Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie
Im ersten Teil seines Essays über Geschichtstheologie und Kirche skizzierte unser Autor die neutestamentarische Ereignisgeschichte im Spannungsfeld des damals vorherrschenden Nihilismus, des alttestamentarischen strafenden Gottes und einer sich ankündigenden Heilsgeschichte. Auf diesem Boden arbeitete er den diskursiven Begriff der »Geschichtsunterbrechung« heraus – jenseits der Einengungen der heute üblichen vom Fortschrittsdenken geprägten Geschichtsbegriffe.
Teil zwei befasst sich mit dem Missionsauftrag der Kirche. Missionsgeschichte als Kommunikationsgeschichte, als Prozess eines Austausches, nicht als Dogma der Unfehlbarkeit. Als wirkungsmächtiges Pendant zur christlichen Endzeittheologie sieht unser Autor die marxistische Revolutionstheorie. Er zeigt die besondere Nähe des Marx’schen und des theologischen Geschichtsbildes, die Analogien der jeweiligen Institutionen, die die »historische Mission« zu erfüllen haben. Und das Versagen der Marx’schen Strategie in der vermeintlichen Geschichtsunterbrechung, in der das Proletariat der Welt hätte leuchten sollen.
Den Weg der Kirche nachzeichnend stellt sich die Frage, in welchem Kairos der Geschichte wir uns heute befinden. Kann die Kirche noch einmal eine Antwort geben?
Als
ich
Mit großem Plan hierher kam,
auch bestärkt
Darin durch Träume: dass es
hier so kalt
Sein könnte, hab ich nicht
geträumt.
Die Kirche
existiert um der Mission willen.(1) So haben denn neuere Versuche, den Faden
der Geschichtstheologie wieder aufzunehmen, die Geschichte des Verhältnisses
von Kirche und Welt als Missionsgeschichte zu schreiben versucht. Das kann
nicht anders sein. Die Frage ist nur, was wir unter »Mission« verstehen. Das
Verständnis hängt wie immer von den Kontexten ab, in die wir das zu Verstehende
stellen.
Nach dem
biblischen Missionsauftrag soll für niemanden die Welt untergehen, bis er oder
sie die christliche Predigt gehört hat und Gelegenheit hatte, sich taufen zu
lassen.(2) Nun sahen wir, dass die neutestamentlichen Aussagen nicht zufällig
in schwarzer Zeit entstanden sind und sich zuerst auf sie beziehen. Wir werden
also auch den Missionsauftrag so lesen, dass er vor allem dazu da ist, den im
Nihilismus lebenden Menschen Hoffnung zu geben. Natürlich wird Mission in
besseren Zeiten dadurch nicht ausgeschlossen. Schon zur Vorbereitung der
Mission im Nihilismus ist sie unabdingbar. In diesem aber vor allem, der
historischen Notzeit, in der für die Bürger eines endenden Reichs die
Geschichte selber aufzuhören scheint, sollen sie glauben können wie Jesus, den
auch nihilistisches Leid nicht irre machte. »Der Messias musste leiden«, sagt
Paulus der Apostelgeschichte zufolge, wobei er sich auf einen Text aus der
babylonischen Gefangenschaft bezieht.(3) Und weiter: »Denn so hat der Herr uns
geboten: Ich habe dich bestellt zum Licht der Völker, dass zur Rettung du
werdest bis ans Ende der Erde.«(4) Auch dieses Gebot ist während der
babylonischen Gefangenschaft entstanden. Es wird hier nur zitiert, das heißt es
ist von Jesus nur weitergegeben worden.(5)
Da das
Gebot zu den zwölf Stämmen Israels spricht, hat Jesus aus der Menge
seiner Jünger zwölf Sendboten (»Apostel«) bestellt, die Israel zur
Mission zurüsten sollten.(6) Das war seine Vorstellung vom weiteren
Geschichtsverlauf, mit der er am Kreuz scheiterte. Schon an diesem Scheitern
und seiner Konsequenz, der Entstehung der Heidenkirche, sehen wir, dass wie
jede Kommunikation auch die, die »Mission« genannt wird, nicht nur einseitig
»vom Sender zum Empfänger« läuft. Missionsgeschichte ist offene
Kommunikationsgeschichte, deren Zwischen- und gar Endergebnisse niemand
voraussieht. In jeder offenen Kommunikation wird der ursprüngliche Sender, wenn
er seine Botschaft wiederholt, nachdem ihm geantwortet wurde, die Botschaft gemäß
der Antwort wiederholen, das heißt er wird sie verändern. Die Kirche aber
hat eine Ursprungsbotschaft, die selbst schon veränderte Wiederholung ist,
indem sie sich auf einen Missionsauftrag beruft, der gar nicht an sie, sondern
an Israel gerichtet war. Sie musste das tun, weil Israel sich durch Jesus nicht
beauftragen ließ. Ein Kommunikationsereignis: Israel wollte zwar missionieren,
war aber mit den Erleichterungen und Erschwerungen des mosaischen Gesetzes, die
Jesus forderte, mehrheitlich nicht einverstanden.(7)
Eine
Entdeckung der beiden Kontexte des Verstehens von Mission – dass sie ein
Kommunikationsvorgang ist und dass sie den Nihilismus aufhellen soll – ist erst
in jüngerer Zeit angebahnt worden. So verstand Karl Barth, vielleicht der
größte Theologe des 20. Jahrhunderts, Kirche wieder ganz von der Endzeit her,
nachdem man diesen Begriff, der lange verschüttet gewesen war, überhaupt erst
am Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt hatte.(8) Unter dem Eindruck
zunächst des Ersten Weltkriegs, dann der Naziherrschaft und des Zweiten
Weltkriegs nahm Barth den radikalen Standpunkt ein, die Geschichte sei mit Jesu
Leben und Sterben bereits abgeschlossen, seitdem lebe man »nur noch im
Ausschwingen«, und nicht einmal von Kirchengeschichte könne ernsthaft
gesprochen werden.(9) So reduzierte er, wohl infolge seines geschichtlichen
Erlebens, Geschichte auf die Stunde der Kirche in ihr, die doch nur der
Augenblick ihrer nihilistischen Unterbrechung ist. Seine Theologie dreht sich
um das Wort, das die Kirche in dieser Stunde zu sprechen hätte.(10) Mit der
wesentlich von ihm inspirierten »Barmer theologischen Erklärung« hat er
versucht, es auch direkt zu geben, allerdings – was gegen Hitler und zur
Verpflichtung des Kirchenpersonals hinreichte – in einer Formulierung, die nur
die biblische Botschaft unverändert wiederholte.(11) Viele Züge seiner
Theologie bereiten aber das historisch bestimmtere Wort vor, das heute
gebraucht wird. Ich komme darauf zurück.
In den
Fünfzigerjahren revidierte Barth wenn nicht ausdrücklich, dann faktisch seine
Geschichtsauffassung, indem er anerkannte, dass es einen auch theologisch
relevanten Einschnitt in der Zeit nach Christus gegeben hat: den Beginn der
Neuzeit.(12) Die Neuzeit erschien ihm als die Epoche, in der die Kirche ihre
Hegemonie verliert, ja fast aus der Öffentlichkeit gedrängt wird. In der
Neuzeit geschieht es aber auch, dass die Kirche sich befähigt, ihre Aufgabe zu
begreifen und zu erfüllen. Im Mittelalter war das nicht so, weshalb Barth sagen
kann, die Hegemonie der Kirche im Mittelalter sei nur eine scheinbare gewesen.
Nun aber bereitet sie sich Jahrhunderte lang auf einen Kampf vor – auf ihr
Zeugnis im neuen Nihilismus. Etwa dadurch, dass sie sich als Kirche allein »des
Wortes« begreift, so dass sie mit neuem, auch textkritischem Ernst zu
erforschen beginnt, worin es überhaupt besteht. Oder dadurch, dass sie endlich
ernsthaft zu missionieren beginnt. Zum Ersten haben die Protestanten, zum
Zweiten die Katholiken den Anstoß gegeben. Barth, der das trotz scharfer
Abgrenzung vom Katholizismus würdigen kann, streitet auch nicht ab, dass viele
für die Kirche wichtige Anstöße von neuzeitlichen Strömungen und Menschen
gekommen sind, die sich vorher von der Kirche abgewandt haben, und zwar durch
deren Schuld. So gibt es schon bei Barth den wenn auch unausgeführten Ansatz,
Geschichtstheologie müsse übergehen in Kommunikationstheologie. Es ist immerhin
eins seiner zentralen Theologeme, »dass jeder Mensch als solcher der Mitmensch
Jesu ist«, was realhistorisch gelesen meint, er ist Raum- und Zeitgenosse der
Kirche und also in ein Gespräch mit dieser verwickelt.(13)
Die
Ausführung des Ansatzes finden wir in den Neunzigerjahren bei Wolfhart
Pannenberg.(14) Der in München lehrende Theologe betont die Schuld, die die
Kirche in ihrem Kommunikationsverhalten auf sich geladen hat: Von Anfang an und
bis weit in unsere Zeit hinein erklärt sich ihr Stil daraus, dass sie sich im
Besitz der endgültigen Wahrheit wähnt. Gerade dadurch hat sie Geschichte
gemacht. Das ist die Schuld, die schon zu Adams Vertreibung aus dem Paradies
führte – der Glaube, man könne endgültig, also an Gottes Stelle richten. Es
hängt aber näher mit dem zusammen, was ich als »Grundlagenkrise des Neuen
Testaments« erörtert habe.(15) Der Kirche gilt die Wahrheit, über die sie in
der Endzeit verfügt, deshalb als endgültig, weil sie glaubt, die Endzeit sei
die letzte Stunde der Geschichte. Mit dieser Annahme pflegt sich, wie wir
sahen, die »Straflehre« zu verbinden. Im Ende sei keine Zeit als zur Enthüllung
des Lohn- und Strafwürdigen. Verflucht ist die Geduld des Gerechtmachens der
Ungerechten. Den »Montanismus«, der den Zusammenhang von End- und Straftheologie
offen ausplaudert, schließt die Kirche zwar aus, unterscheidet sich von ihm
aber weniger durch Einsicht als durch glückliche Inkonsequenz.
Sie
realisiert nicht die Offenheit der Kommunikation, in die sich ihre Mission nur
faktisch begibt, sondern glaubt sich berechtigt, Kommunikationsgegner endgültig
zu verdammen.(16) Es ist ein Hochmut, der Opfer fordert. Das erste Opfer sind
die Juden. Statt auf den späten Paulus zu hören, der sie auffordert, die Juden
»eifersüchtig« zu machen, und der den »Reichtum für die Völker« voraussieht,
den die Juden einst spenden werden(17) – Bilder freier Kommunikation mit noch
unbekanntem Ergebnis –, urteilt die Kirche wie der frühe Paulus, der
gesagt hat, schon sei »der Zorn über sie gekommen – bis zum Ende«.(18) Sobald
Christen über Hebel der Staatsmacht verfügen, nehmen sie die Realisierung des
»Zorns« in eigene Regie.(19) Die Juden aber, denen man vorwarf, sie ließen sich
nicht bekehren, hatten sich mit vollem Recht verweigert, denn sie lehnten die
falsche Endzeittheologie ab.(20)
(1)
Ist nicht
wieder und wieder gesagt worden, dass aus der christlichen Endzeittheologie die
marxistische Revolutionstheorie geworden sei? Wir wenden uns Marx zu, bevor wir
die Gesamtgeschichte der realen Kommunikation von Kirche und Welt
rekapitulieren. Das bräuchte gar nicht eigens motiviert zu werden, denn kaum
jemand wird bestreiten, dass der Marxismus ein besonders wichtiges Resultat
dieser Kommunikationsgeschichte war. Der Marxismus könnte sich auch als
besonders wichtige Voraussetzung für ihren Fortgang entpuppen. Schon deshalb
wäre es gerechtfertigt, ihn vorab herauszugreifen und erst danach auf die
Gesamtgeschichte in der Reihenfolge von Christi Tod bis heute einzugehen. Es
gibt jedoch noch eine andere Erwägung, die weniger selbstverständlich ist.
Im ersten
Teil dieses Essays wurde die Geschichtstheologie erörtert, die dem Neuen
Testament eingeschrieben ist. Es zeigte sich uns kein bloß kontemplatives
Geschichtsbild, sondern eine Theorie, die zum Handeln auffordert: dazu, der
Welt zu leuchten, eine Kirche zu gründen und sie noch in der geschichtlichen
Nacht – ja gerade dann – zu kontinuieren. Jetzt im zweiten Teil fragen wir, wie
tatsächlich in der Kirchengeschichte gehandelt worden ist. Dabei geht es nicht
darum, die reale Kirche bloß an ihrem Begriff zu messen. Ich fasse den Begriff
schon selber als etwas Reales auf. Denn was ich die »kirchliche Funktion«
nennen möchte – das, wozu die Kirche da ist –, ist schon als Funktion wirklich
vorhanden. Die Funktion ist real, weil ohne Unterbrechung ihre Realisierung
versucht wurde und wird. Nur eine Frage bleibt offen: nicht ob, sondern wie
sie realisiert wurde. Meine Antwort wird nicht erschöpfend sein. Ich behandle
die Frage nur geschichtstheologisch. Es wird nur eine Phänomenologie
historischer Ereignisse geboten, solcher Ereignisse eben, in denen sich die
Realisierung der kirchlichen Funktion zeigt. Die geschichtstheologische
Interpretation besteht darin, dass ich die Logik zu erfassen versuche, nach der
die Kommunikation von Kirche und Welt ihren Lauf nimmt.(21)
Nun müssen
wir, um der Phänomenologie historischer Ereignisse ansichtig zu werden, unsere
Blicke auf Etwas lenken. Wir werden sie auf die Kirche lenken und stoßen sofort
auf die Frage, wer uns denn sagt, dass »die Kirche« die Kirche ist. Woher
wissen wir, ob nicht die kirchliche Funktion von anderen Menschengruppen viel
eher realisiert wurde, wird und werden wird als von denen, die sich »die
Kirche« nennen? Wenn man Kirche nur durch die Spendung von Taufe und Abendmahl
definiert, fallen auch Hitlers Deutsche Christen darunter. Weitergabe der
christlichen Botschaft muss hinzukommen: Weitergabe nach außen, also »Mission«,
und vor allem deshalb auch institutionsintern. Was ist dann von nicht
missionierenden Kirchen zu halten, die Taufe und Abendmahl nur heilsegoistisch
den Kirchenmitgliedern spenden? Sind Christus, Taufe und Abendmahl unter
anderem Namen, dafür mit besserer Einsicht in das, worauf es ankäme, auch in
nichtkirchlichen Institutionen denkbar? Wir mögen das verneinen. Wir fordern
vielleicht den Nachweis der apostolischen Sukzession. Aber was ist die Gestalt,
in der die Sukzession selbst in der Geschichtsunterbrechung nicht abbricht?(22)
Das sind
Fragen, die nur von einer Institutionstheologie beantwortet werden
könnten. Von ihnen muss der vorliegende Text abstrahieren. Dann bleibt nur der
Weg, die reale Kirche mit anderen Kandidaten, die als Realisierer der
kirchlichen Funktion in Frage kommen, realgeschichtlich zu vergleichen. Das ist
der Hauptgrund, weshalb ich hier mit einer Erörterung des Marxismus einsteige.
Ist womöglich die kirchliche Funktion durch die marxistische Bewegung besser
realisiert worden als durch das Phänomen namens Kirche? Die Kommunisten
verstanden sich zwar nicht als religiöse Bewegung. Aber sie stellten sich in
die Kontinuität solcher Bewegungen wie derjenigen Thomas Müntzers, der ein
Gottesreich auf Erden schaffen wollte. Geht man weiter zurück, stößt man
darauf, dass der Kommunismus eigentlich eine Innovation des Neuen Testaments
ist. Rosa Luxemburg hat in einer 1905 veröffentlichten Broschüre(23)
argumentiert, den Kommunismus der Apostelgeschichte(24) unterscheide von
demjenigen ihrer Zeit nur dies, dass die Urchristen lediglich die Konsumgüter,
die modernen Kommunisten aber auch die Produktionsmittel vergesellschaften
wollten und mussten, weil sie nicht mehr, wie die Urchristen, in der
»Naherwartung« des allen Konsum überflüssig machenden Weltendes lebten.
Neben
solchen historischen Gesichtspunkten gibt es theologische. Obwohl Marx sich
nicht aufs »göttliche Recht« berief wie die Kämpfer im Bauernkrieg, ist der
theologische Hintergrund seiner Theorie der »Entfremdung« unübersehbar. Epheser
4, 18 sagt von den Heiden, sie seien apellotriomenoi vom Leben Gottes; darin
steckt peloi, »in der Ferne«; sie sind »als Fremde ausgeschlossen«,
übersetzt Pannenberg.(25) Er erinnert daran, dass »Entfremdung« nichts anderes
als »Elend« besagt, denn »Elend« leitet sich von altsächsisch eli-lendi,
»in fremdem Land, ausgewiesen«, her. Die Rede vom Elend aber, so Pannenberg,
»beschreibt umfassender als die klassische theologische Lehre von der Sünde die
Situation der Verlorenheit des Menschen in der Gottesferne. [...] Dadurch wird
der innere Zusammenhang von Sünde und Sündenfolgen deutlicher als das beim
Begriff der Sünde selber der Fall ist.«(26) So können wir den Umstand, dass
Marx gerade den Entfremdungsbegriff, aber auch den Verelendungsbegriff
prominent machte, theologisch erhellen: Marx ist derjenige, der an den
»Sündenfolgen« ansetzt. Das ist sein Ort in der Theologiegeschichte, und auch
in der Geschichtstheologie. Er macht das äußere Elend für das innere
verantwortlich. Er tritt nicht für Bußübungen ein, sondern für die Veränderung
der Welt.
Wenn der
Marxismus sich als kirchliche Bewegung konstituiert hätte, wäre diese von der
Kirche »häretisch« genannt worden. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich
Marx hier erörtern will.
(2)
Zunächst
drängen sich Parallelen auf. Es gibt Übereinstimmung nicht zuletzt im Bösen.
Jemand, der sich im Besitz der endgültigen Wahrheit wähnte, war Lenin. »Die
Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist«, behauptet er irgendwo.
Hängen Endwissen und »Straflinie« nicht auch im Marxismus zusammen? Ein
Friedrich Engels kann sich direkt auf die Johannes-Offenbarung berufen: »Je
näher die Krisis rückt«, schreibt er begeistert, »je dichter die Plagen und
Strafgerichte vom Himmel herunterregnen, mit desto größrer Freude meldet unser
Johannes, dass die große Masse der Menschen noch immer nicht Buße tun will«.
»Hier ist [...] noch keine Rede von der ›Religion der Liebe‹, von dem: Liebet
eure Feinde, segnet die euch fluchen usw., hier wird unverhohlene Rache
gepredigt, Rache, gesunde ehrliche Rache an den Verfolgern der Christen.«(27)
Hingegen
scheint Karl Marx eher spätpaulinisch gedacht zu haben. Sein erstes politisches
Manifest, die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,
beginnt mit einem wenig veränderten Zitat aus dem Römerbrief.(28) Seine
leitende Idee, dass Befreiung keine Sache des Jüngsten Tages sei, sondern
sofort beginnen müsse,(29) widerspricht vielleicht der damaligen
Kirchenlehre;(30) mit dem Römerbrief ist sie umso besser vereinbar. Der sagt
ausdrücklich, diejenigen, die »das Geschenk der Gerechtheit empfangen«, würden
»im Leben König werden«, nicht erst im oder nach dem Tod.(31) Marx war kein
säkularisierter Endzeit-Theologe. Die Hoffnung aufs »letzte Gefecht«, die
kommunistische Revolution, macht ihn noch nicht zu einem solchen, denn danach
sollte die Geschichte ja weitergehen, sogar erst richtig anfangen. Die
Revolution aber dachte Marx buchstäblich als Ereignis in einer
Geschichtsunterbrechung. Niemand kommt diesem Begriff näher als er.
Denn
zweifach stattete er die Revolution mit historischer Notwendigkeit aus. Einmal
sollte sie der Umschlag zum Guten auf der äußersten Spitze des Schlimmen, der
Geschichte des Privateigentums sein. Weil das Proletariat »die Auflösung aller
Stände ist«, die »Auflösung der Gesellschaft« sogar und »der völlige Verlust
des Menschen«, deshalb traute er ihm die Tat zu.(32) Das war, wie wir noch
sehen werden, theoretisch zu kurz gesprungen, obwohl man gerade diesem Gedanken
eine Nähe zu Paulus attestiert hat.(33) Aber zum andern bestimmte Marx die Zeit
der Revolution als Zeit der Wirtschaftskrise. Darin lag viel mehr
Plausibilität. In einer Periode der Kapitalvernichtung und der
Arbeitslosigkeit, der Verelendung des Proletariats kann dieses nicht anders, so
schien es, als sich gegen die Minderheit der Ausbeuter zu erheben, denen gerade
dann die Legitimation ihres Tun abhanden gekommen sein würde. Was ist diese
Periode, wenn nicht eine Geschichtsunterbrechung, in einer Gesellschaft
jedenfalls, die ihre Produktionsweise als überhistorisch ewige verkennt, wie ja
gerade Marx ihr vorhält? So begegnet sie tatsächlich bis heute den Stützen der
Gesellschaft: als »Depression«, aus der nur die technische »Innovation«
herausführt. Aber da das Marxsche Revolutionsprogramm direkt an die
Deprimierten, die arbeitslos werdenden Arbeiter adressiert war, realisierte vor
allem er die Funktion des erhellenden Worts in der Nacht, von der ich gezeigt
habe, dass sie als kirchliche einst entstanden ist.
Marx musste
diese Funktion usurpieren, weil die Kirche es damals versäumte, sich auf die
Seite der Elenden zu stellen; sie brachte mehr Verständnis für den Klassenkampf
der Ausbeuter als für den der Ausgebeuteten auf.(34) Auch wenn Marx sich mit
der Usurpation übernommen haben sollte, war sie historisch legitim. Aber die
Situation blieb nicht, wie sie war, sie hätte bald ein weiteres Mal eines
theoretischen Neuansatzes bedurft. Die Sache ist bekannt genug, Friedrich
Engels brachte sie zur Sprache: Das Proletariat, jedenfalls damals schon das
britische, konnte bestochen werden, weil seine Herren über die
kolonialen Reichtümer verfügten – es war sogar in der Wirtschaftskrise für
einen Aufstand nicht mehr elend genug.(35) Das war aber nur eine Beobachtung.
Sie schrie nach der theoretischen Einsicht, dass somit eine Situation wie im
alten Rom entstand.(36) Dessen Proletariat hatte aus einem analogen Grund
ebenfalls nicht revoltiert: weil der Staat es ernährte und die unterworfenen
Länder die Kosten trugen.(37)
Hier
genügte es nicht mehr, dass Marx’ Konzept faktisch das einer
Geschichtsunterbrechung war, in der wenn nicht die Kirche, dann das Proletariat
der Welt leuchten sollte. Nun hätte er den Begriff gebraucht. Nun kam es
darauf an, zu sehen, dass die Wirtschaftskrise eine Geschichtsunterbrechung gar
nicht mehr war und schon deshalb auch keine Revolution provozieren konnte –
dass Marx’ Strategie an diesem Punkt zusammenbrach. Der Begriff hätte es ihm
erlaubt, die Analogie seiner Situation mit der römischen zu erkennen, über den
Unterschied der Zeiten und der ökonomischen Epochen hinweg, statt in den Spuren
der Wiederkehr Roms, die er ja durchaus bemerkte, nur theoretisch unverwertbare
Maskerade zu sehen.(38) Er hätte es sich deshalb erlauben dürfen, weil gerade
im Vergleich mit Rom zu sehen war, dass es eine Linie gab, bei deren
Überschreitung das Ökonomische gar nicht mehr die Hauptrolle spielte. Dass die
britischen Arbeiter und die römische Plebs bestochen werden konnten, war das
Ergebnis militärischer Macht. Diese hat zwar ihrerseits ökonomische Gründe,
doch will ihre eigene Logik unabhängig bedacht sein, wenn es um Theorie der Revolution
geht.
Eine solche
muss zu dem Schluss kommen, dass bei einem bestimmten Reifegrad des
Militärischen ein Aufstand weder im Machtzentrum der Ausbeutung ausbrechen
wird, denn hier fehlt den Ausgebeuteten, weil sie bestochen sind, die
Motivation, noch in der kolonialisierten Peripherie, denn hier fehlt die
qualifizierte Militärtechnik. Die Theorie wird zeigen, dass die Geschichte
damit noch nicht zuende ist. Es kam ja der Moment, von dem an es in der
römischen Welt sinnlos wurde, zwischen Machtzentrum und Peripherie überhaupt
noch zu unterscheiden. Das war die Zeit der Bedrohung von außen, die die
römische Gesellschaft zwang, sich zu militarisieren.(39) Jetzt erst, als die
Steuerlast die Gesellschaft in den Ruin trieb, einen ökonomischen Ruin aus
militärischen Gründen, wurde die Revolution erfolgreich – die christliche
nämlich.
Dieser
nicht zufällige, sondern typische Schritt vom Ökonomismus zur
Selbstmilitarisierung war es, den zu bedenken Marx außerstande war. Er sah
deshalb nicht alle wichtigen Strukturen und Bedingungen der Revolution. Die
Wirtschaftskrise ist noch nicht die Geschichtsunterbrechung, und doch steht
eine solche auch dem Kapitalismus bevor. Man wird auch die Unterbrechung des
Kapitalismus nicht allein in ökonomischen Begriffen aussagen können. Deshalb
führt kein allein ökonomischer Vorschlag aus ihr heraus. Es war im antiken Rom
nicht zufällig die Kirche, die den kommunistischen Vorschlag als erste
unterbreitete, dies aber als Nebenbedingung ihres eigentlichen Anliegens. Das
ist es, was begriffen werden muss. Die Kirche wollte der Todesangst
entgegenwirken, zu der es in der Geschichtsunterbrechung notwendig kommt.
Deshalb wollte sie auch gegen die wirtschaftliche Angst etwas tun.(40) Den
Zusammenhang, der zwischen Todesangst und Verelendungsangst besteht, kann
wahrscheinlich nur sie artikulieren, auch heute noch. Er besteht darin, dass
für die meisten Bürger zuerst die Verelendungsangst aufhören muss, damit sie
dann auch die vom Elend gespeiste Todesangst überwinden können, – dass ein
solcher Prozess aber nur in Gang kommt, wenn es Einige gibt, die zuerst von der
Todesangst frei werden, um dadurch erst, obwohl selbst noch im Elend lebend,
fähig zu sein, zur Beseitigung der Bedingungen des Elends den Anstoß zu geben,
– um aber auch schon während des Beseitigungsversuchs, ja in Zeiten, die ihn
erschweren oder verhindern, den trotzdem gewonnenen eigenen Lebensmut auf
andere zu übertragen.(41)
Die Kirche
war auf dieses Bedingungsgefüge sicher deshalb aufmerksam geworden, weil sie,
wie vor ihr nur Israel, von der Endlichkeit des Lebens wusste. Durch Verweis
auf ein Paradies nach dem Tod konnte sie nicht Trost spenden, also musste ihr
das Leben thematisch werden und mit dem Leben die Lebensmittel. Die Kommunisten
aber haben immer nur einen Teil des Bedingungsgefüges durchschaut. Die
Überwindung der eigenen Todesangst machte sie in der Regel elitär. Sie kam
zudem auf problematische Weise zustande. Gegen die Unsterblichkeitslehre
notierte der junge Marx: »[...] das Leben vergeht ja nicht, sondern dies einzelne
Sein. Betrachtet sich dies einzelne Sein als ausgeschlossen von diesem
verharrenden allgemeinen Leben, kann es dadurch reicher und voller werden, dass
es seine Winzigkeit eine Ewigkeit fortträgt?«(42) Ist es nicht vielmehr so,
dass das »allgemeine« Leben sehr wohl vergeht und zwar eben mit der
»Winzigkeit«, an die es ganz und gar gebunden ist? Dem Einzelnen ist noch kein
Halt gegeben und keine Würde zugesprochen, wenn man es nur im Allgemeinen
untergehen lässt.
(3)
Mit Recht
geht Marx davon aus, dass es eine in sich zusammenhängende
Produktionsgeschichte gibt, weil jede Generation ihre Lebensmittel selbst
produziert und es mit den überkommenen Produktionsmitteln tun muss, wobei sie
die Freiheit hat, diese zu modifizieren.(43) Auch dass der Prozess immer wieder
die »Produktionsverhältnisse« des Privateigentums umwälzt und zur immer
stärkeren Ausdifferenzierung der Produktionssubjekte und -elemente führt, ist
bestimmt nicht falsch gesehen. Das immanente Problem dieser Auffassung kommt
erst da ins Spiel, wo Marx den Prozess im 19. Jahrhundert ankommen lässt.
Inzwischen ist sogar der Mensch aufgelöst, denn nur seine Arbeitskraft geht
noch in die Produktion ein; er wird zu ihrem Händler, andere wenden sie an. Nun
soll die Stunde der Synthese nach der bloß analytischen »Vorgeschichte«
anbrechen. Der »naturwüchsige« Zusammenhang der Produktionselemente ist
zersetzt. Er lässt sich nur künstlich, nur »bewusst« zurückgewinnen. Und er ist
schon zurückgewonnen, allerdings auf perverse Weise durch das Kommando des privaten
Kapitals.(44) Es bleibt nur noch dessen revolutionäre Überführung in ein
gesellschaftliches Kommando zu leisten. Auf diesen letzten Schritt will Marx
hinaus. Es ist aber gar nicht zu begreifen, wie es zu so einer Umkehrung der
bisherigen Geschichtslogik denn kommen soll.
So viele
Umwälzungen es gegeben hat, sie haben immer nur die Institution des
Privateigentums variiert. Marx selbst nennt die Umwälzungen einen
»naturgeschichtlichen Prozess«. Damit will er nicht nur ihre Bewusstlosigkeit
hervorheben, sondern auch, als Konsequenz, ihren entropischen Charakter. Vom
Bewusstsein weiß er, es sei nur bewusstes Sein. Dann müsste er doch selbst
urteilen, dass aus entropischem Sein niemals negentropisches Bewusstsein
entspringen kann.(45)
Ein anderes
Problem ist von außen zwar, aber ohne Willkür von der Geschichtstheologie her
zu ergänzen. Marx stellt fest, dass jede Generation wegen der unvermeidlichen
Lebensmittelgewinnung zur Herstellung der historischen Kontinuität der
Produktion gezwungen ist. Alles andere ist ihm nur Ideengeschichte, die keinen
immanenten Zusammenhang habe. Immerhin räumt er ein, dass in der Produktion
selber Ideelles impliziert ist.(46) Er übersieht aber, dass die Generationen
nicht nur zur Lebensgewinnung gezwungen sind, sondern auch zur
Todesgewinnung.(47) Denn so wenig das Individuum isoliert überleben kann, so
wenig kann es isoliert sterben. Auch der Tod wird gesellschaftlich vermittelt.
Und er ist keine bloße »Idee«, sondern so sehr materielle Tatsache wie das
Leben. Verhungern und Todesangst sind zwei Folgen menschlicher Isolation – wer
wollte behaupten, das zweite sei weniger schlimm als das erste? Deshalb sind
die Generationen zur Kontinuierung nicht nur der Produktionsgeschichte, sondern
auch der Religionsgeschichte gezwungen. Übrigens ist Marx selbst der beste
Beweis, dass gut erforschte Produktionsgeschichte sich von Religionsgeschichte
gar nicht trennen lässt. Denn im Zentrum seiner Kapitaltheorie finden wir den
Gedanken, kapitalistisches Geld funktioniere nach der Logik des Fetischs.(48)
Von anderen Produktionsweisen wäre Analoges zu sagen. So berichtet ein
Historiker, für »die rasche Entwicklung und dann den Niedergang des Alten
Reiches« der Ägypter sei »die Notwendigkeit, den Totenkult zu unterhalten«,
verantwortlich gewesen.(49)
Der
Marxschen Blickverengung zum Trotz können wir eine besondere Nähe zwischen
seinem Geschichtsbild und dem theologischen in der neutestamentlichen Variante
feststellen. Dass Marx die Produktionsgeschichte negativ als Zersetzungsprozess
sah, scheint mir der entscheidende Zug seines Geschichtsbilds zu sein, obgleich
er dabei nicht stehen blieb, sondern die »Negation der Negation«
postulierte.(50) Es ist ein pessimistisches Bild, vor allem darin unterscheidet
es sich von der bürgerlichen Fortschrittsphilosophie; man darf in der Marxschen
Lehre keine »materialistische Grundierung« dieser Philosophie sehen,
über deren Vernunftglauben Marx durchaus nicht verfügt – so wenig wie Paulus.
Geschichtlich denken heißt nicht nur bei Paulus, sondern auch bei Marx, dass es
darum geht, eine Nacht zu verscheuchen. Und auch Marx sieht anfangs nicht alle
Zeit, sondern einen bestimmten Zeitabschnitt als nächtlich an. Denn als
ursprüngliche Anwendung seiner Logik des Zerfalls wird man eine berühmte
Passage des Kommunistischen Manifests betrachten dürfen: »Die fortwährende
Umwälzung der Produktion [...] zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen
aus. [...] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre
gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«(51) Er hat erst
später in dieser Perspektive alle Zeit von den Anfängen bis zur Bourgeoisepoche
gesehen.
Dass er
einen revolutionären Ausweg aus der Wirtschaftskrise erhoffte, war noch
verständlich. Aber wie soll ein Weg aus der geschichtlichen Gesamtlogik
herausführen? Das sei ja nur die Logik der »Vorgeschichte«, antwortet Marx –
aber hier erweist er sich der Geschichtstheologie unterlegen, eben weil er alle
»Vorgeschichte« bloß als Zerfallsgeschichte begreift. Theologisch gesprochen,
gibt es für ihn nur die eine Geschichte der Heilsordnung: Wie diese nur Unheil
und Heil kennt, kennt auch Marx nur zwei Etappen, eben Vorgeschichte und
Geschichte. Aber wenn es nicht schon immer auch eine Erhaltungsordnung gegeben
hätte – zur Eindämmung des Unheils, so dass auch die Heilsordnung nicht bloß
einseitig im Anwachsen des Elends vor dem Umschlag ins Heil bestand –, dann
wäre jede Hoffnung aufs Heil vergebens. Wenn es, umgekehrt, eine Erhaltungsordnung
gibt und immer schon gab, dann ist die Unterscheidung von Geschichte und
Vorgeschichte falsch. Dann gibt es Geschichte seit je. Geschichte freilich, die
nicht ohne Unterbrechungen fortläuft, weil jeder menschliche Versuch zur
Errichtung der Erhaltungsordnung scheitert. Übrigens würde das auch für jeden
kommunistischen Versuch gelten. Die Eindämmung des Unheils ist immer
durchlöchert, so sehr, dass nicht selten die Löcher größer sind als der Damm,
und am Ende bricht dieser ganz.
Die Annahme
von Marx, dass sich materielle Basis und ideologischer Überbau einer Epoche
systematisch aufeinander beziehen, war kein Ersatz für fehlende Überlegungen
zur Erhaltungsordnung. Denn im Überbau kann es nur zum gelingenden oder
scheiternden Nachvollzug der Prozesse an der Basis kommen: entweder so, dass
man sie dort aufhält und das Aufhalten »ideologisch« legitimiert, oder so, dass
sie als revolutionär zu beschleunigende »bewusst werden«. Wie wir sahen,
handelt es sich um entropische Prozesse. Ein politisches Management
entropischer Prozesse kann diese aufhalten oder noch beschleunigen, aber eine
Erhaltungsordnung wird aus solchen Behelfen nicht herausspringen. Natürlich
kann auch eine Erhaltungsordnung nur transitorisch und relativ sein. Aber
solange es sie jeweils gibt, hält sie die Zersetzung nicht nur auf, sondern ist
auch etwas Anderes als sie. Was dies Andere ist, danach konnte Marx nicht
einmal fragen.
Die
Epigonen scheinen den Mangel gespürt zu haben, doch ihre Lösung fällt hinter
Marx’ Problembewusstsein zurück. Wie wir sahen, geht Stalins Theorie,
Geschichte sei eine »notwendige« Folge von fünf »Gesellschaftsformationen«,
über Umwege auf Daniels Vier-Reiche-Schema zurück. Marx hatte nur zwei
Formationen unterschieden, die kommunistische und die des Privateigentums, eben
»Geschichte und Vorgeschichte«, Geschichte der Ordnung und Vorgeschichte der
Zersetzung.(52) Stalin kannte wieder mehrere vorgeschichtliche Formationen. Im
Grunde kehrte er zur gängigen Zeitaltertheorie zurück, die er nur einer
ökonomistischen Überarbeitung, ja Verkürzung unterzog, so dass aus der Antike
die Sklavenhaltergesellschaft, aus dem Mittelalter der Feudalismus, aus der
Neuzeit der Kapitalismus wurde. Die Formationen waren wieder zu Ordnungen
geworden. Seit Stalin behauptet man, jeder Ordnung liege eine bestimmte
Produktionsweise zugrunde, und gibt das für die marxistische Geschichtstheorie
aus. Doch man kann es nicht im Ernst behaupten, wenn man gleichzeitig sagt, die
»vorgeschichtlichen« Produktionsweisen begründeten eine Geschichte von
Klassenkämpfen, sie lösten also die Produktion auf und deshalb die
Gesellschaft. Wo nur Produktionsweisen zugrunde liegen, liegen sie keiner
Ordnung, sondern nur der Unordnung zugrunde.
In Marx’
Konzeption klafft ein Spalt. Dass die Umkehrung der Entwicklungslogik des
Privateigentums möglich war, wäre nur im Rekurs auf schon vorgängige
Mechanismen der Erhaltung, an die angeschlossen werden konnte, sei es auch über
eine Geschichtsunterbrechung hinweg, plausibel zu machen gewesen.(53) Marx, der
sich auf die historische »Notwendigkeit« berief, hat doch nur einen Vorschlag
in die Geschichte eingespeist. Das ist nicht nichts, denn immerhin: Während wir
nicht wissen, ob es zur kommunistischen Gesellschaftsformation je kommen wird,
gibt es den Kommunismus als Marxschen Vorschlag wirklich. Der konnte aber nicht
geschichtsmächtig werden, weil ihm zu vieles fehlte. Für alles, was an ihm
nicht »notwendig« war, hätte er ja selbst aufkommen müssen. Rein als Vorschlag
genommen, war sein Anspruch zu groß. Marx hat sich übernommen. Meine These ist,
dass ein solcher Vorschlag weder gut erdacht noch günstig aufgenommen werden
kann, wenn sich nicht vorher die Kirche bewährt, indem sie den Schatten des
Nihilismus durch ihr Wort verscheucht. Der wird sonst alles zersetzen, auch
den kommunistischen Vorschlag und nicht zuletzt auch die Moral der Kommunisten,
wie aus dem 20. Jahrhundert hinreichend bekannt sein sollte.
(1)
Es mag
zunächst als Abschwächung der Bedeutung der Kirche erscheinen, wenn ihr
Missionsauftrag in den bloßen Verlauf ihrer Kommunikation mit der Welt
eingeordnet und nur dieser zum Gegenstand von Geschichtstheologie gemacht wird.
Tatsächlich ist aber gerade dann zu sehen, dass sich, seitdem es kirchliche
Kommunikation gibt, alle Geschichte um die Kirche dreht.
Für die
Spätantike und fürs Mittelalter ist das so offensichtlich, dass ich es nur kurz
in Erinnerung zu rufen brauche. Die Kirche glaubte also das endgültige Wissen
zu haben.(54) Nun, dann konnte sie keinen Pluralismus der Lehrmeinungen dulden.
Der Arianismus war keine verrückte Lehre: Er sah in Jesus nicht Gott und konnte
sich dafür aufs Neue Testament berufen. Die Kirche, die mittlerweile
Staatskirche geworden war, schied ihn als Häresie aus.(55) Folglich entstand in
den Gebieten seiner Ausbreitung der ihm ähnliche Islam. Dann wurde die römische
Kirche zum Zentrum der Anmaßung von Allwissenheit. Lange bevor die
»Unfehlbarkeit des Papstes« als Dogma ausgerufen wurde, nahmen es die Päpste in
Anspruch, obwohl das Neue Testament nur die Infallibilität der Kirche
versprochen hatte, das heißt ihre Erhaltung sogar ungeachtet der nihilistischen
Geschichtsunterbrechungen. Ohne den falschen Anspruch hätte kein Papst die
Trennung der West- von der Ostkirche leichthin verfügen können, nur weil es ein
paar marginale theologische Differenzen gab. Der Verlust Kleinasiens und des
Balkans an den Islam war die unmittelbare machtpolitische Folge, langfristig
gewann die Trennung Westeuropas von Osteuropa, besonders vom späteren Russland,
an Wahrscheinlichkeit. Dann der »Investitur-Streit«: Die Kirche hätte sich zwar
auf jeden Fall von den deutschen Kaisern des Mittelalters emanzipieren müssen,
doch war es dem Endzeit-Hochmut geschuldet, dass sie es in der Form tat, sich
selbst zum Überkaiser auszurufen. Eine weitere Folge des Hochmuts war die
Entstehung des Protestantismus. Weil sie nicht hingenommen wurde, gab es
Konfessionskriege. Deren Konsequenz ist der moderne Säkularismus.
Wie man
sieht, wollte die Kirche auf Antworten, die ihr angemaßtes Endzeit-Richtertum
in Frage stellten, nicht eingehen. Ihr Kommunikationsverhalten war dennoch
weder durchweg verdorben noch überall einseitig. Unter ihrem Einfluss blieb die
Kultur der Antike nicht nihilistisch. Man versuche sich nur einmal die römische
Welt oder die nachfolgenden germanischen Reiche ohne Einwirkung des
Christentums vorzustellen. Was hätten diese Reiche von der römischen Kultur
gelernt? Etwa nicht die Geilheit auf Gladiatorenkämpfe? Noch Augustin
berichtet, wie schwer es einem Freund fiel, der später Bischof von Thagaste
wurde, sich der Faszination solcher Events zu entziehen – »denn kaum sah er das
Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit in sich hinein«.(56) Gewiss fehlte
den Christen, die mit der römischen Staatsmacht im Rücken terroristisch gegen
heidnische Kulte vorgingen, das Unterscheidungsvermögen. Es gab welche, die
einen Sklaven vor der rituellen Schlachtung bewahrten,(57) und es gab die
schändlichen Mörder der neuplatonischen Philosophin Hypatia.(58) Ungeachtet
dessen fand bekanntlich so viel Kommunikation mit den Kulten und der antiken
Philosophie statt, dass man der Kirche heute vorwirft, sie habe sich beiden zu
sehr angepasst.
Im
christlichen Mittelalter, an dem sich dieselbe Dialektik zeigen ließe, nimmt
die Veränderung der kirchlichen Botschaft infolge der Kommunikationsbedingungen
besonders gravierende Formen an. Das Mittelalter steht unter dem Zeichen der
Rekonstruktion römischen Rechts, deren Ergebnis die »Territorialstaaten« sind,
von denen die Entwicklung des Staatsnationalismus und somit der Neuzeit
ausgeht, wozu auch die Wiederentdeckung der römischen Kriegsführungsmethoden am
Ende des Mittelalters erheblich beiträgt. Doch nicht nur Recht, Militärtechnik
und Geld bedurften der Rekonstruktion, sondern auch das Christentum musste
gleichsam neu erfunden werden. Es war, wie man leicht vergisst, ursprünglich in
eine hochartifizielle, eben die spätantike Welt hineingesprochen und ist daher
seinerseits eine hochintellektuelle Angelegenheit,(59) die nun aber, nach dem
Zusammenbruch dieser Welt, zur Lehre für primitive Barbaren wird. Kein Wunder,
dass sie sich bald selbst in eine primitive Lehre verwandelt. Es gelingt jedoch
im Lauf der Jahrhunderte, den ursprünglichen Gehalt teilweise zurückzugewinnen,
weil der Gründungstext vorliegt und die kulturellen Bedingungen seines
Verständnisses sich allmählich bessern.(60)
Es ist
einseitig, aber richtig, wenn Jürgen Moltmann den guten kirchlichen Einfluss
speziell auf die Geschichte des Staates wie folgt zusammenfasst:(61) »Wo immer
das Christentum sich ausbreitete, veränderte sich die Staatsauffassung. [...]
Die Alte Kirche verwarf den Kaiserkult und ersetzte ihn durch die
machtbegrenzende Fürbitte für den Kaiser.(62) Mittelalter und Reformation
relativierten die politischen Ordnungen zu Neuordnungen in der Welt, die dem
Wohl, nicht aber dem Heil dienen. Der Puritanismus schaffte die
Standesherrschaft ab und ersetzte sie durch den Staatsvertrag, den covenant
oder die constitution der freien Bürger.« Moltmann hebt das hervor, weil
er einen entsprechend guten Einfluss heute vermisst.
(2)
Auf die
tiefste Ebene kirchlicher Einwirkung auf die Gesellschaft kommen wir aber erst
dann, wenn wir den guten oder schlechten Charakter einmal beiseite lassen, um
nur mit Historikersinn zu fragen, was denn aus dem Kern der Botschaft der
Kirche geworden ist, dass sie nämlich der Angst vor dem Ende entgegenwirken
soll. Den säte sie wirklich mit vielen Senfkörnern in den geschichtlichen
Boden. Durch nichts mehr als dadurch hat sie Geschichte gemacht. Der Angst hat
sie sicher nicht nur entgegengewirkt, sondern sie auch gefördert im Zug der
»Straflehre«, der sie allzu sehr anhing. Eine zweideutige Bilanz – aber wie
auch immer: Es ist in diesem Zusammenhang zu einer Veränderung des Bildes
gekommen, das sich unsere Gesellschaft vom Tod macht.
Was es
heißt, dass Jesu Grab leer war, wurde erstaunlich gut verstanden. Dieser Mann
hatte nicht nur keine Beigaben ins Grab mitgenommen, wie es bei großen Männern
üblich gewesen war – Waffen, Edelsteine, gar Diener und Frauen –, sondern er
selbst, so machten seine Jünger deutlich, existierte dort nicht mehr. Während
er in der Kirche, seinem auferstandenen Leib, und durch den von ihm
herrührenden Geist fortbestand, war es mit dem, was an ihm »lebendig« gewesen
war, vorbei, denn »Fleisch und Blut kann Gottes Königtum nicht erben«.(63) Die
ersten Christen hatten die Lektion gelernt, sie maßen den Gräbern keine
Bedeutung mehr bei.(64) So radikal war es außerhalb des Judentums bis dahin
nicht eingesehen worden, dass der Tod endgültig ist.(65) Wie sehr das
jüdisch-christliche Bild vom Tod schon in der Antike schockierte, lässt sich an
der Reaktion des heidnischen Philosophen Celsus ermessen. Paulus hatte ewiges
Leben als »überkleidete« Existenz des endlichen Menschen veranschaulicht. Die
Überkleidung geschah durch die Mitteilung des Worts Gottes. Mit ihm war ein
Samen des Gottesreichs in den Menschen gelegt, der nun lebenslang wuchs und dem
Menschenleben Anteil an der göttlichen Ewigkeit gab.(66) So muss es von der
Kirche auch kommuniziert worden sein, denn bezeichnend ist Celsus’ Reaktion:
Die Christen hätten Platons Lehre der Seelenwanderung »missverstanden« – dass
die Seele womöglich nicht wandert, sondern stirbt, erwägt er nicht einmal –,
»wobei sie von einem Samen des Leibes reden, von einem Ausziehen und
Darüberanziehen der Leiber«.(67)
Celsus war
Platoniker; andere Intellektuelle, die mehr von Aristoteles geprägt waren,
mochten die Endgültigkeit des Todes eher hinnehmen, weil er sich als
aristotelischer telos, Ende und Ziel in Einem, Voll-Endung, denken ließ.
Das ist ja auch der Grund, weshalb Aristoteles noch in der Geschichte der
christlichen Theologie eine so bedeutende Rolle hat spielen können. Dennoch
gibt es auch bei Aristoteles ein Jenseits in Gestalt eines Seins ohne Zeit, eines
Seins, das die Zeit vom Ende her »teleologisch« formiert, indem es von Anfang
an fertig da ist. So sehr dies jenseitige Sein auf fast Nichts
zusammengeschmolzen ist: Es kann einen Intellektuellen nicht auf die Idee
bringen, die Todes-Endgültigkeit dem Volk zu predigen, das in Bildern denkt.
Denn zur Veranschaulichung eines zeitlosen Seins wird man immer Jenseitsbilder
benötigen. Nur wer das Sein lehrt, das nirgends als in der Zeit ist, braucht
Jenseitsbilder nicht. Er braucht nur Zeitbilder, wie das Bild vom Kreuz eines
ist.
Einen
Epikuräer gab es, der die Predigt der Todes-Endgültigkeit versuchte: Lukrez mit
seinem Lehrgedicht De natura rerum, »Von der Natur der Dinge«. Doch das
war ein hilfloser Versuch, der sich selbst widerlegte. Lukrez lebt zur Zeit der
Bürgerkriege, in die er sich nicht einmischt. Er sieht die Massaker, von denen
Augustin sagen wird, ein Sulla habe mehr Senatoren umgebracht als »die Goten
auch nur hätten berauben können«. »Der Friede stritt mit dem Krieg, wer
grausamer wäre, und gewann den Sieg.«(68) Das schreibt Lukrez nicht. Sein
Gedicht endet nur seitenlang mit Bildern, die von Goya sein könnten – er
schildert die Pest von Athen. Es wird überdeutlich: Eine höllische Welt gibt
die Angst ein, nach dem Tod könne sich das Furchtbare als ewiges Strafgericht
permanent machen.(69) Diese Angst will Lukrez naturwissenschaftlich mit dem
Hinweis widerlegen, vielmehr sei ja mit dem Tod alles aus. Die Christen
wussten, das war die ewige Hölle: Sterben im Glauben, das erlebte
Furchtbare werde »alles« gewesen sein.(70) Gegen diesen Glauben war zu kämpfen,
und das konnte nicht mit »naturwissenschaftlichen« Argumenten geschehen.(71)
Im
Mittelalter hörte sich die Predigt der Kirche oft so an, als wäre sie auf den
heidnischen Glauben des Weiterlebens nach dem Tod zurückgefallen. Auf dem
Höhepunkt des Mittelalters schien es sogar nützlich, die Jenseitsvorstellungen
zu rehabilitieren: »Hölle« und »Fegefeuer« gaben eine opportune Kulisse für
ganz weltliche Strafdrohungen ab.(72) Doch die Kirche hatte durchgesetzt, dass
Tote ohne Grabbeigaben beerdigt wurden. Dabei blieb sie. Georges Duby meint,
das sei der wichtigste Beitrag des Christentums zur ökonomischen Entwicklung
gewesen. Denn die wertvollen unbegrabenen Güter flossen nun in den lebendigen
Wirtschaftskreislauf.(73) Und warum lehrten die Mystiker, man müsse »zunichte«
werden, um mit Gott vereint sein zu können? Es ist bezeichnend, dass unsere
angeblich so moderne Gesellschaft die mittelalterlichen Jenseitsvorstellungen
nur milde, allenfalls höhnisch belächelt,(74) mit wahrer Wut aber die Mystiker
angreift. Denn zunichte wollen wir nicht werden – vielmehr hoffen wir, dass
unsere Forscher das Todesgen isolieren und abschaffen.(75)
(3)
Zwischen
Mittelalter und Neuzeit liegt keine Geschichtsunterbrechung, aber eine in
ökonomischer Hinsicht totale Krise. Die Todesangst nahm wieder furchtbare
Formen an. Sie wurde in der Verfolgung gesellschaftlicher Minderheiten
ausgelebt. Damals entstand die Inversion, die den Geist des Kapitalismus
bestimmen sollte: Gegen die harte Lehre von der Endlichkeit des Menschen wurde
der „unendliche“ Gott gesetzt.(76) Dass Gott unendlich sei, war eine neue
Erfindung. Hatte er bis dahin für Voll-Endung gestanden, so nun für das
Un-Ende. Um sich mit Gott zu vereinen, wollte man nun also »unendlich« statt
»zunichte« werden. Zunächst wurde Unendlichkeit nur als irdische Metapher der
Ewigkeit verstanden. Der einzige Ort, mit ihr zu spielen, war die Mathematik,
und die Träger des neuen Gedankens waren Kirchenleute wie der Kardinal Cusanus.(77)
Doch später wanderte das Unendlichkeitsstreben als unendliches Geldvermögen
(Simmel)(78) und Praxis der Profitmaximierung (Marx) in den Kapitalismus
ein.(79) Als sich der Kapitalismus im 19. Jahrhundert mit der Naturwissenschaft
verband,(80) verstanden dessen Träger sich schon weithin selbst als gottgleiche
Schöpfer.(81) Dass seitdem die Technik nach dem unendlich Großen und Kleinen
strebt, näherungsweise nach Raumfahrt und Urknall, Genen und
Teilchenbeschleunigung, zeigt immer neu ihre Haftung an diesen Diskurs.(82)
Auch das
kapitalistische Unendlichkeitsstreben ist Ergebnis der Kommunikation von Kirche
und Welt. Erneut sieht man die Schuld der Kirche: Da gab es am Ende des
Mittelalters eine schwere Zeit, in der Menschen die Aussicht des eigenen Endes
nicht ertragen konnten, umso weniger, als ihnen dessen Endgültigkeit gelehrt
worden war. Doch statt das Wort zu finden, das dem Ende den Schrecken nahm,
hätte die Kirche selber eines gebraucht, das sie von der Angst-Paranoia
abhalten konnte – etwa der des »Hexen«-Mords. Ihr Versagen in der Stunde der
Bewährung kann uns nicht überraschen, denn schon vorher hatte sie den »letzten
Dingen« einen überwiegend schrecklichen Charakter verliehen.(83) Ihre falsche
Straf- und Endzeittheologie provozierte geradezu den Fluchtversuch ins
Unendliche, der unsere heutige Lebenswelt prägt.(84)
Es ist eine
fatale, aber nur allzu verständliche Flucht. Die Menschen wollten das Ende der
Endzeit, dem nach kirchlicher Lehre das furchtbare Jüngste Gericht folgen
würde, nicht tatenlos abwarten, sondern seine Überschreitung selbst in die Hand
nehmen und somit für die Produktion des Himmels – aber auch der Hölle, wie sich
nach einigen Jahrhunderten herausstellte; also der gesamten Gerichtsgewalt(85)
– selbst aufkommen. Damit war die Unendlichkeit als Hauptfrage der Neuzeit
geboren. Es war eine solche Unendlichkeit, der man in Befolgung der
»Straflinie« nacheiferte. Die Kontrolle des Un-Endes war die gesuchte Antwort,
die schon aus logischen Gründen nie erreicht werden, sich deshalb aber auch nie
erledigen konnte; denn im Versuch, das Un-Ende zu kontrollieren, muss man es
erst einmal herbeiführen, hat man es aber herbeigeführt, ist es zum Ende
geworden und muss selbst wieder überschritten werden. Man hatte einen weiten
Weg in die Ferne begonnen – so weit, dass man nicht mehr überblickte, ob nicht
etwa das, was in der Nähe gerecht aussah, sich am Ende des Weges als ungerecht
entpuppen würde und umgekehrt. Wer nach der fernen Unendlichkeit fragte,
entwickelte auch ferne Vorstellungen von Lohn und Strafe wie etwa die, dass es
gerecht sei, menschliches Leben nach seinem Materialwert zu veranschlagen,(86)
ja es im Fall der Nutzlosigkeit zu vernichten.
Niemand
wäre zu dieser Flucht aufgebrochen, wenn die Kirche nicht den Schrecken nach
dem Ende gelehrt, sondern zur Befreiung vom Schrecken der Gegenwart ermutigt
hätte – wenn nicht die Johannes-Offenbarung, sondern der Römerbrief ihr
Leittext geworden wäre.(87) Durch die Konfessionskriege verlor sie zwar die
gesellschaftliche Hegemonie. Aber auch die Epoche der »Säkularisierung« ist von
ihr mitgeprägt, heißt doch »Säkularisierung« zunächst vor allem, dass der
kirchliche Messianismus – ein Messianismus des Rechthabens und Richtens – zum
Messianismus der Nationen wird. Denn die Sprache, mit der uns heute Präsident
Bush entsetzt, wurde einmal von allen großen europäischen Nationen gesprochen.
Messianisch geworden, wandten diese einen neuen Endgültigkeitswahn, der ohne
seine Herkunft aus dem alten nicht verständlich wäre, nun gegeneinander.(88)
Von den Kriegstoten hieß es nun, sie würden auf dem »Altar des Vaterlands«
geopfert.(89) Zugleich strebt auch der Nationalismus ins Unendliche – nach
Kolonien, nach der Weltherrschaft, nach »new frontiers« im Weltraum –, weshalb
schließlich der Totalitarismus aus ihm hervorging,(90) dessen religiöse, aufs
Christentum negativ bezogene Züge womöglich noch deutlicher hervortreten.
Und wer
geglaubt hätte, dass in dieser Entwicklung die Bedeutung des kirchlichen
Faktors immer mehr abgenommen habe, wäre spätestens durch den Holocaust eines
Schlimmeren belehrt worden. Nicht nur der Messianismus, auch der komplementäre
Antisemitismus der endzeitlichen Kirche war in grausig verwandelter Form immer
noch da, indem es eine messianische Nation gab, die ihn sich zueigen machte.(91)
Unsere Zeit ist nihilistisch, weil der Schatten von Auschwitz über ihr
liegt.(92) Auschwitz zu beantworten, ist der Kirche noch nicht gelungen. Eine
adäquate Antwort kann nur darin bestehen, dass sie die partielle Unwahrheit
ihrer Lehre einräumt. Dabei handelt es sich zum einen darum, den Streit um die
beiden Versionen von Endzeittheologie im Neuen Testament definitiv und in aller
Öffentlichkeit zu entscheiden. Zum andern muss gefragt werden, ob nicht der
Holocaust zur Veränderung der Lehre des Neuen Testaments zwingt. Im Holocaust
wurde Israel, der »Gottesknecht«, und so der Jude Jesus(93) ein zweites Mal
gekreuzigt. Die erste Kreuzigung hatte bedeutet, dass er mit seinem Projekt der
Zurüstung Israels zur Missionskirche gescheitert war. Die zweite bedeutet nun,
dass auch die Kirche gescheitert ist, die trotzdem entstand. Eine Theologie
dieser ganz unerwarteten »Wiederkehr Christi« ist nicht in Sicht. Man kann sie
sich nicht ohne tiefe Eingriffe ins Neue Testament vorstellen.(94) Aber nichts
führt an ihr vorbei.
(1)
Wo sind wir
– in welchem Kairos der Geschichte? Das ist heute die Frage. Wir können
nicht mit Lenin »Was tun?« fragen, weil zuerst der geschichtliche Rahmen
geklärt sein muss, in dem unsere Handlungen einen Stellenwert hätten. Für die
These von Marx, auf den Kapitalismus müsse notwendig der Kommunismus folgen,
spricht wenig. Es gibt zwar keinen Grund, den kommunistischen Vorschlag nicht
aufrechtzuerhalten: Nein zur Klassengesellschaft, Ja zur Regierung der Ökonomie
und überhaupt der Gesellschaft durch deren eigene Organe statt durch einen
abgesonderten Staat oder durch Private mit Sonderinteressen. Aber ein Weg, den
Vorschlag unmittelbar geschichtlich zu implementieren, ist zur Zeit nicht
gangbar.
Diese
Weglosigkeit hängt mit dem zusammen, was Marx früh auf den Begriff brachte:
»die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«. »Die Religion«
freilich, das ist nicht bloß Selbstgefühl, Theorie der Welt, geistiges Aroma,
Gemüt, Opium, illusorisches Glück und was der Marxschen Vokabeln mehr sind(95)
– sie ist eine materielle Wirklichkeit, die man zur Kenntnis nehmen
muss, wenn man die Weltlage begreifen will. Die Kritik der materiellen Religion
dürfte tatsächlich die Voraussetzung aller, auch der kommunistischen Kritik
sein. Dies Materielle reduziert sich nicht auf Fragen der Ökonomie. Israel und
islamische Welt, Europa und Amerika, Serbien und Bosnien, Westeuropa und
Russland – was sind das für Unterschiede, wenn nicht solche eines materiellen
religiösen Kalenders? So leicht ist es nicht, sie zu »kritisieren«. Es sind
sämtlich Artefakte der Kirchengeschichte, die von Marx nicht beachtet wurde,
weil er glaubte, Geschichte lasse sich schon als Geschichte von Klassenkämpfen
hinreichend erklären.
Die
materielle Wirklichkeit der Religion besteht in dieser spaltungsreichen
Konstellation der Glieder der abrahamitischen Religionsfamilie. Wir haben
gesehen, wie sie entstanden ist. Die Kirche entstand aus der Abwendung von
Israel. Umgekehrt definierte sich Israel nach dem Krieg mit Rom auch durch den
Ausschluss der Christen. Der Islam entstand in einem Gebiet, das als
häretisches von der Kirche präpariert worden war. Die Trennung Westeuropas von
Osteuropa wurde durch den Herrschaftsanspruch des Papstes mindestens verstärkt.
Die USA sind eine Gründung von Puritanern, die in den Kirchen Europas keine
Duldung gefunden hatten. Der Kapitalismus selber kann mit Walter Benjamin »als
Religion« aufgefasst werden,(96) und auch diese entstand aus der Kommunikation
mit und in der Kirche. Die Weltkrise, in der wir uns befinden, zeigt, dass im
Niedergang des Kapitalismus nicht etwa eine ökonomische Nachfolge-Formation den
Stab übernimmt, sondern zuerst die genannten religiösen Konflikte wieder zum
Vorschein kommen. Der Kapitalismus enthüllt sich als Religion und tritt
in einen Ausscheidungswettbewerb mit den anderen abrahamitischen Religionen
ein, darunter auch mit dem Christentum.
Doch
Benjamin irrte, als er schrieb, die neue Religion habe kein Dogma;(97) sie
folgt vielmehr einer genauen theologischen Linie, dem Streben nach ferner
Unendlichkeit. Dieser »faustische Trieb« hat die gegenwärtige Nacht
heraufbeschworen. Denn in einer solchen befinden wir uns. Die Menschen mögen
sich am Unendlichen erbauen, wo man ihnen Bilder zeigt, die es suggerieren; ihr
eigenes Ende kommt dennoch, und wenn ihnen Unendlichkeit zuteil wird, dann nur
so, dass sie die Glieder der unendlichen Reihe des Austauschbaren sind. Das ist
das Schicksal der Arbeitskraft im Kapitalismus, des Menschen überhaupt im
Totalitarismus.(98) Auch Biotechnik, Mensch-Maschine-Kombination und Verlassen
der Erde, so sehr sie das ewige Leben versprechen mögen, können es nicht ändern
und nicht einmal verhüllen, folgen sie doch selber dem Prinzip von Vernichtung
und Ersatz;(99) das wird sich herumsprechen(100) und die Vernichtungsangst noch
steigern.
So wartet
man neuerlich auf das Wort der Kirche. Wird sie wieder versagen? Es ist hier
der Ort, den Beitrag von Karl Barth zu würdigen. Er schärft ein, dass es kein
Leben nach dem Tod gibt,(101) und wendet sich gegen Vorstellungen von ferner
Unendlichkeit.(102) Eine Kirche, die das zusammenbrächte, hätte dem Nihilismus
etwas entgegenzuhalten: dass der Unendlichkeitssog nicht sie, die Kirche,
sondern die »Moderne« der mythischen Weltauffassung überführt. Denn die
Bewegungen ins Unendliche sind Fluchtbewegungen.(103) Hinter dem Ende, das man
immer neu übersteigen will, verbirgt sich eben der Tod, über den die Moderne so
cool und aufgeklärt zu denken behauptet. Sie braucht dasselbe wie die Menschen
im alten Rom: Befreiung von der Todesangst.(104)
(2)
Die Lehre
von Marx, der die Religion schon abgetan wähnte, hat sich der kapitalistischen
Religion gegenüber als ohnmächtig erwiesen. Glaubten doch Marx’ Epigonen, sie
hätten die Avantgarde solcher »technischen Fortschritte« wie des Verlassens der
Erde und der biotechnischen Manipulation des menschlichen Körpers zu sein.(105)
Weder sie noch Marx selber widersprachen der Hauptfrage der Neuzeit. Diese
wurde gar nicht durchschaut. Marx sah zwar, dass im kapitalistischen
»Heißhunger« auf Mehrwert eine Strategie der »Profitmaximierung«, also der
unendlichen Profitvermehrung impliziert war, der er immerhin das Projekt des
gesellschaftlichen Plans einer nicht unendlichen, sondern proportionalen
Ökonomie politisch konfrontierte.(106) Das war viel. Es war der erste massive
Angriff auf den Unendlichkeits-Diskurs überhaupt. Aber er richtete sich doch
nicht gegen den Diskurs als solchen, sondern nur gegen dessen freilich
wichtigsten Anwendungsbereich. Ökonomie war am wichtigsten, weil eine in ihr
verankerte Unendlichkeits-Strategie die gesamte Gesellschaft umbauen und in den
Sog mitreißen musste. Doch es nützte nichts, nur isoliert die Ökonomie zu
problematisieren, weil dann das zentrale Problem der Ökonomie gar nicht sichtbar
werden konnte, das eben in der ihr von außen imprägnierten
Unendlichkeits-Strategie bestand.
So
verkannte schon Marx selber, dass nicht nur der Profit ins Unendliche strebte,
sondern auch die vom Kapital profitträchtig angewandte Naturwissenschaft. Wer
war hier Ross, wer Reiter? Nach Marx’ eigener Feststellung war der Kapitalismus
erst zu sich selbst gekommen, wenn er die Naturwissenschaft in den Dienst
genommen hatte.(107) Aber dann war die Behauptung nichts wert, es sei dem
Kapitalisten egal, welches Produkt er herstelle, wenn nur der Profit garantiert
sei.(108) Mit mindestens dem gleichen Recht wäre zu sagen, dass es dem Produkt
egal ist – nämlich dem in der naturwissenschaftlichen Unendlichkeits-Strategie
vorgezeichneten Produkt –,(109) welcher Profit anfalle, wenn nur die Herstellung
garantiert sei. Dass im Produkt ein noch größeres Problem liegen könnte als im
Mehrwert, dafür war Marx blind. Und erst recht waren es seine Epigonen, die
bald nichts sehnlicher wünschten als die Produktführerschaft. So wurden sich
Marxisten und »Sozialisten« einig in der Pflege einer Arbeitsgesellschaft,
durch deren Produkte die Menschen entfremdet, nämlich buchstäblich in die Ferne
geschickt werden. Wir alle wissen noch, worum es auf dem Höhepunkt der
»Systemauseinandersetzung« ging: darum, ob ein Ossi oder ein Wessi als erster
den Fuß auf den Mond würde setzen können.
Der
Marxismus, um es mit einem Wort zu sagen, hat in der Fragestellung der Neuzeit
funktioniert. Er war nicht so revolutionär, wie er zu sein glaubte. Von der Ahnung,
es müsse widersprochen werden, war Marx gewiss erfüllt. Er ahnte sogar den
Zusammenhang von Unendlichkeits-Diskurs und »Straflinie«. Im Kommunismus,
wünschte er, würde nicht mehr nach Leistung belohnt und bestraft, sondern jedem
nach seinem Bedürfnis gegeben werden. Das wäre dann das Ende der
Arbeitsgesellschaft gewesen. Marx ahnte alles – aber da es bei Ahnungen blieb,
konnte er, mit Benjamin zu sprechen, »das Netz in dem er stand nicht
zuziehn«.(110) Benjamins Formulierung erinnert an den entscheidenden Punkt: Man
kann den Unendlichkeits-Diskurs nicht kritisieren, wenn man sich selber in ihm
bewegt. Und wie sollte sich Marx nicht in ihm bewegen? Man kann ein Netz nur
kritisieren, wenn man wenigstens mit einem Fuß außerhalb seiner steht.
Diese Position
nahm und nimmt eine und nur eine Institution unserer Gesellschaft ein: die
Kirche. Sie nämlich hält ihre eigene Geschichte wach, weshalb man in ihr und
nur in ihr wissen kann, wenngleich nicht muss, dass sie selber, die Kirche, den
Anlass zur Entstehung des Unendlichkeits-Diskurses gegeben hatte und dass dem
ein theologischer Endlichkeits-Diskurs vorausgegangen war. In der Institution
namens Kirche besteht wenigstens die Chance, sich zu erinnern, dass beide
Diskurse mit derselben »Straflinie« kontaminiert sind, wie auch dass diese
Linie längst nicht mehr gilt. Denn schon im Neuen Testament wurde ihr
widersprochen. Die grundsätzlichste Kritik am Kapitalismus müsste von der
Kirche ausgehen. Dann könnte auch wieder eine kommunistische Bewegung entstehen
– nicht statt der Kirche, sondern neben der Kirche.
(3)
Es ist
wichtig, den derzeitigen Geschichtsmoment genauer zu bestimmen. Der
Kapitalismus hat weltweit seinen Sinn verloren; jeder sieht, dass er keine
Erhaltungsordnung mehr speist; wo er noch funktioniert, funktioniert er nur als
Ökonomismus nach dem biblischen Motto »Lasst uns essen und trinken, denn morgen
sind wir tot«.(111) Freuen wir uns, denn wir gehören nicht zu den 26000
Hungertoten pro Tag! Das bedeutet, große Teile der Welt vegetieren bereits im
Tiefpunkt der Geschichtsunterbrechung dahin. In den reichen Metropolen hat sie
immerhin schon begonnen. Der platte Ökonomismus ist zwar noch nicht die
schwärzeste Nacht. Aber auch die Metropolen erfahren von dieser seit einem
Dreivierteljahrhundert den Vorgeschmack. Zuerst durch das »Dritte Reich«. Hier
war der Übergang zum nackten sinnlosen Militarismus schon einmal vollzogen;
alle Furien des Mordes und der Zersetzung waren losgelassen.(112) Das »Dritte
Reich« mag in mancher Hinsicht eine geschichtliche Ausnahme gewesen sein, in
den Zügen, die ich hier hervorhebe, war sie es sicher nicht. Denn die
Konstellation, dass eins der mächtigen Glieder der kapitalistischen Welt mehr
als andere den wirtschaftlichen Niedergang erlebt, so dass es sich in Ängste vor
Feinden hineinsteigert und nach der kompensierenden militärischen Lösung sucht,
kann oftmals wiederkehren. Ich wüsste gar nicht, welchen Niedergang »der
Kapitalismus« im Ganzen haben sollte, wenn nicht immer wieder diesen. Heute
strebt die Regierung der Vereinigten Staaten nach der militärischen Lösung –
denen man voraussagt, ihnen stehe, wenn es nur nach dem ökonomischen Wettbewerb
geht, eine Reduzierung des Lebensstandards um bis zu 20 Prozent bevor.(113)
Auch Selbstmilitarisierung ist hier schon in Ansätzen zu beobachten.(114)
Dass diese
Regierung die religiöse Karte spielt, ist typisch. Sie spielt sich als
Strafrichter über Gut und Böse auf und versucht so, sich als die wahre Kirche
darzustellen, während sie zugleich nicht willens ist, auf den Papst zu hören
oder auch nur die Führer der US-amerikanischen Kirchen zu empfangen. Ihre Idee,
den Nahen Osten mit Militärgewalt zu »demokratisieren«, das heißt der
kapitalistischen Religion zu unterwerfen, ist gewollt oder ungewollt ein
Frontalangriff gegen den Islam. Es gibt hier tatsächlich eine Parallele
zwischen Bush und Hitler, denn auch dieser täuschte Übereinstimmung mit der
Kirche vor, als er seinen Krieg gegen zwei andere Religionen, die jüdische und
die bolschewistische, begann. Damals brauchte die Kirche Jahre, um die
Täuschung zu durchschauen. Heute nicht. Das berechtigt zu Hoffnungen.(115) Aber
ihr Nein zum angemaßten kapitalistischen Papst fällt längst noch nicht
dramatisch genug aus.
Sie hat nur
ihr Wort gegen die Todesangst. Aber es muss in die Zeichen der Zeit gekleidet
sein. Der Kirche muss es gelingen, in der Reaktion der amerikanischen Regierung
auf den Anschlag islamistischer Selbstmordattentäter das Thema Todesangst zu
enthüllen und zu der Rolle, die dasselbe Thema in gewissen Hightech-Produktionszweigen
spielt, den Bogen zu schlagen. Dann könnte der »11. September« doch noch zu dem
Geschichtszeichen werden, als das es nur anfangs vorübergehend rezipiert wurde.
Als Geschichtszeichen bezeichnet Immanuel Kant ein Ereignis, dem vonseiten der
Zuschauer Fortschrittlichkeit zugeschrieben wird.(116) Die Zuschreibung hat
ihrerseits realhistorische Folgen. Kants Beispiel ist die Aufnahme der
Französische Revolution in Deutschland,(117) sein heimliches Vorbild dürfte die
Verarbeitung des Kreuzestods Christi durch dessen Jünger gewesen sein. Denn
hier erst wird die Annahme historiografisch plausibel, der »Glaube« an den Sinn
eines Ereignisses sei womöglich wichtiger als das Ereignis selbst. Der Anschlag
am 11. September 2001 hatte zum Geschichtszeichen das Zeug. Erstaunlich vielen
Menschen, auch Staatslenkern fiel ein, wie ungerecht, ja tödlich durch ihre
Schuld die Weltordnung beschaffen ist. Wenn diese wahre Einsicht zum
politikleitenden Massenbewusstsein geworden wäre, hätte schon bald nach dem 11.
September ein neuer Aufschwung der Geschichte einsetzen können. Aber so leicht
lässt sich die Nacht der Geschichtsunterbrechung eben nicht erhellen. Sie geht
weiter. Unser ruheloser Schlaf gebiert Albträume. Die Kirche könnte uns
erwecken, wenn sie erst einmal selbst aufwachen wollte.
1
Vgl. Matthäus 28, 19 f.
2
Vgl. Markus 13, 10 u. 30.
3
Apostelgeschichte 17, 3.
Schriftquelle für Paulus ist das sog. Vierte Lied vom Gottesknecht, (Deutero-)
Jesaja 52, 13 bis 53, 12.
4
Apostelgeschichte 13, 47.
5
Vgl. (Deutero-) Jesaja 49,
6.
6
Klaus Berger spricht vom
„Konzept der 'konzentrischen' Erneuerung Israels durch ein Gremium von zwölf
Männern“ in einigen Texten von Qumram und bei Jesus (Theologiegeschichte des
Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994,
131 ff.).
7
So Micha Brumlik, Der
Anti-Alt. Wider die furchtbare Friedfertigkeit, Frankfurt/M. 1991, 67 f.
8
Von Friedrich Schleiermacher
und seinen Nachfolgern wurde Jesus nicht als Überbringer einer Botschaft
aufgefasst, sondern als vollkommener und vorbildlicher sittlicher Mensch. Schon
deshalb konnte in dieser Schule keine Theologie der Endzeit, die im Zentrum der
Botschaft Jesu steht, entstehen. Die Beziehung von Christentum und Reich Gottes
ist bei Schleiermacher ähnlich wie bei Kant gesehen, der das Reich Gottes nur
als Perspektive der Handlungen nach dem Kategorischen Imperativ vorkommen lässt
(vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A 231 f.). Am Ende des 19.
Jahrhunderts argumentiert aber Johannes Weiß, dass nicht die Ethik der
Christen, sondern Gott allein sein Reich herbeiführe. Mit ihm beginnt die
neuerliche theologische Diskussion über die Endzeit. (Vgl. Wolfhart Pannenberg,
Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991, 349 f., und Bd. 3,
Göttingen 1993, 574 ff.) Karl Barth kann dann nach dem Ersten Weltkrieg
schreiben: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist,
hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.“ (Der Römerbrief,
München 1922, 298)
9
Vgl. Die kirchliche
Dogmatik III/2, Zollikon-Zürich 1948, 708.
10
So interpretiere ich
jedenfalls die Anlage seines Hauptwerks: Es läuft auf die Frage des
„prophetischen Amtes“ der Kirche in der Gegenwart direkt hinaus und es wurde
Jahrzehnte vorher mit einer Trinitätsdefinition begonnen, die von Gott nur wissen
will, dass „Gottes Wort [...] Gott selbst [ist] in seiner Offenbarung“; was
sonst Vater, Sohn und Heiliger Geist genannt wird, ist deshalb für Barth weiter
nichts als „der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein“ (Die
kirchliche Dogmatik I/1, München 1932, 312).
11
Der Wortlaut in Die
kirchliche Dogmatik II/1, Zürich 1940, 194. Dass es darauf ankomme, „nicht
nur einen Kult zu begehen, sondern laut und bestimmt zu sprechen und
dabei „nicht nur beteuernd zu rezipieren, sondern in der Freiheit unmittelbarer
Verantwortlichkeit zu explizieren und zu applizieren“, kann Barth zwanzig Jahre
später formulieren (Die kirchliche Dogmatik IV/3, Zürich 1959, 33) – im
Kontext seiner jetzt zu besprechenden theologischen Akzentverschiebung. Er kann
dann auch (1029) „Sinn und Gespür für das im Gegenwärtigen Kommende“ fordern
und sogar über die Notwendigkeit einer „Reformation und Rekonstituierung an
Haupt und Gliedern“ für den Fall nachdenken, dass nur eine Minderheit in der
Gemeinde das Gespür zum „prophetischen Vorwärts!“ hat, während die Mehrheit in
„jener höchst unheiligen aber höchst wirksamen Allianz der Priester, der
falschen Propheten, der Fürsten und des Volkes“ verharrt, „die schon den wahren
Propheten des Alten Testaments in geschlossener Front gegenüberstanden“.
12
Zum Folgenden Barths
„kirchengeschichtliche Erwägung“ (a.a.O., 18-40), die mit der Frage einsetzt:
„Ist es Zufall, dass es gerade an der Schwelle zur Neuzeit, die ja auch
eine christlich-kirchlich-theologische Neuzeit wurde, zur Wiederherstellung der
Lehre vom munus Christi propheticum [prophetischen Amt Christi] gekommen
ist?“
13
Barth, (Note 9), 159. Auf
derselben Linie auch Gerhard Ebeling (Dogmatik des christlichen Glaubens
Bd. 1, Tübingen 31987): „Das Zusammensein Gottes und des Menschen ist
ein sprachliches Zusammensein, ein Zusammensein im Wort“ (260), ja das Sein
Gottes „will [...] verstanden werden“ als „Zusammensein mit allem Seienden im
Sinne einer relationalen Ontologie“ (215).
14
Vgl. zum folgenden Wolfhart
Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, 515 ff.
15
Römer 2, 1 – „Darum bist
unentschuldbar du, o Mensch – alljeder, der richtet!“ – ist vor dem Hintergrund
der Paradiesgeschichte zu lesen.
16
Die „Straflinie“ setzt sich
im Vorfeld der Verstaatlichung der Kirche durch. Im dunklen dritten Jahrhundert
verstärkt sich der Machtanspruch der Bischöfe über die Gemeinden und wiederum
der „Metropoliten“ über die Bischöfe (Edward Gibbon, Verfall und Untergang
des römischen Imperiums, München 2003, Bd. 2, 175 f.): Kurz bevor das Reich
sich gezwungen sieht, das Bündnis mit der Kirche zu schließen, gibt diese sich
selbst ein reichsähnliches Aussehen und kann nur deshalb vom Reich als
möglicher Partner, zunächst freilich als existentieller Feind überhaupt erkannt
werden. Aber die Kirche kann reichsähnlich nicht nur zum Schein werden: Die
Bischöfe, denen es an aller weltlichen Macht fehlt, haben sich „doch [...] die
beiden wirksamsten Machtinstrumente verschafft – Belohnung und Strafe – und
setzten diese in ihrer eigenen Gemeinschaft ein“ (179).
17
Römer 11, 11 f.
18
1. Thessalonicher 2, 16.
19
Vgl. Henry Chadwick, Die
Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 196 ff. Nur die roheste
Form des Antisemitismus wurde von der Kirche definitiv ausgeschieden: die
Gnosis, die im Gott der Hebräischen Bibel einen bösen Geist sah.
20
„Die Differenz [...] bestand
darin, dass die Pharisäer im Unterschied zu den Jesusanhängern dessen
Messianität bestritten und zudem die apokalyptische Weltsicht der Jesusanhänger
trotz oder gerade wegen des Untergangs des Tempels zurückwiesen.“ (Brumlik
[Note 7], 67) Sie gelangten „hauptsächlich deshalb zu Einfluss im Judentum,
weil sie für eine Welt standen, die nicht die Absicht hatte zu verschwinden“
(Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und
Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München Wien 1991, 78 f.)
21
Ich verweigere mich also der
platonistischen Trennung, wie sie ironisch bei Gibbon ([Note 16], 123) und
anderswo ganz ernsthaft vorgenommen wird: „Dem Theologen sei das erquickliche
Werk gegönnt, die Religion so zu schildern, wie sie einst in ihrem
ursprünglichen Gewand der Reinheit vom Himmel herniederstieg. Dem Historiker
obliegt eine eher schmerzliche Pflicht. Er muss die unvermeidliche Mixtur von
Irrtum und Verfälschung aufzeigen, von der sie während eines langen Aufenthalts
auf Erden unter einem so schwachen und degenerierten Menschengeschlecht
befleckt wurde.“
22
Vgl. Note 78 im 1. Teil
dieses Essays.
23
Kirche und Sozialismus, mit einer Einführung von Dorothee Sölle und Klaus
Schmidt, Frankfurt/M. o. J.
24
Vgl. Apostelgeschichte 4,
32-35. Wenn man weiterliest, sieht man, dass schon dieser Urkommunismus mit der
„Straflinie“ verquickt ist.
25
Vgl. Bd. 2 (Note 8), 207.
26
Ebd.
27
Aus Zur Geschichte des
Urchristentums (1894/95), MEW 22, 465 f.
28
„Die Religion ist der
Seufzer der bedrängten Kreatur“ (MEW 1, 378), vgl. Römer 8, 19 u. 23.
29
MEW 1, 378 f.
30
Freilich nicht der Theologie
Friedrich Schleiermachers, die gerade damals hegemonial zu werden begann und
die auf der Spur der deutschen idealistischen Philosophie – derselben, der auch
Marx folgte! – den Akzent auf eine innerweltliche Herbeiführung des Reichs
Gottes durch ethisches Handeln legte.
31
Römer 5, 17. Ebenso werden
die, die verurteilt werden, im Leben verurteilt: „Drangsal und Angst auf jedes
Menschenleben, das Übel bewirkt“ (2, 9), woraus folgt, dass die Verurteilung
nie endgültig ist, da das Leben ja weitergeht und der Verurteilte vielleicht
umkehrt (2, 4).
32
Vgl. MEW 1, 390.
33
Man dachte dabei an 1. Korinther
1, 28 f.: „Und das Niedriggeborene der Welt und das Verachtete hat Gott
erwählt; das Nichtige, um das Wichtige abzutun – damit kein fleischlich Wesen
vor Gott sich rühme.“
34
Weil das noch lange so
blieb, kommentierte Bert Brecht die Wirtschaftskrise nach 1929 mit seinem Stück
Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Doch seit den 30er Jahren des 20.
Jahrhunderts ist eine Wandlung zu beobachten: Vgl. meinen Aufsatz Die Kirche
im Parteiensystem, in Kommune 6/2001, 50-57.
35
Vgl. MEW 29, 358 (Brief an
Marx vom 7. 10. 1858).
36
Engels kommentierte die
Beobachtung mit den Worten: „Hier können nur ein paar grundschlechte Jahre
helfen“ (a.a.O.), und die Sache wurde nicht weiter verfolgt.
37
Es hatte nur so lange
revoltiert, wie nicht sichergestellt war, dass dies geschah. Zur Ehre
des römischen Proletariats muss man hinzufügen, dass es auch für die
Vernichtung der Schuldbriefe eingetreten war. Die caesarische Lösung bestand
darin, dass zum einen die Kornkammer Ägypten besetzt und ausgebeutet wurde,
wobei im Gegenzug Elemente des orientalischen Gottkaisertums in Rom Einzug
hielten, und zum andern die Schuldverhältnisse wenigstens auf das Maß reduziert
wurden, das sie heute noch haben. Seit Caesars Reformen war Insolvenz kein
Grund mehr, in die Sklaverei verkauft zu werden.
38
Vgl. MEW 8, 115 ff. (Der
achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte).
39
Im dunklen dritten
Jahrhundert erhielten alle, auch die Peripheren, das römische Bürgerrecht, was
„weniger die politische Gleichberechtigung“ bedeutete, als dass es „ein weiteres
Element der Gleichschaltung“ war. Zur selben Zeit wurde das Heer barbarisiert:
Angehörige der Völker, die das Reich bedrohten, bildeten nun „das Rückrat des
Mannschaftsbestandes“. (Franz Georg Maier, Die Verwandlung der
Mittelmeerwelt, Frankfurt/M. 1968, 27) Also nicht nur die Differenz von
Zentrum und Peripherie, sondern auch die von Außen und Innen brach zusammen,
und eben deshalb – Hans Delbrück hat es im einzelnen gezeigt (vgl. Geschichte
der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte Bd. 2, Berlin New York
2000, 287 ff.) – war Rom verloren, noch während es kämpfte.
40
Wir können hier einmal davon
abstrahieren, dass schon die Urgemeinde ihre kommunistische Praxis ganz schnell
in eine bloße Sozialhilfepraxis umwandelte; denn jedenfalls blieb sie dabei,
sich als zuständig auch für die wirtschaftliche Angst zu betrachten. Die
Mildtätigkeit der Kirche, auch die Unterstützung ärmerer Gemeinden durch
reichere über das ganze römische Reichsgebiet hinweg trugen „sehr wesentlich
zur Ausbreitung des Christentums bei“ (Gibbon [Note 16], 183).
41
Man begreift in diesem
Zusammenhang, weshalb der Auftritt der Märtyrer in den Arenen, wo sonst
Gladiatoren kämpften, so wichtig war. Denn das Erlebnis dieser Kämpfe war die
Form der Römer, sich mit der Todesangst zu konfrontieren (vgl. Note 71).
42
MEW Ergänzungsband I, 119
(aus den Heften zur epikureischen Philosophie).
43
MEW 3, 30, 38 f., 45.
44
Vgl. Grundrisse der
Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf] 1857-1858, Berlin 1974,
375-413, hier 405 ff.
45
Insofern ist Walter
Benjamins Marxismus-Version konsequent. Er radikalisiert die Marxsche
Auflösungs-Perspektive: Als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer
auf Trümmer häuft“, stellt sich ihm die Geschichte dar (Über den Begriff der
Geschichte, in Illuminationen, Frankfurt/Main 1977, 251-261, hier
255). Wenn es auch in seiner Konzeption so etwa wie Geschichtsunterbrechungen
gibt (260: „Aufsprengung des Kontinuums der Geschichte“, „messianische
Stillstellung des Geschehens“), dann sind damit lichte Ausnahmen, nicht
schwarze gemeint, denn schwarz ist die Geschichte selber. Benjamin folgt der
Straflehre: Die unterdrückte Klasse soll nicht künftige Generationen erlösen,
sondern es ist „die Sehne der besten Kraft“, dass sie bei Marx angeblich „als die
rächende Klasse auf[tritt], die das Werk der Befreiung im Namen von
Generationen Geschlagener zu Ende führt“; sie soll „den Hass wie den
Opferwillen“ nicht verlernen (257 f.).
46
Aus der je gegebenen
Produktionsweise „gehn“ die dann herrschenden Gedanken „hervor“, MEW 3, 48.
47
Vgl. meinen Aufsatz Ökonomie
angesichts des Todes. Religionskritische Vorüberlegungen zu einer Neulektüre
des 'Kapital', in Widerspruch Nr. 26, Zürich 1993, 73-84.
48
Wobei viel dafür spricht,
dass er näher das Christentum für die „fetischistische“ Logik verantwortlich
machte (vgl. Thomas Marxhausen, Artikel „Fetischcharakter der Ware“ in Historisch-kritisches
Wörterbuch des Marxismus Bd. 4 [Hrsg. Wolfgang Fritz Haug], Hamburg 1999,
343-354, hier 345), denn er konnte sie wahlweise auch dem Trinitätsdogma
zuschreiben (vgl. MEW 25, 838 f.).
49
Jean Vercoutter, Das Alte
Reich, in Elena Cassin, Jean Bottéro, Jean Vercoutter, Die
altorientalischen Reiche I, Frankfurt/Main und Hamburg 1965, 245-286, hier
281.
50
Vgl. MEW Ergänzungsband I, 546
(aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten [1844]).
51
MEW 4, 465.
52
Im Abschnitt „Formen, die
der kapitalistischen Produktion vorhergehn“ aus den Grundrissen stellt
Marx die Frage, wie es zur „Trennung“ des Arbeiters von seinen
Produktionsmitteln kommt, die die logische und historische Bedingung der
Kapitalbildung ist ([Note 44], 375). Seine Methode zu antworten ähnelt der Max
Weberschen darin, dass er die Zusammenhänge von Arbeiter und Produktionsmittel,
die es gegeben hat, in Form einer Bedingungsvariation darstellt, wobei er es so
wenig wie Weber versäumt, die Varianten ordentlich in die geschichtliche
Reihenfolge zu stellen. Von einer „Gesetzmäßigkeit“ dieser Reihenfolge
ist keine Rede. Als historisch „notwendig“ sieht Marx nur den Umstand an, dass die
Zusammenhänge sich auflösen mussten infolge der Entwicklung der
Produktivkräfte (386, 396 f., 399, 401 ff., 405 f.). Das ist auch in Marx'
„Leitfaden“ nicht anders (MEW 13, 8 f.). Hier lesen wir zwar, es könnten „in
großen Umrissen asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche
Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen
Gesellschaftsformation bezeichnet werden“ (MEW 13, 9), aber auch hier ist nur eine
„Formation“ unterstellt, eben die Formation der Auflösung der Zusammenhänge. Die
„Epochen“, in die man sie pragmatisch einteilen mag, geben nur „große [grobe?]
Umrisse“. Es ist damit keine Epochen-Gesetzmäßigkeit behauptet, sondern nur
eine mögliche Periodisierung angegeben. Zur Formation der Auflösung verhält
sich der Kommunismus als das ganz Andere; er kann nicht als eine weitere
„progressive Epoche“ in ihr gedacht werden. Das heißt, er ist als Stadium „des
geschichtlichen Fortschritts“ nicht entzifferbar. Marx kann nur auf eine
Zukunft hoffen, in der „der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem
scheußlichen heidnischen Götzen [gleicht], der den Nektar nur aus den Schädeln
Erschlagener trinken wollte“ (MEW 9, 226).
53
In seiner Jugend nahm Marx
an, die Menschheit habe sich, um menschlich (human) werden zu können, zuerst
die Stützpunkte ihrer Menschlichkeit schaffen müssen: sinnliche Gegenstände
ihrer Produktion, produzierbar nicht anders als in „entfremdeter“ Form – so
dass es nun freilich noch anstehe, die Gegenstände sich kommunistisch, d.h.
unentfremdet menschlich „anzueignen“ (vgl. MEW Erg.bd. 1, 539 ff.). Auch hier
stellt sich die Frage, wo denn die Aneignungsfähigkeit herkommen soll, wenn sie
nicht immer schon vorhanden war. Wenn die entfremdet produzierten Gegenstände
nicht früher schon, sei es auch in engen Grenzen, als Stützpunkte von Humanität
funktionierten, dann gibt es diese Humanität eben nicht und dann werden die
Gegenstände auch in Zukunft jene Stützpunktqualität nicht haben.
54
Vgl. zu diesem Absatz
Pannenberg, (Note 14), 557 ff.
55
Wer Jesus für Gott hält,
kann sich auch aufs Neue Testament berufen. Darin zeigt sich, dass es
schon selber im Schatten einer „Verstaatlichung“ steht, die von ihm her
geradezu angestrebt werden musste. Denn das Neue Testament ist gegen Augustus
konzipiert, der eigentlich Oktavian hieß. Nur wenige Jahrzehnte vor Jesu Geburt
hatte Vergil die Geburt eines göttlichen Kindes vorausgesagt und damit den
ersten römischen Kaiser gemeint, wobei er zur Zeit der Voraussage noch glaubte,
dieses Kind würde der Ehe des Pompeius mit Oktavians Schwester Oktavia
entspringen. Pompeius war Oktavians Konkurrent im Kampf um die Kaiser-Position.
Es war aber Oktavian gewesen, der damit angefangen hatte, diesen Kampf als
religiösen zu führen. Er hatte die Vergöttlichung des ermordeten Julius Caesar
veranlasst, und er hatte den Führer der caesaristischen Partei, das war Mark
Anton, dadurch in die Enge getrieben, dass er als Adoptivsohn und
erbarmungsloser „Rächer“ des toten Gott-Vaters aufgetreten war. Dass die Partei
für die Vernichtung der Schuldbriefe kämpfte, stand dem Rachegedanken
eigentlich entgegen, denn Rache und ökonomische Schuldbegleichung sind zwei
Formen derselben Vergeltungs-Gerechtigkeit (vgl. Aristoteles, Nikomachische
Ethik 1132b, 1133a). Aber Oktavian hatte noch keine Soldaten und traf mit
dem Rache-Appell deren Mentalität. In diese Gemengelage hinein intervenierte
die Lehre der Christen: Vergebung der Schulden (Matthäus 6, 12), aber nicht mit
dem Schwert (Matthäus 26, 52); nicht römische Straf-Gerechtigkeit, sondern
paulinische „Rechtfertigung“. Die christliche Lehre setzte dem „Augustus“, wie
sich Oktavian nennen ließ, als er gesiegt hatte – dem „Erhabenen“, dem schon
lebendig zum Gott Designierten -, eine ganz andere göttliche Adoption entgegen.
Das war ihre Art, mit der Welt zu kommunizieren. Gab es eine Alternative?
Jedenfalls war darin der Anspruch, die Position des römischen Kaisers zu
verändern – ihn zu entsakralisieren -, und somit als Kehrseite auch das, was
man die Verstaatlichung der Kirche nennt, schon implizit enthalten. Tatsächlich
hat sich dann Konstantin der Große auf Vergils Voraussage, die er nunmehr als
Voraussage Christi und eines ihm dienenden Kaisers interpretierte, berufen
(Gibbon, [Note 16] Bd. 3, 86).
56
Augustinus, Bekenntnisse,
aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart, Frankfurt/M. 1987, 273 (6. Buch,
8/13). Heute scheinen wir von der Wiedereinführung des Gladiatorenkampfs nicht
mehr weit entfernt. Das ist nicht nur eine Phantasie von Sciene
fiction-Autoren wie William Gibson, der sich eine Arena vorstellt, die von
Facharbeitern besetzt ist, weil sie „Aufnahme in ein betriebliches
Freizeitprogramm gefunden hatte“ (Die Neuromancer-Triologie, München 42000,
72). Über Gladiator von Ridley Scott schreibt die FAZ, es sei
„kein Problem“ gewesen, „den Film auch als Folie für die Gegenwart zu nehmen:
Die einzig verbliebene Supermacht Amerika verglich sich in dieser Lesart mit
dem Römischen Reich zu Zeiten des Commodus, die blutige Event-Kultur des
Kaiserreichs verband sich mit den medialen Schaustücken von heute“ (Antikensehnsucht
und Computerglaube, 8.8.2002). Tatsächlich gibt es in den USA bereits
Fernsehshows, die „Folter als Prime-Time-Vergnügen und Unterhaltung für die
ganze Familie“ bieten (Spiel mir das Lied von der Folter, FAZ v.
29.1.2002).
57
Vgl. Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte
des Christentums Bd. 3, Reinbek 1996, 555.
58
A.a.O., 321. Deschner kann an
eine Fülle christlicher Terrorakte erinnern, sein Bericht ist aber einseitig;
so erwähnt er nicht, dass Hypatias Ermordung „die christliche öffentliche
Meinung in Konstantinopel [empörte]“ (Chadwick, [Note 19], 198). Alexandria, wo
der Mord geschah, war ein besonderer Ort: Schon in der vorchristlichen
Kaiserzeit gaben die Alexandriner, „wenn ein Auflauf entstand, nicht Frieden,
bevor sie Blut gesehen hatten. [...] Die Fortsetzung dieses die Regierung wie
die Nation gleich entehrenden Lynchsystems liefert die sogenannte
Kirchengeschichte, die Ermordung des den Heiden und den Orthodoxen gleich
missliebigen Bischofs Georgios und seiner Genossen unter Julian“, dem Kaiser,
der die Christianisierung des Reichs rückgängig machen wollte, „und die der
schönen Freidenkerin Hypatia durch die fromme Gemeinde des Bischofs Kyrillos
unter Theodosius II.“ (Theodor Mommsen, Römische Geschichte Bd. 7,
München 1976, 280)
59
Davon kann man sich eine
Vorstellung machen, wenn man Augustins Bekenntnisse (Note 56) liest.
Vgl. auch die Geschichte, die Chadwick ([Note 19], 179 f.) von Kaiser Julian
erzählt: Da er „es für unerträglich hielt, dass Christen die heidnischen
Klassiker lehren sollten, ohne an die Göttermythen zu glauben, erließ er ein
formelles Edikt, das die Christen vom Lehrberuf ausschloss. Diese Entscheidung
wurde von Heiden wie dem Historiker Ammianus als Torheit betrachtet und wurde
von kultivierten Christen wie Gregor von Nazianz übelgenommen, der für die
klassische literarische Tradition nicht weniger Verständnis und Liebe besaß als
Julian. Vielleicht als ironischen jeu d'esprit veröffentlichte
Appolinaris von Laodicea damals eine Fassung des Pentateuchs [der fünf Bücher
Mose] in Hexametern und goss die Evangelien und Briefe in die Form platonischer
Dialoge.“
60
Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte
der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000.
61
Der gekreuzigte Gott. Das
Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, Gütersloh 61993, 305.
62
Josef Ratzinger schreibt
über den Kulturkampf in der spätrömischen Gesellschaft: „Wenn man behaupten
darf, dass Hunger, Liebe und Macht die Kräfte sind, die die Menschheit bewegen,
so kann man, dies verlängernd, feststellen, dass die drei Grundgestalten des
Polytheismus die Anbetung des Brotes, die Anbetung des Eros und die Vergötzung
der Macht sind. [...] Es ist kein Zufall, dass der christliche Kampf auf dem
damit angegebenen Feld entbrannte und darin zum Kampf um die Grundform des öffentlichen
Lebens der Antike überhaupt wurde.“ Weil das Christentum gesiegt habe,
bedrohten uns zwar immer noch die Verabsolutierung von Brot, Eros und Macht,
aber sie hätten „doch die Maske des Göttlichen unwiderruflich verloren“ (Einführung
in das Christentum, München 1990, 80 f., 83). Man kann dem Urteil teilweise
zustimmen, aber was den Eros angeht, ist es falsch, ja ideologisch, denn da
bewirkte das kirchliche Regiment seinerseits eine Dämonisierung, die den
antiken Vorlauf wahrscheinlich noch überbot: Letztes Resultat ist die
„Sexualisierung“ der modernen Gesellschaft (vgl. Michel Foucault, Sexualität
und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977). Das Versagen der
Kirche in diesem Bereich lässt sich wieder auf die falsche Endzeittheologie
zurückführen. Als Paulus noch glaubte, das Ende der Welt stehe kurz bevor,
erklärte er, jungfräulich zu sein sei „gut wegen der anstehenden Not“.
„Künftighin seien jene, die Frauen haben, als hätten sie keine; [...] und die
mit der Welt umgehen, als wenn sie nicht in ihr aufgingen. Denn vorüber geht
die Gestalt dieser Welt.“ (1. Korinther 7, 25 f., 29, 31) Das Weltende ist
schon im Römerbrief kein Thema mehr, ebenso wenig wird die Warnung vor dem Eros
wiederholt – aber die Kirche blieb bei dem Quidproquo, ja entdeckte es erst
richtig (Einzelheiten bei Brown, [Note 20]) und hatte nun einen Vorwand, sich
zum endzeitlichen Richter über die Intimsphäre der Menschen aufzuschwingen.
(Vgl. auch Verf., Das Paradies der Leiber, in: Barbara Ossege, Dierk
Spreen, Stefanie Wenner [Hrsg.], Referenzgemetzel. Geschlechterpolitik und
Biomacht, Tübingen 1999, 87-108.)
63
1. Korinther 15, 46 und 50;
vgl. Note 78 im 1. Teil dieses Essays.
64
„'Christliche Gräber sind
normalerweise erst vom Ende des 2. Jahrhunderts an erkennbar.' Sobald aber das
Christentum einen Grabkult zuließ, drangen die alten Vorstellungen mit ein.“
(Angenendt, [Note 60], 690)
65
„Dass der Tote weiterlebt,
ist offenbar allen vormodernen Kulturen selbstverständlich gewesen.“ (a.a.O.)
66
Vgl. 2. Korinther 5, 2 ff., 1.
Korinther 15, 53 u. 35 ff. Die abstrakten paulinischen Sätze – „gesät wird in
Verderblichkeit ein lebendiger Leib, erweckt in Unverderblichkeit ein
geistbewegter Leib“ (15, 42 u. 44) -, muss man vor dem Hintergrund der Jesus
zugeschriebenen Gleichnisse lesen. Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn:
„Einmal auf die Erde gesät, obschon kleiner als alle Samen auf der Erde, aber
einmal gesät, steigt es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt Zweige
so groß, dass unter seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“
(Markus 4, 31 f.) Die Vögel kommen nicht nach den Tod (Verdorren) der Zweige,
sondern während sie blühen.
67
Gegen die Christen, München 1991, 169 f. Das Buch erschien im Jahr 178.
68
Vgl. Vom Gottesstaat (De
civitate dei), Buch 1 bis 10, übertragen von Wilhelm Thimme, München 1977,
162 f. (Buch 3 Kap. 28-29)
69
Gibbon versichert uns, die
stolzen Römer hätten „sich in ihrer Lebensführung in diesem Dasein nie von
irgendeiner ernsten Überzeugung von Lohn oder Strafe in einem zukünftigen
Zustand [...] leiten lassen“ ([Note 16], 145). Hier werden zwei Fragen
vermengt, die des Glaubens an den zukünftigen Zustand und die des Zusammenhangs
zwischen Glauben und Lebensführung. Wenn jemand unethisch lebt, kann er
trotzdem an ein Leben nach dem Tod glauben. Sein Glaube hat dann zur Folge,
dass er sein Leben in Angst verbringt. Die Angst mag wieder zu unethischen
Handlungen führen. Gibbon reißt ein Zitat des römischen Satirikers Juvenal aus
dem Zusammenhang (146): „Dass es Geister gibt und ein unterirdisches Reich...,
das glauben nicht einmal Kinder, es sei denn, sie wären noch zu jung, um im Bad
Eintritt zahlen zu müssen.“ Dass „nicht einmal“ Kinder glauben und ein
Erwachsener wie Juvenal dann erst recht nicht, steht nicht im Text. Wichtig ist
das von Gibbon Ausgelassene: Was die Römer schon im Knabenalter zu glauben
aufhören, ist, „dass Reiche da unten beständen, Charons Ruder im stygischen
Pfuhle mit schwärzlichen Fröschen“ – schwarze, strafende Reiche -, und Juvenal
fährt fort: „Doch du nimm es für wahr“, denn er ist dabei, den sittenlosen
Römern eine Mahn- und Bußpredigt zu halten (2. Satire, Vss. 149-153).
70
Das ist die Erfahrung, die
in unserer Zeit von Adorno festgehalten wurde: „Wer stirbt, der merkt, dass er
um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.“ (Metaphysik.
Begriff und Probleme [1965], Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, 213)
71
Niemand wird glauben, dass
Lukrez auch nur einen der „jungen Männer“, die sich, wie Tacitus beklagte, in
den Vortragssälen über nichts als Gladiatorenkämpfe unterhielten (vgl. Colin
Wells, Das Römische Reich, München 1985, 283), davon abgehalten hat, das
auch weiterhin zu tun. Wie sich die römische Gesellschaft zum Tod verhielt,
zeigen diese Kämpfe: „Gemetzel von Mensch und Tier zu betrachten war offenbar
für die Römer eine wichtige Institution, ein gesellschaftliches, wenn nicht
religiöses Ritual, das seine eigenen Baulichkeiten erforderte, für die man
entsprechend große Mittel aufzubringen bereit war.“ (282). Für den religiösen
Charakter des Rituals sprechen römische Quellen selber, so Plinius, der
hervorhebt, dass es „den Ruhm von Wunden und Todesverachtung“ vor Augen führe
(zit. ebd.). Das war so wichtig, dass „jede bessere Kleinstadt in der
westlichen Reichshälfte“ und selbst die Militärlager ihre Arenen hatten (281);
in Rom saßen die Zuschauer nach Schichten geordnet, auch die Senatoren waren
dabei und der Kaiser hatte den Vorsitz inne. Wenn es stimmt, dass Commodus sich
sogar selbst als Gladiator präsentierte und als solcher 735 mal in der Arena
auftrat (Gibbon, [Note 16] Bd. 1, 126 f.), dann wäre eben darin der rituelle
Höhepunkt des römischen Gottkaiserkults zu sehen. Und auch wenn es nicht
stimmt, lernt man etwas über die Theologie dieses Kults. Der frühchristliche
Schriftsteller Tertullian ist wahrscheinlich auf der richtigen Spur, wenn er
die Gladiatorenkämpfe auf die Praxis archaischer „Leichenfeiern“ zurückführt,
bei denen „die Seelen der Toten durch Menschenblut versöhnt werden“ sollten
(Wells, a.a.O., zit. 282 f.). Denn auch bei Claude Lévi-Strauss lesen wir von
Leichenfeiern, die durch Wettkämpfe zwischen einer die Toten und einer die
Lebenden verkörpernden Partei bestritten wurden. Um die Toten zu versöhnen,
hätten die Lebenden ihnen den Sieg zugeschanzt, berichtet der Ethnologe (Das
wilde Denken, Frankfurt/M. 1973, 47), oder: Die Wettspiele seien nicht
beendet worden, bevor es nicht unentschieden stand (45). Diese Praxis, schon
weniger harmlos als unser Fußballspiel, mag ihrerseits auf direkt tödliche
Vorformen zurückgehen. Sie setzt jedenfalls voraus, dass man an ein Leben nach
dem Tod glaubt. Von den römischen Arenen wissen wir, dass kämpfende „Sklaven
manchmal als Götter (Merkur, Pluto, Charon) kostümiert wurden; manchmal auch
mussten Christen als heidnische Priester und Priesterinnen verkleidet in die
Arena treten“, so beim Martyrium der Perpetua und ihrer Gruppe (Wells, a.a.O.,
282).
72
Vgl. Jacques Le Goff: Die
Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München
1990; auch Note 42 im 1. Teil dieses Essays.
73
Vgl. Krieger und Bauern.
Die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft bis um 1200,
Frankfurt/M. 21986, 73.
74
In der diesbezüglichen
Forschung müsste erst einmal die Methodik geklärt werden. Bezeichnend für das
Problem ist das materialreiche und spannende, aber in der entscheidenden Frage
höchst unklare Buch von Le Goff (Note 72). Dass sich beim Fegefeuer nicht
anders als beim Höllenfeuer (vgl. Note 42 im 1. Teil) erst im 13. Jahrhundert
die dinghaft-realistische Vorstellung durchsetzte – die den Glauben an ein
Leben nach dem Tod impliziert -, kommt bei Le Goff zwar heraus; aber bei dem
Versuch, die geistesgeschichtlichen „Väter des Fegefeuers“ namhaft zu machen,
kann er zwischen Metaphorik und aristotelischem Realismus nicht unterscheiden,
weil die Frage nach diesem Unterschied eben gar nicht zu seiner Methode gehört.
So lesen wir denn etwa, Augustin habe „zum Dossier des Fegefeuers entscheidende
Elemente bei[getragen]“, freilich dem „Problem“ von Raum und Zeit dieses
Geschehens „kein spezielles Interesse entgegen[ge]bracht“ (84). Könnte man
nicht den Schluss ziehen, dass jemand, der weder Raum noch Zeit für ein Leben
nach dem Tod vorsieht, an ein solches Leben eben nicht glaubt?
Neutestamentliche Grundlage der Geistesgeschichte des Fegefeuers ist eine
Stelle bei Paulus: „Denn jener Tag wird es weisen, weil es im Feuer sich
enthüllt. Und wie eines jeden Werk beschaffen ist, das Feuer wird es prüfen.“
(1. Korinther 3, 13 f.) Da Paulus im selben Brief vom Tod ohne Christus sagt, er
steche mit dem Stachel der Sünde (15, 56 f.), liegt es nahe, als den feurigen
Tag eben den Tod zu interpretieren (vgl. auch Römer 2, 15 f.). Er fährt fort:
„Wessen Werk verbrennt, der wird es zu büßen haben. Er selber aber wird
gerettet – doch so wie [!] durch Feuer.“ (1. Korinther 3, 15)
75
„Wenn die Seele in das
ungemischte Licht kommt“, kann man bei Meister Eckhart lesen (Werke I
[Hrsg. Niklaus Largier], Frankfurt/M. 1993, 19), „so schlägt sie in ihr Nichts
so weit weg von ihrem geschaffenen Etwas in dem Nichts, dass sie aus eigener
Kraft mitnichten zurückzukommen vermag in ihr geschaffenes Etwas. Und Gott
stellt sich mit seiner Ungeschaffenheit unter ihr Nichts und hält die Seele in
seinem Etwas.“ Von Gottes Etwas sagt er (181), es habe in Gott Vater seinen
Beginn und in Gott dem Heiligen Geist sein Ende: „Der Beginn ist um des letzten
Endes willen, denn in dem letzten Ende ruht alles das, was je vernunftbegabtes
Sein gewann.“
76
Dass es solche Inversionen
gibt: die aus der Struktur einer ideologischen Formation nicht herausführen,
sondern sie nur veränderten Außenbedingungen anpassen, hat Lévi-Strauss am
Denken archaischer Völker gezeigt. Vgl. z.B. Mythologica I. Das Rohe und das
Gekochte, Frankfurt/M. 1971, 253: Den Bororo ist Wasser „ein vertrautes Element“.
Die Sherenté fürchten die Dürre. Diese ökologischen Faktoren tragen zum
Verständnis der „Umkehrung der Bororo- uns Sherenté-Mythen“ bei. „Die Bororo
leben (und denken vor allem) unter dem Zeichen des Wassers; für sie konnotiert
es den Tod, und viele ihrer Mythen [...] bezeugen, dass es für sie eine
Verbindung von Feuer und Leben gibt. Bei den Sherenté ist es umgekehrt: sie
denken in Termini der Trockenheit, d.h. des negativierten Wassers. In ihren
Mythen konnotiert das Feuer stärker als irgendwo anders den Tod, und sie
stellen ihm ein Wasser entgegen, das nicht tödlich ist [...], sondern
belebend.“
77
Der im Zuge dieses Spiels
die Grenzwert-Mathematik erfand: vgl. Nikolaus Stuloff, Mathematische
Tradition in Byzanz und ihr Fortleben bei Nikolaus von Kues, in Mitteilungen
und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 4, Mainz 1964, 420-436.
Bereits Duns Scotus dachte Gott als ens infinitum (Wolfhart Pannenberg, Systematische
Theologie Bd. 1, Göttingen 1988, 375), das Unendliche steht hier aber noch
unter dem Vorbehalt, nicht eigentlich Gottesbegriff zu sein, sondern von Gott
einen vorläufigen metaphysischen Seinsbegriff zu geben, der hinter Offenbarung
und Glauben zurückfällt (Martin Anton Schmidt, Die Zeit der Scholastik,
in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 1 [Hrsg. Carl
Andresen], Göttingen 1988, 567-754, hier 690 ff.). Wahrscheinlich kann man von
einer Identifikation Gottes mit dem Unendlichen nicht vor Cusanus sprechen. Sie
stellt den bis dahin gültigen aristotelischen Grundsatz auf den Kopf, nach dem
die Unendlichkeit als Bewegungsform des Denkens ein für den Menschen
charakteristischer Mangel ist („Das Unendliche aber ist [...] nur für die
Erkenntnis“, Metaphysik 1048b).
78
Ausgehend von Georg Simmels
Soziologie zeigt Christoph Deutschmann (Die Verheißung des absoluten
Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt/M. New York
1999), dass kapitalistisches Geld das Äquivalent nicht bloß vorhandener,
sondern auch möglicher Güter ist und dass ihm ein Trieb innewohnt, diese
Eigenschaft des „Vermögens“ bis ins Unendliche auszuschöpfen.
79
Zur Entstehung von
Strukturen des Kapitalismus aus der Kommunikation mit der Kirche heraus vgl.
meinen Aufsatz Arbeit und Schuld, in Jörn Ahrens (Hrsg.), Jenseits
des Arbeitsprinzips? Vom Ende der Erwerbsgesellschaft, Tübingen 2000,
154-171.
80
Für Marx ist damit erst der
volle Begriff des Kapitals gegeben: Resultate des unmittelbaren
Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, 61.
81
Pannenberg spricht treffend
von der „Geschichte der Durchsetzung des Glaubens an die Unendlichkeit“ (Bd. 2
[Note 8], 179): In ihr ist die Mengenlehre „als Höhepunkt und Abschluss der
Übertragung des Begriffs der Unendlichkeit von Gott auf die Welt zu beurteilen,
weil sie es scheinbar erlaubte, den Gedanken des aktual Unendlichen“ – worunter
man sich ein „festes, konstantes, jedoch jenseits aller endlichen Größen
liegendes Quantum“, also die Identität des Unendlichen und Endlichen vorstellen
soll – „mathematisch zu bestimmen und so auch physikalisch anzuwenden“.
82
Die Bewegung, die im 20.
Jahrhundert zur Raumfahrt und zur Strategie des Verlassens der Erde geführt hat
(vgl. Verf./Gudrun Kohn-Waechter, Das Verlassen der Erde. Materialien zur
ökologischen Katastrophe, in: Kommune 1 bis 4/1993), wurde von der
Kirche selber auf die Spur gesetzt. Darüber, ob die Welt vernichtet oder
verwandelt werden würde, stritten sich zunächst Altlutheraner und Reformierte,
bevor auch die Lutheraner zum scholastischen Gedanken der Weltverwandlung
zurückkehrten (Pannenberg [Note 14], 571), der aber nun in der Neuzeit seinen
metaphorischen Charakter verloren hatte. Im 18. Jahrhundert bezog Siegmund
Jacob Baumgarten den Verwandlungsgedanken nur noch auf die Zerstörung unseres
Sonnensystems statt aufs ganze Universum. Im Jahr 1801 meinte Franz Volkmar
Reinhard, es betreffe vielleicht sogar nur die Erdatmosphäre. „Im übrigen könne
man unter dem neuen Himmel und der neuen Erde von Apk [Offenbarung] 21,1 'eben
sowohl einen neuen Wohnplatz auf einem andern Himmelskörper ... verstehen, der
dem menschlichen Geschlechte angewiesen werden soll'. Die Schrift sage darüber
nichts Genaueres.“ (633 f.) Etwa um dieselbe Zeit wurde der schwarze unendliche
Weltraum auch zum Bild der Verzweiflung, vgl. „Carazans Traum“, mitgeteilt von
Immanuel Kant in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen
(1764), A 6, oder Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ in
dem Roman Siebenkäs (1796).
83
Etwa mit der Lehre vom
Fegefeuer, die die Kirche im Hochmittelalter unter dem Druck der Gläubigen akzeptierte.
Für diese stellte das Fegefeuer eine Hoffnung dar, weil, wer es erlitt,
wenigstens nicht in die Hölle kam. Statt der Höllenangst mit der paulinischen
Rechtfertigungslehre entgegenzuwirken, sah die Kirche umgekehrt die Chance, ihr
Gericht über die Gläubigen „bis jenseits des Todes aus[zudehnen]“, indem
sie „das neue Territorium [annektierte]“: „Dank des Fegefeuers entwickelte sie
das Ablasssystem, das für sie eine Quelle unschätzbaren Macht- und Geldgewinns
war, bis es zu einer gefährlichen Waffe wurde, die sich schließlich gegen sie
selbst richtete.“ (Le Goff, [Note 71], 300 f.)
84
Das zu zeigen, ist auch die
Intention von Hans Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte
Ausgabe, Frankfurt/M. 1988), der freilich die Gefährlichkeit des Fluchtpunkts
nicht ermisst. Als ins Unendliche fliehende Figur ist Mozarts Don Giovanni von
Sören Kierkegaard gedeutet worden: „Er hat somit überhaupt kein Bestehen,
sondern hastet in ewigem Verschwinden dahin, geradeso wie die Musik [...].“ (Entweder
– Oder, München 1988, 123 f.)
85
Schon in der Aufklärung
bahnte sich das an: In ihrer Folge wurden „die Elemente des göttlichen Gerichts
und des Jüngsten Tages [...] bewusst und absichtlich auf die Geschichte selbst
angewandt“ (Reinhart Kosellek, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese
der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973, 7). Ein Lessing erklärte die
Straflehre zur wichtigsten geistigen Frucht des Christentums (Die Erziehung
des Menschengeschlechts, 1780). Er verfasste eine Schrift, um zu zeigen,
dass auch Leibniz so gedacht habe (Leibniz, Von den ewigen Strafen,
1773). Immerhin als Dichter huldigte er der paulinischen Rechtfertigungslehre:
Man kann sein Drama Minna von Barnhelm (Uraufführung 1767) als deren
komödiantische Illustration lesen.
86
Obwohl dieser Zusammenhang
wenig bekannt ist, könnte man Bücher damit füllen, ihn zu belegen. Hier nur ein
exemplarischer Hinweis auf den avantgardistischen Künstler Kasimir Malewitsch:
Auf zwei nebeneinanderliegenden Seiten seiner Schrift Suprematismus – die
gegenstandslose Welt (in dem von Werner Haftmann herausgegebenen
gleichnamigen Sammelband, Köln 1962, 39-254) findet man einmal den Gedanken,
das „Endziel“ der menschlichen Entwicklung sei „doch wohl mehr die Loslösung
von der Erde und der Vorstoß in den Raum“, und zum andern folgende Sätze: „Auch
der Erfinder muss ja erst den Baum töten, um aus seinem Holz einen Gegenstand
des praktischen Gebrauchs machen zu können. Daraus entstehen dann die ganzen
Gesetze und als ihre Folge die Verbrechen. Jedes Material, nicht nur das Volk,
widersetzt sich der Kultivierung. So müssen die Kulturbringer Gewalt anwenden,
müssen töten [...].“ Beide Gedankenreihen werden zusammengehalten durch den
Satz: „Die Natur kennt keine Gerichte und keine Strafgesetze, sie ist
grenzenlos wahr in ihrem 'Nichts', in ihrer Gegenstandslosigkeit.“ (182 f.)
87
Die Reformation hat sich
nicht zuletzt gegen die katholische Straflehre aufgelehnt, sie aber keineswegs
einfach durch die paulinische Rechtfertigungslehre ersetzt. Vielmehr wurde
diese noch einmal von neuem und in anderer Weise mit der Straflehre
konfundiert. Für die Prädestinationslehre Calvins ist das geläufig, es hat Max
Weber die bekannte These geliefert, der „Geist des Kapitalismus“ sei eine Folge
des Versuchs von Calvinisten, sich selbst zu beweisen, dass sie nicht zu den
ewig Verdammten gehörten. Aber auch die Lutheraner hatten mit Paulus Probleme:
Schon bei Melanchthon „erscheint der Glaube als Annahme des göttlichen
Rechtfertigungsurteils, während bei Paulus umgekehrt das Rechtfertigungsurteil
Gottes den Glauben zum Gegenstand hat“ (Pannenberg, [Note 14], 254).
88
Die Zusammenhänge werden
eindringlich gezeigt von Pannenberg, (Note 14), 559 ff. und Jürgen Moltmann, Das
Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 182-202: Der
Ursprung des politischen Messianismus liegt im Erwählungsglauben des christlich
gewordenen Römischen Reiches. Im Zuge der Abspaltung der westlichen Kirche
überträgt er sich ganz natürlich auf Karl den Großen. Dann geht er auf die
über, die sich auf Karl berufen: die Könige der beiden Teile des Reichs, das
Karl beherrscht hatte, also Deutschlands und Frankreichs. Im Zuge der
Reformation sieht sich England als neues Israel erwählt. Diesen Anspruch nehmen
die Pilgerväter nach Nordamerika mit. Im Osten hat nach dem Fall von Byzanz
Russland den Erwählungsglauben übernommen und bis ins Sowjetsystem
hinübergerettet. Die Entwicklung nach den Konfessionskriegen hat Kosellek
aufgearbeitet (Note 85): Der absolutistische Staat verbietet den Messianismus
sich selbst und den Kirchen. Die Kirche soll sich nur noch ums private
Seelenheil kümmern dürfen. (Ein Gefängnis, in dem sie weithin noch heute
zappelt, wie sie ja auch immer noch die Jenseits-Metaphern des Mittelalters
tradiert). In dem so konstituierten Privatraum, der eigentlich nur der Kirche
zugesprochen war, breitet sich unerwartet die Aufklärung aus, die einen Weg
findet, den Messianismus scheinbar außerstaatlich und jedenfalls außerkirchlich
zu reformulieren. Dieser Weg führt zur Revolution und damit zum messianischen
Nationalismus.
89
Vgl. Kathrin
Hoffmann-Curtius, Opfermodelle am Altar des Vaterlandes seit der
Französischen Revolution, in: Gudrun Kohn-Waechter (Hrsg.), Schrift der
Flammen. Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert, Berlin
1991, 57-92.
90
Vgl. Verf., Orte der
unendlichen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Globalisierung, Nation,
Internationalismus. Orte des Widerstands – eine linke Debatte, Berlin 2002,
159-180, hier 168 ff. Über den nationalsozialistischen Krieg schreibt Michael
Salewski: „[...] der Krieg musste weitergehen. Auf der Erde geht aber alles
endlich zu, das wusste auch Hitler, und deswegen musste er seine Idee des
ewigen, des totalen Krieges in andere Dimensionen transformieren – damit er
unendlich weitergehen konnte. Die Idee war ebenso einfach wie entsetzlich: Der
Krieg wird gegen andere Rassen geführt [...], bis nur noch die hochwertigste
der Herrenrassen übrig blieb. Die jüngste Forschung geht sogar noch einen
Schritt weiter: Im Nationalsozialismus sei die Idee angelegt, auch das
weibliche Geschlecht als minderwertige und daher langfristig auszurottende
'Rasse' einzustufen. Die Idee des totalen, des ewigen, des Massenkrieges führte
sich so ad absurdum [...].“ (Tier aus der Tiefe. Aufklärung über den Krieg,
in FAZ v. 23.3.2002)
91
Der quasireligiöse Charakter
des deutschen Messianismus wird nicht erst bei Hitler, sondern schon in der
deutschen Klassik deutlich, etwa in Friedrich Schillers nationaler
Eschatologie: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen
ist die Ernte der ganzen Zeit.“ „Der deutsche Sohn [...] ist erwählt von dem
Weltgeist, [...] den großen Prozess der Zeit zu gewinnen.“ (aus Deutsche
Größe, hier zitiert nach Erich Kahler, Der deutsche Charakter in der
Geschichte Europas, Zürich 1937, 147 f.)
92
Auschwitz „[bedeutet] eine
ganze geschichtliche Phase“, sagt Theodor W. Adorno in seiner
Metaphysik-Vorlesung ([Note 70], 181). Bei der Lektüre bemerkt man, dass die
Debatte über die Einzigartigkeit von Auschwitz die Gefahr einer Verdrängung
birgt: Auschwitz ist bestimmt ein einzigartiges, aber deshalb kein isoliertes
Phänomen. Adorno sieht Zusammenhänge mit der Einführung der Folter als
„Dauerinstitution“, der Atombombe (160), der Schockbehandlung Geisteskranker
(168). Leben und Tod sind nach Auschwitz verändert: Man lebt nicht mehr als man
selbst und stirbt nicht mehr als man selbst (173). „Der Schrecken vor dem Tod
heute ist wesentlich Schrecken darüber, wie sehr die Lebendigen ihm ähnlich
sind.“ Weil es „das Individuum eigentlich nicht mehr gibt, [wird] der Tod etwas
völlig Inkommensurables, die Vernichtung eines Nichtigen [...]. Wer stirbt, der
merkt, dass er um alles betrogen ward.“ (212 f.) Adorno wartet freilich nicht
auf ein Trostwort der Kirche: Am tröstlichsten sei es, „wenn einem nicht
Mut gemacht wird [...], sondern wenn man das Gefühl hat: sogar das
Alleräußerste ist noch etwas, was sich denken lässt“ (196).
93
Der in einer Schicht des
Neuen Testaments als Verkörperung dieser Figur aus (Deutero-) Jesaja 42, 49, 50
und 52/53 aufgefasst wird: vgl. Berger, (Note 6), 25.
94
So wie Daniel Goldhagen sich
das vorstellt, geht es sicher nicht: dass man „Stellen“ aus dem Text schwärzt (Die
katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne,
Berlin 2002, 347 ff.).
95
MEW 1, 378 f.
96
Vgl. Kapitalismus als
Religion, in Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1985,
100-103.
97
A.a.O., 100.
98
Vgl. Hannah Arendt, Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft, München Zürich 1986, 507 ff.
99
Vgl. Gudrun Kohn-Waechter, Ersatzwelt,
totale Herrschaft, Risikolust – Elemente eines modernen Technikdiskurses am
Beispiel von John Desmond Bernal, in: Der Technikdiskurs in der
Hitler-Stalin-Ära, hrsg. vom Institut für kulturwissenschaftliche
Deutschlandstudien Bremen, Stuttgart 1995, 47-71. Austauschbarkeit lässt sich
sogar aufs Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen menschlichen Kommunikation
beziehen: Ernsthaft fragt Niklas Luhmann, „ob und wie weit die Computer die
gesellschaftskonstituierende Leistung der Kommunikation ersetzen oder überbieten
können“. Wer oder was kommuniziert, ist nämlich nur der wechselnde Stützpunkt
der Kommunikation und nicht diese selbst, und wen interessiert schon das
Innenleben von Stützpunkten: „Kommunikation ist ein laufendes Prozessieren der
Differenz von Wissen und Nichtwissen, ohne dass es dazu nötig wäre, die
Wissens-/Nichtwissensbestände in den beteiligten Individuen oder Maschinen zu
ermitteln.“ (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, 303)
Marx hätte nur ein Wort gebraucht, übrigens ein religiöses Wort, um solchen
Unsinn zu charakterisieren: Hypostasierung.
100
Gegen ökologisch motivierte
Risikoangst um künftige Generationen polemisiert Luhmann mit dem Argument, sie
sei ihrerseits riskant, weil „unklar bleiben muss, inwieweit diese Generationen
noch Menschen im uns bekannten Sinne sein werden“ (Soziologie des Risikos,
Berlin New York 1991, 5) – der Versuch eines Mannes, sich in die eigene
Ersetzbarkeit einzufühlen.
101
Vgl. (Note 9), 628 f.,
677-687.
102
Er tut dies nicht systematisch,
aber immer wieder und besonders gerade hier, wo es um die Endgültigkeit des
Todes geht: „Darf man nicht fragen, ob man sich das Leben in der Hölle
schlimmer vorstellen könnte als ein Leben, das, in einer immerwährenden Zeit
sich abspielend, selber immerwährend sein müsste?“ (a.a.O., 682) „Ein Sein in
einer immerwährenden Zeit wäre ein nach allen Seiten zerfließendes Sein, nicht
das eines konkreten Subjektes, dem Gott als ein ebenso konkretes Subjekt
Gegenüber und Nachbar sein, zu dem er reden und mit dem er handeln kann. Man
sieht von hier aus noch einmal, dass man sich auch das Sein Gottes nicht als
das Sein in einer grenzenlosen immerwährenden Zeit vorstellen darf.“ (686)
103
Wo das Unendliche zum Wert
an sich wird, ist es immer das ferne Unendliche. Nur gegen dieses richtet sich
die Kritik. Ich spreche mich also nicht gegen jeden Unendlichkeitsbegriff aus.
Zum Beispiel hat auch die Antwort, die der sie veranlassenden Frage
widerspricht, deren endlichen Frageraum überschritten; sie hält sich in deren Un-Ende
auf. Es steht jedem jederzeit frei, so unendlich zu antworten. Aber niemand
strebt eine solche Antwort um ihrer selbst willen an, in der Absicht, sich „der
Unendlichkeit zu nähern“. Vielmehr wird sie nur fallweise erteilt.
104
Horst-Eberhard Richter macht
die Todesangst unserer Zeit dadurch messbar, dass er sie in die Geschichte des
kollektiven Verfolgungswahns einordnet (Der Gotteskomplex. Die Geburt und
die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Düsseldorf München
1997). Wer sich gegen Verfolger wehrt, die gar nicht existieren, wehrt sich
gegen das natürliche Sterben: Das ist der Ansatz. Er ist hochplausibel, schon
weil er an den Glauben archaischer Völker erinnert, der Tod sei immer
die Folge böswilliger Angriffe von Feinden. Übrigens neigten sich schon diese
Völker einem solchen Glauben besonders dann zu, wenn die Zeiten katastrophisch
wurden (vgl. E. E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande,
Frankfurt/M. 1978). Dass die Hexenjagd der beginnenden Neuzeit eine Reaktion auf
eine schwere gesellschaftliche Krise war, in der die Todesangst dramatisch
zunahm, ist bekannt. Richter findet nun eine vergleichbare Angst in der
Hypertrophie und Eigenart des heutigen Gesundheitswesens: „Aus den Hexen werden
Bakterien, Viren, als gefährlich angesehene Nahrungs- oder Genussmittel [...].“
(a.a.O., 148) Bakterien und Viren sind keine eingebildeten Feinde, aber wenn
versucht wird, jede Krankheit auf sie zurückzuführen, nimmt das
Viren-Paradigma wahnhafte Züge an (149 ff.). Wir führen sogar, jenen
archaischen Völkern gar nicht unähnlich, das natürliche Sterben selber auf
Bakterien und Viren zurück: Statt es für normal zu halten, dass die Organe des
Körpers nacheinander ausfallen – und nicht gleichzeitig, als ob es Zahnräder
einer Maschine wären -, isolieren wir den Ausfall des ersten Organs und sagen,
nur dessen Befall mit Krankheitserregern sei für das Sterben verantwortlich
(152 f.). Übertriebene Angst um die eigene Gesundheit kam im Römischen Reich zu
einer Zeit auf, die der unsrigen vielleicht vergleichbar ist: „Die
Korrespondenz zwischen Mark Aurel und seinem Erzieher Fronto dreht sich immer
wieder um kleine und größere Wehwehchen. Kein Wunder, dass Galen, der Arzt aus
Pergamon, der Leibarzt dreier Kaiser und der gehobenen Gesellschaft in Rom
wurde, einer der erfolgreichsten Männer seiner Zeit war!“ (Wells [Note 71], 277
f.) Mark Aurel war der erste Kaiser, unter dessen Ägide man zu ahnen begann,
dass das Reich sich nicht auf Dauer gegen die Gesamtheit seiner Feinde würde
verteidigen lassen (246 f.). Von Eric Dodds wurde diese Periode „als ein
'Zeitalter der ängstlichen Besorgnis' bezeichnet, Besorgnis um das Wohlergehen
in dieser Welt ebenso wie im Jenseits“ (vgl. 277).
105
Von der Zehnten
Weltkonferenz der World Future Studies Federation in Peking, 1988, berichtet
Robert Jungk (TROTZDEM. Mein Leben für die Zukunft, München Wien 1993,
518 f.): „Besonders unsere Gastgeber, chinesische Institutsleiter, Professoren
und Funktionäre, wetteiferten in der Vorstellung gewaltiger hochtechnologischer
Entwürfe. Der einzige Ausweg gegen eine durch Überbevölkerung ausgelöste große
Hungersnot, globale Umweltverschmutzung und weltweite Arbeitslosigkeit sei die
möglichst schnelle und energische Vorbereitung der Auswanderung von Milliarden
in die Weiten des Weltraums, behauptete zum Beispiel der Professor Boa
Zhong-Hang. Er stellte sogar einen detaillierten Fahrplan in fünf Etappen für
diese gewaltige Umsiedlung vor. Nach seinem Programm sollte schon gegen Ende
des 21. Jahrhunderts oder spätestens zu Beginn des 22. Säkulums die massenhafte
Migration zu anderen Sternen möglich werden. Ein anderer chinesischer Sprecher
plädierte trotz zunehmender Überbevölkerung für die massenhafte Entwicklung von
Robotern und die Ersetzung der 'Familienproduktion' von Menschen durch eine
sozialisierte kontrollierte Hochtechnologie der Bevölkerungsreproduktion in
'Baby-Fabriken' mit Hilfe verbesserter Methoden künstlicher Befruchtung.“
106
Zur Bedeutung der Kategorie
der Proportionalität in Marx' Denken vgl. Verf., Ökologischer Umbau durch
Befreiung des Marktes, in Kommune 9 bis 11/1996, wo ich
proportionale Ökonomie hauptsächlich mit Gleichungs-Ökonomie konfrontiere, wie
es Marx' eigenem Horizont entspricht. Die Konfrontation mit Unendlichkeit wird
in dem Hinweis deutlich, dass Proportionalität für ökologisch gewollte Maß- und
Qualitätsverhältnisse bürgt, grenzenloses Wachstum aber ausschließt.
107
Vgl. Note 80.
108
Vgl. MEW 23, 200 f.
109
Vgl. Verf., Die
verdrängte Zukunft der Wissenschaft, in Die Unruhe und die Zufriedenheit
oder die Tragödie des Scheiterns, Katalog der Ausstellung „1848“ des
Badischen Kunstvereins zu den 14. Europäischen Kulturtagen, Karlsruhe 1998,
209-222.
110
Vgl. (Note 96), 100.
111
Jesaja 22, 13 f.
112
Nicht nur als Mord-, sondern
auch als Auflösungsprozess wird die Geschichte der NS-Herrschaft von Ian
Kershaw analysiert (Hitler 1936-1945, Stuttgart München 2000): Man
könnte sagen, die Mordmacht der Nationalsozialisten wuchs proportional mit der
Zerlegung und Chaotisierung ihrer Herrschaftsapparate.
113
So Emmanuel Todd, Amerika
und die wahren Mächte der Welt, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik 3'03, 287-295, hier 293.
114
Das hat Jürgen Habermas
unterstrichen: „In den Vereinigten Staaten selbst unterminiert das auf Dauer
gestellte Regime eines 'Kriegspräsidenten' schon heute die Grundlagen des
Rechtsstaates. Ganz abgesehen von den außerhalb der Landesgrenzen praktizierten
oder geduldeten Foltermethoden, beraubt das Kriegsregime nicht nur die
Häftlinge in Guntánamo der Rechte, die ihnen nach der Genfer Konvention
zustehen. Es räumt den Sicherheitsbehörden Handlungsspielräume ein, die die
verfassungsmäßigen Rechte der eigenen Bürger einschränken.“ (Was bedeutet
der Denkmalsturz? Verschließen wir nicht die Augen vor der Revolution der
Weltordnung: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern, in FAZ
v. 14.4.2003)
115
Der Theologe und frühere
Europaabgeordnete Wolfgang Ullmann urteilt geschichtstheologisch jenseits der
„Straflinie“, wenn er „die Anerkennung der Nachchristlichkeit von Judentum und
Islam“ und „die Wahrnehmung von Judentum, Christentum und Islam als
universalgeschichtlicher Indizien, ihrer wechselseitigen Resistenz als Hinweis
auf ein ausstehendes Urteil Gottes“ fordert (Was ist Theologie?, in Theologie
für die Praxis 1-2/2003, 118-129, hier 128). „Der Dualismus Gut/Böse muss
dem Urteil des 1. Gebotes verfallen: Das Böse ist das von Gott bereits
besiegte, und daher ist alle Rede von der erst durchzusetzenden Rettung der
Welt, wie sie von Präsident Bush ständig benutzt wird, als Blasphemie zu
kennzeichnen.“ (122)
116
Vgl. Der Streit der
Fakultäten, A 141 ff.
117
Vgl. A 143.