Jörn Böhme

 An den Grenzen der Gewalt

Interview mit Uri Avnery und Sari Nusseibeh über die Nahost-Friedenspläne und ihre Chancen

So gewalttätig sich der Nahostkonflikt nach wie vor präsentiert, in jüngster Zeit keimt neue Hoffnung auf. Zwar scheinen sich die Offiziellen auf beiden Seiten keinen Millimeter zu bewegen, wohl aber bewegt sich einiges in der palästinensischen und in der israelischen Bevölkerung. Drei grenzübergreifende Friedensinitiativen sind inzwischen auf den Plan getreten, haben sich an die internationale Öffentlichkeit gewandt, haben zigtausende Unterschriften auf beiden Seiten gesammelt. Jörn Böhme vom Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten (DIAK) hat mit zwei führenden Vertretern dieser Gruppen gesprochen.

 

Jörn Böhme: Es gibt zurzeit drei wichtige Friedensinitiativen, die Ayalon/Nusseibeh-Initiative, die Genfer Initiative von Jossi Beilin/Yasser Abed-Rabbo und anderen und die Vereinigte Aktionsgruppe für israelisch-palästinensischen Frieden, gegründet von Uri Avnery, Hanan Ashrawi und anderen. Wie würden Sie die unterschiedlichen Ansätze beschreiben? Wie viel Zusammenarbeit zwischen diesen Initiativen gibt es, sollte es geben oder sollte es nicht geben?

Uri Avnery: Es gibt Unterschiede, doch ich glaube, in der derzeitigen Situation sind sie nicht sehr wichtig. All diese Initiativen haben das gleiche Ziel, nämlich das Klima der Hoffnungslosigkeit auf beiden Seiten zu beenden und beide Seiten davon zu überzeugen, dass sie Partner für den Frieden haben. Es gibt einige Unterschiede bezüglich des Flüchtlingsproblems, vielleicht auch über die Grenzen. Es gibt ein Problem, das meiner Auffassung nach auf palästinensischer Seite auf Widerspruch stößt, nämlich die Definition des Staates Israel als jüdischer Staat. Ich glaube, das ist im Moment nicht so wichtig. Wir, Gusch Schalom und die Aktionsgruppe, unterstützen unsererseits diese Initiativen vollkommen. Praktische Zusammenarbeit ist nicht das Wichtigste. Das geht nach der alten deutschen Maxime: »Getrennt marschieren – vereint schlagen«.

Sari Nusseibeh: Vielleicht sind all diese Initiativen Manifestationen der Versuche, die Regierungen und Führungen dazu zu bringen, sich der von ihnen übernommenen Aufgabe zu stellen und beide Seiten zum Frieden zu führen. Es gibt vielleicht Differenzen über dies und das, doch diese sind weniger wichtig als die Hauptbotschaft, dass wir, das Volk, von unserer Führung wollen, sie sollen sich zusammennehmen und Frieden für uns schaffen, weil wir in Frieden leben wollen.

 

Nun habe ich gelesen, Sie hätten auf einer Pressekonferenz in Ramallah gesagt, die Genfer Initiative stehe der Linken in Israel zu nahe und um Dinge ändern zu können, müsse man sich der Hauptströmung annähern. Ami Ayalon wiederum sagte vor ein paar Tagen, er wolle keinen Regierungswechsel in Israel. Die Genfer Leute wollten die Regierung stürzen, doch er denke, nur die Likud-Regierung könne die notwendigen Kompromisse eingehen. Was denken Sie darüber?

Sari Nusseibeh: Wissen Sie, wir hörten Botschafter Primor sagen, wenn man sich die Meinungsumfragen anschaue, so gäbe es eine Mehrheit für Scharon, aber auch eine Mehrheit, die den Frieden auf der Basis eines Endes der Besatzung – mehr oder weniger auf der Basis von 1967 – befürworte. Nun, was heißt das? Es heißt zunächst einmal, dass es eine große Gruppe in der Mitte gibt, die unter den richtigen Voraussetzungen die Art von Frieden befürwortet, die wir vorschlagen. Dies ist deshalb das Publikum, auf das wir abzielen sollten. Und dazu muss man die Menschen direkt ansprechen. Auf die eine oder andere Art gehören nicht 85 Prozent oder 70 Prozent der Befürworter der Mitte an, sondern sind auch Anhänger von Gusch Schalom, Jossi Beilin oder der Arbeitspartei und machen so die 85 oder 70 oder 65 Prozent aus, die es wahrscheinlich sind. Ich kenne das Gerede über Beilin, dies sei eine Unterstützungsinitiative in dem Sinne, dass sie die Linke wieder an die Macht bringen wollen. Soweit ich als Palästinenser betroffen bin, ist es mir gleichgültig, wer an der Macht ist, solange ich bekomme, was ich will, nämlich das Ende der Besatzung. Ich bin mir bewusst, dass Scharon uns das nicht geben wird, bevor es keinen eindeutigen öffentlichen Druck aus der Bevölkerung gibt.

 

Uri Avnery wird in Ha’aretz vom 20. Juli 2003 mit dem Satz zitiert, es bereite ihm Sorgen, dass Sari Nusseibeh in den Augen vieler Palästinenser am Ende sei, da er das Recht auf Rückkehr aufgegeben habe. Nun hat die Ayalon/Nusseibeh-Initiative beinahe 65000 Unterschriften auf palästinensischer Seite gesammelt. Wie sind ihre Erfahrungen beim Sammeln der Unterschriften?

Sari Nusseibeh: Ich glaube, niemand, mich eingeschlossen, hätte gedacht, dass das funktionieren und sich intensivieren würde, doch es gelang uns, eine große Zahl Unterschriften zu bekommen. Dies ist beispiellos, es gibt keine schriftliche Vereinbarung oder Aussage, die sowohl von Israelis als auch von Palästinensern unterzeichnet worden ist, auf der sich so viele Unterschriften finden wie auf dieser. Wissen Sie, man kann Millionen Palästinenser dafür gewinnen, ein Statement mit einer unilateralen Friedensvision zu unterzeichnen, doch es gibt kaum Menschen, die zusammenkommen, um ein Statement zu unterzeichnen, das, wie Sie schon sagten, dermaßen umstritten ist, dass selbst Uri Avnery – neben seiner Skepsis über die moralische Basis – an seinem Erfolg zweifelt. Doch es war tatsächlich überraschend, dass wir in der Lage waren, so viele Menschen zu gewinnen. Wie ich schon früher sagte, glaube ich, wir können noch mehr Menschen gewinnen und weit mehr, als irgendjemand vorher.

 

Befürchten Sie, die Menschen könnten verwirrt sein, weil es einerseits diese Unterschriftensammlung gibt und andererseits der Text der Genfer Initiative an alle Haushalte in Israel und den palästinensischen Gebieten verteilt werden soll? Werden die Menschen verwirrt sein oder werden sie verstehen, dass diese beiden Initiativen größtenteils in dieselbe Richtung gehen?

Uri Avnery: Ich glaube nicht, dass die Menschen sie überhaupt unterscheiden, denn was wir alle gemeinsam sagen, ist so umfassend, dass die Unterschiede nebensächlich sind. Alle sagen, es muss zwei Staaten geben, alle sagen, die Grenze muss auf der grünen Grenze basieren und ein Landtausch muss in gegenseitigem Einvernehmen auf einer Eins-zu-eins-Basis geschehen. Alle sagen, Jerusalem muss geteilt werden, sodass es eine israelische Hauptstadt in Jerusalem und eine palästinensische Hauptstadt in Jerusalem gibt, alle sagen, die israelischen Siedlungen in den Palästinensergebieten müssen entfernt werden. Im Vergleich dazu wirken die taktischen Differenzen über das Flüchtlingsproblem für die Öffentlichkeit nebensächlich. Ich denke, sie sind nebensächlich, denn so, wie wir die Lösung sehen, denke ich nicht, dass es zwischen Jossi Beilin und Sari Nusseibeh und mir wirklich große Differenzen gibt, denn wir stimmen alle darin überein, dass es keine massive Rückkehr nach Israel geben kann. Diese Frage ist eine taktische Frage. Akzeptieren wir prinzipiell Israels Verantwortung für den Teil des Flüchtlingsproblems, für den Israel verantwortlich ist? Sagen wir etwas über das Flüchtlingsproblem, erkennen wir das prinzipielle Recht auf Rückkehr an? Wenn man einen großen Teil der israelischen öffentlichen Meinung für sich gewinnen will, spricht man natürlich besser nicht über das Rückkehrrecht, da es den Israelis Angst macht. Die Beilin/Abed-Rabbo Leute haben beschlossen, es überhaupt nicht zu erwähnen, zwar über die praktische Lösung des Flüchtlingsproblems zu sprechen, die moralischen und prinzipiellen Aspekte jedoch außen vor zu lassen. Wir haben es getan, wir haben explizit darüber gesprochen. Ich würde sagen, lassen wir hundert Blumen blühen. Lassen wir all diese Initiativen und noch mehr Initiativen – ich bin mir sicher, es wird noch mehr davon geben – ihren Weg gehen, dann werden wir sehen, welche Methode sich in der Praxis als die beste erweist. Ich glaube nicht, dass einfache Israelis wirklich zwischen Abed-Rabbo und Sari Nusseibeh und Beilin und Ayalon unterscheiden, außer dass sie wissen, dass Beilin Politiker ist und Amy Ayalon den Ruf eines reinen Sicherheitsexperten ohne politische Anbindung hat.

Lassen Sie mich einen Moment lang auf einen Punkt zurückkommen, der Scharon betrifft. Es gibt immer die Versuchung zu sagen, um Frieden zu schließen, ist es besser, einen rechten Ministerpräsident oder Präsidenten zu haben als einen linksgerichteten, da es jemand vom rechten Flügel viel leichter hat. Ich kenne Ariel Scharon nun schon sehr lange, ich denke, ich kenne ihn besser als die meisten. Ariel Scharon wird niemals Frieden schließen. Im Gegensatz zu dem, was einige sagen, hat er eine sehr klar umrissene Lösung. Seine Lösung ist es, die Palästinenser – wenn möglich – aus dem Land zu werfen und ihr Leben so zu erschweren, dass sie weggehen, oder sie zumindest in Enklaven zu sperren. Die Mauer, die gebaut wird, sperrt die Palästinenser nicht in vier oder fünf, sondern in zwölf bis fünfzehn voneinander getrennte Enklaven ein. Das ist Scharon, und darum wäre es sehr naiv zu glauben, Scharon würde ein zweiter de Gaulle werden. Das wird er nicht, weil er nicht de Gaulle ist, er ist völlig anders. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne Scharon an diesen Punkt bringen, und darum stimme ich mehr mit Beilin überein, der meiner Ansicht nach glaubt, man müsse eine neue Regierung an die Macht bringen, wofür man eine neue Arbeitspartei braucht. Dies ist ein langer Weg. Wir alle sind mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert, nämlich dass den Umfragen zufolge die israelische öffentliche Meinung keine Verbindung mit der israelischen politischen Szene hat. Die 1000-Dollar-Frage ist nun, wie diese beiden zusammenzubringen sind. Wie schafft man eine politische Situation, die die aktuelle öffentliche Meinung widerspiegelt? Es wird geschehen, denn in einer Demokratie kann man eine derartig immense Kluft zwischen dem politischen System und der öffentlichen Meinung nicht sehr lange aufrechterhalten. Darum halte ich das, was Sari und Ayalon tun, für sehr wichtig, denn sie zeigen, dass – wenn man zum Beispiel wirklich eine halbe Million Unterschriften sammeln und den Politikern damit den Zukunftstrend aufzeigen kann – all diese furchtbaren Leute auf den fahrenden Zug aufspringen und wir anschließend eine neue politische Situation haben werden. Sie wollen wieder gewählt werden und darum werden sich – sobald erkennbar ist, dass sich die öffentliche Meinung geändert hat – auch die Politiker ändern.

Sari Nusseibeh: Und dann wird es darauf ankommen, dann wird sogar ein Regierungswechsel möglich sein. Mit anderen Worten: Wenn man genügend öffentlichen Druck auf die Führung erzeugt, indem man klar macht, die Bevölkerung will, dass dies und jenes geschieht, und die Führung dies verwirft, hat man die Herausforderung. Doch zurück zur Arbeitspartei. Mein Problem mit der Arbeitspartei und speziell zum Beispiel mit Beilin und anderen und Yasser Abed-Rabbo auf palästinensischer Seite ist, dass sie dies vor drei Jahren hätten tun sollen. Sie hätten es in Taba unterzeichnen sollen. Es ist wie jemand, der seine Examensarbeit einreicht, nachdem das Examen vorbei ist, ein oder zwei oder drei Jahre später. Darüber bin ich nicht glücklich. Es ist gut, dass sie es getan haben, aber – die Arbeitspartei war, ich weiß nicht wie viele Jahre, an der Macht, und ich denke, sie haben uns gegenüber versagt – mit uns meine ich Israelis und Palästinenser. Genau so hat unsere Führung versagt, sie sind beide dafür verantwortlich, in den letzten sieben, acht, neun Jahren die Gelegenheit verpasst zu haben, den Menschen Frieden zu bringen, und deswegen glaube ich, die Menschen müssen sich selber mehr und offen an dem Prozess beteiligen. Es sollte nicht nur Jossi Beilin oder Peres oder wem auch immer überlassen bleiben, der vielleicht okay ist, vielleicht aber auch nicht. Die Menschen wollen Frieden und ich denke, die Führungen sollten tun, was die Menschen wollen.

Uri Avnery: Dem stimme ich völlig zu. Ich denke an diese Idee, Millionen Kopien herzustellen und an alle israelischen Haushalte zu verteilen. Das ist ein interessanter Werbegag. Es ist keine wirkliche politische Arbeit. Man aktiviert keine Menschen, wenn man ihnen einen Text gibt, den die meisten nicht lesen werden. Jeder von uns sollte sich wirklich politisch betätigen und mit den Menschen über grundlegende Dinge reden. In diesem Sinne kann ich das, was Sari tut, eher anerkennen als das, was Beilin tut. Doch noch einmal, ich denke, es ist gut, verschiedene Wege auszuprobieren, verschiedene Verfahren. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.

 

Wir sprachen darüber, was innerhalb der Gesellschaften geschieht, an der Basis. Wie sehen Sie die Beziehung zwischen diesem Versuch, Druck von innen heraus zu erzeugen, und dem Druck von außerhalb? Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein und was würden Sie sich bezüglich des Quartetts, der EU, bezüglich der USA wünschen, besonders in Hinblick auf das Problem mit der Regierung Bush und den dort bevorstehenden Wahlen? Wie wichtig ist für Sie der Versuch, einflussreiche Akteure in den USA zu beeinflussen: jüdische Gemeinden, jüdische Organisationen, Mitglieder des Parlamentes und des Senats?

Uri Avnery: In den Vereinigten Staaten gibt es sehr mächtige Kräfte, die gegen eine friedliche Lösung arbeiten. Dies ist noch nicht einmal vorwiegend die jüdische Lobby. Es ist vor allem die Lobby der christlich-evangelistischen Fundamentalisten, die absolut furchtbar sind, doch das sind 60 Millionen Amerikaner, sie haben in der republikanischen Partei immensen Einfluss. Sollte es Hoffnung geben, dass Bush abgewählt wird, wird dies nicht die Lösung sein, jedoch ein Schritt vorwärts. Auch die demokratische Partei wird sehr von pro-israelischen Einstellungen dominiert – mit pro-israelisch meine ich pro-Scharon-Elemente – jedoch nicht so sehr wie Bush. Meiner Meinung nach dient die amerikanische Regierung nicht den amerikanischen Interessen, zumindest im Nahen Osten, ich denke, sie arbeiten gegen Amerikas Interessen. Zu Europa: Wissen Sie, Europa verhält sich sehr feige, sie scheinen keine eigenständige politische Kraft zu sein – die EU unterwirft sich den Vereinigten Staaten. Vor zwei Wochen sagte mir ein Außenminister, dessen Name ich nicht erwähnen will, wir sind völlig machtlos, niemand hört auf uns, wir haben keinen Einfluss und wir können nichts tun. All diese Probleme werden sich ändern, wenn sich Israel ändert. Wenn sich die öffentliche Meinung in Israel ändert, wird dies auf Europa und sogar auf die Vereinigten Staaten übergreifen. Unsere Aufgabe ist es nicht, ausländische Interventionen zu suchen, unsere Aufgabe ist vor allem, in Israel und Palästina Bedingungen zu schaffen, die eine ausländische Intervention möglich und attraktiv macht. Bis dahin denke ich, was heute hier geschah, ist der richtige Weg. Das Beste, was Europa tun kann, ist, Palästinenser und Israelis zu unterstützen, die für den Frieden arbeiten, indem es ihnen Ansehen verleiht und materielle Unterstützung gibt. Dies ist die wirkliche Aufgabe der Europäer, die Friedenselemente auf beiden Seiten zu ermutigen und zu unterstützen.

Sari Nusseibeh: Auch ich halte es für wichtig, am inneren Klima zu arbeiten – an der Meinung der israelischen und palästinensischen Öffentlichkeit als Voraussetzung für die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft. Vor zwei Wochen war ich in den Vereinigten Staaten, und wir besuchten verschiedene Kongressabgeordnete, Senatoren, das Außenministerium, den Nationalen Sicherheitsrat, das Pentagon und sogar – wie Sie schon sagten – Wolfowitz. Unsere Botschaft bei all diesen Treffen war sehr einfach: Die US-Regierung hatte etwas auf dem Tisch – die Road Map – unterstützt durch das Quartett. Doch die Road Map ist dabei, zu scheitern, ja, sie ist schon gescheitert. Einer der Hauptgründe, warum sie scheitern muss, warum sie scheitern wird, ist das Fehlen eines Zieles. Wir schlugen all den Menschen, die wir trafen, vor, die amerikanische Regierung solle klar machen, dass sie ein solches Ziel unterstützt, wie es in unserem Ein-Seiten-Papier skizziert ist. Wir fanden viel Verständnis auf allen Ebenen. Wir sagten ihnen, wir fänden die Road Map unzureichend, da sie in einfachen Sätzen versuche, die Rede Bushs in einen Prozess zu übersetzen. Dies gelänge zwar mit den meisten Komponenten, aber mit einer Komponente nicht – und zwar der Perspektive für die Zukunft. Die Road Map spricht zum Beispiel von zwei Staaten. Doch sie sagt nicht, wo, und wenn man sich ansieht, was Scharon tut, kann man daraus ableiten, wo sie sein werden. Doch wenn man im Voraus sagt, der Staat wird auf den Grenzen von 67 basieren, was mit Jerusalem geschehen wird und so weiter, wird dies Unterstützung und Begeisterung dafür wecken, die Road Map zum Erfolg zu führen. Als wir ihnen das erklärten, antworteten uns die meisten von ihnen sofort – einschließlich der Leute im Nationalen Sicherheitsrat und Elliot Abrahams –, die Road Map sei nicht heilig. Wichtig für die sei die Rede von Bush, die ist heilig. Darum – wenn sich Vorstellungen entwickeln ließen, die die Bush-Rede widerspiegeln, gut. So sollte man es machen. Unglücklicherweise freundeten sich die Menschen daheim mehr mit der Road Map an, sie wurden päpstlicher als der Papst, indem sie sagten, dies sei »the only game in town«. Sie ist es nicht. Die Road Map ist schön und gut, aber sie ist nicht genug. Die Europäer folgten leider auch dieser Richtung, die Road Map ist das Einzige, erzählt uns nicht von etwas anderem. Unsere eigene Führung begann, so zu reden.

 

Ich denke, das hat damit zu tun, dass die Road Map im Vergleich zur Bush-Rede vom Juni 2002 verschiedene Elemente enthält, die die Bush-Rede nicht enthielt, wie eine internationale Konferenz und der Hinweis auf die saudische Initiative.

Sari Nusseibeh: Aber nutzlos, nutzlose Hinweise. Meiner Meinung nach völlig nutzlose Hinweise. Die Road Map ist de facto die Road Map für Scharons Vision eines eingezäunten Staates oder Enklaven für die Palästinenser. Nichts in der Road Map garantiert mir als Palästinenser, dass eine internationale Konferenz Israel dazu bewegen wird, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen oder Siedlungen zu evakuieren oder mir die Souveränität über Ost-Jerusalem zurückzugeben. Sie sagt nur, wir gehen Schritt für Schritt vor, ihr führt eure Reformen weiter, ihr arbeitet weiter an der Sicherheit, wir werden Schritt für Schritt mehr Druck auf euch ausüben. Dann gehen wir zu einer internationalen Konferenz und reden über einen endgültigen Status. Bis dahin geschieht vor Ort, dass Israel auf 40 bis 50 Prozent der Westbank einen eingezäunten Staat errichtet und uns die restlichen 40 bis 50 Prozent lässt. Meinem Verständnis nach ist die Road Map ein Weg zum völligen Desaster, es sei denn, es gäbe im Voraus ein klares Ziel, das sicher stellt, dass sie uns tatsächlich dorthin bringt, wohin wir wollen. Das ist es, was der Road Map fehlt. Das ist etwas, was nicht in der Bush-Rede enthalten war. Bush wäre glücklich, gesagt zu bekommen, das ist ihre Vision, und wir wollen sie als ein Ziel in die Road Map aufnehmen. Ich glaube, auf diese Art und Weise käme eine größere Beteiligung und mehr Druck durch das Quartett zu Stande. Wenn dieser Druck mit dem Druck von unten korrespondiert, sodass es Druck von innen und von außen gibt, kann es entscheidenden Druck auf die Führung beider Seiten geben, die wir ja dazu bringen wollen, miteinander zu reden.

 

Wenn Sie sich Ihre Ideen, Konzepte, Ihre Visionen, wie Sie die Realität verändern möchten, anschauen und dazu die letzten drei Jahre der aktuellen Realität, und wenn Sie dann versuchen, diese beiden Ebenen zusammen zubringen – wo sehen Sie dann Israel und Palästina in fünf Jahren?

Uri Avnery: Ich habe in meinem langen Leben gelernt, dass man mit ein wenig Logik und Intuition vorhersehen kann, was geschehen wird. Ein Element ausgenommen, das ist die Zeit. Man hat nie Recht. Als die deutsche Mauer fiel, gab es, glaube ich, niemanden in ganz Deutschland, der noch eine Woche zuvor auch nur davon geträumt hätte, dass dies möglich sei, und plötzlich geschah es. Ich bin optimistisch, und das ist kein abstrakter Optimismus. Ich glaube, wir befinden uns inmitten einer grundlegenden Änderung der öffentlichen Meinung in Israel. Ich glaube, dass auch auf palästinensischer Seite die Menschen auf Frieden hoffen, aus negativen Gründen, sie haben genug von dem Krieg, sie haben genug vom Blutvergießen, sie erkennen, dass es keine militärische Lösung gibt. Die israelische Armee erkennt, dass sie bis hierher gehen kann und nicht weiter, dass alles, was sie darüber hinaus tut, kontraproduktiv sein könnte. Ich denke, dass viele Palästinenser, die Gewalt befürworten, weil sie glauben, keine andere Wahl zu haben, nun bereit sind, andere Mittel zu wählen, wenn ihnen Ergebnisse versprochen werden. Werden ihnen keine Ergebnisse in Aussicht gestellt, wird dies nicht geschehen. Die Situation ist sehr, sehr ernst. Für einen einfachen Palästinenser in einem Dorf ist es unerträglich, ich frage mich, wie sie es schaffen, aber sie schaffen es. Diese Mauer ist ein Monster, sie ist fürchterlich. Was immer man über sie sagt, es ist nicht schlimm genug, sie ist viel schlimmer, als man sich vorstellen kann. Doch ich glaube, unter der Oberfläche gibt es eine Strömung, die in Richtung Frieden führt, und dies ist auf lange Sicht wichtiger. Meine Freunde fragen mich manchmal, wie kannst du optimistisch sein, wenn du siehst, wie all das geschieht? Ich antworte darauf, der Vorteil eines hohen Alters ist, dass man eine viel weitere Perspektive hat. Ich erinnere mich an Zeiten in Israel, in denen es keine zehn Menschen gab, die bereit waren anzuerkennen, dass es ein palästinensisches Volk gibt. Ich habe in meinem Leben Tausende von Stunden damit verbracht, israelischen Zuhörern zu erzählen, dass es ein palästinensisches Volk gibt. Heute gibt es keinen Israeli, der das leugnet. Als die Idee eines palästinensischen Staates vor 35 Jahren, 1967, geäußert wurde, klang das völlig unrealistisch. Peres war hundertprozentig dagegen, Rabin war hundertprozentig dagegen, extrem dagegen, und nun gibt es in Israel fast niemanden mehr, der nicht weiß, dass es ohne einen palästinensischen Staat keinen Frieden geben wird, auch wenn ihnen die Vorstellung vielleicht nicht gefällt. Dann begannen wir, über die PLO zu reden, dass wir mit der PLO verhandeln müssten, ob es uns gefällt oder nicht, denn sie vertritt die Palästinenser. Das war Verrat. Heute ist es die offizielle israelische Politik. Wenn man dies alles über einen längeren Zeitraum betrachtet, hat Israel einen weiten Weg in Richtung Frieden zurückgelegt. Das Gleiche gilt für die Palästinenser. Als die Palästinenser 1988 die Idee eines palästinensischen Staates in Teilen von Palästina – etwa 22 Prozent – annahmen, war dies eine unglaubliche Revolution all dessen, an das die Palästinenser bis dahin geglaubt hatten. Ich denke, wenn man dies aus dieser historischen Perspektive betrachtet, bewegen wir uns definitiv in Richtung Frieden. Dies ist vielleicht die letzte Stufe, die schwierigste, die gefährlichste. Ich glaube, es gibt nun eine wirkliche Gefahr für die Existenz des palästinensischen Volkes, größer als die Palästinenser selbst erkennen. Es gibt Leute an der Macht, die das palästinensische Volk als Nation, als Einheit eliminieren wollen. Dies ist eine große Gefahr, die Palästinenser müssen sich ihr stellen.

Sari Nusseibeh: In den letzten drei Jahren haben natürlich beide Seiten ihre Muskeln spielen lassen. Dabei gibt es zwei Aspekte: Der eine ist, du übst Gewalt gegen den anderen aus. Doch der andere Punkt ist, dass du auch siehst, wo die Grenzen der Ausübung dieser Gewalt liegen. In den letzten drei Jahren übten sie die Gewalt aus, indem sie die Bevölkerungen insgesamt leiden ließen, die Israelis gegen uns und wir gegen die Israelis, doch mehr und mehr Menschen haben auch die Grenzen der Gewalt erkannt. Also denken sie nun, vielleicht sollten wir verhandeln.

 

Das Gespräch vom 16.11.03 (Köln) wurde geführt für israel&palästina. Zeitschrift für Dialog, 1/04 und in der vorliegenden Fassung von der Redaktion gekürzt. Wir danken Jörn Böhme für die freundliche Abdruckerlaubnis. –
Übersetzung: Marianne Weiß.