwurf
des Verfassungskonvents scheitern lassen. Das lag nicht an den Unzulänglichkeiten
des Vertragentwurfs, sondern an den politischen Widersprüchen unter den Beteiligten.
Die Verfassungskonferenz spiegelte also den aktuellen politischen Zustand
Europas.
Doch die
Erklärungen, die dazu abgegeben wurden, waren sehr unterschiedlich. In seiner
Rede zur Eröffnung des Internationalen Bertelsmann Forums (9.1.04) stellte
Außenminister Joschka Fischer fest: »Ich verstehe zum Beispiel gut, dass es manchen
Staaten Mittel- und Osteuropas, die erst vor wenigen Jahren ihre volle staatliche
Souveränität zurückgewonnen haben, nicht leicht fallen mag, Teile dieser Souveränität
nun auf Brüssel zu übertragen.« Bei aller Diplomatie bleibt Fischers Gedanke
geopolitisch etwas einseitig. Die Konferenz scheiterte ja nicht einfach an den
östlichen Neueuropäern, sprich: Polen. Die NZZ, neutraler Beobachter,
ging in ihrem Leitartikel unmittelbar danach näher darauf ein: Ihr Kommentator
fand es erstaunlich, wie wenig Zeit sich die Brüsseler Versammlung für die
Sache nahm, obwohl, anders als in Nizza, kein Zeitdruck existierte; dass es für
Chirac und Schröder ein Leichtes war, »die Schuld für den Eklat« den Polen und
den Spaniern in die Schuhe zu schieben. »Diese beiden Länder haben ihre
nationalen Interessen in aufreizender Weise vor europäische Notwendigkeiten
gestellt, was hinsichtlich Polens, das ja erst im Mai 2004 der EU beitreten
wird, besonders übel vermerkt wurde. Aber auch Frankreich und Deutschland
bewegten sich nicht, beharrten kompromisslos auf ihren Positionen.« Woraus
gefolgert wurde, dass »Absicht« dahinter steckte, »um das Terrain zur
Wiederbelebung der alten Idee eines ›Kerneuropas‹ vorzubereiten«. Dieser seinerzeit
vom außenpolitischen Chefideologen der CDU, Karl Lamers, entwickelte Gedanke
ist unter der Hand ins rhetorische Arsenal sozialdemokratischer Publizisten übergegangen.
Klaus Harpprecht stellt in den Frankfurter Heften (1+2/04) »die Union in
der Union« als »rettenden Ausweg« dar: »Das wichtigste und womöglich
produktivste Element des Grundgesetzes der Union ist ohnedies der Artikel 43,
der die Mitgliedstaaten zu einer verstärkten Zusammenarbeit ermächtigt, sofern
die angestrebten Ziele ›nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes von der
Union insgesamt‹ verwirklicht werden können und sofern ›mindestens ein Drittel
der Mitgliedstaaten‹ an der intensiveren und weiter gehenden Kooperation
beteiligt ist. Der Zustand wird erreicht sein, noch ehe es die Verfassung gibt:
... Die Konstruktion einer Union in der Union sollte nun ohne Zögern beginnen.
Die Polen, die Spanier, vielleicht sogar die Tschechen würden es uns eines
nicht zu fernen Tages danken.« Als Voraussetzung spekuliert er über die dank
Washington wieder erstarkte Achse Paris-Berlin, mit der sich ein »Europa der
zwei Geschwindigkeiten« – wiederum ein Begriff aus der Europa-Requisite –
etablieren könnte.
Alt, aber
gut und bewährt? Der forsche Ton verdeckt eher Ratlosigkeit, zumal die
Übertragbarkeit alter Konzepte, die damals nur Konzepte blieben, äußerst beschränkt
ist. Denn zwischen den Neunzigern und heute liegt ein großer Unterschied. Heute
geht es nicht um motivierende und beschleunigende Konzepte für ein relativ
einiges Kleineuropa. Mit der Aufnahme der zehn ost- und südeuropäischen Staaten
ist ein wesentlicher Teil Europas assoziiert, doch mit erheblichen politischen
Differenzen. Die Konfliktlinien verlaufen dabei nicht zwischen alten und neuen
Mitgliedern, sondern quer durch Europa. In einem Interview mit der FAZ
(22.1.04) hat sich Helmut Kohl geäußert. »Ohne den Streit über den Irak-Einsatz
wäre der Brüsseler EU-Gipfel nicht gescheitert«, stellt er gleich eingangs
fest. Während Harpprecht seine Gedanken in eurozentristischer Manier von einer
Folge des US-europäischen Verhältnisses her entwickelt, geht Kohl vom Ganzen
aus. Dementsprechend lehnt er, gleichwohl immer ein glühender Anhänger der
deutsch-französischen Freundschaft, »Kerneuropa« und ein »Europa der zwei
Geschwindigkeiten« ab. Ihm geht es darum, die strategische Partnerschaft mit
den USA wieder herzustellen, um über diesen Weg die europäischen Widersprüche,
ohne deutsch-französische Sonderstellung, insbesondere mit den US-freundlichen
Staaten auszutarieren; das benötigt bestimmt mehr Zeit, insbesondere aber die
Bereitschaft zum Kompromiss. Ein »Kerneuropa« hätte vielleicht in den Neunzigern
beschleunigend wirken können, angesichts der Weltlage kann es heute
spalterische Tendenzen entwickeln. Auch Ulrike Guérot von der DGAP sieht darin
bestenfalls eine taktische Plänkelei, wovon die gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik unbedingt herausgehalten werden muss (Internationale
Politik, Januar 2004). Hinsichtlich der Stimmenverteilung bemerkt Kohl:
»Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Größe eines Landes müsse sich
präzise im Anteil der Stimmen widerspiegeln. ... Das ist nicht einmal beim
mächtigsten Parlament der Welt, dem Senat der Vereinigten Staaten, der Fall.
Dort hat jeder Bundesstaat zwei Sitze, obwohl die Einwohnerzahl des größten
Bundesstaates Kalifornien rund vierzigmal größer ist als die des kleinsten
Vermont.«
Die
Debatte dauerte also nicht lange. Es ging, so Bernard Cassen in Le Monde
diplomatique vom Januar 2004, im Wesentlichen nur um »ein Dutzend Artikel
des Verfassungsentwurfs, der in den ersten drei Teilen 342 Artikel, im vierten
Teil ... 10 weitere Artikel und dazu acht Protokolle und Erklärungen umfasst.
Verfolgt man die Debatte, so ging es in Brüssel eher um die Machtbefugnisse der
Mitgliedstaaten als um die Kompetenzen der EU als solcher – und schon gar kein
Thema waren ihre Beziehungen zum Rest der Welt.« Dem Ratspräsidenten
Berlusconi, auf Grund der jüngsten Wiederaufnahme gerichtlicher Verfahren nicht
in bester Verfassung, nervten die Querelen um europäische Besitzstandswahrung,
»er reiste schleunigst nach Italien zurück, um sich ein Fußballspiel anzuschauen«.
Wenn Herbert Kremp in der Welt vom 20.1.04 fragt, »ist die Schönheit der
Europa-Idee womöglich längst verblasst?«, so beantwortet sich diese Frage
angesichts des derzeitigen politischen Personals in Europa zu einem Gutteil von
selbst.
Kein Wunder
also, wenn sich noch ganz andere Stimmen melden, kritische Stimmen, die nicht
bloß beschwichtigen und kleinreden und möglichst rasch zur Tagesordnung
schreiten wollen. Ein Kritiker, Marcin Król, kommt aus dem viel geschmähten
Polen, von der Universität Krákow und gibt die Zeitschrift Nowa Res Publika
heraus. In der taz vom 29.12.03 listet er eine Serie von Fehlern auf:
»Der erste Fehler: Eine Verfassung haben zu wollen, ohne über ein Staatsvolk zu
verfügen. In den meisten Fällen ist eine Verfassung nicht Ergebnis der
Anwendung positiven, also gesetzten Rechtes, sondern genau das Gegenteil: Die
Verfassung nimmt Recht, Verhaltensweisen, Bräuche und Werte einer Gruppe, einer
Gesellschaft, einer Nation oder eines Staatenbundes auf und bildet daraus ein
schlüssiges Ganzes, mit dem die betreffende Gesellschaft umgehen und das sie
akzeptieren kann. Die Europäische Verfassung war ein Projekt, nicht ein
Ergebnis sozialen und politischen Verhaltens. Zudem vereint eine Verfassung
grundsätzliche Normen und legt nicht fest, wer wie viele Stimmen hat und welche
Institutionen gegründet werden. Und zuletzt sollte über die Verfassung vom
Europäischen Parlament diskutiert und abgestimmt werden, nach dem Mai 2004.
Dann sollten die Bürger abstimmen – nicht die Nationen, und erst recht nicht
die Regierungschefs.« An diesem Punkt, eine Fundamentalkritik, kann man sich
reiben. Die Verfassungen Europas sind sehr unterschiedlich gebaut. Die
österreichische schreibt zum Beispiel die Staatsorgane und die Zahl der
Parlamentsabgeordneten fest. Zwei Problemkreise, und das ist wichtiger, sind in
Króls Kritikpunkt angerissen, die Frage der Souveränität und die Frage der
Demokratie. Europa hat kein Staatsvolk, weil die Staaten, die Staatsvölker
haben, noch lange nicht dazu bereit sein werden, ihre Hoheitsrechte abzutreten.
Wenn der englische Diplomat Robert Cooper in seinem Artikel »The Post-Modern
State« (in: Mark Leonard, Ed.: Re-Ordering the World, London 2002) eine
Dreiteilung der Welt vornimmt und die EU der postmodernen Welt zuordnet, also
jener Zone, die sich durch offene Grenzen, einen hohen Grad an Vernetzung und
transnationale Institutionen auszeichnet, dann unterschätzt er die unvermindert
starken und sich eher verstärkenden Bezüge zur modernen Welt des Westfälischen
Staatensystems, wo nationale Souveränität im Brennpunkt steht. Europa ist, bei
aller EU-Supranationalität, wesentlich in souveränen Nationalstaaten
organisiert. Von der Frage der Souveränität kann die Frage der Demokratie nicht
losgelöst betrachtet werden. Cooper, der an seinen Kollegen Robert Faßbinder
anknüpft, schreibt weiter: »Ein Hauptproblem für den postmodernen Staat ist es,
dass Demokratie und demokratische Institutionen fest eingebunden in den
Territorialstaat sind. ... Wirtschaft, Gesetzgebung und Verteidigung können in
den internationalen Rahmen in zunehmendem Maße eingebettet werden, auch sind
die Grenzen des Territoriums nicht so wichtig, aber die Identität und die
demokratischen Institutionen bleiben im Wesentlichen national.«
Nun wird
für die EU, altes Übel, immer schon ihr Demokratiedefizit moniert. Bei Król
kommt diese Kritik teils indirekt, teils direkt daher, wenn er sich auf den
Abstimmungsmodus bezieht. Hier befindet er sich in illustrer Gesellschaft, etwa
mit Lord Dahrendorf, der in seinem Buch Auf der Suche nach einer neuen
Ordnung (München, 2003) Larry Siedentop zitiert: »Die demokratische
Legitimität in Europa ist in Gefahr.« Um dann mit dem bissigen Bonmot
aufzuwarten: »Der bittere Scherz ist nicht von der Hand zu weisen: Wenn die EU
um Mitgliedschaft in der EU nachsuchen würde, müsste sie wegen ihres Mangels an
demokratischer Ordnung abgewiesen werden.«
Król wirft
weitere Fehler und Probleme der Verfassungsdiskussion auf, etwa die
Schwierigkeit, was Werte im philosophischen Sinne sind, »ob Europa eher auf
Platon oder auf Jesus Christus basiert«. Weiter moniert er die Unklarheit des
Charakters der EU, ob sie ein Solidarsystem ist oder eine Institution zur
Krisenbewältigung, eine Wirtschaftsgemeinschaft oder eine politische Union,
also ihre Profilschwäche. Das ist nicht Sache der Brüsseler Bürokraten, sondern
der politischen Subjekte, der Nationalstaaten, vom französischen Philosophen
Pierre Manent auf den Punkt gebracht: »Europa lehnt es ab, sich politisch zu
definieren.« Weiter Król in der taz: Die Unentschlossenheit der alten EU
in der Frage der Erweiterung und/oder Vertiefung wirkt sich auf die
Beitrittsländer dahingehend aus, dass diese in der Union vorwiegend ein
wirtschaftliches Gebilde sehen. Überhaupt sollte ein zentrales Thema erst
geklärt werden, bevor über eine Verfassung nachgedacht wird: »Es wurde nicht
offiziell gesagt, aber es ist offensichtlich, dass die europäische Idee auf
einem schwächeren oder stärkeren Gegensatz zu den Vereinigten Staaten gründet.
... Einige Länder wie Polen, Spanien oder Italien sind nicht antiamerikanisch
eingestellt, andere doch. Dies ist ein ernster Punkt, denn einige politische
Führer der EU möchten Europa als Gegenmacht zu den USA aufbauen.«
Dieses
Problem lässt sich freilich nicht durch eine Verfassung bereinigen. Es lässt
sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich gar nicht bereinigen. Eine Reihe von
AutorInnen in wichtigen US-amerikanischen und europäischen politischen
Zeitschriften – siehe dazu die Zeitschriftenrundschau der Stiftung Wissenschaft
und Politik, Januar 2004 – schätzen die transatlantischen Beziehungen
tendenziell pessimistisch ein, ebenso die Chancen für eine mittelfristige
Entwicklung einer europäischen gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Um nur einen Aspekt kurz aufzugreifen: Eine Idee davon,
was die »strategische Unabhängigkeit« Europas kostet, gibt Herfried Münkler in
der mitteleuropäischen Zeitschrift Kafka 11/03: »Die Herstellung einer
solchen strategischen Unabhängigkeit wäre überaus teuer, sie wäre in den
europäischen Gesellschaften politisch kaum durchsetzbar und ist unter den
europäischen Politikern wohl auch nicht ernstlich gewollt. Sie würde, um eine
annähernde Vorstellung von den anfallenden Kosten zu geben, zumindest
zeitweilig auf eine Verdreifachung der gegenwärtigen Rüstungsaufwendungen
hinauslaufen.« ...
Eines ist
klar. Seine Rolle in der Welt wird die Europäische Union immer wieder definieren
müssen, ohne Verfassung, mit Verfassung. Die Verfassung kann ein Schritt seiner
politischen Definition sein, bei weitem nicht der einzige und, wie es aussieht,
nicht der entscheidende. Verfassungslos bleiben, bis die Weltlage geklärt ist,
kann Europa nicht.