Albrecht von Lucke

 

Vorwärts in die Vergangenheit!

 

Zur Zukunft der Grünen

 

Die Grünen sind nach Meinung unseres Autors politisch selbstgenügsam geworden, eine Wohlfühlpartei. Ihre einstige Avantgarderolle, wichtige gesellschaftliche Diskurse anzuzetteln, ist ihr abhanden gekommen. Bindet sie sich zu sehr an die SPD? Wo bleibt ihr Einsatz für »ein gutes Leben«, gegen Sozialabbau, für die Verteidigung sozialer und ökologischer Standards?

 

Für die Grünen könnte 2004 ein gutes Jahr werden – jedenfalls prozentual. Dabei ist die Partei in der Öffentlichkeit keineswegs positiv präsent. Jedoch ob Hanauer Plutoniumfabriken, Gendebatte oder Dosenpfand-Debakel – all das kann den Grünen scheinbar nichts anhaben. Wie erklärt sich dies Paradox? In dem Maße, in dem die SPD in der gegenwärtigen, faktisch großkoalitionären Lage die Union im Wettstreit um die brutalstmögliche Reform schier zu überbieten versucht, werden beide Parteien darüber immer weniger unterscheidbar und die Grünen immer sympathischer. Personifiziert durch der Deutschen mit Abstand liebsten Politiker und dessen Sorgenfalten als gelebten Ausdruck permanenter Maklerschaft im Interesse der einen Welt, stehen die Grünen – ungeachtet aller China-Deals – für das gute Gewissen an der Regierung.

Diese höchst luxuriöse Position stetiger prozentualer Zugewinne hat die grüne Partei jedoch in wachsendem Maße selbstgenügsam gemacht. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Grünen nur noch für gefühlte gute, weniger für gut gemachte ökologische Politik. Kurzum: Die Grünen von heute, lange schon nicht mehr störrisch oder gar widerspenstig, sind zur reinen Wohlfühlpartei geworden. Damit aber droht die Partei ihre eigentliche Existenzberechtigung zu verlieren – ungeachtet der Chancen, die sich gerade derzeit bieten.

Wir erleben gegenwärtig die ironische Situation, dass die großen Parteien ihre Reformen unter sich ausmachen – jedenfalls im Bereich der Ankündigungspolitik. Wenn aber die »radikalen Reformen« in diesem Jahr der 14 Wahlen vermutlich doch nicht stattfinden werden, wird umso stärker auf dem Feld der symbolischen Politik agiert werden. Nachdem die Elite-Sau mit großem Radau durchs mediale Dorf getrieben wurde, scheint nun der zweite Begriff von zumindest größerer Dauer und Haltbarkeit zu sein, der da heißt: »Innovation«.

Damit recycelt der Kanzler jene alte Vokabel, mit der er immerhin schon 1998 seinen Wahlkampf bestritt – damals allerdings noch von Lafontaines »Gerechtigkeit« kongenial sekundiert. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als wolle er nach gut fünf Jahren mit dem gleichen Versprechen (von vorne) anfangen. Die Amputation um den Begriff der Gerechtigkeit wurde allerdings bereits im Elitediskurs schmerzlich deutlich – und scheint der SPD auch weiter verheerend zu bekommen. Eines ist jedenfalls durch die verquere Elite-Debatte und die durch sie ausgelösten Proteste einmal mehr klar geworden: Diese SPD bringt die Zeit und ihre Anforderungen inhaltlich schon lange nicht mehr auf den Begriff. Im Gegenteil: Die Halbwertszeit ihrer Slogans wird immer kürzer, die Verbindlichkeit der Partei damit immer geringer. Nach »Neuer Mitte« kommt »Zivilgesellschaft«, kommt »Elite« – und keiner weiß, welche Worthülse als nächste dran ist.

Hier aber läge eigentlich die Chance der Grünen. Beweglicher als die großen Tanker der Volksparteien, müssten sie als kleine Partei weit eher in der Lage sein, das Zukünftige vorzudenken, ist der Posten der Avantgarde also ihr Vorrecht. Zu dessen Ausfüllung sind sie aber offensichtlich nicht mehr in der Lage.

 

Grüne am Rocksaum der SPD?

In ihrer Gründungszeit – im Zeichen von Wertewandel und Tschernobyl – war die Partei tatsächlich auf der Höhe der Herausforderungen der Zeit, sprich: gesellschaftliche Speerspitze. In den Achtzigerjahren waren die Grünen der wertkonservative Stachel im Fleisch einer (verglichen mit heutigen Maßstäben allerdings noch) äußerst zurückhaltend wachstumsfixierten Gesellschaft. Und auch in den Neunzigern führte die Partei viele Debatten stellvertretend für die Gesellschaft. Davon kann heute keine Rede mehr sein, stellen die Grünen allenfalls die letzte Nachhut im Innovationsdiskurs. Auch die in jeder Notlage aufs Neue angestimmte Litanei vom »Reformmotor« der Koalition kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese grüne Partei im »Reform«-Konzert der beiden Großen ebenso wenig eine Rolle spielt wie bei der Formulierung von tauglichen Alternativen. In den langen Jahren unter der Realo-Keule Joschka Fischers handzahm geworden, wurden die Grünen am Rocksaum der SPD jeglicher Rest-Subversivität beraubt.

Heute haben sie somit ihre einstige innovative Existenzberechtigung weitgehend verloren. Ihre angepasste Partei- und Fraktionsführung spricht schon lange nicht mehr von den »Grenzen des Wachstums«, sondern lieber vom »Wachstum der Grenzen«. Nachhaltigkeit ist längst zum Plastikwort verkommen – unendlich dehnbar und unendlich nichts sagend. Heute sind die Grünen eine Wachstumspartei unter anderen; darüber kann auch das gerne bemühte Label vom qualitativen Wachstum nicht hinwegtäuschen.

Bittere Ironie: Es mutet regelrecht grotesk an, dass sich heute der heimliche Gründungsvater der Grünen, nämlich Helmut Schmidt, als Herausgeber der Zeit zum letzten Kapitalismuskritiker und linken Gewissen seiner Partei aufschwingt – und damit offensichtlich wesentlich näher am Puls der Zeit und ihrer Proteste als seine ehemaligen Antipoden ist. Wenn der einstige leitende Angestellte des Modells Deutschland den Raubtierkapitalismus geißelt und die versagenden Manager in die Mangel nimmt, wird er – unterstützt vom einstigen Mercedes-Manager und Parteigenossen Edzard Reuter – zum möglichen Stichwortgeber der Globalisierungskritiker – eine Rolle, die eigentlich den Grünen zukommen müsste. Über ihre ausgesprochen bequeme Rolle in der Koalition hat die Partei den einstigen radikal-gesellschaftskritischen Führungsanspruch jedoch längst drangegeben.

Dabei hätte die Partei derzeit alle Möglichkeiten zu größerer Widerspenstigkeit. Denn der Wind in der Koalition hat sich längst gedreht. Faktisch hat sich das einstige Abhängigkeitsverhältnis radikal umgekehrt, hängt die SPD am Saum der Grünen. Heute kann die SPD nicht von den Grünen lassen – bei Gefahr des eigenen Untergangs. Das aber eröffnet den Grünen (wenigstens) intellektuellen, geistigen Spielraum. Faktisch macht die Partei von diesem jedoch kaum Gebrauch. Selbst eine FDP zu Kohls Zeiten hätte hier weit mehr herausgeholt – allein schon zum Zweck der eigenen Profilierung.

Anders die Grünen: So sehr fixiert über ihre gut zwanzigjährige Parteigeschichte auf den Kampf mit der FDP um den vermeintlichen dritten »Platz an der Sonne« im Parteiensystem, haben sie Angst vor allem vor einem, nämlich vor der Opposition. Lieber geht die Partei auf Nummer sicher und verlässt sich darauf, als das kleinere Übel auch bei der nächsten Wahl wieder gewählt zu werden.

Mit verhängnisvollen Folgen: Vor zwanzig Jahren wäre der Partei unter den Studierenden an den Universitäten im Zuge der gegenwärtigen Politisierung ein natürliches Nachwuchs- und Sympathisantenreservoir erwachsen. Heute fällt der Vorsitzenden Beer dagegen nichts Besseres ein, als die Studierenden pauschal als Reformverweigerer zu denunzieren.

Dabei liegen die Chancen der Grünen tatsächlich auf der Hand: Als kleine bewegliche Partei, wenig gebunden an vergleichsweise langwierige Meinungsfindungsprozesse, verfügen sie nach wie vor über die größten Optionen, sich an die Spitze der nationalen wie europäischen Bewegung gegen Sozialabbau und zur Verteidigung europäischer Standards, sozialer und ökologischer Art, zu setzen.

Immerhin scheint gerade Fischer jetzt die mögliche Gunst der Stunde eigener Intervention erkannt zu haben, wenn er vor »naivem Fortschrittsglauben« der gegenwärtigen Innovationsdebatte warnt. Während die SPD sich anschickt, ihr Berliner Programm von 1989, Abbild und Höhepunkt der damaligen sozial-ökologischen Debatten, endgültig in den Orkus der Geschichte zu jagen, wären die Grünen als die (einstigen) eigentlichen Verfechter dieser Ideen berufen, diese auf die europäische Ebene zu transformieren. Eine ideale Möglichkeit dafür bietet der Gründungsparteitag der gesamteuropäischen grünen Partei am 20. Februar vor den Europawahlen am 13. Juni. (Immerhin brachte es jüngst selbst die längst marginalisierte europäische Linke bei ihrem europäischen Konstituierungsparteitag unter Beteiligung der PDS zu einem medialen Achtungserfolg.)

Mit Außenpolitik, Umwelt und Ernährung besetzen die Grünen zentrale Felder einer europäischen Zukunftspolitik. Die Innovationsvorstellung des Kanzlers, bezeichnenderweise getrieben von der stupiden Machbarkeitsfantasie des »unfallfreien Autos«, müssten sie mit dem menschlichen Faktor konfrontieren und konterkarieren. Dafür bräuchte es aber eine zumindest leitbildhafte Vorstellung von konkretem »guten Leben«. Das Plastikwort der Nachhaltigkeit kann dies offensichtlich nicht leisten. Vielmehr käme es darauf an, das Modell eines ökologisch-solidarischen Europa als mögliche Alternative zur blind wachstumsfixierten neoliberalen Globalisierung zu skizzieren, die derzeit auch in Deutschland massiv vorangetrieben wird.

 

Zurück in die Opposition?

Damit die Grünen wenigstens in Ansätzen zur alten Widerspenstigkeit und gesellschaftskritischen Auseinandersetzung zurückfänden, wäre es allerdings erforderlich, dass sie die fast sklavische Bindung an die SPD überwinden. Das Risiko, das die Partei damit eingeht, ist nicht einmal groß. Schon heute befindet sie sich – eher wider Erwarten – in der zweiten Legislaturperiode, und eine dritte wird es angesichts der anhaltenden Schwäche der SPD ohnehin nicht geben, weder für die Grünen noch für die SPD – es sei denn mit der Union. (In diesem Fall aber hätten die Grünen mit jenen von einst allerdings nur noch sehr wenig zu tun.) Damit also haben die Grünen ihr Regierungssoll eigentlich längst übererfüllt – und sollten ihre zukünftigen Möglichkeiten in der Opposition ins Visier nehmen.

Völlig kontraproduktiv sind dagegen die jetzt, scheinbar fast zwangsläufig, wieder einsetzenden Debatten um mögliche schwarz-grüne Koalitionen. Man entkommt der babylonischen Koalitions-Gefangenschaft nicht, indem man sich mangels eigener Konzepte in die nächste Notgemeinschaft flüchtet. Im Gegenteil: Nichts könnte die inhaltliche Entleerung deutlicher zum Ausdruck bringen als permanente Koalitionsspekulationen zur Befriedigung politischer Eitelkeiten im Wege medialer Selbstbespiegelung.

Wenn die Partei derzeit schon nicht die treibende Rolle in den gesellschaftlichen Diskussionen spielen kann, so müsste sie doch zumindest den Anschluss an die Debatten wieder suchen, müsste sie ihre Kontakte zu den neuen aufkeimenden Bewegungen wieder herstellen. Daniel Cohn-Bendit hatte Recht, als er nach den Protesten von Genua in der neuen globalisierungs-, sprich: kapitalismuskritischen Bewegung die neue Avantgarde des 21. Jahrhunderts erkannte. Kleine Teile der Partei haben das anscheinend schon begriffen. Jürgen Trittin jedenfalls meinte man die alte Freude an der Provokation deutlich anzusehen, als er jüngst das größte Innovationshindernis in Deutschland mit drei Buchstaben, für BdI, benannte und damit dem anwesenden Ex-Chef Hans-Olaf Henkel als Vertreter der industriellen Lobbys den Stempel des eigentlichen Reformverweigerers verpasste. Wenig spricht allerdings derzeit dafür, dass auch die handzahme Partei diesem bissigen Beispiel in Zukunft folgen wird.