Die Chodorkowskij-Affäre und die Konsolidierung von Putins Macht
Was sich bereits unter Jelzin abzeichnete, setzt Putin nun mit seinem Machtapparat tatkräftig um. Der wirtschaftliche Konzentrationsprozess, euphemistisch »freie Marktwirtschaft« genannt, vollzieht sich unter strikten Regeln: Garantie der Sicherheit des Besitzes bei Nichteinmischung in die Politik. Inzwischen hat Putin die Medienoligarchen mundtot gemacht. Sein Machtsystem trägt deutliche Züge eines autoritären Systems mit demokratischem Aufputz. Der russische Weg der Transition unterscheidet sich somit sehr deutlich und negativ von dem anderer osteuropäischer Staaten.
Anfang
Januar erklärte die bekannte liberale Politikerin Irina Chakamada von der
»Union der rechten Kräfte« ihre Bereitschaft, bei den Präsidentschaftswahlen am
14. März 2004 gegen Putin zu kandidieren. Ihre Partei ist die der Organisatoren
der liberalen Wirtschaftsreformer der Neunzigerjahre, wie Boris Nemzow oder
Anatolij Tschubajs. Bei den Parlamentswahlen waren sie und die Koalition
»Jabloko« von Grigorij Jawlinskij unter der Fünfprozenthürde geblieben, während
Putins Wahlverein »Einiges Russland« 305 von 450 Sitzen errang. Aus diesem
Grunde hatten die Demokraten eigentlich beschlossen, keinen Gegenkandidaten zu
Putin im März aufzustellen. Jeder wusste, dass eine solche Kandidatur von
Anfang an aussichtslos wäre. Im Fall Chakamada tauchten wie üblich sofort
hässliche Gerüchte auf: Sie habe sich auf Putins Veranlassung als Zählkandidatin
aufstellen lassen, damit alles ein wenig demokratisch aussehe.
Aber
ihre öffentlichen Angriffe auf Putin waren heftig. In der Zeitung Kommersant
warf sie ihm vor, ein System aufzubauen, das durch Angst und Lügen gestützt
werde. Er verheimliche die Hintergründe der Geiselnahme im Musical »Nord-Ost«;
von den 800 Geiseln waren damals 130 umgekommen, als die Sicherheitskräfte ein
bislang verschwiegenes Kampfgas ins Theater geleitet hatten. Die Spezialtruppen
hatten dann beim Sturm alle Geiselnehmer erschossen, sodass keiner mehr
aussagen konnte. Chakamada hatte damals auf eigene Initiative mit den
Geiselnehmern verhandelt und den Eindruck gewonnen, dass einerseits diese das
Theater nicht sprengen wollten und andererseits die Sicherheitskräfte nicht
alle Geiseln retten wollten. Schließlich warf sie Putin auch eine
Verschleierung der vorgeblich tschetschenischen Anschlagserie auf Wohnhäuser im
September 1999 vor. Die Behauptung, es sei der russische Geheimdienst gewesen,
hing unausgesprochen in der Luft.
Diese
und andere scharfe Vorwürfe erhoben auch eine Reihe prominenter Liberaler und
Menschenrechtler in großen Anzeigen westlicher Zeitungen, die im September 2003
von der New Yorker »Foundation for Civil Liberties« finanziert worden waren.
Unterzeichner waren der geflohene Oligarch Boris Beresowskij, die
Menschenrechtsaktivistin und Witwe von Andrej Sacharow, Jelena Bonner, der
frühere Dissident Wladimir Bukowskij, der ehemalige Parlamentspräsident Ruslan
Chasbulatow und der prominente liberale Politiker Iwan Rybkin. Diese Vorwürfe
waren plausibel und denen, die die Entwicklung ein wenig verfolgt hatten,
bekannt.
Totalitäre Wende?
Das
liberale Russland war aus Anlass der Verhaftung und andauernden
Untersuchungshaft von Michail Chodorkowskij, dem Haupteigner des Ölkonzerns
Yukos und reichstem Mann Russlands, besorgt. Sollte sich Russland auf dem
Rückweg in eine Diktatur befinden?
Chodorkowskij
war am 25. Oktober 2003 unter der Beschuldigung der Steuerhinterziehung, des
Betruges, der Urkundenfälschung und anderer schwerer Delikte verhaftet worden.
Über eine Milliarde Dollar sollte er sich angeeignet haben. Am 30. Oktober fror
die Staatsanwaltschaft 44 Prozent der Unternehmensakten im Wert von etwa 15
Milliarden Dollar ein. Immerhin hatte Chodorkowskij das offenbar kommen sehen.
Er besaß nur noch 9,5 Prozent des Aktienvermögens. Den Rest hatte er auf die
Unternehmen Yukos International und Halley Enterprises überschrieben, die
Töchter eines in Gibraltar sich befindenden Ablegers seiner Bank Menatep sind.
Mehrere
Umstände machten den Zeitpunkt der Verhaftung plausibel. Chodorkowskij hatte
angekündigt, sich politisch engagieren zu wollen und nicht ausgeschlossen, dass
er sich – vielleicht schon im März 2004 – zum Präsidentschaftskandidaten
aufstellen lassen wolle. Er hatte die beiden liberalen Oppositionsparteien
großzügig unterstützt und seit einigen Jahren viele soziale und kulturelle
Projekte finanziert. Diese Wendung in die Politik und in die Philanthropie war
eigentlich ein Bruch des Stillhalteabkommens von 2000 zwischen dem damals neuen
Präsidenten Putin und den Oligarchen. Putin hatte ihnen die Sicherheit ihres
Besitzes zugesagt, solange sie sich nicht in die Politik einmischten.
Seitdem
Chodorkowskij in Untersuchungshaft sitzt, haben sich die westlichen Perspektiven
auf Russland verändert. Aus der »Transformationsgesellschaft« mit ihrer
»gelenkten Demokratie«, ist unversehens eine Autokratie geworden. War der
Begriff »Transformation« zu optimistisch westlich, so ist die Vorstellung einer
totalitären Wende möglicherweise zu radikal. Dabei zeigten die Maßnahmen gegen
Chodorkowskij tatsächlich eine tief greifende Veränderung an.
Oligarchen,
die sich über ihre Presseorgane oppositionell in die Politik einmischten,
wurden unter Putin von Anbeginn verfolgt. Als Ersten traf es Wladimir
Gusinskij, der in seinen Zeitungen und Fernsehstationen gegen Putin und seine
Tschetschenienpolitik opponiert hatte. Gusinskij war allerdings auch nicht Teil
des Stillhalteabkommens gewesen. Der Verfolgung entkam Gusinskij durch eine
Flucht nach Israel. Nebeneffekt der Vertreibung Gusinskijs war, dass Putin
einem wesentlichen Teil der oppositionellen Medien, vor allem des Fernsehens,
den kritischen und nachforschenden Stachel zog. Wladimir Beresowskij, der mit
seinen eigenen Medien zunächst Putin unterstützt und seine Wiederwahl
sichergestellt hatte, war als Nächster an der Reihe. Auch ihm wurden seine
Massenmedien genommen; er selbst siedelte nach England über, um einer
Strafverfolgung zu entgehen.
Damit
war zwar die bunte Medienvielfalt in Russland nicht beseitigt; es kehrte keine
sozialistische Tristesse zurück. Beseitigt aber waren alle politisch kritischen
Stimmen, soweit sie ein breiteres Publikum hätten erreichen können. Die
Meinungsfreiheit war damit noch nicht beseitigt, aber doch die Möglichkeit
einer kritischen Einflussnahme auf massenhafter Ebene.
Die
Verhaftung Chodorkowskijs hatte im Vorfeld der Dumawahlen vom 7. Dezember 2003
die liberale Opposition jener Unterstützung beraubt, die sie für einen
sichtbaren Wahlkampf gebraucht hätte. Entsprechend dröge war der Wahlkampf
geblieben. »Einiges Russland« errang die absolute Mehrheit, 305 der insgesamt
450 Mandate. Die beiden liberalen Parteien schafften nicht einmal die
Fünfprozenthürde. Die KP blieb die zweitstärkste Fraktion, aber sie bedrohte
die überwältigende Mehrheit von Putins Partei nicht mehr. Und die nutzte den
Sieg zum machtpolitischen Durchmarsch.
Noch
im Dezember übernahm der frühere Innenminister Gryslow, ein treuer Gefolgsmann
Putins, in der konstituierenden Sitzung der neuen Duma die Präsidentschaft.
Mitte Januar 2004 sicherte sich das »Vereinigte Russland« den Vorsitz in
sämtlichen Kommissionen. So sind in der neuen Duma keine Debatten, keine
kontroversen Auseinandersetzungen mehr zu erwarten – vielleicht zuweilen ein heimliches
Murren.
Die
Tendenz zum Machtmonopol hatte allerdings bereits vorher eingesetzt.
Ursprünglich war der Vorsitz in den Kommissionen entsprechend der Stärke der
Fraktionen im Einvernehmen besetzt worden; ein solcher Vorsitz war nicht nur
wegen seiner Einflussmöglichkeiten begehrt, sondern auch wegen der erheblichen
materiellen und sonstigen Privilegien, die seinen Inhabern gewährt wurden. In
der letzten Legislaturperiode hatten die großen Fraktionen die Pfründe unter
sich aufgeteilt und die kleinen weitgehend übergangen. Die boykottierten nun
wochenlang die Sitzungen, bis der Protest wegen seiner Wirkungslosigkeit
bröckelte. In der neuen Duma hat die nun allein herrschende Partei sich sogar
eine Kommission mehr – für die Veteranen – bewilligt; es sind nunmehr 29.
Das
Desaster der Demokratie hatte aber früher, letztlich schon unter Jelzin,
begonnen. In der Spätphase der Perestrojka und den ersten Wochen nach dem
Putsch vom August 1990 war es zu einer großen Mobilisierung der Bevölkerung
gekommen, vor allem der Jugend und der Intellektuellen. Diese Mobilisierung
hatte Hoffnungen auf die Entstehung einer russischen Zivilgesellschaft geweckt.
Aber schon damals war die Ankündigung Jelzins, er werde keine politische Partei
gründen, sondern als Präsident aller Russen amtieren, ein böses Omen für eine
demokratische Entwicklung gewesen. Politische Konflikte und
Auseinandersetzungen waren nunmehr als bloßer Zwist charakterisiert und das
politische System auf die Figur des guten Zaren zentriert. Allerdings liebte
dieser Zar die großen Gesten, den starken Wodka und die Ruhe.
Die
große Mobilisierung fiel entsprechend bald in sich zusammen. Das Land wurde von
einer Präsidialverwaltung aus regiert, die sich als Gegenmacht gegen das
Parlament durchsetzte und parallele Strukturen aufbaute. Die neue Zeit brachte
im Vergleich zur sowjetischen nicht weniger, sondern mehr Bürokratie. Vor allem
aber brachte sie eine Korruption, die in den Medien offen gelegt und getadelt
wurde. Merkwürdigerweise führte dies zu keiner Verbesserung der Sitten, sondern
steigerte den weit verbreiteten Zynismus. Putin ließ Korruptionsberichte nur
noch zu, um seine Gegner zur Strecke zu bringen. Die Korruption selbst
bekämpfte er nicht. Sie verschwand aus der Presse; doch der Zynismus blieb.
Die
scheinbare Stärke des Zentrums war unter Jelzin aus mehreren Gründen fiktiv. Es
fiel Jelzin schwer, das Land zusammenzuhalten. Die regionalen Gouverneure
regierten ihr jeweiliges Gebiet von der durchschnittlichen Größe eines
westeuropäischen Staates autokratisch; sie banden die Mehrheit der bis dahin
rebellischen Organisationen in die Machtgleichgewichte ein und korrumpierten
sie. Von Pressefreiheit konnte außerhalb von Moskau und Petersburg kaum
irgendwo die Rede sein. Die »autonomen Republiken« auf russischem Territorium
tendierten nach Aufforderung Jelzins zusätzlich dazu, die Autonomie immer
extensiver auszulegen. Extremes Beispiel war die tschetschenische
Unabhängigkeitserklärung unter Dudajew.
Eine
zweite Schwäche lag in der Person des Präsidenten selbst: Er war nicht nur
gegenüber dem Alkohol, sondern offenbar auch staatspolitisch haltlos.
Bedenkenlos tauschte er Unterstützung für sich durch Gewährung lokaler oder
regionaler Macht, durch Steuerbefreiungen und Sondergesetze, die den Staat
horrende Summen kosteten. Dass er dies freihändig tun konnte, verdankte sich
seiner institutionell gesicherten Macht. Die einzige Gefahr kam von den
Kommunisten. Doch gegen die Medienmacht der Oligarchen hatten sie keine Chance.
Obwohl Jelzins Popularität verschwunden war, gelang es dieser Medienmacht immer
wieder, seinen Wahlsieg zu sichern.
Für
die Wirtschaftsreformen, für die Hinwendung Russlands zur Marktwirtschaft
engagierte Jelzin junge liberal gesonnene Wirtschaftswissenschaftler, denen vor
allem die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Bildung funktionsfähiger
Großkapitale am Herzen lagen. Ein richtiger Kapitalismus braucht gerissene
Milliardäre. Beraten wurden sie durch sendungsbewusste westliche Experten. Die
Folge war eine wilde Privatisierung, an deren Ende sich Unternehmen und
Bodenschätze in den Händen raffinierter und skrupelloser Unternehmer sammelten,
die in kurzer Zeit märchenhafte Reichtümer anhäuften – die Oligarchen. Sie
nutzten alle denkbaren Gesetzeslücken, vermieden Steuern und verstießen gegen
alle Gesetze, gegen die ein Verstoß sich lohnte. Ihr Reichtum ermöglichte es
ihnen, all jene öffentlichen Institutionen zu korrumpieren, bei denen sich das
lohnte, und sie stießen dabei auf keinerlei Widerstand.
Ein
demokratisches Parteiensystem konnte so nicht entstehen. Mit Ausnahme der
Kommunisten, die aus historischen Gründen fest institutionalisiert waren, gab
es nur schwache Parteien ohne feste Mitgliederstruktur. Meist waren sie auf
Initiative eines Politikers und zu seiner Unterstützung geschaffen worden. Die
Abgeordneten selbst beziehen ihren Lebensunterhalt über Pfründe, die von der
Präsidialverwaltung verwaltet und zugeteilt werden. Abgeordnete leben in
behaglichen Umständen; aber wer sein Mandat verliert, stürzt wirtschaftlich und
sozial ab. Es gibt gute Gründe für Opportunismus. Eine Sonderstellung in diesem
System hatte die engere Umgebung Jelzins, seine »Familie« zu der auch Boris
Beresowskij gehörte.
Die
ganze Entwicklung war begleitet von einem Absturz der russischen Wirtschaft und
einer massenhaften Verarmung in den Industrieregionen, auf dem Lande und von
benachteiligten Sozialgruppen. Zugleich wuchs eine gewaltbereite organisierte
Kriminalität, die sich vor allem in den Neunzigerjahren nicht nur den üblichen
kriminellen oder halbkriminellen Gewerbezweigen vom Autohandel über das
Immobiliengeschäft bis zur Prostitution widmete, sondern auch die offiziellen
Strukturen durchdrang.
Positiv
stand diesen Entwicklungen eine lebhafte Kulturszene, vitale und innovative
Massenmedien, zumindest in den Metropolen die Entstehung einer aktiven jungen
Mittelschicht gegenüber. Die liberalen Intellektuellen, die sich aus ihrer
Distanz oder ihrem Widerstand gegen den Kommunismus definierten, verloren zwar
jenen Rückhalt in der Bevölkerung, über den sie während der stürmischen
Umbruchzeit verfügt hatten, aber sie organisierten sich und bauten Strukturen
auf, die irgendwann eine Zivilgesellschaft zum Entstehen bringen sollten.
Finanziell und teilweise organisatorisch wurden sie durch westliche Stiftungen
unterstützt. Sie erschienen vergleichsweise einflusslos, aber sie erhielten die
Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung lebendig.
Die
Mehrheit der Bevölkerung war jedoch längst wieder entpolitisiert. Sie hoffte
auf die starke Hand, die Ordnung schaffen würde, auf den guten, aber strengen
Zaren.
Die
wilde Privatisierung, die von vielen Russen als Ausverkauf wahrgenommen wurde,
die Staatskrise, die sich in sinkenden oder gar nicht bezahlten Löhnen und
Renten äußerte, während andererseits die »neuen Russen« in unerhörtem Reichtum
schwelgten, diskreditierten in der Bevölkerung die Marktwirtschaft und die
Demokratie.
Diese
massenhafte Enttäuschung hatte keine unmittelbaren politischen Auswirkungen. Es
entstand keine totalitäre Massenbewegung. Die stalinistischen
Rückkehrnostalgien blieben auf kleine Gruppen beschränkt. Aber es entstand eine
Aufnahmebereitschaft für populistische, autoritäre Maßnahmen, die schließlich
auch Putin nutzen konnte.
Putins
biografischer Hintergrund im Geheimdienst kann zweifellos viel erklären. Aber
wichtiger noch ist seine Situation zum Zeitpunkt der Machtübernahme. Selbst in
sowjetischer Zeit stiegen nicht Einzelpersonen an die Spitze des Staates oder
der Kommunistischen Partei auf, sondern immer Gruppen, deren Mitglieder
einander persönlich vertrauten. Auch im neuen Russland war persönliches
Vertrauen, persönliche Bindung überlebenswichtig. Es stiegen immer
Freundesgruppen auf. Im Falle Putin war dies offenkundig. Als er das
Präsidentenamt übernahm, hatte er noch keine Hausmacht. Die „Familie“ behielt
in wichtigen Bereichen zunächst die Zügel in der Hand. Den Rückhalt musste sich
Putin erst vorsichtig schaffen.
Das
Erste war die populistische Suche nach Zustimmung in der Wählerschaft: Der zweite
Tschetschenienkrieg, den er schon vor seiner Präsidentschaft als
Ministerpräsident unter Jelzin ausgelöst und mit vulgärer Aggressivität
begründet hatte, weckte Begeisterung in der Bevölkerung. Rechtzeitig war es
auch zu terroristischen tschetschenischen Aktionen gekommen, die einen
Gegenangriff legitimierten. Mit dem Krieg münzte Putin die antitschetschenische
Stimmung in Wählervoten um. Er suchte auch Unterstützung im Militär. Vor allem
aber versicherte er sich der Solidarität seiner beruflichen Herkunftsmilieus.
Ein
Detail wird in diesem Zusammenhang oft übersehen: Die Geheimdienstler, mit
denen er sich umgab, waren vor allem Kollegen, die ihm von früher persönlich
bekannt waren und denen er persönlich vertrauen zu können glaubte. Aus seiner
Aktivität als Mitarbeiter des liberalen Bürgermeisters Sobtschak in St.
Petersburg hatte Putin Zugang auch zu den Milieus der liberalen Ökonomen, die
ihm trauten.
Seine
ersten Maßnahmen, mit denen er seine Macht befestigte, stießen kaum auf
Widerstand. Er nahm durch eine administrative Umorganisation die allzu
selbstherrlichen Regionen an die Kandare und stärkte die faktische Herrschaft
der Zentrale über die Provinzen. Er entmachtete damit nicht die
selbstherrlichen Provinzfürsten, aber er schwächte sie. Die zweite Aktion war
bedenklicher: Er ging gegen den Oligarchen Gusinskij vor und gegen dessen
politische Machtbasis, die Firma Media-Most. Gusinskij floh ins Ausland, die
kritischen Fernsehstationen wurden abgeschaltet oder auf Linie gebracht.
Die
Medien Gusinskijs hatten bereits über den ersten Krieg so intensiv berichtet,
dass die Stimmung in Russland umschlug und ein Waffenstillstand geschlossen
wurde. Im zweiten Tschetschenienkrieg verhängte Putin eine Nachrichtensperre
über Tschetschenien, die nur von besonders mutigen und extrem gefährdeten
russischen Journalisten überwunden werden konnte; und auch sie waren zunehmend
gezwungen, ihre Recherchen im Ausland zu publizieren.
All
diese Maßnahmen waren nicht nur ein Mittel, eine gelenkte Öffentlichkeit
herzustellen, sie richteten sich gegen wesentliche Figuren des alten
Machtzentrums, der »Familie«, die er nicht frontal, sondern schrittweise
auflöste. Eine letzte führende Person dieser Familie entließ er erst im Rahmen
der Yukos-Affäre, den Chef der Kreml-Verwaltung Aleksandr Woloschin.
Im
Zuge der Konsolidierung von Putins Macht entstand schrittweise zugleich ein
Kult mit teilweise bizarren Ausformungen. Es wurde mehr und mehr üblich, den
Präsidenten zu zitieren, um die Wahrheit oder die Bedeutsamkeit bestimmter Aussagen
zu belegen. Spott über den Präsidenten, wie er gegen Jelzin in den Medien
häufig gewesen war, galt nun als geschmacklos.
Auf
diesem Hintergrund konnte die Yukos-Affäre als ein Schlag gegen die freie Marktwirtschaft
und gegen die liberale Demokratie erscheinen. Für diesen Eindruck spricht
zweierlei: Die politische liberale Intelligenz, die die wesentlichen, wenn auch
schwachen zivilgesellschaftlichen Organisationen inne hatte, war selbst bereits
seit längerem immer wieder angegriffen worden. Die staatliche Belästigung
westlicher Stiftungen, die diese Organisationen unterstützt hatten, war zwar
immer wieder zurückgenommen worden, aber ganz offensichtlich richtete sie sich
gegen Organisationen, die sich um Menschenrechtsfragen kümmerten, die den
Tschetschenienkrieg kritisierten oder gegen die Informationspolitik der
Regierung angingen.
Ein
genauerer Blick auf die Yukos-Affäre zeigt aber auch hier ein Doppelgesicht.
Die Affäre begann in einer Periode, in der die russische Wirtschaft florierte.
Die Öleinnahmen flossen, Russland hatte sich ein bequemes Devisenpolster
zugelegt, es kamen westliche Investoren, und sie wurden willkommen geheißen.
Tatsächlich waren die Steuergesetzgebung und das Wirtschaftsrecht insgesamt
noch nicht perfekt; aber die Fortschritte wurden auch von westlichen Investoren
anerkannt. Putin hatte sich bei allen autokratischen Tendenzen immer als Freund
der Markwirtschaft zu erkennen gegeben. Wenn man diese markwirtschaftliche
Orientierung ernst nimmt, dann hat das Vorgehen gegen Yukos primär politische
Gründe des Machterhalts.
Putin
hatte sich nie für eine Rückkehr zu sowjetischen Zuständen ausgesprochen.
Anders als die liberale Opposition identifizierte er nie mit der Demokratie die
Marktwirtschaft. Er ging offiziell davon aus, dass ein florierender Markt und
eine autokratische Ordnung nebeneinander existieren können. Der Primat der
Politik sollte jedoch erhalten bleiben.
So
wurde Putin zum Spiegelbild seines Freundes Berlusconi. Er will die Medien
einsetzen um seine politische Macht zu konsolidieren; Berlusconi will den Staat
nutzen um seine Medienmacht zu stabilisieren und profitabel zu halten. Die
Yukos-Affäre kann also als Machtkampf gelesen werden, der eine Generalwarnung
an die Oligarchen enthält.
Sie
hatte am 19. Juni 2003 mit der Verhaftung des Sicherheitschefs von Yukos,
Aleksej Pitschugin begonnen, dem zwei Morde und ein Mordversuch im Jahr 1998
zur Last gelegt wurden. Am 3. Juli wurde Platon Lebedjew verhaftet, Aktionär
und Leiter der Menatep-Bank, einer Tochterfirma von Yukos. Lebedjew wurde
diverser Finanzdelikte bei der Privatisierung der Düngemittelgruppe Apatit im
Jahre 1994 beschuldigt und der Verwicklung in die Ermordung eines
Bürgermeisters, der bei Yukos Gemeindesteuern eintreiben wollte. Leonid
Newslin, der Stellvertreter Chodorkowskijs und zweitgrößer Aktionär von Yukos,
setzte sich nach einer Vorladung durch die Staatsanwaltschaft nach Israel ab.
Er wurde am gleichen Tag, an dem er bekannt gab Chakamada zu unterstützen, auf
die Fahndungsliste gesetzt.
Dass
sich etwas zusammenbraute, war schon deutlich gewesen, als die Menatep-Gruppe
eine Dividende von 2 Milliarden Dollar ausschüttete, die angeblich zu
Chodorkowskij persönlich flossen und zu dem Oligarchen Roman Abramowitsch, der
nach dem Verkauf der Ölfirma Sibneft 26 Prozent von Yukos erworben hatte.
Chodorkowskij verzichtete auf seinen Posten als
Aufsichtsratsvorsitzender um sich ganz seiner 2001 gegründeten Stiftung
»Offenes Russland« zur Förderung der Zivilgesellschaft zu widmen. Chodorkowskij
hatte sein öffentliches Bild verändert, er war nicht mehr der skrupellose
Geschäftemacher, er stiftete nun für kulturelle, wissenschaftliche und
wohltätige Zwecke und unterstützte die Zivilgesellschaft. Sein Vorbild war
dabei George Soros, der in Osteuropa ein dynamisches wissenschaftliches Leben
überhaupt erst ermöglicht hatte.
Chodorkowskij
hatte sich nicht nur im Sinne eines zivilgesellschaftlichen Liberalismus
engagiert. Er hatte begonnen, sein Unternehmen auch auf westliche Standards hin
zu reorganisieren. Er hatte es auf amerikanische Transparenz und auf produktive
Investitionen umorientiert. Immerhin hatte Yukos neben vier russischen auch
drei amerikanische Direktoren. Unter ihnen war Simon Kukes besonders
einflussreich, der schon in sowjetischen Zeiten in die USA emigriert und dort
Staatsbürger geworden war. 1996 kehrte er als Vizepräsident von Yukos nach
Russland zurück, arbeitete zwischendurch für die Tiumen Petrol Company und war
seit Sommer 2003 wieder für Yukos tätig. Zur Verwestlichung des Unternehmens
gehörte auch die internationale Besetzung des Verwaltungsrates, in dem der
ehemalige demokratische Senator Bill Bradley, Lord Rothschild und Henry
Kissinger saßen. Die Hoffnung war offensichtlich, dass amerikanisches Kapital
so stark involviert wird, dass es staatliche Willkür in Russland nicht mehr
tolerieren mag und entsprechend auch auf die amerikanische Regierung einwirken
wird.
Es
ist bemerkenswert, dass unter diesen Umständen die westlichen Proteste gegen
die Verhaftung von Chodorkowskij verhalten blieben und die Börsen nur
kurzfristig und schwach nachgaben. Niemand in der westlichen Wirtschaftswelt
schien ernsthaft besorgt zu sein. Offensichtlich hat also niemand in der
westlichen Wirtschaft die demokratischen und liberalen Hoffnungen in Russland
wirklich ernst genommen. Die russischen Rohstoffe und Absatzmöglichkeiten waren
wichtiger.
Das
Herrschaftsmuster war ohnehin vertraut. Das betrifft vor allem die Justiz als
Kampfinstrument der Regierung. Kompromittierendes Material, »Kompromat«, war
schon unter Jelzin ein beliebtes Mittel in politischen Auseinandersetzungen
gewesen. Missliebige Politiker ließen sich stützen, wenn ihnen durch
öffentlichen Skandal Bestechung oder der Umgang mit Prostituierten nachgewiesen
wurde. Schon die Biografie der Oligarchen war »Kompromat«, denn keiner hatte
seinen gigantischen Reichtum durch biedere Arbeit erworben. Es kann sein, dass
einzelne Anklagepunkte gegen Chodorkowskij und seine Mitarbeiter falsch sind,
aber sicherlich stimmen sie überwiegend.
Die
Technik besteht eben darin, dass die Geheimdienste auch weiterhin »Kompromat«
sammeln, es aber erst einsetzen, wenn es einen gewichtigen machtpolitischen
Grund dafür gibt. Putins Kampf gegen Oligarchen ist – bei aller populistischen
Rhetorik – tatsächlich ein Kampf gegen politische Gegner, die seine Macht
gefährden könnten. Die »Diktatur des Rechts« die Putin bei seinem Machtantritt
verkündet hatte, ist in Wirklichkeit eine Diktatur mittels der Justiz.
Aber
wahrscheinlich ist auch die Vorstellung eines politisch skrupellos
kalkulierenden Präsidenten zu einfach. So wie Putin im Zentrum der Macht
Freunde braucht, auf die er sich persönlich verlassen kann, so sehr ist immer
die Konstellation zu bedenken, in denen diese Freunde existieren. Im Falle
Putins waren es nicht Geheimdienstleute überhaupt sondern vor allem solche, die
er kennt. Die aber können durchaus eigene Interessen verfolgen, an die der
Präsident, der loyale Unterstützer braucht, denken muss.
Ein
russisches Gerücht um den Mobilfunkbetreiber Vimpelcom kann eine Ahnung von den
gegenwärtigen sozialen Machtkämpfen vermitteln. Nach Jahren unbeanstandeten
Wirkens zog die russische Aufsichtsbehörde ihre Mobilfunklizenz zurück. Sie sei
ungültig, da sie nicht auf den Mutterkonzern von Vimpelcom, die norwegische
Telenor, ausgestellt sei. Hintergrund seien vermutete Fusionsabkommen. Die Afra
Group, einer der großen russischen Vimpelcom-Aktionäre, habe vorgehabt mit
Vimpelcom und Megafon zusammenzugehen. Megafon aber gilt als Projekt von Leuten
des neuen »Petersburger Clans«, die Putin stützen und den Machtministerien –
Inneres, Geheimdienste, Armee – angehören. Ihnen gehöre ein Drittel der
Megafonaktien, aber sie sorgten sich um Einfluss und Pfründe, sollte Megafon
mit Vimpelcom fusionieren.
Auf
jeden Fall legt das Gerücht nahe, dass eine neue gesellschaftliche Gruppe an
die Fleischtöpfe der Privatisierung drängt. Die ursprüngliche Akkumulation nach
1990 war einerseits Sache der künftigen Oligarchen, die mit Gewitztheit und
Skrupellosigkeit sich bereicherten, und der »roten Direktoren« von
Großunternehmern, die ihren Belegschaften die Anteilscheine wieder abknüpften.
Nun drängen die »Silowiki« aus den Gewaltministerien an die Fleischtöpfe.
Bei
alledem hat Putin eine Konsolidierung seiner Macht erreicht. Die begabten,
frischen und karrierebewussten jungen Menschen drängen in Putins Partei. Wer
die Opportunisten auf seiner Seite hat, hat vorläufig die Machtkämpfe gewonnen.
Siehe zum Thema in der »Kommune« auch:
Erhard Stölting: Tschetschenien in Moskau, 12/02
ders.: Langsames Umsteuern in den Trümmern eines chaotischen
Umbruchs, 1/02