Michael Jäger

Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie

Teil II: Die Kirche in der Welt 

Im ersten Teil seines Essays über Geschichtstheologie und Kirche skizzierte unser Autor die neutestamentarische Ereignisgeschichte im Spannungsfeld des damals vorherrschenden Nihilismus, des alttestamentarischen strafenden Gottes und einer sich ankündigenden Heilsgeschichte. Auf diesem Boden arbeitete er den diskursiven Begriff der »Geschichtsunterbrechung« heraus – jenseits der Einengungen der heute üblichen vom Fortschrittsdenken geprägten Geschichtsbegriffe.

Teil zwei befasst sich mit dem Missionsauftrag der Kirche. Missionsgeschichte als Kommunikationsgeschichte, als Prozess eines Austausches, nicht als Dogma der Unfehlbarkeit. Als wirkungsmächtiges Pendant zur christlichen Endzeittheologie sieht unser Autor die marxistische Revolutionstheorie. Er zeigt die besondere Nähe des Marx’schen und des theologischen Geschichtsbildes, die Analogien der jeweiligen Institutionen, die die »historische Mission« zu erfüllen haben. Und das Versagen der Marx’schen Strategie in der vermeintlichen Geschichtsunterbrechung, in der das Proletariat der Welt hätte leuchten sollen.

Den Weg der Kirche nachzeichnend stellt sich die Frage, in welchem Kairos der Geschichte wir uns heute befinden. Kann die Kirche noch einmal eine Antwort geben?

 

Als ich

Mit großem Plan hierher kam, auch bestärkt

Darin durch Träume: dass es hier so kalt

Sein könnte, hab ich nicht geträumt.

Bert Brechts heilige Johanna der Schlachthöfe

 

Prolog im Himmel: Die kirchliche Mission

Die Kirche existiert um der Mission willen.(1) So haben denn neuere Versuche, den Faden der Geschichtstheologie wieder aufzunehmen, die Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Welt als Missionsgeschichte zu schreiben versucht. Das kann nicht anders sein. Die Frage ist nur, was wir unter »Mission« verstehen. Das Verständnis hängt wie immer von den Kontexten ab, in die wir das zu Verstehende stellen.

Nach dem biblischen Missionsauftrag soll für niemanden die Welt untergehen, bis er oder sie die christliche Predigt gehört hat und Gelegenheit hatte, sich taufen zu lassen.(2) Nun sahen wir, dass die neutestamentlichen Aussagen nicht zufällig in schwarzer Zeit entstanden sind und sich zuerst auf sie beziehen. Wir werden also auch den Missionsauftrag so lesen, dass er vor allem dazu da ist, den im Nihilismus lebenden Menschen Hoffnung zu geben. Natürlich wird Mission in besseren Zeiten dadurch nicht ausgeschlossen. Schon zur Vorbereitung der Mission im Nihilismus ist sie unabdingbar. In diesem aber vor allem, der historischen Notzeit, in der für die Bürger eines endenden Reichs die Geschichte selber aufzuhören scheint, sollen sie glauben können wie Jesus, den auch nihilistisches Leid nicht irre machte. »Der Messias musste leiden«, sagt Paulus der Apostelgeschichte zufolge, wobei er sich auf einen Text aus der babylonischen Gefangenschaft bezieht.(3) Und weiter: »Denn so hat der Herr uns geboten: Ich habe dich bestellt zum Licht der Völker, dass zur Rettung du werdest bis ans Ende der Erde.«(4) Auch dieses Gebot ist während der babylonischen Gefangenschaft entstanden. Es wird hier nur zitiert, das heißt es ist von Jesus nur weitergegeben worden.(5)

Da das Gebot zu den zwölf Stämmen Israels spricht, hat Jesus aus der Menge seiner Jünger zwölf Sendboten (»Apostel«) bestellt, die Israel zur Mission zurüsten sollten.(6) Das war seine Vorstellung vom weiteren Geschichtsverlauf, mit der er am Kreuz scheiterte. Schon an diesem Scheitern und seiner Konsequenz, der Entstehung der Heidenkirche, sehen wir, dass wie jede Kommunikation auch die, die »Mission« genannt wird, nicht nur einseitig »vom Sender zum Empfänger« läuft. Missionsgeschichte ist offene Kommunikationsgeschichte, deren Zwischen- und gar Endergebnisse niemand voraussieht. In jeder offenen Kommunikation wird der ursprüngliche Sender, wenn er seine Botschaft wiederholt, nachdem ihm geantwortet wurde, die Botschaft gemäß der Antwort wiederholen, das heißt er wird sie verändern. Die Kirche aber hat eine Ursprungsbotschaft, die selbst schon veränderte Wiederholung ist, indem sie sich auf einen Missionsauftrag beruft, der gar nicht an sie, sondern an Israel gerichtet war. Sie musste das tun, weil Israel sich durch Jesus nicht beauftragen ließ. Ein Kommunikationsereignis: Israel wollte zwar missionieren, war aber mit den Erleichterungen und Erschwerungen des mosaischen Gesetzes, die Jesus forderte, mehrheitlich nicht einverstanden.(7)

Eine Entdeckung der beiden Kontexte des Verstehens von Mission – dass sie ein Kommunikationsvorgang ist und dass sie den Nihilismus aufhellen soll – ist erst in jüngerer Zeit angebahnt worden. So verstand Karl Barth, vielleicht der größte Theologe des 20. Jahrhunderts, Kirche wieder ganz von der Endzeit her, nachdem man diesen Begriff, der lange verschüttet gewesen war, überhaupt erst am Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt hatte.(8) Unter dem Eindruck zunächst des Ersten Weltkriegs, dann der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs nahm Barth den radikalen Standpunkt ein, die Geschichte sei mit Jesu Leben und Sterben bereits abgeschlossen, seitdem lebe man »nur noch im Ausschwingen«, und nicht einmal von Kirchengeschichte könne ernsthaft gesprochen werden.(9) So reduzierte er, wohl infolge seines geschichtlichen Erlebens, Geschichte auf die Stunde der Kirche in ihr, die doch nur der Augenblick ihrer nihilistischen Unterbrechung ist. Seine Theologie dreht sich um das Wort, das die Kirche in dieser Stunde zu sprechen hätte.(10) Mit der wesentlich von ihm inspirierten »Barmer theologischen Erklärung« hat er versucht, es auch direkt zu geben, allerdings – was gegen Hitler und zur Verpflichtung des Kirchenpersonals hinreichte – in einer Formulierung, die nur die biblische Botschaft unverändert wiederholte.(11) Viele Züge seiner Theologie bereiten aber das historisch bestimmtere Wort vor, das heute gebraucht wird. Ich komme darauf zurück.

In den Fünfzigerjahren revidierte Barth wenn nicht ausdrücklich, dann faktisch seine Geschichtsauffassung, indem er anerkannte, dass es einen auch theologisch relevanten Einschnitt in der Zeit nach Christus gegeben hat: den Beginn der Neuzeit.(12) Die Neuzeit erschien ihm als die Epoche, in der die Kirche ihre Hegemonie verliert, ja fast aus der Öffentlichkeit gedrängt wird. In der Neuzeit geschieht es aber auch, dass die Kirche sich befähigt, ihre Aufgabe zu begreifen und zu erfüllen. Im Mittelalter war das nicht so, weshalb Barth sagen kann, die Hegemonie der Kirche im Mittelalter sei nur eine scheinbare gewesen. Nun aber bereitet sie sich Jahrhunderte lang auf einen Kampf vor – auf ihr Zeugnis im neuen Nihilismus. Etwa dadurch, dass sie sich als Kirche allein »des Wortes« begreift, so dass sie mit neuem, auch textkritischem Ernst zu erforschen beginnt, worin es überhaupt besteht. Oder dadurch, dass sie endlich ernsthaft zu missionieren beginnt. Zum Ersten haben die Protestanten, zum Zweiten die Katholiken den Anstoß gegeben. Barth, der das trotz scharfer Abgrenzung vom Katholizismus würdigen kann, streitet auch nicht ab, dass viele für die Kirche wichtige Anstöße von neuzeitlichen Strömungen und Menschen gekommen sind, die sich vorher von der Kirche abgewandt haben, und zwar durch deren Schuld. So gibt es schon bei Barth den wenn auch unausgeführten Ansatz, Geschichtstheologie müsse übergehen in Kommunikationstheologie. Es ist immerhin eins seiner zentralen Theologeme, »dass jeder Mensch als solcher der Mitmensch Jesu ist«, was realhistorisch gelesen meint, er ist Raum- und Zeitgenosse der Kirche und also in ein Gespräch mit dieser verwickelt.(13)

 

Die Ausführung des Ansatzes finden wir in den Neunzigerjahren bei Wolfhart Pannenberg.(14) Der in München lehrende Theologe betont die Schuld, die die Kirche in ihrem Kommunikationsverhalten auf sich geladen hat: Von Anfang an und bis weit in unsere Zeit hinein erklärt sich ihr Stil daraus, dass sie sich im Besitz der endgültigen Wahrheit wähnt. Gerade dadurch hat sie Geschichte gemacht. Das ist die Schuld, die schon zu Adams Vertreibung aus dem Paradies führte – der Glaube, man könne endgültig, also an Gottes Stelle richten. Es hängt aber näher mit dem zusammen, was ich als »Grundlagenkrise des Neuen Testaments« erörtert habe.(15) Der Kirche gilt die Wahrheit, über die sie in der Endzeit verfügt, deshalb als endgültig, weil sie glaubt, die Endzeit sei die letzte Stunde der Geschichte. Mit dieser Annahme pflegt sich, wie wir sahen, die »Straflehre« zu verbinden. Im Ende sei keine Zeit als zur Enthüllung des Lohn- und Strafwürdigen. Verflucht ist die Geduld des Gerechtmachens der Ungerechten. Den »Montanismus«, der den Zusammenhang von End- und Straftheologie offen ausplaudert, schließt die Kirche zwar aus, unterscheidet sich von ihm aber weniger durch Einsicht als durch glückliche Inkonsequenz.

Sie realisiert nicht die Offenheit der Kommunikation, in die sich ihre Mission nur faktisch begibt, sondern glaubt sich berechtigt, Kommunikationsgegner endgültig zu verdammen.(16) Es ist ein Hochmut, der Opfer fordert. Das erste Opfer sind die Juden. Statt auf den späten Paulus zu hören, der sie auffordert, die Juden »eifersüchtig« zu machen, und der den »Reichtum für die Völker« voraussieht, den die Juden einst spenden werden(17) – Bilder freier Kommunikation mit noch unbekanntem Ergebnis –, urteilt die Kirche wie der frühe Paulus, der gesagt hat, schon sei »der Zorn über sie gekommen – bis zum Ende«.(18) Sobald Christen über Hebel der Staatsmacht verfügen, nehmen sie die Realisierung des »Zorns« in eigene Regie.(19) Die Juden aber, denen man vorwarf, sie ließen sich nicht bekehren, hatten sich mit vollem Recht verweigert, denn sie lehnten die falsche Endzeittheologie ab.(20)

 

Prolog auf Erden: Die marxistische Revolutionstheorie

(1)

Ist nicht wieder und wieder gesagt worden, dass aus der christlichen Endzeittheologie die marxistische Revolutionstheorie geworden sei? Wir wenden uns Marx zu, bevor wir die Gesamtgeschichte der realen Kommunikation von Kirche und Welt rekapitulieren. Das bräuchte gar nicht eigens motiviert zu werden, denn kaum jemand wird bestreiten, dass der Marxismus ein besonders wichtiges Resultat dieser Kommunikationsgeschichte war. Der Marxismus könnte sich auch als besonders wichtige Voraussetzung für ihren Fortgang entpuppen. Schon deshalb wäre es gerechtfertigt, ihn vorab herauszugreifen und erst danach auf die Gesamtgeschichte in der Reihenfolge von Christi Tod bis heute einzugehen. Es gibt jedoch noch eine andere Erwägung, die weniger selbstverständlich ist.

Im ersten Teil dieses Essays wurde die Geschichtstheologie erörtert, die dem Neuen Testament eingeschrieben ist. Es zeigte sich uns kein bloß kontemplatives Geschichtsbild, sondern eine Theorie, die zum Handeln auffordert: dazu, der Welt zu leuchten, eine Kirche zu gründen und sie noch in der geschichtlichen Nacht – ja gerade dann – zu kontinuieren. Jetzt im zweiten Teil fragen wir, wie tatsächlich in der Kirchengeschichte gehandelt worden ist. Dabei geht es nicht darum, die reale Kirche bloß an ihrem Begriff zu messen. Ich fasse den Begriff schon selber als etwas Reales auf. Denn was ich die »kirchliche Funktion« nennen möchte – das, wozu die Kirche da ist –, ist schon als Funktion wirklich vorhanden. Die Funktion ist real, weil ohne Unterbrechung ihre Realisierung versucht wurde und wird. Nur eine Frage bleibt offen: nicht ob, sondern wie sie realisiert wurde. Meine Antwort wird nicht erschöpfend sein. Ich behandle die Frage nur geschichtstheologisch. Es wird nur eine Phänomenologie historischer Ereignisse geboten, solcher Ereignisse eben, in denen sich die Realisierung der kirchlichen Funktion zeigt. Die geschichtstheologische Interpretation besteht darin, dass ich die Logik zu erfassen versuche, nach der die Kommunikation von Kirche und Welt ihren Lauf nimmt.(21)

Nun müssen wir, um der Phänomenologie historischer Ereignisse ansichtig zu werden, unsere Blicke auf Etwas lenken. Wir werden sie auf die Kirche lenken und stoßen sofort auf die Frage, wer uns denn sagt, dass »die Kirche« die Kirche ist. Woher wissen wir, ob nicht die kirchliche Funktion von anderen Menschengruppen viel eher realisiert wurde, wird und werden wird als von denen, die sich »die Kirche« nennen? Wenn man Kirche nur durch die Spendung von Taufe und Abendmahl definiert, fallen auch Hitlers Deutsche Christen darunter. Weitergabe der christlichen Botschaft muss hinzukommen: Weitergabe nach außen, also »Mission«, und vor allem deshalb auch institutionsintern. Was ist dann von nicht missionierenden Kirchen zu halten, die Taufe und Abendmahl nur heilsegoistisch den Kirchenmitgliedern spenden? Sind Christus, Taufe und Abendmahl unter anderem Namen, dafür mit besserer Einsicht in das, worauf es ankäme, auch in nichtkirchlichen Institutionen denkbar? Wir mögen das verneinen. Wir fordern vielleicht den Nachweis der apostolischen Sukzession. Aber was ist die Gestalt, in der die Sukzession selbst in der Geschichtsunterbrechung nicht abbricht?(22)

Das sind Fragen, die nur von einer Institutionstheologie beantwortet werden könnten. Von ihnen muss der vorliegende Text abstrahieren. Dann bleibt nur der Weg, die reale Kirche mit anderen Kandidaten, die als Realisierer der kirchlichen Funktion in Frage kommen, realgeschichtlich zu vergleichen. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich hier mit einer Erörterung des Marxismus einsteige. Ist womöglich die kirchliche Funktion durch die marxistische Bewegung besser realisiert worden als durch das Phänomen namens Kirche? Die Kommunisten verstanden sich zwar nicht als religiöse Bewegung. Aber sie stellten sich in die Kontinuität solcher Bewegungen wie derjenigen Thomas Müntzers, der ein Gottesreich auf Erden schaffen wollte. Geht man weiter zurück, stößt man darauf, dass der Kommunismus eigentlich eine Innovation des Neuen Testaments ist. Rosa Luxemburg hat in einer 1905 veröffentlichten Broschüre(23) argumentiert, den Kommunismus der Apostelgeschichte(24) unterscheide von demjenigen ihrer Zeit nur dies, dass die Urchristen lediglich die Konsumgüter, die modernen Kommunisten aber auch die Produktionsmittel vergesellschaften wollten und mussten, weil sie nicht mehr, wie die Urchristen, in der »Naherwartung« des allen Konsum überflüssig machenden Weltendes lebten.

Neben solchen historischen Gesichtspunkten gibt es theologische. Obwohl Marx sich nicht aufs »göttliche Recht« berief wie die Kämpfer im Bauernkrieg, ist der theologische Hintergrund seiner Theorie der »Entfremdung« unübersehbar. Epheser 4, 18 sagt von den Heiden, sie seien apellotriomenoi vom Leben Gottes; darin steckt peloi, »in der Ferne«; sie sind »als Fremde ausgeschlossen«, übersetzt Pannenberg.(25) Er erinnert daran, dass »Entfremdung« nichts anderes als »Elend« besagt, denn »Elend« leitet sich von altsächsisch eli-lendi, »in fremdem Land, ausgewiesen«, her. Die Rede vom Elend aber, so Pannenberg, »beschreibt umfassender als die klassische theologische Lehre von der Sünde die Situation der Verlorenheit des Menschen in der Gottesferne. [...] Dadurch wird der innere Zusammenhang von Sünde und Sündenfolgen deutlicher als das beim Begriff der Sünde selber der Fall ist.«(26) So können wir den Umstand, dass Marx gerade den Entfremdungsbegriff, aber auch den Verelendungsbegriff prominent machte, theologisch erhellen: Marx ist derjenige, der an den »Sündenfolgen« ansetzt. Das ist sein Ort in der Theologiegeschichte, und auch in der Geschichtstheologie. Er macht das äußere Elend für das innere verantwortlich. Er tritt nicht für Bußübungen ein, sondern für die Veränderung der Welt.

Wenn der Marxismus sich als kirchliche Bewegung konstituiert hätte, wäre diese von der Kirche »häretisch« genannt worden. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich Marx hier erörtern will.

 

(2)

Zunächst drängen sich Parallelen auf. Es gibt Übereinstimmung nicht zuletzt im Bösen. Jemand, der sich im Besitz der endgültigen Wahrheit wähnte, war Lenin. »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist«, behauptet er irgendwo. Hängen Endwissen und »Straflinie« nicht auch im Marxismus zusammen? Ein Friedrich Engels kann sich direkt auf die Johannes-Offenbarung berufen: »Je näher die Krisis rückt«, schreibt er begeistert, »je dichter die Plagen und Strafgerichte vom Himmel herunterregnen, mit desto größrer Freude meldet unser Johannes, dass die große Masse der Menschen noch immer nicht Buße tun will«. »Hier ist [...] noch keine Rede von der ›Religion der Liebe‹, von dem: Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen usw., hier wird unverhohlene Rache gepredigt, Rache, gesunde ehrliche Rache an den Verfolgern der Christen.«(27)

Hingegen scheint Karl Marx eher spätpaulinisch gedacht zu haben. Sein erstes politisches Manifest, die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, beginnt mit einem wenig veränderten Zitat aus dem Römerbrief.(28) Seine leitende Idee, dass Befreiung keine Sache des Jüngsten Tages sei, sondern sofort beginnen müsse,(29) widerspricht vielleicht der damaligen Kirchenlehre;(30) mit dem Römerbrief ist sie umso besser vereinbar. Der sagt ausdrücklich, diejenigen, die »das Geschenk der Gerechtheit empfangen«, würden »im Leben König werden«, nicht erst im oder nach dem Tod.(31) Marx war kein säkularisierter Endzeit-Theologe. Die Hoffnung aufs »letzte Gefecht«, die kommunistische Revolution, macht ihn noch nicht zu einem solchen, denn danach sollte die Geschichte ja weitergehen, sogar erst richtig anfangen. Die Revolution aber dachte Marx buchstäblich als Ereignis in einer Geschichtsunterbrechung. Niemand kommt diesem Begriff näher als er.

Denn zweifach stattete er die Revolution mit historischer Notwendigkeit aus. Einmal sollte sie der Umschlag zum Guten auf der äußersten Spitze des Schlimmen, der Geschichte des Privateigentums sein. Weil das Proletariat »die Auflösung aller Stände ist«, die »Auflösung der Gesellschaft« sogar und »der völlige Verlust des Menschen«, deshalb traute er ihm die Tat zu.(32) Das war, wie wir noch sehen werden, theoretisch zu kurz gesprungen, obwohl man gerade diesem Gedanken eine Nähe zu Paulus attestiert hat.(33) Aber zum andern bestimmte Marx die Zeit der Revolution als Zeit der Wirtschaftskrise. Darin lag viel mehr Plausibilität. In einer Periode der Kapitalvernichtung und der Arbeitslosigkeit, der Verelendung des Proletariats kann dieses nicht anders, so schien es, als sich gegen die Minderheit der Ausbeuter zu erheben, denen gerade dann die Legitimation ihres Tun abhanden gekommen sein würde. Was ist diese Periode, wenn nicht eine Geschichtsunterbrechung, in einer Gesellschaft jedenfalls, die ihre Produktionsweise als überhistorisch ewige verkennt, wie ja gerade Marx ihr vorhält? So begegnet sie tatsächlich bis heute den Stützen der Gesellschaft: als »Depression«, aus der nur die technische »Innovation« herausführt. Aber da das Marxsche Revolutionsprogramm direkt an die Deprimierten, die arbeitslos werdenden Arbeiter adressiert war, realisierte vor allem er die Funktion des erhellenden Worts in der Nacht, von der ich gezeigt habe, dass sie als kirchliche einst entstanden ist.

Marx musste diese Funktion usurpieren, weil die Kirche es damals versäumte, sich auf die Seite der Elenden zu stellen; sie brachte mehr Verständnis für den Klassenkampf der Ausbeuter als für den der Ausgebeuteten auf.(34) Auch wenn Marx sich mit der Usurpation übernommen haben sollte, war sie historisch legitim. Aber die Situation blieb nicht, wie sie war, sie hätte bald ein weiteres Mal eines theoretischen Neuansatzes bedurft. Die Sache ist bekannt genug, Friedrich Engels brachte sie zur Sprache: Das Proletariat, jedenfalls damals schon das britische, konnte bestochen werden, weil seine Herren über die kolonialen Reichtümer verfügten – es war sogar in der Wirtschaftskrise für einen Aufstand nicht mehr elend genug.(35) Das war aber nur eine Beobachtung. Sie schrie nach der theoretischen Einsicht, dass somit eine Situation wie im alten Rom entstand.(36) Dessen Proletariat hatte aus einem analogen Grund ebenfalls nicht revoltiert: weil der Staat es ernährte und die unterworfenen Länder die Kosten trugen.(37)

Hier genügte es nicht mehr, dass Marx’ Konzept faktisch das einer Geschichtsunterbrechung war, in der wenn nicht die Kirche, dann das Proletariat der Welt leuchten sollte. Nun hätte er den Begriff gebraucht. Nun kam es darauf an, zu sehen, dass die Wirtschaftskrise eine Geschichtsunterbrechung gar nicht mehr war und schon deshalb auch keine Revolution provozieren konnte – dass Marx’ Strategie an diesem Punkt zusammenbrach. Der Begriff hätte es ihm erlaubt, die Analogie seiner Situation mit der römischen zu erkennen, über den Unterschied der Zeiten und der ökonomischen Epochen hinweg, statt in den Spuren der Wiederkehr Roms, die er ja durchaus bemerkte, nur theoretisch unverwertbare Maskerade zu sehen.(38) Er hätte es sich deshalb erlauben dürfen, weil gerade im Vergleich mit Rom zu sehen war, dass es eine Linie gab, bei deren Überschreitung das Ökonomische gar nicht mehr die Hauptrolle spielte. Dass die britischen Arbeiter und die römische Plebs bestochen werden konnten, war das Ergebnis militärischer Macht. Diese hat zwar ihrerseits ökonomische Gründe, doch will ihre eigene Logik unabhängig bedacht sein, wenn es um Theorie der Revolution geht.

Eine solche muss zu dem Schluss kommen, dass bei einem bestimmten Reifegrad des Militärischen ein Aufstand weder im Machtzentrum der Ausbeutung ausbrechen wird, denn hier fehlt den Ausgebeuteten, weil sie bestochen sind, die Motivation, noch in der kolonialisierten Peripherie, denn hier fehlt die qualifizierte Militärtechnik. Die Theorie wird zeigen, dass die Geschichte damit noch nicht zuende ist. Es kam ja der Moment, von dem an es in der römischen Welt sinnlos wurde, zwischen Machtzentrum und Peripherie überhaupt noch zu unterscheiden. Das war die Zeit der Bedrohung von außen, die die römische Gesellschaft zwang, sich zu militarisieren.(39) Jetzt erst, als die Steuerlast die Gesellschaft in den Ruin trieb, einen ökonomischen Ruin aus militärischen Gründen, wurde die Revolution erfolgreich – die christliche nämlich.

Dieser nicht zufällige, sondern typische Schritt vom Ökonomismus zur Selbstmilitarisierung war es, den zu bedenken Marx außerstande war. Er sah deshalb nicht alle wichtigen Strukturen und Bedingungen der Revolution. Die Wirtschaftskrise ist noch nicht die Geschichtsunterbrechung, und doch steht eine solche auch dem Kapitalismus bevor. Man wird auch die Unterbrechung des Kapitalismus nicht allein in ökonomischen Begriffen aussagen können. Deshalb führt kein allein ökonomischer Vorschlag aus ihr heraus. Es war im antiken Rom nicht zufällig die Kirche, die den kommunistischen Vorschlag als erste unterbreitete, dies aber als Nebenbedingung ihres eigentlichen Anliegens. Das ist es, was begriffen werden muss. Die Kirche wollte der Todesangst entgegenwirken, zu der es in der Geschichtsunterbrechung notwendig kommt. Deshalb wollte sie auch gegen die wirtschaftliche Angst etwas tun.(40) Den Zusammenhang, der zwischen Todesangst und Verelendungsangst besteht, kann wahrscheinlich nur sie artikulieren, auch heute noch. Er besteht darin, dass für die meisten Bürger zuerst die Verelendungsangst aufhören muss, damit sie dann auch die vom Elend gespeiste Todesangst überwinden können, – dass ein solcher Prozess aber nur in Gang kommt, wenn es Einige gibt, die zuerst von der Todesangst frei werden, um dadurch erst, obwohl selbst noch im Elend lebend, fähig zu sein, zur Beseitigung der Bedingungen des Elends den Anstoß zu geben, – um aber auch schon während des Beseitigungsversuchs, ja in Zeiten, die ihn erschweren oder verhindern, den trotzdem gewonnenen eigenen Lebensmut auf andere zu übertragen.(41)

 

Die Kirche war auf dieses Bedingungsgefüge sicher deshalb aufmerksam geworden, weil sie, wie vor ihr nur Israel, von der Endlichkeit des Lebens wusste. Durch Verweis auf ein Paradies nach dem Tod konnte sie nicht Trost spenden, also musste ihr das Leben thematisch werden und mit dem Leben die Lebensmittel. Die Kommunisten aber haben immer nur einen Teil des Bedingungsgefüges durchschaut. Die Überwindung der eigenen Todesangst machte sie in der Regel elitär. Sie kam zudem auf problematische Weise zustande. Gegen die Unsterblichkeitslehre notierte der junge Marx: »[...] das Leben vergeht ja nicht, sondern dies einzelne Sein. Betrachtet sich dies einzelne Sein als ausgeschlossen von diesem verharrenden allgemeinen Leben, kann es dadurch reicher und voller werden, dass es seine Winzigkeit eine Ewigkeit fortträgt?«(42) Ist es nicht vielmehr so, dass das »allgemeine« Leben sehr wohl vergeht und zwar eben mit der »Winzigkeit«, an die es ganz und gar gebunden ist? Dem Einzelnen ist noch kein Halt gegeben und keine Würde zugesprochen, wenn man es nur im Allgemeinen untergehen lässt.

 

(3)

Mit Recht geht Marx davon aus, dass es eine in sich zusammenhängende Produktionsgeschichte gibt, weil jede Generation ihre Lebensmittel selbst produziert und es mit den überkommenen Produktionsmitteln tun muss, wobei sie die Freiheit hat, diese zu modifizieren.(43) Auch dass der Prozess immer wieder die »Produktionsverhältnisse« des Privateigentums umwälzt und zur immer stärkeren Ausdifferenzierung der Produktionssubjekte und -elemente führt, ist bestimmt nicht falsch gesehen. Das immanente Problem dieser Auffassung kommt erst da ins Spiel, wo Marx den Prozess im 19. Jahrhundert ankommen lässt. Inzwischen ist sogar der Mensch aufgelöst, denn nur seine Arbeitskraft geht noch in die Produktion ein; er wird zu ihrem Händler, andere wenden sie an. Nun soll die Stunde der Synthese nach der bloß analytischen »Vorgeschichte« anbrechen. Der »naturwüchsige« Zusammenhang der Produktionselemente ist zersetzt. Er lässt sich nur künstlich, nur »bewusst« zurückgewinnen. Und er ist schon zurückgewonnen, allerdings auf perverse Weise durch das Kommando des privaten Kapitals.(44) Es bleibt nur noch dessen revolutionäre Überführung in ein gesellschaftliches Kommando zu leisten. Auf diesen letzten Schritt will Marx hinaus. Es ist aber gar nicht zu begreifen, wie es zu so einer Umkehrung der bisherigen Geschichtslogik denn kommen soll.

So viele Umwälzungen es gegeben hat, sie haben immer nur die Institution des Privateigentums variiert. Marx selbst nennt die Umwälzungen einen »naturgeschichtlichen Prozess«. Damit will er nicht nur ihre Bewusstlosigkeit hervorheben, sondern auch, als Konsequenz, ihren entropischen Charakter. Vom Bewusstsein weiß er, es sei nur bewusstes Sein. Dann müsste er doch selbst urteilen, dass aus entropischem Sein niemals negentropisches Bewusstsein entspringen kann.(45)

Ein anderes Problem ist von außen zwar, aber ohne Willkür von der Geschichtstheologie her zu ergänzen. Marx stellt fest, dass jede Generation wegen der unvermeidlichen Lebensmittelgewinnung zur Herstellung der historischen Kontinuität der Produktion gezwungen ist. Alles andere ist ihm nur Ideengeschichte, die keinen immanenten Zusammenhang habe. Immerhin räumt er ein, dass in der Produktion selber Ideelles impliziert ist.(46) Er übersieht aber, dass die Generationen nicht nur zur Lebensgewinnung gezwungen sind, sondern auch zur Todesgewinnung.(47) Denn so wenig das Individuum isoliert überleben kann, so wenig kann es isoliert sterben. Auch der Tod wird gesellschaftlich vermittelt. Und er ist keine bloße »Idee«, sondern so sehr materielle Tatsache wie das Leben. Verhungern und Todesangst sind zwei Folgen menschlicher Isolation – wer wollte behaupten, das zweite sei weniger schlimm als das erste? Deshalb sind die Generationen zur Kontinuierung nicht nur der Produktionsgeschichte, sondern auch der Religionsgeschichte gezwungen. Übrigens ist Marx selbst der beste Beweis, dass gut erforschte Produktionsgeschichte sich von Religionsgeschichte gar nicht trennen lässt. Denn im Zentrum seiner Kapitaltheorie finden wir den Gedanken, kapitalistisches Geld funktioniere nach der Logik des Fetischs.(48) Von anderen Produktionsweisen wäre Analoges zu sagen. So berichtet ein Historiker, für »die rasche Entwicklung und dann den Niedergang des Alten Reiches« der Ägypter sei »die Notwendigkeit, den Totenkult zu unterhalten«, verantwortlich gewesen.(49)

 

Der Marxschen Blickverengung zum Trotz können wir eine besondere Nähe zwischen seinem Geschichtsbild und dem theologischen in der neutestamentlichen Variante feststellen. Dass Marx die Produktionsgeschichte negativ als Zersetzungsprozess sah, scheint mir der entscheidende Zug seines Geschichtsbilds zu sein, obgleich er dabei nicht stehen blieb, sondern die »Negation der Negation« postulierte.(50) Es ist ein pessimistisches Bild, vor allem darin unterscheidet es sich von der bürgerlichen Fortschrittsphilosophie; man darf in der Marxschen Lehre keine »materialistische Grundierung« dieser Philosophie sehen, über deren Vernunftglauben Marx durchaus nicht verfügt – so wenig wie Paulus. Geschichtlich denken heißt nicht nur bei Paulus, sondern auch bei Marx, dass es darum geht, eine Nacht zu verscheuchen. Und auch Marx sieht anfangs nicht alle Zeit, sondern einen bestimmten Zeitabschnitt als nächtlich an. Denn als ursprüngliche Anwendung seiner Logik des Zerfalls wird man eine berühmte Passage des Kommunistischen Manifests betrachten dürfen: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion [...] zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. [...] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«(51) Er hat erst später in dieser Perspektive alle Zeit von den Anfängen bis zur Bourgeoisepoche gesehen.

Dass er einen revolutionären Ausweg aus der Wirtschaftskrise erhoffte, war noch verständlich. Aber wie soll ein Weg aus der geschichtlichen Gesamtlogik herausführen? Das sei ja nur die Logik der »Vorgeschichte«, antwortet Marx – aber hier erweist er sich der Geschichtstheologie unterlegen, eben weil er alle »Vorgeschichte« bloß als Zerfallsgeschichte begreift. Theologisch gesprochen, gibt es für ihn nur die eine Geschichte der Heilsordnung: Wie diese nur Unheil und Heil kennt, kennt auch Marx nur zwei Etappen, eben Vorgeschichte und Geschichte. Aber wenn es nicht schon immer auch eine Erhaltungsordnung gegeben hätte – zur Eindämmung des Unheils, so dass auch die Heilsordnung nicht bloß einseitig im Anwachsen des Elends vor dem Umschlag ins Heil bestand –, dann wäre jede Hoffnung aufs Heil vergebens. Wenn es, umgekehrt, eine Erhaltungsordnung gibt und immer schon gab, dann ist die Unterscheidung von Geschichte und Vorgeschichte falsch. Dann gibt es Geschichte seit je. Geschichte freilich, die nicht ohne Unterbrechungen fortläuft, weil jeder menschliche Versuch zur Errichtung der Erhaltungsordnung scheitert. Übrigens würde das auch für jeden kommunistischen Versuch gelten. Die Eindämmung des Unheils ist immer durchlöchert, so sehr, dass nicht selten die Löcher größer sind als der Damm, und am Ende bricht dieser ganz.

Die Annahme von Marx, dass sich materielle Basis und ideologischer Überbau einer Epoche systematisch aufeinander beziehen, war kein Ersatz für fehlende Überlegungen zur Erhaltungsordnung. Denn im Überbau kann es nur zum gelingenden oder scheiternden Nachvollzug der Prozesse an der Basis kommen: entweder so, dass man sie dort aufhält und das Aufhalten »ideologisch« legitimiert, oder so, dass sie als revolutionär zu beschleunigende »bewusst werden«. Wie wir sahen, handelt es sich um entropische Prozesse. Ein politisches Management entropischer Prozesse kann diese aufhalten oder noch beschleunigen, aber eine Erhaltungsordnung wird aus solchen Behelfen nicht herausspringen. Natürlich kann auch eine Erhaltungsordnung nur transitorisch und relativ sein. Aber solange es sie jeweils gibt, hält sie die Zersetzung nicht nur auf, sondern ist auch etwas Anderes als sie. Was dies Andere ist, danach konnte Marx nicht einmal fragen.

 

Die Epigonen scheinen den Mangel gespürt zu haben, doch ihre Lösung fällt hinter Marx’ Problembewusstsein zurück. Wie wir sahen, geht Stalins Theorie, Geschichte sei eine »notwendige« Folge von fünf »Gesellschaftsformationen«, über Umwege auf Daniels Vier-Reiche-Schema zurück. Marx hatte nur zwei Formationen unterschieden, die kommunistische und die des Privateigentums, eben »Geschichte und Vorgeschichte«, Geschichte der Ordnung und Vorgeschichte der Zersetzung.(52) Stalin kannte wieder mehrere vorgeschichtliche Formationen. Im Grunde kehrte er zur gängigen Zeitaltertheorie zurück, die er nur einer ökonomistischen Überarbeitung, ja Verkürzung unterzog, so dass aus der Antike die Sklavenhaltergesellschaft, aus dem Mittelalter der Feudalismus, aus der Neuzeit der Kapitalismus wurde. Die Formationen waren wieder zu Ordnungen geworden. Seit Stalin behauptet man, jeder Ordnung liege eine bestimmte Produktionsweise zugrunde, und gibt das für die marxistische Geschichtstheorie aus. Doch man kann es nicht im Ernst behaupten, wenn man gleichzeitig sagt, die »vorgeschichtlichen« Produktionsweisen begründeten eine Geschichte von Klassenkämpfen, sie lösten also die Produktion auf und deshalb die Gesellschaft. Wo nur Produktionsweisen zugrunde liegen, liegen sie keiner Ordnung, sondern nur der Unordnung zugrunde.

In Marx’ Konzeption klafft ein Spalt. Dass die Umkehrung der Entwicklungslogik des Privateigentums möglich war, wäre nur im Rekurs auf schon vorgängige Mechanismen der Erhaltung, an die angeschlossen werden konnte, sei es auch über eine Geschichtsunterbrechung hinweg, plausibel zu machen gewesen.(53) Marx, der sich auf die historische »Notwendigkeit« berief, hat doch nur einen Vorschlag in die Geschichte eingespeist. Das ist nicht nichts, denn immerhin: Während wir nicht wissen, ob es zur kommunistischen Gesellschaftsformation je kommen wird, gibt es den Kommunismus als Marxschen Vorschlag wirklich. Der konnte aber nicht geschichtsmächtig werden, weil ihm zu vieles fehlte. Für alles, was an ihm nicht »notwendig« war, hätte er ja selbst aufkommen müssen. Rein als Vorschlag genommen, war sein Anspruch zu groß. Marx hat sich übernommen. Meine These ist, dass ein solcher Vorschlag weder gut erdacht noch günstig aufgenommen werden kann, wenn sich nicht vorher die Kirche bewährt, indem sie den Schatten des Nihilismus durch ihr Wort verscheucht. Der wird sonst alles zersetzen, auch den kommunistischen Vorschlag und nicht zuletzt auch die Moral der Kommunisten, wie aus dem 20. Jahrhundert hinreichend bekannt sein sollte.

 

Die Geburt des unendlichen Gottes

(1)

Es mag zunächst als Abschwächung der Bedeutung der Kirche erscheinen, wenn ihr Missionsauftrag in den bloßen Verlauf ihrer Kommunikation mit der Welt eingeordnet und nur dieser zum Gegenstand von Geschichtstheologie gemacht wird. Tatsächlich ist aber gerade dann zu sehen, dass sich, seitdem es kirchliche Kommunikation gibt, alle Geschichte um die Kirche dreht.

Für die Spätantike und fürs Mittelalter ist das so offensichtlich, dass ich es nur kurz in Erinnerung zu rufen brauche. Die Kirche glaubte also das endgültige Wissen zu haben.(54) Nun, dann konnte sie keinen Pluralismus der Lehrmeinungen dulden. Der Arianismus war keine verrückte Lehre: Er sah in Jesus nicht Gott und konnte sich dafür aufs Neue Testament berufen. Die Kirche, die mittlerweile Staatskirche geworden war, schied ihn als Häresie aus.(55) Folglich entstand in den Gebieten seiner Ausbreitung der ihm ähnliche Islam. Dann wurde die römische Kirche zum Zentrum der Anmaßung von Allwissenheit. Lange bevor die »Unfehlbarkeit des Papstes« als Dogma ausgerufen wurde, nahmen es die Päpste in Anspruch, obwohl das Neue Testament nur die Infallibilität der Kirche versprochen hatte, das heißt ihre Erhaltung sogar ungeachtet der nihilistischen Geschichtsunterbrechungen. Ohne den falschen Anspruch hätte kein Papst die Trennung der West- von der Ostkirche leichthin verfügen können, nur weil es ein paar marginale theologische Differenzen gab. Der Verlust Kleinasiens und des Balkans an den Islam war die unmittelbare machtpolitische Folge, langfristig gewann die Trennung Westeuropas von Osteuropa, besonders vom späteren Russland, an Wahrscheinlichkeit. Dann der »Investitur-Streit«: Die Kirche hätte sich zwar auf jeden Fall von den deutschen Kaisern des Mittelalters emanzipieren müssen, doch war es dem Endzeit-Hochmut geschuldet, dass sie es in der Form tat, sich selbst zum Überkaiser auszurufen. Eine weitere Folge des Hochmuts war die Entstehung des Protestantismus. Weil sie nicht hingenommen wurde, gab es Konfessionskriege. Deren Konsequenz ist der moderne Säkularismus.

Wie man sieht, wollte die Kirche auf Antworten, die ihr angemaßtes Endzeit-Richtertum in Frage stellten, nicht eingehen. Ihr Kommunikationsverhalten war dennoch weder durchweg verdorben noch überall einseitig. Unter ihrem Einfluss blieb die Kultur der Antike nicht nihilistisch. Man versuche sich nur einmal die römische Welt oder die nachfolgenden germanischen Reiche ohne Einwirkung des Christentums vorzustellen. Was hätten diese Reiche von der römischen Kultur gelernt? Etwa nicht die Geilheit auf Gladiatorenkämpfe? Noch Augustin berichtet, wie schwer es einem Freund fiel, der später Bischof von Thagaste wurde, sich der Faszination solcher Events zu entziehen – »denn kaum sah er das Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit in sich hinein«.(56) Gewiss fehlte den Christen, die mit der römischen Staatsmacht im Rücken terroristisch gegen heidnische Kulte vorgingen, das Unterscheidungsvermögen. Es gab welche, die einen Sklaven vor der rituellen Schlachtung bewahrten,(57) und es gab die schändlichen Mörder der neuplatonischen Philosophin Hypatia.(58) Ungeachtet dessen fand bekanntlich so viel Kommunikation mit den Kulten und der antiken Philosophie statt, dass man der Kirche heute vorwirft, sie habe sich beiden zu sehr angepasst.

Im christlichen Mittelalter, an dem sich dieselbe Dialektik zeigen ließe, nimmt die Veränderung der kirchlichen Botschaft infolge der Kommunikationsbedingungen besonders gravierende Formen an. Das Mittelalter steht unter dem Zeichen der Rekonstruktion römischen Rechts, deren Ergebnis die »Territorialstaaten« sind, von denen die Entwicklung des Staatsnationalismus und somit der Neuzeit ausgeht, wozu auch die Wiederentdeckung der römischen Kriegsführungsmethoden am Ende des Mittelalters erheblich beiträgt. Doch nicht nur Recht, Militärtechnik und Geld bedurften der Rekonstruktion, sondern auch das Christentum musste gleichsam neu erfunden werden. Es war, wie man leicht vergisst, ursprünglich in eine hochartifizielle, eben die spätantike Welt hineingesprochen und ist daher seinerseits eine hochintellektuelle Angelegenheit,(59) die nun aber, nach dem Zusammenbruch dieser Welt, zur Lehre für primitive Barbaren wird. Kein Wunder, dass sie sich bald selbst in eine primitive Lehre verwandelt. Es gelingt jedoch im Lauf der Jahrhunderte, den ursprünglichen Gehalt teilweise zurückzugewinnen, weil der Gründungstext vorliegt und die kulturellen Bedingungen seines Verständnisses sich allmählich bessern.(60)

Es ist einseitig, aber richtig, wenn Jürgen Moltmann den guten kirchlichen Einfluss speziell auf die Geschichte des Staates wie folgt zusammenfasst:(61) »Wo immer das Christentum sich ausbreitete, veränderte sich die Staatsauffassung. [...] Die Alte Kirche verwarf den Kaiserkult und ersetzte ihn durch die machtbegrenzende Fürbitte für den Kaiser.(62) Mittelalter und Reformation relativierten die politischen Ordnungen zu Neuordnungen in der Welt, die dem Wohl, nicht aber dem Heil dienen. Der Puritanismus schaffte die Standesherrschaft ab und ersetzte sie durch den Staatsvertrag, den covenant oder die constitution der freien Bürger.« Moltmann hebt das hervor, weil er einen entsprechend guten Einfluss heute vermisst.

 

(2)

Auf die tiefste Ebene kirchlicher Einwirkung auf die Gesellschaft kommen wir aber erst dann, wenn wir den guten oder schlechten Charakter einmal beiseite lassen, um nur mit Historikersinn zu fragen, was denn aus dem Kern der Botschaft der Kirche geworden ist, dass sie nämlich der Angst vor dem Ende entgegenwirken soll. Den säte sie wirklich mit vielen Senfkörnern in den geschichtlichen Boden. Durch nichts mehr als dadurch hat sie Geschichte gemacht. Der Angst hat sie sicher nicht nur entgegengewirkt, sondern sie auch gefördert im Zug der »Straflehre«, der sie allzu sehr anhing. Eine zweideutige Bilanz – aber wie auch immer: Es ist in diesem Zusammenhang zu einer Veränderung des Bildes gekommen, das sich unsere Gesellschaft vom Tod macht.

Was es heißt, dass Jesu Grab leer war, wurde erstaunlich gut verstanden. Dieser Mann hatte nicht nur keine Beigaben ins Grab mitgenommen, wie es bei großen Männern üblich gewesen war – Waffen, Edelsteine, gar Diener und Frauen –, sondern er selbst, so machten seine Jünger deutlich, existierte dort nicht mehr. Während er in der Kirche, seinem auferstandenen Leib, und durch den von ihm herrührenden Geist fortbestand, war es mit dem, was an ihm »lebendig« gewesen war, vorbei, denn »Fleisch und Blut kann Gottes Königtum nicht erben«.(63) Die ersten Christen hatten die Lektion gelernt, sie maßen den Gräbern keine Bedeutung mehr bei.(64) So radikal war es außerhalb des Judentums bis dahin nicht eingesehen worden, dass der Tod endgültig ist.(65) Wie sehr das jüdisch-christliche Bild vom Tod schon in der Antike schockierte, lässt sich an der Reaktion des heidnischen Philosophen Celsus ermessen. Paulus hatte ewiges Leben als »überkleidete« Existenz des endlichen Menschen veranschaulicht. Die Überkleidung geschah durch die Mitteilung des Worts Gottes. Mit ihm war ein Samen des Gottesreichs in den Menschen gelegt, der nun lebenslang wuchs und dem Menschenleben Anteil an der göttlichen Ewigkeit gab.(66) So muss es von der Kirche auch kommuniziert worden sein, denn bezeichnend ist Celsus’ Reaktion: Die Christen hätten Platons Lehre der Seelenwanderung »missverstanden« – dass die Seele womöglich nicht wandert, sondern stirbt, erwägt er nicht einmal –, »wobei sie von einem Samen des Leibes reden, von einem Ausziehen und Darüberanziehen der Leiber«.(67)

Celsus war Platoniker; andere Intellektuelle, die mehr von Aristoteles geprägt waren, mochten die Endgültigkeit des Todes eher hinnehmen, weil er sich als aristotelischer telos, Ende und Ziel in Einem, Voll-Endung, denken ließ. Das ist ja auch der Grund, weshalb Aristoteles noch in der Geschichte der christlichen Theologie eine so bedeutende Rolle hat spielen können. Dennoch gibt es auch bei Aristoteles ein Jenseits in Gestalt eines Seins ohne Zeit, eines Seins, das die Zeit vom Ende her »teleologisch« formiert, indem es von Anfang an fertig da ist. So sehr dies jenseitige Sein auf fast Nichts zusammengeschmolzen ist: Es kann einen Intellektuellen nicht auf die Idee bringen, die Todes-Endgültigkeit dem Volk zu predigen, das in Bildern denkt. Denn zur Veranschaulichung eines zeitlosen Seins wird man immer Jenseitsbilder benötigen. Nur wer das Sein lehrt, das nirgends als in der Zeit ist, braucht Jenseitsbilder nicht. Er braucht nur Zeitbilder, wie das Bild vom Kreuz eines ist.

Einen Epikuräer gab es, der die Predigt der Todes-Endgültigkeit versuchte: Lukrez mit seinem Lehrgedicht De natura rerum, »Von der Natur der Dinge«. Doch das war ein hilfloser Versuch, der sich selbst widerlegte. Lukrez lebt zur Zeit der Bürgerkriege, in die er sich nicht einmischt. Er sieht die Massaker, von denen Augustin sagen wird, ein Sulla habe mehr Senatoren umgebracht als »die Goten auch nur hätten berauben können«. »Der Friede stritt mit dem Krieg, wer grausamer wäre, und gewann den Sieg.«(68) Das schreibt Lukrez nicht. Sein Gedicht endet nur seitenlang mit Bildern, die von Goya sein könnten – er schildert die Pest von Athen. Es wird überdeutlich: Eine höllische Welt gibt die Angst ein, nach dem Tod könne sich das Furchtbare als ewiges Strafgericht permanent machen.(69) Diese Angst will Lukrez naturwissenschaftlich mit dem Hinweis widerlegen, vielmehr sei ja mit dem Tod alles aus. Die Christen wussten, das war die ewige Hölle: Sterben im Glauben, das erlebte Furchtbare werde »alles« gewesen sein.(70) Gegen diesen Glauben war zu kämpfen, und das konnte nicht mit »naturwissenschaftlichen« Argumenten geschehen.(71)

Im Mittelalter hörte sich die Predigt der Kirche oft so an, als wäre sie auf den heidnischen Glauben des Weiterlebens nach dem Tod zurückgefallen. Auf dem Höhepunkt des Mittelalters schien es sogar nützlich, die Jenseitsvorstellungen zu rehabilitieren: »Hölle« und »Fegefeuer« gaben eine opportune Kulisse für ganz weltliche Strafdrohungen ab.(72) Doch die Kirche hatte durchgesetzt, dass Tote ohne Grabbeigaben beerdigt wurden. Dabei blieb sie. Georges Duby meint, das sei der wichtigste Beitrag des Christentums zur ökonomischen Entwicklung gewesen. Denn die wertvollen unbegrabenen Güter flossen nun in den lebendigen Wirtschaftskreislauf.(73) Und warum lehrten die Mystiker, man müsse »zunichte« werden, um mit Gott vereint sein zu können? Es ist bezeichnend, dass unsere angeblich so moderne Gesellschaft die mittelalterlichen Jenseitsvorstellungen nur milde, allenfalls höhnisch belächelt,(74) mit wahrer Wut aber die Mystiker angreift. Denn zunichte wollen wir nicht werden – vielmehr hoffen wir, dass unsere Forscher das Todesgen isolieren und abschaffen.(75)

 

(3)

Zwischen Mittelalter und Neuzeit liegt keine Geschichtsunterbrechung, aber eine in ökonomischer Hinsicht totale Krise. Die Todesangst nahm wieder furchtbare Formen an. Sie wurde in der Verfolgung gesellschaftlicher Minderheiten ausgelebt. Damals entstand die Inversion, die den Geist des Kapitalismus bestimmen sollte: Gegen die harte Lehre von der Endlichkeit des Menschen wurde der „unendliche“ Gott gesetzt.(76) Dass Gott unendlich sei, war eine neue Erfindung. Hatte er bis dahin für Voll-Endung gestanden, so nun für das Un-Ende. Um sich mit Gott zu vereinen, wollte man nun also »unendlich« statt »zunichte« werden. Zunächst wurde Unendlichkeit nur als irdische Metapher der Ewigkeit verstanden. Der einzige Ort, mit ihr zu spielen, war die Mathematik, und die Träger des neuen Gedankens waren Kirchenleute wie der Kardinal Cusanus.(77) Doch später wanderte das Unendlichkeitsstreben als unendliches Geldvermögen (Simmel)(78) und Praxis der Profitmaximierung (Marx) in den Kapitalismus ein.(79) Als sich der Kapitalismus im 19. Jahrhundert mit der Naturwissenschaft verband,(80) verstanden dessen Träger sich schon weithin selbst als gottgleiche Schöpfer.(81) Dass seitdem die Technik nach dem unendlich Großen und Kleinen strebt, näherungsweise nach Raumfahrt und Urknall, Genen und Teilchenbeschleunigung, zeigt immer neu ihre Haftung an diesen Diskurs.(82)

Auch das kapitalistische Unendlichkeitsstreben ist Ergebnis der Kommunikation von Kirche und Welt. Erneut sieht man die Schuld der Kirche: Da gab es am Ende des Mittelalters eine schwere Zeit, in der Menschen die Aussicht des eigenen Endes nicht ertragen konnten, umso weniger, als ihnen dessen Endgültigkeit gelehrt worden war. Doch statt das Wort zu finden, das dem Ende den Schrecken nahm, hätte die Kirche selber eines gebraucht, das sie von der Angst-Paranoia abhalten konnte – etwa der des »Hexen«-Mords. Ihr Versagen in der Stunde der Bewährung kann uns nicht überraschen, denn schon vorher hatte sie den »letzten Dingen« einen überwiegend schrecklichen Charakter verliehen.(83) Ihre falsche Straf- und Endzeittheologie provozierte geradezu den Fluchtversuch ins Unendliche, der unsere heutige Lebenswelt prägt.(84)

Es ist eine fatale, aber nur allzu verständliche Flucht. Die Menschen wollten das Ende der Endzeit, dem nach kirchlicher Lehre das furchtbare Jüngste Gericht folgen würde, nicht tatenlos abwarten, sondern seine Überschreitung selbst in die Hand nehmen und somit für die Produktion des Himmels – aber auch der Hölle, wie sich nach einigen Jahrhunderten herausstellte; also der gesamten Gerichtsgewalt(85) – selbst aufkommen. Damit war die Unendlichkeit als Hauptfrage der Neuzeit geboren. Es war eine solche Unendlichkeit, der man in Befolgung der »Straflinie« nacheiferte. Die Kontrolle des Un-Endes war die gesuchte Antwort, die schon aus logischen Gründen nie erreicht werden, sich deshalb aber auch nie erledigen konnte; denn im Versuch, das Un-Ende zu kontrollieren, muss man es erst einmal herbeiführen, hat man es aber herbeigeführt, ist es zum Ende geworden und muss selbst wieder überschritten werden. Man hatte einen weiten Weg in die Ferne begonnen – so weit, dass man nicht mehr überblickte, ob nicht etwa das, was in der Nähe gerecht aussah, sich am Ende des Weges als ungerecht entpuppen würde und umgekehrt. Wer nach der fernen Unendlichkeit fragte, entwickelte auch ferne Vorstellungen von Lohn und Strafe wie etwa die, dass es gerecht sei, menschliches Leben nach seinem Materialwert zu veranschlagen,(86) ja es im Fall der Nutzlosigkeit zu vernichten.

 

Niemand wäre zu dieser Flucht aufgebrochen, wenn die Kirche nicht den Schrecken nach dem Ende gelehrt, sondern zur Befreiung vom Schrecken der Gegenwart ermutigt hätte – wenn nicht die Johannes-Offenbarung, sondern der Römerbrief ihr Leittext geworden wäre.(87) Durch die Konfessionskriege verlor sie zwar die gesellschaftliche Hegemonie. Aber auch die Epoche der »Säkularisierung« ist von ihr mitgeprägt, heißt doch »Säkularisierung« zunächst vor allem, dass der kirchliche Messianismus – ein Messianismus des Rechthabens und Richtens – zum Messianismus der Nationen wird. Denn die Sprache, mit der uns heute Präsident Bush entsetzt, wurde einmal von allen großen europäischen Nationen gesprochen. Messianisch geworden, wandten diese einen neuen Endgültigkeitswahn, der ohne seine Herkunft aus dem alten nicht verständlich wäre, nun gegeneinander.(88) Von den Kriegstoten hieß es nun, sie würden auf dem »Altar des Vaterlands« geopfert.(89) Zugleich strebt auch der Nationalismus ins Unendliche – nach Kolonien, nach der Weltherrschaft, nach »new frontiers« im Weltraum –, weshalb schließlich der Totalitarismus aus ihm hervorging,(90) dessen religiöse, aufs Christentum negativ bezogene Züge womöglich noch deutlicher hervortreten.

Und wer geglaubt hätte, dass in dieser Entwicklung die Bedeutung des kirchlichen Faktors immer mehr abgenommen habe, wäre spätestens durch den Holocaust eines Schlimmeren belehrt worden. Nicht nur der Messianismus, auch der komplementäre Antisemitismus der endzeitlichen Kirche war in grausig verwandelter Form immer noch da, indem es eine messianische Nation gab, die ihn sich zueigen machte.(91) Unsere Zeit ist nihilistisch, weil der Schatten von Auschwitz über ihr liegt.(92) Auschwitz zu beantworten, ist der Kirche noch nicht gelungen. Eine adäquate Antwort kann nur darin bestehen, dass sie die partielle Unwahrheit ihrer Lehre einräumt. Dabei handelt es sich zum einen darum, den Streit um die beiden Versionen von Endzeittheologie im Neuen Testament definitiv und in aller Öffentlichkeit zu entscheiden. Zum andern muss gefragt werden, ob nicht der Holocaust zur Veränderung der Lehre des Neuen Testaments zwingt. Im Holocaust wurde Israel, der »Gottesknecht«, und so der Jude Jesus(93) ein zweites Mal gekreuzigt. Die erste Kreuzigung hatte bedeutet, dass er mit seinem Projekt der Zurüstung Israels zur Missionskirche gescheitert war. Die zweite bedeutet nun, dass auch die Kirche gescheitert ist, die trotzdem entstand. Eine Theologie dieser ganz unerwarteten »Wiederkehr Christi« ist nicht in Sicht. Man kann sie sich nicht ohne tiefe Eingriffe ins Neue Testament vorstellen.(94) Aber nichts führt an ihr vorbei.

 

Das Geschichtszeichen

(1)

Wo sind wirin welchem Kairos der Geschichte? Das ist heute die Frage. Wir können nicht mit Lenin »Was tun?« fragen, weil zuerst der geschichtliche Rahmen geklärt sein muss, in dem unsere Handlungen einen Stellenwert hätten. Für die These von Marx, auf den Kapitalismus müsse notwendig der Kommunismus folgen, spricht wenig. Es gibt zwar keinen Grund, den kommunistischen Vorschlag nicht aufrechtzuerhalten: Nein zur Klassengesellschaft, Ja zur Regierung der Ökonomie und überhaupt der Gesellschaft durch deren eigene Organe statt durch einen abgesonderten Staat oder durch Private mit Sonderinteressen. Aber ein Weg, den Vorschlag unmittelbar geschichtlich zu implementieren, ist zur Zeit nicht gangbar.

Diese Weglosigkeit hängt mit dem zusammen, was Marx früh auf den Begriff brachte: »die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik«. »Die Religion« freilich, das ist nicht bloß Selbstgefühl, Theorie der Welt, geistiges Aroma, Gemüt, Opium, illusorisches Glück und was der Marxschen Vokabeln mehr sind(95) – sie ist eine materielle Wirklichkeit, die man zur Kenntnis nehmen muss, wenn man die Weltlage begreifen will. Die Kritik der materiellen Religion dürfte tatsächlich die Voraussetzung aller, auch der kommunistischen Kritik sein. Dies Materielle reduziert sich nicht auf Fragen der Ökonomie. Israel und islamische Welt, Europa und Amerika, Serbien und Bosnien, Westeuropa und Russland – was sind das für Unterschiede, wenn nicht solche eines materiellen religiösen Kalenders? So leicht ist es nicht, sie zu »kritisieren«. Es sind sämtlich Artefakte der Kirchengeschichte, die von Marx nicht beachtet wurde, weil er glaubte, Geschichte lasse sich schon als Geschichte von Klassenkämpfen hinreichend erklären.

Die materielle Wirklichkeit der Religion besteht in dieser spaltungsreichen Konstellation der Glieder der abrahamitischen Religionsfamilie. Wir haben gesehen, wie sie entstanden ist. Die Kirche entstand aus der Abwendung von Israel. Umgekehrt definierte sich Israel nach dem Krieg mit Rom auch durch den Ausschluss der Christen. Der Islam entstand in einem Gebiet, das als häretisches von der Kirche präpariert worden war. Die Trennung Westeuropas von Osteuropa wurde durch den Herrschaftsanspruch des Papstes mindestens verstärkt. Die USA sind eine Gründung von Puritanern, die in den Kirchen Europas keine Duldung gefunden hatten. Der Kapitalismus selber kann mit Walter Benjamin »als Religion« aufgefasst werden,(96) und auch diese entstand aus der Kommunikation mit und in der Kirche. Die Weltkrise, in der wir uns befinden, zeigt, dass im Niedergang des Kapitalismus nicht etwa eine ökonomische Nachfolge-Formation den Stab übernimmt, sondern zuerst die genannten religiösen Konflikte wieder zum Vorschein kommen. Der Kapitalismus enthüllt sich als Religion und tritt in einen Ausscheidungswettbewerb mit den anderen abrahamitischen Religionen ein, darunter auch mit dem Christentum.

Doch Benjamin irrte, als er schrieb, die neue Religion habe kein Dogma;(97) sie folgt vielmehr einer genauen theologischen Linie, dem Streben nach ferner Unendlichkeit. Dieser »faustische Trieb« hat die gegenwärtige Nacht heraufbeschworen. Denn in einer solchen befinden wir uns. Die Menschen mögen sich am Unendlichen erbauen, wo man ihnen Bilder zeigt, die es suggerieren; ihr eigenes Ende kommt dennoch, und wenn ihnen Unendlichkeit zuteil wird, dann nur so, dass sie die Glieder der unendlichen Reihe des Austauschbaren sind. Das ist das Schicksal der Arbeitskraft im Kapitalismus, des Menschen überhaupt im Totalitarismus.(98) Auch Biotechnik, Mensch-Maschine-Kombination und Verlassen der Erde, so sehr sie das ewige Leben versprechen mögen, können es nicht ändern und nicht einmal verhüllen, folgen sie doch selber dem Prinzip von Vernichtung und Ersatz;(99) das wird sich herumsprechen(100) und die Vernichtungsangst noch steigern.

So wartet man neuerlich auf das Wort der Kirche. Wird sie wieder versagen? Es ist hier der Ort, den Beitrag von Karl Barth zu würdigen. Er schärft ein, dass es kein Leben nach dem Tod gibt,(101) und wendet sich gegen Vorstellungen von ferner Unendlichkeit.(102) Eine Kirche, die das zusammenbrächte, hätte dem Nihilismus etwas entgegenzuhalten: dass der Unendlichkeitssog nicht sie, die Kirche, sondern die »Moderne« der mythischen Weltauffassung überführt. Denn die Bewegungen ins Unendliche sind Fluchtbewegungen.(103) Hinter dem Ende, das man immer neu übersteigen will, verbirgt sich eben der Tod, über den die Moderne so cool und aufgeklärt zu denken behauptet. Sie braucht dasselbe wie die Menschen im alten Rom: Befreiung von der Todesangst.(104)

 

(2)

Die Lehre von Marx, der die Religion schon abgetan wähnte, hat sich der kapitalistischen Religion gegenüber als ohnmächtig erwiesen. Glaubten doch Marx’ Epigonen, sie hätten die Avantgarde solcher »technischen Fortschritte« wie des Verlassens der Erde und der biotechnischen Manipulation des menschlichen Körpers zu sein.(105) Weder sie noch Marx selber widersprachen der Hauptfrage der Neuzeit. Diese wurde gar nicht durchschaut. Marx sah zwar, dass im kapitalistischen »Heißhunger« auf Mehrwert eine Strategie der »Profitmaximierung«, also der unendlichen Profitvermehrung impliziert war, der er immerhin das Projekt des gesellschaftlichen Plans einer nicht unendlichen, sondern proportionalen Ökonomie politisch konfrontierte.(106) Das war viel. Es war der erste massive Angriff auf den Unendlichkeits-Diskurs überhaupt. Aber er richtete sich doch nicht gegen den Diskurs als solchen, sondern nur gegen dessen freilich wichtigsten Anwendungsbereich. Ökonomie war am wichtigsten, weil eine in ihr verankerte Unendlichkeits-Strategie die gesamte Gesellschaft umbauen und in den Sog mitreißen musste. Doch es nützte nichts, nur isoliert die Ökonomie zu problematisieren, weil dann das zentrale Problem der Ökonomie gar nicht sichtbar werden konnte, das eben in der ihr von außen imprägnierten Unendlichkeits-Strategie bestand.

So verkannte schon Marx selber, dass nicht nur der Profit ins Unendliche strebte, sondern auch die vom Kapital profitträchtig angewandte Naturwissenschaft. Wer war hier Ross, wer Reiter? Nach Marx’ eigener Feststellung war der Kapitalismus erst zu sich selbst gekommen, wenn er die Naturwissenschaft in den Dienst genommen hatte.(107) Aber dann war die Behauptung nichts wert, es sei dem Kapitalisten egal, welches Produkt er herstelle, wenn nur der Profit garantiert sei.(108) Mit mindestens dem gleichen Recht wäre zu sagen, dass es dem Produkt egal ist – nämlich dem in der naturwissenschaftlichen Unendlichkeits-Strategie vorgezeichneten Produkt –,(109) welcher Profit anfalle, wenn nur die Herstellung garantiert sei. Dass im Produkt ein noch größeres Problem liegen könnte als im Mehrwert, dafür war Marx blind. Und erst recht waren es seine Epigonen, die bald nichts sehnlicher wünschten als die Produktführerschaft. So wurden sich Marxisten und »Sozialisten« einig in der Pflege einer Arbeitsgesellschaft, durch deren Produkte die Menschen entfremdet, nämlich buchstäblich in die Ferne geschickt werden. Wir alle wissen noch, worum es auf dem Höhepunkt der »Systemauseinandersetzung« ging: darum, ob ein Ossi oder ein Wessi als erster den Fuß auf den Mond würde setzen können.

Der Marxismus, um es mit einem Wort zu sagen, hat in der Fragestellung der Neuzeit funktioniert. Er war nicht so revolutionär, wie er zu sein glaubte. Von der Ahnung, es müsse widersprochen werden, war Marx gewiss erfüllt. Er ahnte sogar den Zusammenhang von Unendlichkeits-Diskurs und »Straflinie«. Im Kommunismus, wünschte er, würde nicht mehr nach Leistung belohnt und bestraft, sondern jedem nach seinem Bedürfnis gegeben werden. Das wäre dann das Ende der Arbeitsgesellschaft gewesen. Marx ahnte alles – aber da es bei Ahnungen blieb, konnte er, mit Benjamin zu sprechen, »das Netz in dem er stand nicht zuziehn«.(110) Benjamins Formulierung erinnert an den entscheidenden Punkt: Man kann den Unendlichkeits-Diskurs nicht kritisieren, wenn man sich selber in ihm bewegt. Und wie sollte sich Marx nicht in ihm bewegen? Man kann ein Netz nur kritisieren, wenn man wenigstens mit einem Fuß außerhalb seiner steht.

Diese Position nahm und nimmt eine und nur eine Institution unserer Gesellschaft ein: die Kirche. Sie nämlich hält ihre eigene Geschichte wach, weshalb man in ihr und nur in ihr wissen kann, wenngleich nicht muss, dass sie selber, die Kirche, den Anlass zur Entstehung des Unendlichkeits-Diskurses gegeben hatte und dass dem ein theologischer Endlichkeits-Diskurs vorausgegangen war. In der Institution namens Kirche besteht wenigstens die Chance, sich zu erinnern, dass beide Diskurse mit derselben »Straflinie« kontaminiert sind, wie auch dass diese Linie längst nicht mehr gilt. Denn schon im Neuen Testament wurde ihr widersprochen. Die grundsätzlichste Kritik am Kapitalismus müsste von der Kirche ausgehen. Dann könnte auch wieder eine kommunistische Bewegung entstehen – nicht statt der Kirche, sondern neben der Kirche.

 

(3)

Es ist wichtig, den derzeitigen Geschichtsmoment genauer zu bestimmen. Der Kapitalismus hat weltweit seinen Sinn verloren; jeder sieht, dass er keine Erhaltungsordnung mehr speist; wo er noch funktioniert, funktioniert er nur als Ökonomismus nach dem biblischen Motto »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot«.(111) Freuen wir uns, denn wir gehören nicht zu den 26000 Hungertoten pro Tag! Das bedeutet, große Teile der Welt vegetieren bereits im Tiefpunkt der Geschichtsunterbrechung dahin. In den reichen Metropolen hat sie immerhin schon begonnen. Der platte Ökonomismus ist zwar noch nicht die schwärzeste Nacht. Aber auch die Metropolen erfahren von dieser seit einem Dreivierteljahrhundert den Vorgeschmack. Zuerst durch das »Dritte Reich«. Hier war der Übergang zum nackten sinnlosen Militarismus schon einmal vollzogen; alle Furien des Mordes und der Zersetzung waren losgelassen.(112) Das »Dritte Reich« mag in mancher Hinsicht eine geschichtliche Ausnahme gewesen sein, in den Zügen, die ich hier hervorhebe, war sie es sicher nicht. Denn die Konstellation, dass eins der mächtigen Glieder der kapitalistischen Welt mehr als andere den wirtschaftlichen Niedergang erlebt, so dass es sich in Ängste vor Feinden hineinsteigert und nach der kompensierenden militärischen Lösung sucht, kann oftmals wiederkehren. Ich wüsste gar nicht, welchen Niedergang »der Kapitalismus« im Ganzen haben sollte, wenn nicht immer wieder diesen. Heute strebt die Regierung der Vereinigten Staaten nach der militärischen Lösung – denen man voraussagt, ihnen stehe, wenn es nur nach dem ökonomischen Wettbewerb geht, eine Reduzierung des Lebensstandards um bis zu 20 Prozent bevor.(113) Auch Selbstmilitarisierung ist hier schon in Ansätzen zu beobachten.(114)

Dass diese Regierung die religiöse Karte spielt, ist typisch. Sie spielt sich als Strafrichter über Gut und Böse auf und versucht so, sich als die wahre Kirche darzustellen, während sie zugleich nicht willens ist, auf den Papst zu hören oder auch nur die Führer der US-amerikanischen Kirchen zu empfangen. Ihre Idee, den Nahen Osten mit Militärgewalt zu »demokratisieren«, das heißt der kapitalistischen Religion zu unterwerfen, ist gewollt oder ungewollt ein Frontalangriff gegen den Islam. Es gibt hier tatsächlich eine Parallele zwischen Bush und Hitler, denn auch dieser täuschte Übereinstimmung mit der Kirche vor, als er seinen Krieg gegen zwei andere Religionen, die jüdische und die bolschewistische, begann. Damals brauchte die Kirche Jahre, um die Täuschung zu durchschauen. Heute nicht. Das berechtigt zu Hoffnungen.(115) Aber ihr Nein zum angemaßten kapitalistischen Papst fällt längst noch nicht dramatisch genug aus.

 

Sie hat nur ihr Wort gegen die Todesangst. Aber es muss in die Zeichen der Zeit gekleidet sein. Der Kirche muss es gelingen, in der Reaktion der amerikanischen Regierung auf den Anschlag islamistischer Selbstmordattentäter das Thema Todesangst zu enthüllen und zu der Rolle, die dasselbe Thema in gewissen Hightech-Produktionszweigen spielt, den Bogen zu schlagen. Dann könnte der »11. September« doch noch zu dem Geschichtszeichen werden, als das es nur anfangs vorübergehend rezipiert wurde. Als Geschichtszeichen bezeichnet Immanuel Kant ein Ereignis, dem vonseiten der Zuschauer Fortschrittlichkeit zugeschrieben wird.(116) Die Zuschreibung hat ihrerseits realhistorische Folgen. Kants Beispiel ist die Aufnahme der Französische Revolution in Deutschland,(117) sein heimliches Vorbild dürfte die Verarbeitung des Kreuzestods Christi durch dessen Jünger gewesen sein. Denn hier erst wird die Annahme historiografisch plausibel, der »Glaube« an den Sinn eines Ereignisses sei womöglich wichtiger als das Ereignis selbst. Der Anschlag am 11. September 2001 hatte zum Geschichtszeichen das Zeug. Erstaunlich vielen Menschen, auch Staatslenkern fiel ein, wie ungerecht, ja tödlich durch ihre Schuld die Weltordnung beschaffen ist. Wenn diese wahre Einsicht zum politikleitenden Massenbewusstsein geworden wäre, hätte schon bald nach dem 11. September ein neuer Aufschwung der Geschichte einsetzen können. Aber so leicht lässt sich die Nacht der Geschichtsunterbrechung eben nicht erhellen. Sie geht weiter. Unser ruheloser Schlaf gebiert Albträume. Die Kirche könnte uns erwecken, wenn sie erst einmal selbst aufwachen wollte.

 

 

1

Vgl. Matthäus 28, 19 f.

2

Vgl. Markus 13, 10 u. 30.

3

Apostelgeschichte 17, 3. Schriftquelle für Paulus ist das sog. Vierte Lied vom Gottesknecht, (Deutero-) Jesaja 52, 13 bis 53, 12.

4

Apostelgeschichte 13, 47.

5

Vgl. (Deutero-) Jesaja 49, 6.

6

Klaus Berger spricht vom „Konzept der 'konzentrischen' Erneuerung Israels durch ein Gremium von zwölf Männern“ in einigen Texten von Qumram und bei Jesus (Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, 131 ff.).

7

So Micha Brumlik, Der Anti-Alt. Wider die furchtbare Friedfertigkeit, Frankfurt/M. 1991, 67 f.

8

Von Friedrich Schleiermacher und seinen Nachfolgern wurde Jesus nicht als Überbringer einer Botschaft aufgefasst, sondern als vollkommener und vorbildlicher sittlicher Mensch. Schon deshalb konnte in dieser Schule keine Theologie der Endzeit, die im Zentrum der Botschaft Jesu steht, entstehen. Die Beziehung von Christentum und Reich Gottes ist bei Schleiermacher ähnlich wie bei Kant gesehen, der das Reich Gottes nur als Perspektive der Handlungen nach dem Kategorischen Imperativ vorkommen lässt (vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A 231 f.). Am Ende des 19. Jahrhunderts argumentiert aber Johannes Weiß, dass nicht die Ethik der Christen, sondern Gott allein sein Reich herbeiführe. Mit ihm beginnt die neuerliche theologische Diskussion über die Endzeit. (Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, Göttingen 1991, 349 f., und Bd. 3, Göttingen 1993, 574 ff.) Karl Barth kann dann nach dem Ersten Weltkrieg schreiben: „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.“ (Der Römerbrief, München 1922, 298)

9

Vgl. Die kirchliche Dogmatik III/2, Zollikon-Zürich 1948, 708.

10

So interpretiere ich jedenfalls die Anlage seines Hauptwerks: Es läuft auf die Frage des „prophetischen Amtes“ der Kirche in der Gegenwart direkt hinaus und es wurde Jahrzehnte vorher mit einer Trinitätsdefinition begonnen, die von Gott nur wissen will, dass „Gottes Wort [...] Gott selbst [ist] in seiner Offenbarung“; was sonst Vater, Sohn und Heiliger Geist genannt wird, ist deshalb für Barth weiter nichts als „der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein“ (Die kirchliche Dogmatik I/1, München 1932, 312).

11

Der Wortlaut in Die kirchliche Dogmatik II/1, Zürich 1940, 194. Dass es darauf ankomme, „nicht nur einen Kult zu begehen, sondern laut und bestimmt zu sprechen und dabei „nicht nur beteuernd zu rezipieren, sondern in der Freiheit unmittelbarer Verantwortlichkeit zu explizieren und zu applizieren“, kann Barth zwanzig Jahre später formulieren (Die kirchliche Dogmatik IV/3, Zürich 1959, 33) – im Kontext seiner jetzt zu besprechenden theologischen Akzentverschiebung. Er kann dann auch (1029) „Sinn und Gespür für das im Gegenwärtigen Kommende“ fordern und sogar über die Notwendigkeit einer „Reformation und Rekonstituierung an Haupt und Gliedern“ für den Fall nachdenken, dass nur eine Minderheit in der Gemeinde das Gespür zum „prophetischen Vorwärts!“ hat, während die Mehrheit in „jener höchst unheiligen aber höchst wirksamen Allianz der Priester, der falschen Propheten, der Fürsten und des Volkes“ verharrt, „die schon den wahren Propheten des Alten Testaments in geschlossener Front gegenüberstanden“.

12

Zum Folgenden Barths „kirchengeschichtliche Erwägung“ (a.a.O., 18-40), die mit der Frage einsetzt: „Ist es Zufall, dass es gerade an der Schwelle zur Neuzeit, die ja auch eine christlich-kirchlich-theologische Neuzeit wurde, zur Wiederherstellung der Lehre vom munus Christi propheticum [prophetischen Amt Christi] gekommen ist?“

13

Barth, (Note 9), 159. Auf derselben Linie auch Gerhard Ebeling (Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 1, Tübingen 31987): „Das Zusammensein Gottes und des Menschen ist ein sprachliches Zusammensein, ein Zusammensein im Wort“ (260), ja das Sein Gottes „will [...] verstanden werden“ als „Zusammensein mit allem Seienden im Sinne einer relationalen Ontologie“ (215).

14

Vgl. zum folgenden Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 1993, 515 ff.

15

Römer 2, 1 – „Darum bist unentschuldbar du, o Mensch – alljeder, der richtet!“ – ist vor dem Hintergrund der Paradiesgeschichte zu lesen.

16

Die „Straflinie“ setzt sich im Vorfeld der Verstaatlichung der Kirche durch. Im dunklen dritten Jahrhundert verstärkt sich der Machtanspruch der Bischöfe über die Gemeinden und wiederum der „Metropoliten“ über die Bischöfe (Edward Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums, München 2003, Bd. 2, 175 f.): Kurz bevor das Reich sich gezwungen sieht, das Bündnis mit der Kirche zu schließen, gibt diese sich selbst ein reichsähnliches Aussehen und kann nur deshalb vom Reich als möglicher Partner, zunächst freilich als existentieller Feind überhaupt erkannt werden. Aber die Kirche kann reichsähnlich nicht nur zum Schein werden: Die Bischöfe, denen es an aller weltlichen Macht fehlt, haben sich „doch [...] die beiden wirksamsten Machtinstrumente verschafft – Belohnung und Strafe – und setzten diese in ihrer eigenen Gemeinschaft ein“ (179).

17

Römer 11, 11 f.

18

1. Thessalonicher 2, 16.

19

Vgl. Henry Chadwick, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 196 ff. Nur die roheste Form des Antisemitismus wurde von der Kirche definitiv ausgeschieden: die Gnosis, die im Gott der Hebräischen Bibel einen bösen Geist sah.

20

„Die Differenz [...] bestand darin, dass die Pharisäer im Unterschied zu den Jesusanhängern dessen Messianität bestritten und zudem die apokalyptische Weltsicht der Jesusanhänger trotz oder gerade wegen des Untergangs des Tempels zurückwiesen.“ (Brumlik [Note 7], 67) Sie gelangten „hauptsächlich deshalb zu Einfluss im Judentum, weil sie für eine Welt standen, die nicht die Absicht hatte zu verschwinden“ (Peter Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München Wien 1991, 78 f.)

21

Ich verweigere mich also der platonistischen Trennung, wie sie ironisch bei Gibbon ([Note 16], 123) und anderswo ganz ernsthaft vorgenommen wird: „Dem Theologen sei das erquickliche Werk gegönnt, die Religion so zu schildern, wie sie einst in ihrem ursprünglichen Gewand der Reinheit vom Himmel herniederstieg. Dem Historiker obliegt eine eher schmerzliche Pflicht. Er muss die unvermeidliche Mixtur von Irrtum und Verfälschung aufzeigen, von der sie während eines langen Aufenthalts auf Erden unter einem so schwachen und degenerierten Menschengeschlecht befleckt wurde.“

22

Vgl. Note 78 im 1. Teil dieses Essays.

23

Kirche und Sozialismus, mit einer Einführung von Dorothee Sölle und Klaus Schmidt, Frankfurt/M. o. J.

24

Vgl. Apostelgeschichte 4, 32-35. Wenn man weiterliest, sieht man, dass schon dieser Urkommunismus mit der „Straflinie“ verquickt ist.

25

Vgl. Bd. 2 (Note 8), 207.

26

Ebd.

27

Aus Zur Geschichte des Urchristentums (1894/95), MEW 22, 465 f.

28

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur“ (MEW 1, 378), vgl. Römer 8, 19 u. 23.

29

MEW 1, 378 f.

30

Freilich nicht der Theologie Friedrich Schleiermachers, die gerade damals hegemonial zu werden begann und die auf der Spur der deutschen idealistischen Philosophie – derselben, der auch Marx folgte! – den Akzent auf eine innerweltliche Herbeiführung des Reichs Gottes durch ethisches Handeln legte.

31

Römer 5, 17. Ebenso werden die, die verurteilt werden, im Leben verurteilt: „Drangsal und Angst auf jedes Menschenleben, das Übel bewirkt“ (2, 9), woraus folgt, dass die Verurteilung nie endgültig ist, da das Leben ja weitergeht und der Verurteilte vielleicht umkehrt (2, 4).

32

Vgl. MEW 1, 390.

33

Man dachte dabei an 1. Korinther 1, 28 f.: „Und das Niedriggeborene der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt; das Nichtige, um das Wichtige abzutun – damit kein fleischlich Wesen vor Gott sich rühme.“

34

Weil das noch lange so blieb, kommentierte Bert Brecht die Wirtschaftskrise nach 1929 mit seinem Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Doch seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine Wandlung zu beobachten: Vgl. meinen Aufsatz Die Kirche im Parteiensystem, in Kommune 6/2001, 50-57.

35

Vgl. MEW 29, 358 (Brief an Marx vom 7. 10. 1858).

36

Engels kommentierte die Beobachtung mit den Worten: „Hier können nur ein paar grundschlechte Jahre helfen“ (a.a.O.), und die Sache wurde nicht weiter verfolgt.

37

Es hatte nur so lange revoltiert, wie nicht sichergestellt war, dass dies geschah. Zur Ehre des römischen Proletariats muss man hinzufügen, dass es auch für die Vernichtung der Schuldbriefe eingetreten war. Die caesarische Lösung bestand darin, dass zum einen die Kornkammer Ägypten besetzt und ausgebeutet wurde, wobei im Gegenzug Elemente des orientalischen Gottkaisertums in Rom Einzug hielten, und zum andern die Schuldverhältnisse wenigstens auf das Maß reduziert wurden, das sie heute noch haben. Seit Caesars Reformen war Insolvenz kein Grund mehr, in die Sklaverei verkauft zu werden.

38

Vgl. MEW 8, 115 ff. (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte).

39

Im dunklen dritten Jahrhundert erhielten alle, auch die Peripheren, das römische Bürgerrecht, was „weniger die politische Gleichberechtigung“ bedeutete, als dass es „ein weiteres Element der Gleichschaltung“ war. Zur selben Zeit wurde das Heer barbarisiert: Angehörige der Völker, die das Reich bedrohten, bildeten nun „das Rückrat des Mannschaftsbestandes“. (Franz Georg Maier, Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Frankfurt/M. 1968, 27) Also nicht nur die Differenz von Zentrum und Peripherie, sondern auch die von Außen und Innen brach zusammen, und eben deshalb – Hans Delbrück hat es im einzelnen gezeigt (vgl. Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte Bd. 2, Berlin New York 2000, 287 ff.) – war Rom verloren, noch während es kämpfte.

40

Wir können hier einmal davon abstrahieren, dass schon die Urgemeinde ihre kommunistische Praxis ganz schnell in eine bloße Sozialhilfepraxis umwandelte; denn jedenfalls blieb sie dabei, sich als zuständig auch für die wirtschaftliche Angst zu betrachten. Die Mildtätigkeit der Kirche, auch die Unterstützung ärmerer Gemeinden durch reichere über das ganze römische Reichsgebiet hinweg trugen „sehr wesentlich zur Ausbreitung des Christentums bei“ (Gibbon [Note 16], 183).

41

Man begreift in diesem Zusammenhang, weshalb der Auftritt der Märtyrer in den Arenen, wo sonst Gladiatoren kämpften, so wichtig war. Denn das Erlebnis dieser Kämpfe war die Form der Römer, sich mit der Todesangst zu konfrontieren (vgl. Note 71).

42

MEW Ergänzungsband I, 119 (aus den Heften zur epikureischen Philosophie).

43

MEW 3, 30, 38 f., 45.

44

Vgl. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf] 1857-1858, Berlin 1974, 375-413, hier 405 ff.

45

Insofern ist Walter Benjamins Marxismus-Version konsequent. Er radikalisiert die Marxsche Auflösungs-Perspektive: Als „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“, stellt sich ihm die Geschichte dar (Über den Begriff der Geschichte, in Illuminationen, Frankfurt/Main 1977, 251-261, hier 255). Wenn es auch in seiner Konzeption so etwa wie Geschichtsunterbrechungen gibt (260: „Aufsprengung des Kontinuums der Geschichte“, „messianische Stillstellung des Geschehens“), dann sind damit lichte Ausnahmen, nicht schwarze gemeint, denn schwarz ist die Geschichte selber. Benjamin folgt der Straflehre: Die unterdrückte Klasse soll nicht künftige Generationen erlösen, sondern es ist „die Sehne der besten Kraft“, dass sie bei Marx angeblich „als die rächende Klasse auf[tritt], die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt“; sie soll „den Hass wie den Opferwillen“ nicht verlernen (257 f.).

46

Aus der je gegebenen Produktionsweise „gehn“ die dann herrschenden Gedanken „hervor“, MEW 3, 48.

47

Vgl. meinen Aufsatz Ökonomie angesichts des Todes. Religionskritische Vorüberlegungen zu einer Neulektüre des 'Kapital', in Widerspruch Nr. 26, Zürich 1993, 73-84.

48

Wobei viel dafür spricht, dass er näher das Christentum für die „fetischistische“ Logik verantwortlich machte (vgl. Thomas Marxhausen, Artikel „Fetischcharakter der Ware“ in Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 4 [Hrsg. Wolfgang Fritz Haug], Hamburg 1999, 343-354, hier 345), denn er konnte sie wahlweise auch dem Trinitätsdogma zuschreiben (vgl. MEW 25, 838 f.).

49

Jean Vercoutter, Das Alte Reich, in Elena Cassin, Jean Bottéro, Jean Vercoutter, Die altorientalischen Reiche I, Frankfurt/Main und Hamburg 1965, 245-286, hier 281.

50

Vgl. MEW Ergänzungsband I, 546 (aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten [1844]).

51

MEW 4, 465.

52

Im Abschnitt „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn“ aus den Grundrissen stellt Marx die Frage, wie es zur „Trennung“ des Arbeiters von seinen Produktionsmitteln kommt, die die logische und historische Bedingung der Kapitalbildung ist ([Note 44], 375). Seine Methode zu antworten ähnelt der Max Weberschen darin, dass er die Zusammenhänge von Arbeiter und Produktionsmittel, die es gegeben hat, in Form einer Bedingungsvariation darstellt, wobei er es so wenig wie Weber versäumt, die Varianten ordentlich in die geschichtliche Reihenfolge zu stellen. Von einer „Gesetzmäßigkeit“ dieser Reihenfolge ist keine Rede. Als historisch „notwendig“ sieht Marx nur den Umstand an, dass die Zusammenhänge sich auflösen mussten infolge der Entwicklung der Produktivkräfte (386, 396 f., 399, 401 ff., 405 f.). Das ist auch in Marx' „Leitfaden“ nicht anders (MEW 13, 8 f.). Hier lesen wir zwar, es könnten „in großen Umrissen asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden“ (MEW 13, 9), aber auch hier ist nur eine „Formation“ unterstellt, eben die Formation der Auflösung der Zusammenhänge. Die „Epochen“, in die man sie pragmatisch einteilen mag, geben nur „große [grobe?] Umrisse“. Es ist damit keine Epochen-Gesetzmäßigkeit behauptet, sondern nur eine mögliche Periodisierung angegeben. Zur Formation der Auflösung verhält sich der Kommunismus als das ganz Andere; er kann nicht als eine weitere „progressive Epoche“ in ihr gedacht werden. Das heißt, er ist als Stadium „des geschichtlichen Fortschritts“ nicht entzifferbar. Marx kann nur auf eine Zukunft hoffen, in der „der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen [gleicht], der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“ (MEW 9, 226).

53

In seiner Jugend nahm Marx an, die Menschheit habe sich, um menschlich (human) werden zu können, zuerst die Stützpunkte ihrer Menschlichkeit schaffen müssen: sinnliche Gegenstände ihrer Produktion, produzierbar nicht anders als in „entfremdeter“ Form – so dass es nun freilich noch anstehe, die Gegenstände sich kommunistisch, d.h. unentfremdet menschlich „anzueignen“ (vgl. MEW Erg.bd. 1, 539 ff.). Auch hier stellt sich die Frage, wo denn die Aneignungsfähigkeit herkommen soll, wenn sie nicht immer schon vorhanden war. Wenn die entfremdet produzierten Gegenstände nicht früher schon, sei es auch in engen Grenzen, als Stützpunkte von Humanität funktionierten, dann gibt es diese Humanität eben nicht und dann werden die Gegenstände auch in Zukunft jene Stützpunktqualität nicht haben.

54

Vgl. zu diesem Absatz Pannenberg, (Note 14), 557 ff.

55

Wer Jesus für Gott hält, kann sich auch aufs Neue Testament berufen. Darin zeigt sich, dass es schon selber im Schatten einer „Verstaatlichung“ steht, die von ihm her geradezu angestrebt werden musste. Denn das Neue Testament ist gegen Augustus konzipiert, der eigentlich Oktavian hieß. Nur wenige Jahrzehnte vor Jesu Geburt hatte Vergil die Geburt eines göttlichen Kindes vorausgesagt und damit den ersten römischen Kaiser gemeint, wobei er zur Zeit der Voraussage noch glaubte, dieses Kind würde der Ehe des Pompeius mit Oktavians Schwester Oktavia entspringen. Pompeius war Oktavians Konkurrent im Kampf um die Kaiser-Position. Es war aber Oktavian gewesen, der damit angefangen hatte, diesen Kampf als religiösen zu führen. Er hatte die Vergöttlichung des ermordeten Julius Caesar veranlasst, und er hatte den Führer der caesaristischen Partei, das war Mark Anton, dadurch in die Enge getrieben, dass er als Adoptivsohn und erbarmungsloser „Rächer“ des toten Gott-Vaters aufgetreten war. Dass die Partei für die Vernichtung der Schuldbriefe kämpfte, stand dem Rachegedanken eigentlich entgegen, denn Rache und ökonomische Schuldbegleichung sind zwei Formen derselben Vergeltungs-Gerechtigkeit (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1132b, 1133a). Aber Oktavian hatte noch keine Soldaten und traf mit dem Rache-Appell deren Mentalität. In diese Gemengelage hinein intervenierte die Lehre der Christen: Vergebung der Schulden (Matthäus 6, 12), aber nicht mit dem Schwert (Matthäus 26, 52); nicht römische Straf-Gerechtigkeit, sondern paulinische „Rechtfertigung“. Die christliche Lehre setzte dem „Augustus“, wie sich Oktavian nennen ließ, als er gesiegt hatte – dem „Erhabenen“, dem schon lebendig zum Gott Designierten -, eine ganz andere göttliche Adoption entgegen. Das war ihre Art, mit der Welt zu kommunizieren. Gab es eine Alternative? Jedenfalls war darin der Anspruch, die Position des römischen Kaisers zu verändern – ihn zu entsakralisieren -, und somit als Kehrseite auch das, was man die Verstaatlichung der Kirche nennt, schon implizit enthalten. Tatsächlich hat sich dann Konstantin der Große auf Vergils Voraussage, die er nunmehr als Voraussage Christi und eines ihm dienenden Kaisers interpretierte, berufen (Gibbon, [Note 16] Bd. 3, 86).

56

Augustinus, Bekenntnisse, aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart, Frankfurt/M. 1987, 273 (6. Buch, 8/13). Heute scheinen wir von der Wiedereinführung des Gladiatorenkampfs nicht mehr weit entfernt. Das ist nicht nur eine Phantasie von Sciene fiction-Autoren wie William Gibson, der sich eine Arena vorstellt, die von Facharbeitern besetzt ist, weil sie „Aufnahme in ein betriebliches Freizeitprogramm gefunden hatte“ (Die Neuromancer-Triologie, München 42000, 72). Über Gladiator von Ridley Scott schreibt die FAZ, es sei „kein Problem“ gewesen, „den Film auch als Folie für die Gegenwart zu nehmen: Die einzig verbliebene Supermacht Amerika verglich sich in dieser Lesart mit dem Römischen Reich zu Zeiten des Commodus, die blutige Event-Kultur des Kaiserreichs verband sich mit den medialen Schaustücken von heute“ (Antikensehnsucht und Computerglaube, 8.8.2002). Tatsächlich gibt es in den USA bereits Fernsehshows, die „Folter als Prime-Time-Vergnügen und Unterhaltung für die ganze Familie“ bieten (Spiel mir das Lied von der Folter, FAZ v. 29.1.2002).

57

Vgl. Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums Bd. 3, Reinbek 1996, 555.

58

A.a.O., 321. Deschner kann an eine Fülle christlicher Terrorakte erinnern, sein Bericht ist aber einseitig; so erwähnt er nicht, dass Hypatias Ermordung „die christliche öffentliche Meinung in Konstantinopel [empörte]“ (Chadwick, [Note 19], 198). Alexandria, wo der Mord geschah, war ein besonderer Ort: Schon in der vorchristlichen Kaiserzeit gaben die Alexandriner, „wenn ein Auflauf entstand, nicht Frieden, bevor sie Blut gesehen hatten. [...] Die Fortsetzung dieses die Regierung wie die Nation gleich entehrenden Lynchsystems liefert die sogenannte Kirchengeschichte, die Ermordung des den Heiden und den Orthodoxen gleich missliebigen Bischofs Georgios und seiner Genossen unter Julian“, dem Kaiser, der die Christianisierung des Reichs rückgängig machen wollte, „und die der schönen Freidenkerin Hypatia durch die fromme Gemeinde des Bischofs Kyrillos unter Theodosius II.“ (Theodor Mommsen, Römische Geschichte Bd. 7, München 1976, 280)

59

Davon kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man Augustins Bekenntnisse (Note 56) liest. Vgl. auch die Geschichte, die Chadwick ([Note 19], 179 f.) von Kaiser Julian erzählt: Da er „es für unerträglich hielt, dass Christen die heidnischen Klassiker lehren sollten, ohne an die Göttermythen zu glauben, erließ er ein formelles Edikt, das die Christen vom Lehrberuf ausschloss. Diese Entscheidung wurde von Heiden wie dem Historiker Ammianus als Torheit betrachtet und wurde von kultivierten Christen wie Gregor von Nazianz übelgenommen, der für die klassische literarische Tradition nicht weniger Verständnis und Liebe besaß als Julian. Vielleicht als ironischen jeu d'esprit veröffentlichte Appolinaris von Laodicea damals eine Fassung des Pentateuchs [der fünf Bücher Mose] in Hexametern und goss die Evangelien und Briefe in die Form platonischer Dialoge.“

60

Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000.

61

Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, Gütersloh 61993, 305.

62

Josef Ratzinger schreibt über den Kulturkampf in der spätrömischen Gesellschaft: „Wenn man behaupten darf, dass Hunger, Liebe und Macht die Kräfte sind, die die Menschheit bewegen, so kann man, dies verlängernd, feststellen, dass die drei Grundgestalten des Polytheismus die Anbetung des Brotes, die Anbetung des Eros und die Vergötzung der Macht sind. [...] Es ist kein Zufall, dass der christliche Kampf auf dem damit angegebenen Feld entbrannte und darin zum Kampf um die Grundform des öffentlichen Lebens der Antike überhaupt wurde.“ Weil das Christentum gesiegt habe, bedrohten uns zwar immer noch die Verabsolutierung von Brot, Eros und Macht, aber sie hätten „doch die Maske des Göttlichen unwiderruflich verloren“ (Einführung in das Christentum, München 1990, 80 f., 83). Man kann dem Urteil teilweise zustimmen, aber was den Eros angeht, ist es falsch, ja ideologisch, denn da bewirkte das kirchliche Regiment seinerseits eine Dämonisierung, die den antiken Vorlauf wahrscheinlich noch überbot: Letztes Resultat ist die „Sexualisierung“ der modernen Gesellschaft (vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977). Das Versagen der Kirche in diesem Bereich lässt sich wieder auf die falsche Endzeittheologie zurückführen. Als Paulus noch glaubte, das Ende der Welt stehe kurz bevor, erklärte er, jungfräulich zu sein sei „gut wegen der anstehenden Not“. „Künftighin seien jene, die Frauen haben, als hätten sie keine; [...] und die mit der Welt umgehen, als wenn sie nicht in ihr aufgingen. Denn vorüber geht die Gestalt dieser Welt.“ (1. Korinther 7, 25 f., 29, 31) Das Weltende ist schon im Römerbrief kein Thema mehr, ebenso wenig wird die Warnung vor dem Eros wiederholt – aber die Kirche blieb bei dem Quidproquo, ja entdeckte es erst richtig (Einzelheiten bei Brown, [Note 20]) und hatte nun einen Vorwand, sich zum endzeitlichen Richter über die Intimsphäre der Menschen aufzuschwingen. (Vgl. auch Verf., Das Paradies der Leiber, in: Barbara Ossege, Dierk Spreen, Stefanie Wenner [Hrsg.], Referenzgemetzel. Geschlechterpolitik und Biomacht, Tübingen 1999, 87-108.)

63

1. Korinther 15, 46 und 50; vgl. Note 78 im 1. Teil dieses Essays.

64

„'Christliche Gräber sind normalerweise erst vom Ende des 2. Jahrhunderts an erkennbar.' Sobald aber das Christentum einen Grabkult zuließ, drangen die alten Vorstellungen mit ein.“ (Angenendt, [Note 60], 690)

65

„Dass der Tote weiterlebt, ist offenbar allen vormodernen Kulturen selbstverständlich gewesen.“ (a.a.O.)

66

Vgl. 2. Korinther 5, 2 ff., 1. Korinther 15, 53 u. 35 ff. Die abstrakten paulinischen Sätze – „gesät wird in Verderblichkeit ein lebendiger Leib, erweckt in Unverderblichkeit ein geistbewegter Leib“ (15, 42 u. 44) -, muss man vor dem Hintergrund der Jesus zugeschriebenen Gleichnisse lesen. Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn: „Einmal auf die Erde gesät, obschon kleiner als alle Samen auf der Erde, aber einmal gesät, steigt es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt Zweige so groß, dass unter seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“ (Markus 4, 31 f.) Die Vögel kommen nicht nach den Tod (Verdorren) der Zweige, sondern während sie blühen.

67

Gegen die Christen, München 1991, 169 f. Das Buch erschien im Jahr 178.

68

Vgl. Vom Gottesstaat (De civitate dei), Buch 1 bis 10, übertragen von Wilhelm Thimme, München 1977, 162 f. (Buch 3 Kap. 28-29)

69

Gibbon versichert uns, die stolzen Römer hätten „sich in ihrer Lebensführung in diesem Dasein nie von irgendeiner ernsten Überzeugung von Lohn oder Strafe in einem zukünftigen Zustand [...] leiten lassen“ ([Note 16], 145). Hier werden zwei Fragen vermengt, die des Glaubens an den zukünftigen Zustand und die des Zusammenhangs zwischen Glauben und Lebensführung. Wenn jemand unethisch lebt, kann er trotzdem an ein Leben nach dem Tod glauben. Sein Glaube hat dann zur Folge, dass er sein Leben in Angst verbringt. Die Angst mag wieder zu unethischen Handlungen führen. Gibbon reißt ein Zitat des römischen Satirikers Juvenal aus dem Zusammenhang (146): „Dass es Geister gibt und ein unterirdisches Reich..., das glauben nicht einmal Kinder, es sei denn, sie wären noch zu jung, um im Bad Eintritt zahlen zu müssen.“ Dass „nicht einmal“ Kinder glauben und ein Erwachsener wie Juvenal dann erst recht nicht, steht nicht im Text. Wichtig ist das von Gibbon Ausgelassene: Was die Römer schon im Knabenalter zu glauben aufhören, ist, „dass Reiche da unten beständen, Charons Ruder im stygischen Pfuhle mit schwärzlichen Fröschen“ – schwarze, strafende Reiche -, und Juvenal fährt fort: „Doch du nimm es für wahr“, denn er ist dabei, den sittenlosen Römern eine Mahn- und Bußpredigt zu halten (2. Satire, Vss. 149-153).

70

Das ist die Erfahrung, die in unserer Zeit von Adorno festgehalten wurde: „Wer stirbt, der merkt, dass er um alles betrogen ward. Und darum ist der Tod so unerträglich.“ (Metaphysik. Begriff und Probleme [1965], Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, 213)

71

Niemand wird glauben, dass Lukrez auch nur einen der „jungen Männer“, die sich, wie Tacitus beklagte, in den Vortragssälen über nichts als Gladiatorenkämpfe unterhielten (vgl. Colin Wells, Das Römische Reich, München 1985, 283), davon abgehalten hat, das auch weiterhin zu tun. Wie sich die römische Gesellschaft zum Tod verhielt, zeigen diese Kämpfe: „Gemetzel von Mensch und Tier zu betrachten war offenbar für die Römer eine wichtige Institution, ein gesellschaftliches, wenn nicht religiöses Ritual, das seine eigenen Baulichkeiten erforderte, für die man entsprechend große Mittel aufzubringen bereit war.“ (282). Für den religiösen Charakter des Rituals sprechen römische Quellen selber, so Plinius, der hervorhebt, dass es „den Ruhm von Wunden und Todesverachtung“ vor Augen führe (zit. ebd.). Das war so wichtig, dass „jede bessere Kleinstadt in der westlichen Reichshälfte“ und selbst die Militärlager ihre Arenen hatten (281); in Rom saßen die Zuschauer nach Schichten geordnet, auch die Senatoren waren dabei und der Kaiser hatte den Vorsitz inne. Wenn es stimmt, dass Commodus sich sogar selbst als Gladiator präsentierte und als solcher 735 mal in der Arena auftrat (Gibbon, [Note 16] Bd. 1, 126 f.), dann wäre eben darin der rituelle Höhepunkt des römischen Gottkaiserkults zu sehen. Und auch wenn es nicht stimmt, lernt man etwas über die Theologie dieses Kults. Der frühchristliche Schriftsteller Tertullian ist wahrscheinlich auf der richtigen Spur, wenn er die Gladiatorenkämpfe auf die Praxis archaischer „Leichenfeiern“ zurückführt, bei denen „die Seelen der Toten durch Menschenblut versöhnt werden“ sollten (Wells, a.a.O., zit. 282 f.). Denn auch bei Claude Lévi-Strauss lesen wir von Leichenfeiern, die durch Wettkämpfe zwischen einer die Toten und einer die Lebenden verkörpernden Partei bestritten wurden. Um die Toten zu versöhnen, hätten die Lebenden ihnen den Sieg zugeschanzt, berichtet der Ethnologe (Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1973, 47), oder: Die Wettspiele seien nicht beendet worden, bevor es nicht unentschieden stand (45). Diese Praxis, schon weniger harmlos als unser Fußballspiel, mag ihrerseits auf direkt tödliche Vorformen zurückgehen. Sie setzt jedenfalls voraus, dass man an ein Leben nach dem Tod glaubt. Von den römischen Arenen wissen wir, dass kämpfende „Sklaven manchmal als Götter (Merkur, Pluto, Charon) kostümiert wurden; manchmal auch mussten Christen als heidnische Priester und Priesterinnen verkleidet in die Arena treten“, so beim Martyrium der Perpetua und ihrer Gruppe (Wells, a.a.O., 282).

72

Vgl. Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, München 1990; auch Note 42 im 1. Teil dieses Essays.

73

Vgl. Krieger und Bauern. Die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft bis um 1200, Frankfurt/M. 21986, 73.

74

In der diesbezüglichen Forschung müsste erst einmal die Methodik geklärt werden. Bezeichnend für das Problem ist das materialreiche und spannende, aber in der entscheidenden Frage höchst unklare Buch von Le Goff (Note 72). Dass sich beim Fegefeuer nicht anders als beim Höllenfeuer (vgl. Note 42 im 1. Teil) erst im 13. Jahrhundert die dinghaft-realistische Vorstellung durchsetzte – die den Glauben an ein Leben nach dem Tod impliziert -, kommt bei Le Goff zwar heraus; aber bei dem Versuch, die geistesgeschichtlichen „Väter des Fegefeuers“ namhaft zu machen, kann er zwischen Metaphorik und aristotelischem Realismus nicht unterscheiden, weil die Frage nach diesem Unterschied eben gar nicht zu seiner Methode gehört. So lesen wir denn etwa, Augustin habe „zum Dossier des Fegefeuers entscheidende Elemente bei[getragen]“, freilich dem „Problem“ von Raum und Zeit dieses Geschehens „kein spezielles Interesse entgegen[ge]bracht“ (84). Könnte man nicht den Schluss ziehen, dass jemand, der weder Raum noch Zeit für ein Leben nach dem Tod vorsieht, an ein solches Leben eben nicht glaubt? Neutestamentliche Grundlage der Geistesgeschichte des Fegefeuers ist eine Stelle bei Paulus: „Denn jener Tag wird es weisen, weil es im Feuer sich enthüllt. Und wie eines jeden Werk beschaffen ist, das Feuer wird es prüfen.“ (1. Korinther 3, 13 f.) Da Paulus im selben Brief vom Tod ohne Christus sagt, er steche mit dem Stachel der Sünde (15, 56 f.), liegt es nahe, als den feurigen Tag eben den Tod zu interpretieren (vgl. auch Römer 2, 15 f.). Er fährt fort: „Wessen Werk verbrennt, der wird es zu büßen haben. Er selber aber wird gerettet – doch so wie [!] durch Feuer.“ (1. Korinther 3, 15)

75

„Wenn die Seele in das ungemischte Licht kommt“, kann man bei Meister Eckhart lesen (Werke I [Hrsg. Niklaus Largier], Frankfurt/M. 1993, 19), „so schlägt sie in ihr Nichts so weit weg von ihrem geschaffenen Etwas in dem Nichts, dass sie aus eigener Kraft mitnichten zurückzukommen vermag in ihr geschaffenes Etwas. Und Gott stellt sich mit seiner Ungeschaffenheit unter ihr Nichts und hält die Seele in seinem Etwas.“ Von Gottes Etwas sagt er (181), es habe in Gott Vater seinen Beginn und in Gott dem Heiligen Geist sein Ende: „Der Beginn ist um des letzten Endes willen, denn in dem letzten Ende ruht alles das, was je vernunftbegabtes Sein gewann.“

76

Dass es solche Inversionen gibt: die aus der Struktur einer ideologischen Formation nicht herausführen, sondern sie nur veränderten Außenbedingungen anpassen, hat Lévi-Strauss am Denken archaischer Völker gezeigt. Vgl. z.B. Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M. 1971, 253: Den Bororo ist Wasser „ein vertrautes Element“. Die Sherenté fürchten die Dürre. Diese ökologischen Faktoren tragen zum Verständnis der „Umkehrung der Bororo- uns Sherenté-Mythen“ bei. „Die Bororo leben (und denken vor allem) unter dem Zeichen des Wassers; für sie konnotiert es den Tod, und viele ihrer Mythen [...] bezeugen, dass es für sie eine Verbindung von Feuer und Leben gibt. Bei den Sherenté ist es umgekehrt: sie denken in Termini der Trockenheit, d.h. des negativierten Wassers. In ihren Mythen konnotiert das Feuer stärker als irgendwo anders den Tod, und sie stellen ihm ein Wasser entgegen, das nicht tödlich ist [...], sondern belebend.“

77

Der im Zuge dieses Spiels die Grenzwert-Mathematik erfand: vgl. Nikolaus Stuloff, Mathematische Tradition in Byzanz und ihr Fortleben bei Nikolaus von Kues, in Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 4, Mainz 1964, 420-436. Bereits Duns Scotus dachte Gott als ens infinitum (Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988, 375), das Unendliche steht hier aber noch unter dem Vorbehalt, nicht eigentlich Gottesbegriff zu sein, sondern von Gott einen vorläufigen metaphysischen Seinsbegriff zu geben, der hinter Offenbarung und Glauben zurückfällt (Martin Anton Schmidt, Die Zeit der Scholastik, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 1 [Hrsg. Carl Andresen], Göttingen 1988, 567-754, hier 690 ff.). Wahrscheinlich kann man von einer Identifikation Gottes mit dem Unendlichen nicht vor Cusanus sprechen. Sie stellt den bis dahin gültigen aristotelischen Grundsatz auf den Kopf, nach dem die Unendlichkeit als Bewegungsform des Denkens ein für den Menschen charakteristischer Mangel ist („Das Unendliche aber ist [...] nur für die Erkenntnis“, Metaphysik 1048b).

78

Ausgehend von Georg Simmels Soziologie zeigt Christoph Deutschmann (Die Verheißung des absoluten Reichtums. Zur religiösen Natur des Kapitalismus, Frankfurt/M. New York 1999), dass kapitalistisches Geld das Äquivalent nicht bloß vorhandener, sondern auch möglicher Güter ist und dass ihm ein Trieb innewohnt, diese Eigenschaft des „Vermögens“ bis ins Unendliche auszuschöpfen.

79

Zur Entstehung von Strukturen des Kapitalismus aus der Kommunikation mit der Kirche heraus vgl. meinen Aufsatz Arbeit und Schuld, in Jörn Ahrens (Hrsg.), Jenseits des Arbeitsprinzips? Vom Ende der Erwerbsgesellschaft, Tübingen 2000, 154-171.

80

Für Marx ist damit erst der volle Begriff des Kapitals gegeben: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, 61.

81

Pannenberg spricht treffend von der „Geschichte der Durchsetzung des Glaubens an die Unendlichkeit“ (Bd. 2 [Note 8], 179): In ihr ist die Mengenlehre „als Höhepunkt und Abschluss der Übertragung des Begriffs der Unendlichkeit von Gott auf die Welt zu beurteilen, weil sie es scheinbar erlaubte, den Gedanken des aktual Unendlichen“ – worunter man sich ein „festes, konstantes, jedoch jenseits aller endlichen Größen liegendes Quantum“, also die Identität des Unendlichen und Endlichen vorstellen soll – „mathematisch zu bestimmen und so auch physikalisch anzuwenden“.

82

Die Bewegung, die im 20. Jahrhundert zur Raumfahrt und zur Strategie des Verlassens der Erde geführt hat (vgl. Verf./Gudrun Kohn-Waechter, Das Verlassen der Erde. Materialien zur ökologischen Katastrophe, in: Kommune 1 bis 4/1993), wurde von der Kirche selber auf die Spur gesetzt. Darüber, ob die Welt vernichtet oder verwandelt werden würde, stritten sich zunächst Altlutheraner und Reformierte, bevor auch die Lutheraner zum scholastischen Gedanken der Weltverwandlung zurückkehrten (Pannenberg [Note 14], 571), der aber nun in der Neuzeit seinen metaphorischen Charakter verloren hatte. Im 18. Jahrhundert bezog Siegmund Jacob Baumgarten den Verwandlungsgedanken nur noch auf die Zerstörung unseres Sonnensystems statt aufs ganze Universum. Im Jahr 1801 meinte Franz Volkmar Reinhard, es betreffe vielleicht sogar nur die Erdatmosphäre. „Im übrigen könne man unter dem neuen Himmel und der neuen Erde von Apk [Offenbarung] 21,1 'eben sowohl einen neuen Wohnplatz auf einem andern Himmelskörper ... verstehen, der dem menschlichen Geschlechte angewiesen werden soll'. Die Schrift sage darüber nichts Genaueres.“ (633 f.) Etwa um dieselbe Zeit wurde der schwarze unendliche Weltraum auch zum Bild der Verzweiflung, vgl. „Carazans Traum“, mitgeteilt von Immanuel Kant in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), A 6, oder Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ in dem Roman Siebenkäs (1796).

83

Etwa mit der Lehre vom Fegefeuer, die die Kirche im Hochmittelalter unter dem Druck der Gläubigen akzeptierte. Für diese stellte das Fegefeuer eine Hoffnung dar, weil, wer es erlitt, wenigstens nicht in die Hölle kam. Statt der Höllenangst mit der paulinischen Rechtfertigungslehre entgegenzuwirken, sah die Kirche umgekehrt die Chance, ihr Gericht über die Gläubigen „bis jenseits des Todes aus[zudehnen]“, indem sie „das neue Territorium [annektierte]“: „Dank des Fegefeuers entwickelte sie das Ablasssystem, das für sie eine Quelle unschätzbaren Macht- und Geldgewinns war, bis es zu einer gefährlichen Waffe wurde, die sich schließlich gegen sie selbst richtete.“ (Le Goff, [Note 71], 300 f.)

84

Das zu zeigen, ist auch die Intention von Hans Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1988), der freilich die Gefährlichkeit des Fluchtpunkts nicht ermisst. Als ins Unendliche fliehende Figur ist Mozarts Don Giovanni von Sören Kierkegaard gedeutet worden: „Er hat somit überhaupt kein Bestehen, sondern hastet in ewigem Verschwinden dahin, geradeso wie die Musik [...].“ (Entweder – Oder, München 1988, 123 f.)

85

Schon in der Aufklärung bahnte sich das an: In ihrer Folge wurden „die Elemente des göttlichen Gerichts und des Jüngsten Tages [...] bewusst und absichtlich auf die Geschichte selbst angewandt“ (Reinhart Kosellek, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973, 7). Ein Lessing erklärte die Straflehre zur wichtigsten geistigen Frucht des Christentums (Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780). Er verfasste eine Schrift, um zu zeigen, dass auch Leibniz so gedacht habe (Leibniz, Von den ewigen Strafen, 1773). Immerhin als Dichter huldigte er der paulinischen Rechtfertigungslehre: Man kann sein Drama Minna von Barnhelm (Uraufführung 1767) als deren komödiantische Illustration lesen.

86

Obwohl dieser Zusammenhang wenig bekannt ist, könnte man Bücher damit füllen, ihn zu belegen. Hier nur ein exemplarischer Hinweis auf den avantgardistischen Künstler Kasimir Malewitsch: Auf zwei nebeneinanderliegenden Seiten seiner Schrift Suprematismus – die gegenstandslose Welt (in dem von Werner Haftmann herausgegebenen gleichnamigen Sammelband, Köln 1962, 39-254) findet man einmal den Gedanken, das „Endziel“ der menschlichen Entwicklung sei „doch wohl mehr die Loslösung von der Erde und der Vorstoß in den Raum“, und zum andern folgende Sätze: „Auch der Erfinder muss ja erst den Baum töten, um aus seinem Holz einen Gegenstand des praktischen Gebrauchs machen zu können. Daraus entstehen dann die ganzen Gesetze und als ihre Folge die Verbrechen. Jedes Material, nicht nur das Volk, widersetzt sich der Kultivierung. So müssen die Kulturbringer Gewalt anwenden, müssen töten [...].“ Beide Gedankenreihen werden zusammengehalten durch den Satz: „Die Natur kennt keine Gerichte und keine Strafgesetze, sie ist grenzenlos wahr in ihrem 'Nichts', in ihrer Gegenstandslosigkeit.“ (182 f.)

87

Die Reformation hat sich nicht zuletzt gegen die katholische Straflehre aufgelehnt, sie aber keineswegs einfach durch die paulinische Rechtfertigungslehre ersetzt. Vielmehr wurde diese noch einmal von neuem und in anderer Weise mit der Straflehre konfundiert. Für die Prädestinationslehre Calvins ist das geläufig, es hat Max Weber die bekannte These geliefert, der „Geist des Kapitalismus“ sei eine Folge des Versuchs von Calvinisten, sich selbst zu beweisen, dass sie nicht zu den ewig Verdammten gehörten. Aber auch die Lutheraner hatten mit Paulus Probleme: Schon bei Melanchthon „erscheint der Glaube als Annahme des göttlichen Rechtfertigungsurteils, während bei Paulus umgekehrt das Rechtfertigungsurteil Gottes den Glauben zum Gegenstand hat“ (Pannenberg, [Note 14], 254).

88

Die Zusammenhänge werden eindringlich gezeigt von Pannenberg, (Note 14), 559 ff. und Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 182-202: Der Ursprung des politischen Messianismus liegt im Erwählungsglauben des christlich gewordenen Römischen Reiches. Im Zuge der Abspaltung der westlichen Kirche überträgt er sich ganz natürlich auf Karl den Großen. Dann geht er auf die über, die sich auf Karl berufen: die Könige der beiden Teile des Reichs, das Karl beherrscht hatte, also Deutschlands und Frankreichs. Im Zuge der Reformation sieht sich England als neues Israel erwählt. Diesen Anspruch nehmen die Pilgerväter nach Nordamerika mit. Im Osten hat nach dem Fall von Byzanz Russland den Erwählungsglauben übernommen und bis ins Sowjetsystem hinübergerettet. Die Entwicklung nach den Konfessionskriegen hat Kosellek aufgearbeitet (Note 85): Der absolutistische Staat verbietet den Messianismus sich selbst und den Kirchen. Die Kirche soll sich nur noch ums private Seelenheil kümmern dürfen. (Ein Gefängnis, in dem sie weithin noch heute zappelt, wie sie ja auch immer noch die Jenseits-Metaphern des Mittelalters tradiert). In dem so konstituierten Privatraum, der eigentlich nur der Kirche zugesprochen war, breitet sich unerwartet die Aufklärung aus, die einen Weg findet, den Messianismus scheinbar außerstaatlich und jedenfalls außerkirchlich zu reformulieren. Dieser Weg führt zur Revolution und damit zum messianischen Nationalismus.

89

Vgl. Kathrin Hoffmann-Curtius, Opfermodelle am Altar des Vaterlandes seit der Französischen Revolution, in: Gudrun Kohn-Waechter (Hrsg.), Schrift der Flammen. Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert, Berlin 1991, 57-92.

90

Vgl. Verf., Orte der unendlichen Freiheit, in: ders. (Hrsg.), Globalisierung, Nation, Internationalismus. Orte des Widerstands – eine linke Debatte, Berlin 2002, 159-180, hier 168 ff. Über den nationalsozialistischen Krieg schreibt Michael Salewski: „[...] der Krieg musste weitergehen. Auf der Erde geht aber alles endlich zu, das wusste auch Hitler, und deswegen musste er seine Idee des ewigen, des totalen Krieges in andere Dimensionen transformieren – damit er unendlich weitergehen konnte. Die Idee war ebenso einfach wie entsetzlich: Der Krieg wird gegen andere Rassen geführt [...], bis nur noch die hochwertigste der Herrenrassen übrig blieb. Die jüngste Forschung geht sogar noch einen Schritt weiter: Im Nationalsozialismus sei die Idee angelegt, auch das weibliche Geschlecht als minderwertige und daher langfristig auszurottende 'Rasse' einzustufen. Die Idee des totalen, des ewigen, des Massenkrieges führte sich so ad absurdum [...].“ (Tier aus der Tiefe. Aufklärung über den Krieg, in FAZ v. 23.3.2002)

 

91

Der quasireligiöse Charakter des deutschen Messianismus wird nicht erst bei Hitler, sondern schon in der deutschen Klassik deutlich, etwa in Friedrich Schillers nationaler Eschatologie: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“ „Der deutsche Sohn [...] ist erwählt von dem Weltgeist, [...] den großen Prozess der Zeit zu gewinnen.“ (aus Deutsche Größe, hier zitiert nach Erich Kahler, Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas, Zürich 1937, 147 f.)

92

Auschwitz „[bedeutet] eine ganze geschichtliche Phase“, sagt Theodor W. Adorno in seiner Metaphysik-Vorlesung ([Note 70], 181). Bei der Lektüre bemerkt man, dass die Debatte über die Einzigartigkeit von Auschwitz die Gefahr einer Verdrängung birgt: Auschwitz ist bestimmt ein einzigartiges, aber deshalb kein isoliertes Phänomen. Adorno sieht Zusammenhänge mit der Einführung der Folter als „Dauerinstitution“, der Atombombe (160), der Schockbehandlung Geisteskranker (168). Leben und Tod sind nach Auschwitz verändert: Man lebt nicht mehr als man selbst und stirbt nicht mehr als man selbst (173). „Der Schrecken vor dem Tod heute ist wesentlich Schrecken darüber, wie sehr die Lebendigen ihm ähnlich sind.“ Weil es „das Individuum eigentlich nicht mehr gibt, [wird] der Tod etwas völlig Inkommensurables, die Vernichtung eines Nichtigen [...]. Wer stirbt, der merkt, dass er um alles betrogen ward.“ (212 f.) Adorno wartet freilich nicht auf ein Trostwort der Kirche: Am tröstlichsten sei es, „wenn einem nicht Mut gemacht wird [...], sondern wenn man das Gefühl hat: sogar das Alleräußerste ist noch etwas, was sich denken lässt“ (196).

93

Der in einer Schicht des Neuen Testaments als Verkörperung dieser Figur aus (Deutero-) Jesaja 42, 49, 50 und 52/53 aufgefasst wird: vgl. Berger, (Note 6), 25.

94

So wie Daniel Goldhagen sich das vorstellt, geht es sicher nicht: dass man „Stellen“ aus dem Text schwärzt (Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Berlin 2002, 347 ff.).

95

MEW 1, 378 f.

96

Vgl. Kapitalismus als Religion, in Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1985, 100-103.

97

A.a.O., 100.

98

Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München Zürich 1986, 507 ff.

99

Vgl. Gudrun Kohn-Waechter, Ersatzwelt, totale Herrschaft, Risikolust – Elemente eines modernen Technikdiskurses am Beispiel von John Desmond Bernal, in: Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, hrsg. vom Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien Bremen, Stuttgart 1995, 47-71. Austauschbarkeit lässt sich sogar aufs Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen menschlichen Kommunikation beziehen: Ernsthaft fragt Niklas Luhmann, „ob und wie weit die Computer die gesellschaftskon­stituierende Leistung der Kommunikation ersetzen oder überbie­ten können“. Wer oder was kommuniziert, ist nämlich nur der wechselnde Stützpunkt der Kommunikation und nicht diese selbst, und wen interessiert schon das Innenleben von Stützpunkten: „Kommunikation ist ein laufendes Prozessieren der Differenz von Wissen und Nichtwissen, ohne dass es dazu nötig wäre, die Wissens-/Nichtwissensbestände in den beteiligten Individuen oder Maschinen zu er­mitteln.“ (Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, 303) Marx hätte nur ein Wort gebraucht, übrigens ein religiöses Wort, um solchen Unsinn zu charakterisieren: Hypostasierung.

100

Gegen ökologisch motivierte Risikoangst um künftige Generationen polemisiert Luhmann mit dem Argument, sie sei ihrerseits riskant, weil „unklar bleiben muss, inwieweit diese Generationen noch Menschen im uns bekannten Sinne sein werden“ (Soziologie des Risikos, Berlin New York 1991, 5) – der Versuch eines Mannes, sich in die eigene Ersetzbarkeit einzufühlen.

101

Vgl. (Note 9), 628 f., 677-687.

102

Er tut dies nicht systematisch, aber immer wieder und besonders gerade hier, wo es um die Endgültigkeit des Todes geht: „Darf man nicht fragen, ob man sich das Leben in der Hölle schlimmer vorstellen könnte als ein Leben, das, in einer immerwährenden Zeit sich abspielend, selber immerwährend sein müsste?“ (a.a.O., 682) „Ein Sein in einer immerwährenden Zeit wäre ein nach allen Seiten zerfließendes Sein, nicht das eines konkreten Subjektes, dem Gott als ein ebenso konkretes Subjekt Gegenüber und Nachbar sein, zu dem er reden und mit dem er handeln kann. Man sieht von hier aus noch einmal, dass man sich auch das Sein Gottes nicht als das Sein in einer grenzenlosen immerwährenden Zeit vorstellen darf.“ (686)

103

Wo das Unendliche zum Wert an sich wird, ist es immer das ferne Unendliche. Nur gegen dieses richtet sich die Kritik. Ich spreche mich also nicht gegen jeden Unendlichkeitsbegriff aus. Zum Beispiel hat auch die Antwort, die der sie veranlassenden Frage widerspricht, deren endlichen Frageraum überschritten; sie hält sich in deren Un-Ende auf. Es steht jedem jederzeit frei, so unendlich zu antworten. Aber niemand strebt eine solche Antwort um ihrer selbst willen an, in der Absicht, sich „der Unendlichkeit zu nähern“. Vielmehr wird sie nur fallweise erteilt.

104

Horst-Eberhard Richter macht die Todesangst unserer Zeit dadurch messbar, dass er sie in die Geschichte des kollektiven Verfolgungswahns einordnet (Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Düsseldorf München 1997). Wer sich gegen Verfolger wehrt, die gar nicht existieren, wehrt sich gegen das natürliche Sterben: Das ist der Ansatz. Er ist hochplausibel, schon weil er an den Glauben archaischer Völker erinnert, der Tod sei immer die Folge böswilliger Angriffe von Feinden. Übrigens neigten sich schon diese Völker einem solchen Glauben besonders dann zu, wenn die Zeiten katastrophisch wurden (vgl. E. E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1978). Dass die Hexenjagd der beginnenden Neuzeit eine Reaktion auf eine schwere gesellschaftliche Krise war, in der die Todesangst dramatisch zunahm, ist bekannt. Richter findet nun eine vergleichbare Angst in der Hypertrophie und Eigenart des heutigen Gesundheitswesens: „Aus den Hexen werden Bakterien, Viren, als gefährlich angesehene Nahrungs- oder Genussmittel [...].“ (a.a.O., 148) Bakterien und Viren sind keine eingebildeten Feinde, aber wenn versucht wird, jede Krankheit auf sie zurückzuführen, nimmt das Viren-Paradigma wahnhafte Züge an (149 ff.). Wir führen sogar, jenen archaischen Völkern gar nicht unähnlich, das natürliche Sterben selber auf Bakterien und Viren zurück: Statt es für normal zu halten, dass die Organe des Körpers nacheinander ausfallen – und nicht gleichzeitig, als ob es Zahnräder einer Maschine wären -, isolieren wir den Ausfall des ersten Organs und sagen, nur dessen Befall mit Krankheitserregern sei für das Sterben verantwortlich (152 f.). Übertriebene Angst um die eigene Gesundheit kam im Römischen Reich zu einer Zeit auf, die der unsrigen vielleicht vergleichbar ist: „Die Korrespondenz zwischen Mark Aurel und seinem Erzieher Fronto dreht sich immer wieder um kleine und größere Wehwehchen. Kein Wunder, dass Galen, der Arzt aus Pergamon, der Leibarzt dreier Kaiser und der gehobenen Gesellschaft in Rom wurde, einer der erfolgreichsten Männer seiner Zeit war!“ (Wells [Note 71], 277 f.) Mark Aurel war der erste Kaiser, unter dessen Ägide man zu ahnen begann, dass das Reich sich nicht auf Dauer gegen die Gesamtheit seiner Feinde würde verteidigen lassen (246 f.). Von Eric Dodds wurde diese Periode „als ein 'Zeitalter der ängstlichen Besorgnis' bezeichnet, Besorgnis um das Wohlergehen in dieser Welt ebenso wie im Jenseits“ (vgl. 277).

105

Von der Zehnten Weltkonferenz der World Future Studies Federation in Peking, 1988, berichtet Robert Jungk (TROTZDEM. Mein Leben für die Zukunft, München Wien 1993, 518 f.): „Besonders unsere Gastgeber, chinesische Institutsleiter, Professoren und Funktionäre, wetteiferten in der Vorstellung gewaltiger hochtechnologischer Entwürfe. Der einzige Ausweg gegen eine durch Überbevölkerung ausgelöste große Hungersnot, globale Umweltverschmutzung und weltweite Arbeitslosigkeit sei die möglichst schnelle und energische Vorbereitung der Auswanderung von Milliarden in die Weiten des Weltraums, behauptete zum Beispiel der Professor Boa Zhong-Hang. Er stellte sogar einen detaillierten Fahrplan in fünf Etappen für diese gewaltige Umsiedlung vor. Nach seinem Programm sollte schon gegen Ende des 21. Jahrhunderts oder spätestens zu Beginn des 22. Säkulums die massenhafte Migration zu anderen Sternen möglich werden. Ein anderer chinesischer Sprecher plädierte trotz zunehmender Überbevölkerung für die massenhafte Entwicklung von Robotern und die Ersetzung der 'Familienproduktion' von Menschen durch eine sozialisierte kontrollierte Hochtechnologie der Bevölkerungsreproduktion in 'Baby-Fabriken' mit Hilfe verbesserter Methoden künstlicher Befruchtung.“

106

Zur Bedeutung der Kategorie der Proportionalität in Marx' Denken vgl. Verf., Ökologischer Umbau durch Befreiung des Marktes, in Kommune 9 bis 11/1996, wo ich proportionale Ökonomie hauptsächlich mit Gleichungs-Ökonomie konfrontiere, wie es Marx' eigenem Horizont entspricht. Die Konfrontation mit Unendlichkeit wird in dem Hinweis deutlich, dass Proportionalität für ökologisch gewollte Maß- und Qualitätsverhältnisse bürgt, grenzenloses Wachstum aber ausschließt.

107

Vgl. Note 80.

108

Vgl. MEW 23, 200 f.

109

Vgl. Verf., Die verdrängte Zukunft der Wissenschaft, in Die Unruhe und die Zufriedenheit oder die Tragödie des Scheiterns, Katalog der Ausstellung „1848“ des Badischen Kunstvereins zu den 14. Europäischen Kulturtagen, Karlsruhe 1998, 209-222.

110

Vgl. (Note 96), 100.

111

Jesaja 22, 13 f.

112

Nicht nur als Mord-, sondern auch als Auflösungsprozess wird die Geschichte der NS-Herrschaft von Ian Kershaw analysiert (Hitler 1936-1945, Stuttgart München 2000): Man könnte sagen, die Mordmacht der Nationalsozialisten wuchs proportional mit der Zerlegung und Chaotisierung ihrer Herrschaftsapparate.

113

So Emmanuel Todd, Amerika und die wahren Mächte der Welt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3'03, 287-295, hier 293.

114

Das hat Jürgen Habermas unterstrichen: „In den Vereinigten Staaten selbst unterminiert das auf Dauer gestellte Regime eines 'Kriegspräsidenten' schon heute die Grundlagen des Rechtsstaates. Ganz abgesehen von den außerhalb der Landesgrenzen praktizierten oder geduldeten Foltermethoden, beraubt das Kriegsregime nicht nur die Häftlinge in Guntánamo der Rechte, die ihnen nach der Genfer Konvention zustehen. Es räumt den Sicherheitsbehörden Handlungsspielräume ein, die die verfassungsmäßigen Rechte der eigenen Bürger einschränken.“ (Was bedeutet der Denkmalsturz? Verschließen wir nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern, in FAZ v. 14.4.2003)

115

Der Theologe und frühere Europaabgeordnete Wolfgang Ullmann urteilt geschichtstheologisch jenseits der „Straflinie“, wenn er „die Anerkennung der Nachchristlichkeit von Judentum und Islam“ und „die Wahrnehmung von Judentum, Christentum und Islam als universalgeschichtlicher Indizien, ihrer wechselseitigen Resistenz als Hinweis auf ein ausstehendes Urteil Gottes“ fordert (Was ist Theologie?, in Theologie für die Praxis 1-2/2003, 118-129, hier 128). „Der Dualismus Gut/Böse muss dem Urteil des 1. Gebotes verfallen: Das Böse ist das von Gott bereits besiegte, und daher ist alle Rede von der erst durchzusetzenden Rettung der Welt, wie sie von Präsident Bush ständig benutzt wird, als Blasphemie zu kennzeichnen.“ (122)

116

Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 141 ff.

117

Vgl. A 143.