Editorial
Auch in Frankreich weiß man schon
länger, dass das Vichy-Regime widerwillig mit den deutschen Besatzern
kollaborierte. Jetzt beweist ein neu entdecktes Aktenstück nicht nur die
unmittelbare Verantwortung Hitlers für den Abtransport und die Vernichtung der
französischen Juden, sondern auch die aktive Mithilfe des Vichy-Regimes. In der
»Geheimen Reichssache« vom 10. Dez. 1942 heißt es mit den Worten Himmlers: »Der
Führer hat die Anweisung gegeben, daß die Juden und sonstigen Feinde in
Frankreich verhaftet und abtransportiert werden. Dies soll jedoch erst
erfolgen, wenn er mit Laval darüber gesprochen hat. Es handelt sich um 6-700000
Juden« (Hanns C. Löhr: »Hitlers Befehl«, FAZ, 24.1.04). Der Fund
schließt eine weitere Lücke in der Beweisführung über Hitlers zielgerichteten
Völkermord an den Juden, in Frankreich aber wird er das geklitterte
Geschichtsbild neuerlich erschüttern.
Der Fall zeigt einmal mehr, wie
zufallsabhängig und unabgeschlossen Geschichte ist. Fast nichts steht wirklich
endgültig fest, und die Interpretationsweisen ändern sich mit Abstand und
Blickwinkel. Diese an sich ziemlich schlichte Erkenntnis ist in der
Auseinandersetzung um Geschichtsbilder und -interpretationen trotzdem nicht
eben weit verbreitet. Dabei könnte einem die lange Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zeigen, dass seine Erforschung,
Darstellung und Interpretation nicht nur verschiedene Etappen und Modi
durchlaufen hat, sondern das diese auch zeit- und interessengebunden gewesen
sind – und dies auch zukünftig sein werden. Dabei werden sich die kommenden
Interpretationen bald endgültig von den Erfahrungen der »Erlebnisgeneration«
lösen, und damit wird zweifellos auch ein prägendes Element der Ereignisse vor,
von und nach 1968 ein Stück weit historisiert. Das schließt »Verdrängung« nicht
aus, ermöglicht aber auch neue Zugänge aus zeitlichem und emotionalem Abstand.
Dass dabei nicht unbedingt herauskommen wird, was diese Ereignisträger damals
empfanden und heute denken – auch damit ist zu rechnen.
Ein erhellendes Beispiel für den
widersprüchlichen Prozess des Umgangs mit Geschichte findet sich nun
ausgerechnet im Kino. Der bekannte armenisch-kanadische Regisseur Atom Egoyan
thematisiert in Ararat den Genozid an den Armeniern durch türkische
Truppen zwischen 1915 und 1918. Egoyans Auseinandersetzung mit der Suche nach
einem gültigen Zeugnis über den Völkermord entwickelt sich aus der Perspektive
vier verschiedener Generationen. Geschichtlicher Prozess, persönliche
Betroffenheit, generationenspezifischer und damit auch emotionaler Abstand zu
den Ereignisse treten auf komplexe Weise miteinander in Beziehung. Egoyan geht
sogar der Problematik einer Bebilderung der Massaker von damals nach, und setzt
sich so auch mit dem Thema der »Opfermonumentalität« auseinander. Die
Generationenabfolge aber, so Egoyan, ändert unvermeidlich den Zugang zu den
historischen Ereignissen, schafft allerdings, vor allem für die noch indirekt
betroffene Generation, einen oft schmerzenden Abstand.
Ein solcher Abstand kann jedoch
auch wichtig sein, um Fragen wieder oder neu stellen zu können, um
Geschichtsbilder und -erkenntnisse zu überprüfen. Das kann man in dieser und
der vorangegangenen Ausgabe unserer Zeitschrift am Essay von Michael Jäger über
»Geschichtsunterbrechung« und Kirche erfahren. Ohne das Ende des Sozialismus
und ohne den Aufstieg eines Papstes, der die Kirche in manchem heute als
Kritikerin des Kapitalismus erscheinen lässt, wäre unserem Autor die
Neubefragung des Alten Testaments, des Marx’schen Denken und der Rolle der
Kirche in der Geschichte kaum möglich. Vor einigen Jahren noch wäre eine solche
Neubefragung der Religion wohl eher von rechts zu erwarten gewesen, für Michael
Jäger aber stellt sich die Neuinterpretation nun als genuin linke Aufgabe und
durchaus als marxistische. Der 11. September ist für ihn ein anderes
»Geschichtszeichen« als für George Bush, und der Kapitalismus steckt für ihn in
einem katastrophaleren Stadium als für manchen seiner Reformer (siehe Helmut
Wiesenthals Aufsatz in Kommune 3/03).
Nicht nur aus Jägers Perspektive
dürfte es kaum ein Zufall sein, wenn der Vorsitzende der Deutschen Bank, Josef
Ackermann, im Mannesmann-Prozess mit Victory-Zeichen auftritt und verkündet:
»Das ist das einzige Land, wo die, die Werte schaffen, vor Gericht kommen.«
Spiegelt sich darin nicht die arrogante Denkart einer Finanzelite und die
Verkennung einer Produktionsweise, in der ganz andere die Werte schaffen? Hier
deutet sich ein Gesellschaftsbild an, in dem die Produzenten des gesellschaftlichen
Reichtums zu lästigen »Kostenträgern« werden. In dieses Bild passt auch die
Aussage des CSU-Bundestagsabgeordneten Singhammer, »... jedes Kind sei ein
Konsument – zuerst von Pampers und dann von Autos. ›Wir brauchen Konsumenten‹«
(n-tv text, 20.1.04). Im Moment ist nicht abzusehen, dass Rot-Grün einem
solch perversen Weltbild grundlegend widersprechen würde. Peter Lohauß macht in
diesem Heft vielmehr schon den Beginn eines Systemwechsel innerhalb des
Sozialstaates aus. Ob dieser Wechsel zu kurz greift oder mit einer puren
Wachstumsideologie in die falsche Richtung führt, das ist die strittige Frage.