Editorial

Michael Ackermann

 

Auch in Frankreich weiß man schon länger, dass das Vichy-Regime widerwillig mit den deutschen Besatzern kollaborierte. Jetzt beweist ein neu entdecktes Aktenstück nicht nur die unmittelbare Verantwortung Hitlers für den Abtransport und die Vernichtung der französischen Juden, sondern auch die aktive Mithilfe des Vichy-Regimes. In der »Geheimen Reichssache« vom 10. Dez. 1942 heißt es mit den Worten Himmlers: »Der Führer hat die Anweisung gegeben, daß die Juden und sonstigen Feinde in Frankreich verhaftet und abtransportiert werden. Dies soll jedoch erst erfolgen, wenn er mit Laval darüber gesprochen hat. Es handelt sich um 6-700000 Juden« (Hanns C. Löhr: »Hitlers Befehl«, FAZ, 24.1.04). Der Fund schließt eine weitere Lücke in der Beweisführung über Hitlers zielgerichteten Völkermord an den Juden, in Frankreich aber wird er das geklitterte Geschichtsbild neuerlich erschüttern.

Der Fall zeigt einmal mehr, wie zufallsabhängig und unabgeschlossen Geschichte ist. Fast nichts steht wirklich endgültig fest, und die Interpretationsweisen ändern sich mit Abstand und Blickwinkel. Diese an sich ziemlich schlichte Erkenntnis ist in der Auseinandersetzung um Geschichtsbilder und -interpretationen trotzdem nicht eben weit verbreitet. Dabei könnte einem die lange Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zeigen, dass seine Erforschung, Darstellung und Interpretation nicht nur verschiedene Etappen und Modi durchlaufen hat, sondern das diese auch zeit- und interessengebunden gewesen sind – und dies auch zukünftig sein werden. Dabei werden sich die kommenden Interpretationen bald endgültig von den Erfahrungen der »Erlebnisgeneration« lösen, und damit wird zweifellos auch ein prägendes Element der Ereignisse vor, von und nach 1968 ein Stück weit historisiert. Das schließt »Verdrängung« nicht aus, ermöglicht aber auch neue Zugänge aus zeitlichem und emotionalem Abstand. Dass dabei nicht unbedingt herauskommen wird, was diese Ereignisträger damals empfanden und heute denken – auch damit ist zu rechnen.

Ein erhellendes Beispiel für den widersprüchlichen Prozess des Umgangs mit Geschichte findet sich nun ausgerechnet im Kino. Der bekannte armenisch-kanadische Regisseur Atom Egoyan thematisiert in Ararat den Genozid an den Armeniern durch türkische Truppen zwischen 1915 und 1918. Egoyans Auseinandersetzung mit der Suche nach einem gültigen Zeugnis über den Völkermord entwickelt sich aus der Perspektive vier verschiedener Generationen. Geschichtlicher Prozess, persönliche Betroffenheit, generationenspezifischer und damit auch emotionaler Abstand zu den Ereignisse treten auf komplexe Weise miteinander in Beziehung. Egoyan geht sogar der Problematik einer Bebilderung der Massaker von damals nach, und setzt sich so auch mit dem Thema der »Opfermonumentalität« auseinander. Die Generationenabfolge aber, so Egoyan, ändert unvermeidlich den Zugang zu den historischen Ereignissen, schafft allerdings, vor allem für die noch indirekt betroffene Generation, einen oft schmerzenden Abstand.

Ein solcher Abstand kann jedoch auch wichtig sein, um Fragen wieder oder neu stellen zu können, um Geschichtsbilder und -erkenntnisse zu überprüfen. Das kann man in dieser und der vorangegangenen Ausgabe unserer Zeitschrift am Essay von Michael Jäger über »Geschichtsunterbrechung« und Kirche erfahren. Ohne das Ende des Sozialismus und ohne den Aufstieg eines Papstes, der die Kirche in manchem heute als Kritikerin des Kapitalismus erscheinen lässt, wäre unserem Autor die Neubefragung des Alten Testaments, des Marx’schen Denken und der Rolle der Kirche in der Geschichte kaum möglich. Vor einigen Jahren noch wäre eine solche Neubefragung der Religion wohl eher von rechts zu erwarten gewesen, für Michael Jäger aber stellt sich die Neuinterpretation nun als genuin linke Aufgabe und durchaus als marxistische. Der 11. September ist für ihn ein anderes »Geschichtszeichen« als für George Bush, und der Kapitalismus steckt für ihn in einem katastrophaleren Stadium als für manchen seiner Reformer (siehe Helmut Wiesenthals Aufsatz in Kommune 3/03).

Nicht nur aus Jägers Perspektive dürfte es kaum ein Zufall sein, wenn der Vorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, im Mannesmann-Prozess mit Victory-Zeichen auftritt und verkündet: »Das ist das einzige Land, wo die, die Werte schaffen, vor Gericht kommen.« Spiegelt sich darin nicht die arrogante Denkart einer Finanzelite und die Verkennung einer Produktionsweise, in der ganz andere die Werte schaffen? Hier deutet sich ein Gesellschaftsbild an, in dem die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums zu lästigen »Kostenträgern« werden. In dieses Bild passt auch die Aussage des CSU-Bundestagsabgeordneten Singhammer, »... jedes Kind sei ein Konsument – zuerst von Pampers und dann von Autos. ›Wir brauchen Konsumenten‹« (n-tv text, 20.1.04). Im Moment ist nicht abzusehen, dass Rot-Grün einem solch perversen Weltbild grundlegend widersprechen würde. Peter Lohauß macht in diesem Heft vielmehr schon den Beginn eines Systemwechsel innerhalb des Sozialstaates aus. Ob dieser Wechsel zu kurz greift oder mit einer puren Wachstumsideologie in die falsche Richtung führt, das ist die strittige Frage.