Jörn Böhme
Interview
mit Uri Avnery und Sari Nusseibeh über die Nahost-Friedenspläne und ihre
Chancen
So gewalttätig sich der Nahostkonflikt nach wie vor präsentiert, in
jüngster Zeit keimt neue Hoffnung auf. Zwar scheinen sich die Offiziellen auf
beiden Seiten keinen Millimeter zu bewegen, wohl aber bewegt sich einiges in
der palästinensischen und in der israelischen Bevölkerung. Drei
grenzübergreifende Friedensinitiativen sind inzwischen auf den Plan getreten,
haben sich an die internationale Öffentlichkeit gewandt, haben zigtausende
Unterschriften auf beiden Seiten gesammelt. Jörn Böhme vom Deutsch-Israelischen
Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten (DIAK) hat mit zwei führenden
Vertretern dieser Gruppen gesprochen.
Jörn Böhme: Es gibt
zurzeit drei wichtige Friedensinitiativen, die Ayalon/Nusseibeh-Initiative, die
Genfer Initiative von Jossi Beilin/Yasser Abed-Rabbo und anderen und die
Vereinigte Aktionsgruppe für israelisch-palästinensischen Frieden, gegründet
von Uri Avnery, Hanan Ashrawi und anderen. Wie würden Sie die unterschiedlichen
Ansätze beschreiben? Wie viel Zusammenarbeit zwischen diesen Initiativen gibt
es, sollte es geben oder sollte es nicht geben?
Uri Avnery: Es gibt
Unterschiede, doch ich glaube, in der derzeitigen Situation sind sie nicht sehr
wichtig. All diese Initiativen haben das gleiche Ziel, nämlich das Klima der
Hoffnungslosigkeit auf beiden Seiten zu beenden und beide Seiten davon zu überzeugen,
dass sie Partner für den Frieden haben. Es gibt einige Unterschiede bezüglich
des Flüchtlingsproblems, vielleicht auch über die Grenzen. Es gibt ein Problem,
das meiner Auffassung nach auf palästinensischer Seite auf Widerspruch stößt,
nämlich die Definition des Staates Israel als jüdischer Staat. Ich glaube, das
ist im Moment nicht so wichtig. Wir, Gusch Schalom und die Aktionsgruppe,
unterstützen unsererseits diese Initiativen vollkommen. Praktische
Zusammenarbeit ist nicht das Wichtigste. Das geht nach der alten deutschen
Maxime: »Getrennt marschieren – vereint schlagen«.
Sari Nusseibeh: Vielleicht
sind all diese Initiativen Manifestationen der Versuche, die Regierungen und
Führungen dazu zu bringen, sich der von ihnen übernommenen Aufgabe zu stellen
und beide Seiten zum Frieden zu führen. Es gibt vielleicht Differenzen über
dies und das, doch diese sind weniger wichtig als die Hauptbotschaft, dass wir,
das Volk, von unserer Führung wollen, sie sollen sich zusammennehmen und
Frieden für uns schaffen, weil wir in Frieden leben wollen.
Nun habe
ich gelesen, Sie hätten auf einer Pressekonferenz in Ramallah gesagt, die
Genfer Initiative stehe der Linken in Israel zu nahe und um Dinge ändern zu
können, müsse man sich der Hauptströmung annähern. Ami Ayalon wiederum sagte
vor ein paar Tagen, er wolle keinen Regierungswechsel in Israel. Die Genfer
Leute wollten die Regierung stürzen, doch er denke, nur die Likud-Regierung
könne die notwendigen Kompromisse eingehen. Was denken Sie darüber?
Sari Nusseibeh: Wissen
Sie, wir hörten Botschafter Primor sagen, wenn man sich die Meinungsumfragen
anschaue, so gäbe es eine Mehrheit für Scharon, aber auch eine Mehrheit, die
den Frieden auf der Basis eines Endes der Besatzung – mehr oder weniger auf der
Basis von 1967 – befürworte. Nun, was heißt das? Es heißt zunächst einmal, dass
es eine große Gruppe in der Mitte gibt, die unter den richtigen Voraussetzungen
die Art von Frieden befürwortet, die wir vorschlagen. Dies ist deshalb das
Publikum, auf das wir abzielen sollten. Und dazu muss man die Menschen direkt
ansprechen. Auf die eine oder andere Art gehören nicht 85 Prozent oder 70
Prozent der Befürworter der Mitte an, sondern sind auch Anhänger von Gusch Schalom,
Jossi Beilin oder der Arbeitspartei und machen so die 85 oder 70 oder 65 Prozent
aus, die es wahrscheinlich sind. Ich kenne das Gerede über Beilin, dies sei
eine Unterstützungsinitiative in dem Sinne, dass sie die Linke wieder an die
Macht bringen wollen. Soweit ich als Palästinenser betroffen bin, ist es mir
gleichgültig, wer an der Macht ist, solange ich bekomme, was ich will, nämlich
das Ende der Besatzung. Ich bin mir bewusst, dass Scharon uns das nicht geben
wird, bevor es keinen eindeutigen öffentlichen Druck aus der Bevölkerung gibt.
Uri Avnery
wird in Ha’aretz vom 20. Juli 2003 mit dem Satz zitiert, es
bereite ihm Sorgen, dass Sari Nusseibeh in den Augen vieler Palästinenser am
Ende sei, da er das Recht auf Rückkehr aufgegeben habe. Nun hat die
Ayalon/Nusseibeh-Initiative beinahe 65000 Unterschriften auf palästinensischer Seite
gesammelt. Wie sind ihre Erfahrungen beim Sammeln der Unterschriften?
Sari Nusseibeh: Ich
glaube, niemand, mich eingeschlossen, hätte gedacht, dass das funktionieren und
sich intensivieren würde, doch es gelang uns, eine große Zahl Unterschriften zu
bekommen. Dies ist beispiellos, es gibt keine schriftliche Vereinbarung oder
Aussage, die sowohl von Israelis als auch von Palästinensern unterzeichnet
worden ist, auf der sich so viele Unterschriften finden wie auf dieser. Wissen
Sie, man kann Millionen Palästinenser dafür gewinnen, ein Statement mit einer
unilateralen Friedensvision zu unterzeichnen, doch es gibt kaum Menschen, die
zusammenkommen, um ein Statement zu unterzeichnen, das, wie Sie schon sagten,
dermaßen umstritten ist, dass selbst Uri Avnery – neben seiner Skepsis über die
moralische Basis – an seinem Erfolg zweifelt. Doch es war tatsächlich
überraschend, dass wir in der Lage waren, so viele Menschen zu gewinnen. Wie
ich schon früher sagte, glaube ich, wir können noch mehr Menschen gewinnen und
weit mehr, als irgendjemand vorher.
Befürchten
Sie, die Menschen könnten verwirrt sein, weil es einerseits diese Unterschriftensammlung
gibt und andererseits der Text der Genfer Initiative an alle Haushalte in
Israel und den palästinensischen Gebieten verteilt werden soll? Werden die
Menschen verwirrt sein oder werden sie verstehen, dass diese beiden Initiativen
größtenteils in dieselbe Richtung gehen?
Uri Avnery: Ich
glaube nicht, dass die Menschen sie überhaupt unterscheiden, denn was wir alle
gemeinsam sagen, ist so umfassend, dass die Unterschiede nebensächlich sind.
Alle sagen, es muss zwei Staaten geben, alle sagen, die Grenze muss auf der
grünen Grenze basieren und ein Landtausch muss in gegenseitigem Einvernehmen
auf einer Eins-zu-eins-Basis geschehen. Alle sagen, Jerusalem muss geteilt
werden, sodass es eine israelische Hauptstadt in Jerusalem und eine palästinensische
Hauptstadt in Jerusalem gibt, alle sagen, die israelischen Siedlungen in den Palästinensergebieten
müssen entfernt werden. Im Vergleich dazu wirken die taktischen Differenzen über
das Flüchtlingsproblem für die Öffentlichkeit nebensächlich. Ich denke, sie
sind nebensächlich, denn so, wie wir die Lösung sehen, denke ich nicht, dass es
zwischen Jossi Beilin und Sari Nusseibeh und mir wirklich große Differenzen
gibt, denn wir stimmen alle darin überein, dass es keine massive Rückkehr nach
Israel geben kann. Diese Frage ist eine taktische Frage. Akzeptieren wir
prinzipiell Israels Verantwortung für den Teil des Flüchtlingsproblems, für den
Israel verantwortlich ist? Sagen wir etwas über das Flüchtlingsproblem,
erkennen wir das prinzipielle Recht auf Rückkehr an? Wenn man einen großen Teil
der israelischen öffentlichen Meinung für sich gewinnen will, spricht man
natürlich besser nicht über das Rückkehrrecht, da es den Israelis Angst macht.
Die Beilin/Abed-Rabbo Leute haben beschlossen, es überhaupt nicht zu erwähnen,
zwar über die praktische Lösung des Flüchtlingsproblems zu sprechen, die
moralischen und prinzipiellen Aspekte jedoch außen vor zu lassen. Wir haben es
getan, wir haben explizit darüber gesprochen. Ich würde sagen, lassen wir
hundert Blumen blühen. Lassen wir all diese Initiativen und noch mehr
Initiativen – ich bin mir sicher, es wird noch mehr davon geben – ihren Weg
gehen, dann werden wir sehen, welche Methode sich in der Praxis als die beste
erweist. Ich glaube nicht, dass einfache Israelis wirklich zwischen Abed-Rabbo
und Sari Nusseibeh und Beilin und Ayalon unterscheiden, außer dass sie wissen,
dass Beilin Politiker ist und Amy Ayalon den Ruf eines reinen Sicherheitsexperten
ohne politische Anbindung hat.
Lassen Sie mich einen Moment lang
auf einen Punkt zurückkommen, der Scharon betrifft. Es gibt immer die
Versuchung zu sagen, um Frieden zu schließen, ist es besser, einen rechten
Ministerpräsident oder Präsidenten zu haben als einen linksgerichteten, da es
jemand vom rechten Flügel viel leichter hat. Ich kenne Ariel Scharon nun schon
sehr lange, ich denke, ich kenne ihn besser als die meisten. Ariel Scharon wird
niemals Frieden schließen. Im Gegensatz zu dem, was einige sagen, hat er eine
sehr klar umrissene Lösung. Seine Lösung ist es, die Palästinenser – wenn
möglich – aus dem Land zu werfen und ihr Leben so zu erschweren, dass sie
weggehen, oder sie zumindest in Enklaven zu sperren. Die Mauer, die gebaut
wird, sperrt die Palästinenser nicht in vier oder fünf, sondern in zwölf bis
fünfzehn voneinander getrennte Enklaven ein. Das ist Scharon, und darum wäre es
sehr naiv zu glauben, Scharon würde ein zweiter de Gaulle werden. Das wird er
nicht, weil er nicht de Gaulle ist, er ist völlig anders. Es ist eine Illusion
zu glauben, man könne Scharon an diesen Punkt bringen, und darum stimme ich
mehr mit Beilin überein, der meiner Ansicht nach glaubt, man müsse eine neue
Regierung an die Macht bringen, wofür man eine neue Arbeitspartei braucht. Dies
ist ein langer Weg. Wir alle sind mit einem grundsätzlichen Problem
konfrontiert, nämlich dass den Umfragen zufolge die israelische öffentliche
Meinung keine Verbindung mit der israelischen politischen Szene hat. Die
1000-Dollar-Frage ist nun, wie diese beiden zusammenzubringen sind. Wie schafft
man eine politische Situation, die die aktuelle öffentliche Meinung
widerspiegelt? Es wird geschehen, denn in einer Demokratie kann man eine
derartig immense Kluft zwischen dem politischen System und der öffentlichen
Meinung nicht sehr lange aufrechterhalten. Darum halte ich das, was Sari und
Ayalon tun, für sehr wichtig, denn sie zeigen, dass – wenn man zum Beispiel
wirklich eine halbe Million Unterschriften sammeln und den Politikern damit den
Zukunftstrend aufzeigen kann – all diese furchtbaren Leute auf den fahrenden
Zug aufspringen und wir anschließend eine neue politische Situation haben
werden. Sie wollen wieder gewählt werden und darum werden sich – sobald
erkennbar ist, dass sich die öffentliche Meinung geändert hat – auch die
Politiker ändern.
Sari Nusseibeh: Und dann
wird es darauf ankommen, dann wird sogar ein Regierungswechsel möglich sein.
Mit anderen Worten: Wenn man genügend öffentlichen Druck auf die Führung
erzeugt, indem man klar macht, die Bevölkerung will, dass dies und jenes
geschieht, und die Führung dies verwirft, hat man die Herausforderung. Doch
zurück zur Arbeitspartei. Mein Problem mit der Arbeitspartei und speziell zum
Beispiel mit Beilin und anderen und Yasser Abed-Rabbo auf palästinensischer
Seite ist, dass sie dies vor drei Jahren hätten tun sollen. Sie hätten es in
Taba unterzeichnen sollen. Es ist wie jemand, der seine Examensarbeit
einreicht, nachdem das Examen vorbei ist, ein oder zwei oder drei Jahre später.
Darüber bin ich nicht glücklich. Es ist gut, dass sie es getan haben, aber –
die Arbeitspartei war, ich weiß nicht wie viele Jahre, an der Macht, und ich
denke, sie haben uns gegenüber versagt – mit uns meine ich Israelis und
Palästinenser. Genau so hat unsere Führung versagt, sie sind beide dafür
verantwortlich, in den letzten sieben, acht, neun Jahren die Gelegenheit
verpasst zu haben, den Menschen Frieden zu bringen, und deswegen glaube ich,
die Menschen müssen sich selber mehr und offen an dem Prozess beteiligen. Es
sollte nicht nur Jossi Beilin oder Peres oder wem auch immer überlassen
bleiben, der vielleicht okay ist, vielleicht aber auch nicht. Die Menschen
wollen Frieden und ich denke, die Führungen sollten tun, was die Menschen
wollen.
Uri Avnery: Dem stimme
ich völlig zu. Ich denke an diese Idee, Millionen Kopien herzustellen und an
alle israelischen Haushalte zu verteilen. Das ist ein interessanter Werbegag.
Es ist keine wirkliche politische Arbeit. Man aktiviert keine Menschen, wenn
man ihnen einen Text gibt, den die meisten nicht lesen werden. Jeder von uns
sollte sich wirklich politisch betätigen und mit den Menschen über grundlegende
Dinge reden. In diesem Sinne kann ich das, was Sari tut, eher anerkennen als
das, was Beilin tut. Doch noch einmal, ich denke, es ist gut, verschiedene Wege
auszuprobieren, verschiedene Verfahren. Wir werden sehen, was dabei
herauskommt.
Wir
sprachen darüber, was innerhalb der Gesellschaften geschieht, an der Basis. Wie
sehen Sie die Beziehung zwischen diesem Versuch, Druck von innen heraus zu
erzeugen, und dem Druck von außerhalb? Wie schätzen Sie die derzeitige
Situation ein und was würden Sie sich bezüglich des Quartetts, der EU,
bezüglich der USA wünschen, besonders in Hinblick auf das Problem mit der
Regierung Bush und den dort bevorstehenden Wahlen? Wie wichtig ist für Sie der
Versuch, einflussreiche Akteure in den USA zu beeinflussen: jüdische Gemeinden,
jüdische Organisationen, Mitglieder des Parlamentes und des Senats?
Uri Avnery: In den
Vereinigten Staaten gibt es sehr mächtige Kräfte, die gegen eine friedliche
Lösung arbeiten. Dies ist noch nicht einmal vorwiegend die jüdische Lobby. Es
ist vor allem die Lobby der christlich-evangelistischen Fundamentalisten, die
absolut furchtbar sind, doch das sind 60 Millionen Amerikaner, sie haben in der
republikanischen Partei immensen Einfluss. Sollte es Hoffnung geben, dass Bush
abgewählt wird, wird dies nicht die Lösung sein, jedoch ein Schritt vorwärts.
Auch die demokratische Partei wird sehr von pro-israelischen Einstellungen
dominiert – mit pro-israelisch meine ich pro-Scharon-Elemente – jedoch nicht so
sehr wie Bush. Meiner Meinung nach dient die amerikanische Regierung nicht den
amerikanischen Interessen, zumindest im Nahen Osten, ich denke, sie arbeiten
gegen Amerikas Interessen. Zu Europa: Wissen Sie, Europa verhält sich sehr
feige, sie scheinen keine eigenständige politische Kraft zu sein – die EU
unterwirft sich den Vereinigten Staaten. Vor zwei Wochen sagte mir ein
Außenminister, dessen Name ich nicht erwähnen will, wir sind völlig machtlos,
niemand hört auf uns, wir haben keinen Einfluss und wir können nichts tun. All
diese Probleme werden sich ändern, wenn sich Israel ändert. Wenn sich die
öffentliche Meinung in Israel ändert, wird dies auf Europa und sogar auf die
Vereinigten Staaten übergreifen. Unsere Aufgabe ist es nicht, ausländische
Interventionen zu suchen, unsere Aufgabe ist vor allem, in Israel und Palästina
Bedingungen zu schaffen, die eine ausländische Intervention möglich und
attraktiv macht. Bis dahin denke ich, was heute hier geschah, ist der richtige
Weg. Das Beste, was Europa tun kann, ist, Palästinenser und Israelis zu
unterstützen, die für den Frieden arbeiten, indem es ihnen Ansehen verleiht und
materielle Unterstützung gibt. Dies ist die wirkliche Aufgabe der Europäer, die
Friedenselemente auf beiden Seiten zu ermutigen und zu unterstützen.
Sari Nusseibeh: Auch ich
halte es für wichtig, am inneren Klima zu arbeiten – an der Meinung der
israelischen und palästinensischen Öffentlichkeit als Voraussetzung für die
Beteiligung der internationalen Gemeinschaft. Vor zwei Wochen war ich in den
Vereinigten Staaten, und wir besuchten verschiedene Kongressabgeordnete,
Senatoren, das Außenministerium, den Nationalen Sicherheitsrat, das Pentagon
und sogar – wie Sie schon sagten – Wolfowitz. Unsere Botschaft bei all diesen
Treffen war sehr einfach: Die US-Regierung hatte etwas auf dem Tisch – die Road
Map – unterstützt durch das Quartett. Doch die Road Map ist dabei, zu
scheitern, ja, sie ist schon gescheitert. Einer der Hauptgründe, warum sie
scheitern muss, warum sie scheitern wird, ist das Fehlen eines Zieles. Wir
schlugen all den Menschen, die wir trafen, vor, die amerikanische Regierung
solle klar machen, dass sie ein solches Ziel unterstützt, wie es in unserem
Ein-Seiten-Papier skizziert ist. Wir fanden viel Verständnis auf allen Ebenen.
Wir sagten ihnen, wir fänden die Road Map unzureichend, da sie in einfachen
Sätzen versuche, die Rede Bushs in einen Prozess zu übersetzen. Dies gelänge
zwar mit den meisten Komponenten, aber mit einer Komponente nicht – und zwar
der Perspektive für die Zukunft. Die Road Map spricht zum Beispiel von zwei
Staaten. Doch sie sagt nicht, wo, und wenn man sich ansieht, was Scharon tut,
kann man daraus ableiten, wo sie sein werden. Doch wenn man im Voraus sagt, der
Staat wird auf den Grenzen von 67 basieren, was mit Jerusalem geschehen wird
und so weiter, wird dies Unterstützung und Begeisterung dafür wecken, die Road
Map zum Erfolg zu führen. Als wir ihnen das erklärten, antworteten uns die
meisten von ihnen sofort – einschließlich der Leute im Nationalen
Sicherheitsrat und Elliot Abrahams –, die Road Map sei nicht heilig. Wichtig
für die sei die Rede von Bush, die ist heilig. Darum – wenn sich Vorstellungen
entwickeln ließen, die die Bush-Rede widerspiegeln, gut. So sollte man es
machen. Unglücklicherweise freundeten sich die Menschen daheim mehr mit der
Road Map an, sie wurden päpstlicher als der Papst, indem sie sagten, dies sei
»the only game in town«. Sie ist es nicht. Die Road Map ist schön und gut, aber
sie ist nicht genug. Die Europäer folgten leider auch dieser Richtung, die Road
Map ist das Einzige, erzählt uns nicht von etwas anderem. Unsere eigene Führung
begann, so zu reden.
Ich denke,
das hat damit zu tun, dass die Road Map im Vergleich zur Bush-Rede vom Juni
2002 verschiedene Elemente enthält, die die Bush-Rede nicht enthielt, wie eine
internationale Konferenz und der Hinweis auf die saudische Initiative.
Sari Nusseibeh: Aber
nutzlos, nutzlose Hinweise. Meiner Meinung nach völlig nutzlose Hinweise. Die
Road Map ist de facto die Road Map für Scharons Vision eines eingezäunten
Staates oder Enklaven für die Palästinenser. Nichts in der Road Map garantiert
mir als Palästinenser, dass eine internationale Konferenz Israel dazu bewegen
wird, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen oder Siedlungen zu
evakuieren oder mir die Souveränität über Ost-Jerusalem zurückzugeben. Sie sagt
nur, wir gehen Schritt für Schritt vor, ihr führt eure Reformen weiter, ihr
arbeitet weiter an der Sicherheit, wir werden Schritt für Schritt mehr Druck
auf euch ausüben. Dann gehen wir zu einer internationalen Konferenz und reden
über einen endgültigen Status. Bis dahin geschieht vor Ort, dass Israel auf 40
bis 50 Prozent der Westbank einen eingezäunten Staat errichtet und uns die
restlichen 40 bis 50 Prozent lässt. Meinem Verständnis nach ist die Road Map
ein Weg zum völligen Desaster, es sei denn, es gäbe im Voraus ein klares Ziel,
das sicher stellt, dass sie uns tatsächlich dorthin bringt, wohin wir wollen.
Das ist es, was der Road Map fehlt. Das ist etwas, was nicht in der Bush-Rede
enthalten war. Bush wäre glücklich, gesagt zu bekommen, das ist ihre Vision,
und wir wollen sie als ein Ziel in die Road Map aufnehmen. Ich glaube, auf
diese Art und Weise käme eine größere Beteiligung und mehr Druck durch das
Quartett zu Stande. Wenn dieser Druck mit dem Druck von unten korrespondiert,
sodass es Druck von innen und von außen gibt, kann es entscheidenden Druck auf
die Führung beider Seiten geben, die wir ja dazu bringen wollen, miteinander zu
reden.
Wenn Sie
sich Ihre Ideen, Konzepte, Ihre Visionen, wie Sie die Realität verändern
möchten, anschauen und dazu die letzten drei Jahre der aktuellen Realität, und
wenn Sie dann versuchen, diese beiden Ebenen zusammen zubringen – wo sehen Sie
dann Israel und Palästina in fünf Jahren?
Uri Avnery: Ich habe
in meinem langen Leben gelernt, dass man mit ein wenig Logik und Intuition
vorhersehen kann, was geschehen wird. Ein Element ausgenommen, das ist die
Zeit. Man hat nie Recht. Als die deutsche Mauer fiel, gab es, glaube ich,
niemanden in ganz Deutschland, der noch eine Woche zuvor auch nur davon
geträumt hätte, dass dies möglich sei, und plötzlich geschah es. Ich bin
optimistisch, und das ist kein abstrakter Optimismus. Ich glaube, wir befinden
uns inmitten einer grundlegenden Änderung der öffentlichen Meinung in Israel.
Ich glaube, dass auch auf palästinensischer Seite die Menschen auf Frieden
hoffen, aus negativen Gründen, sie haben genug von dem Krieg, sie haben genug
vom Blutvergießen, sie erkennen, dass es keine militärische Lösung gibt. Die
israelische Armee erkennt, dass sie bis hierher gehen kann und nicht weiter,
dass alles, was sie darüber hinaus tut, kontraproduktiv sein könnte. Ich denke,
dass viele Palästinenser, die Gewalt befürworten, weil sie glauben, keine
andere Wahl zu haben, nun bereit sind, andere Mittel zu wählen, wenn ihnen
Ergebnisse versprochen werden. Werden ihnen keine Ergebnisse in Aussicht
gestellt, wird dies nicht geschehen. Die Situation ist sehr, sehr ernst. Für
einen einfachen Palästinenser in einem Dorf ist es unerträglich, ich frage
mich, wie sie es schaffen, aber sie schaffen es. Diese Mauer ist ein Monster,
sie ist fürchterlich. Was immer man über sie sagt, es ist nicht schlimm genug,
sie ist viel schlimmer, als man sich vorstellen kann. Doch ich glaube, unter
der Oberfläche gibt es eine Strömung, die in Richtung Frieden führt, und dies
ist auf lange Sicht wichtiger. Meine Freunde fragen mich manchmal, wie kannst
du optimistisch sein, wenn du siehst, wie all das geschieht? Ich antworte
darauf, der Vorteil eines hohen Alters ist, dass man eine viel weitere
Perspektive hat. Ich erinnere mich an Zeiten in Israel, in denen es keine zehn
Menschen gab, die bereit waren anzuerkennen, dass es ein palästinensisches Volk
gibt. Ich habe in meinem Leben Tausende von Stunden damit verbracht,
israelischen Zuhörern zu erzählen, dass es ein palästinensisches Volk gibt.
Heute gibt es keinen Israeli, der das leugnet. Als die Idee eines
palästinensischen Staates vor 35 Jahren, 1967, geäußert wurde, klang das völlig
unrealistisch. Peres war hundertprozentig dagegen, Rabin war hundertprozentig
dagegen, extrem dagegen, und nun gibt es in Israel fast niemanden mehr, der
nicht weiß, dass es ohne einen palästinensischen Staat keinen Frieden geben
wird, auch wenn ihnen die Vorstellung vielleicht nicht gefällt. Dann begannen
wir, über die PLO zu reden, dass wir mit der PLO verhandeln müssten, ob es uns
gefällt oder nicht, denn sie vertritt die Palästinenser. Das war Verrat. Heute
ist es die offizielle israelische Politik. Wenn man dies alles über einen
längeren Zeitraum betrachtet, hat Israel einen weiten Weg in Richtung Frieden
zurückgelegt. Das Gleiche gilt für die Palästinenser. Als die Palästinenser
1988 die Idee eines palästinensischen Staates in Teilen von Palästina – etwa 22
Prozent – annahmen, war dies eine unglaubliche Revolution all dessen, an das
die Palästinenser bis dahin geglaubt hatten. Ich denke, wenn man dies aus
dieser historischen Perspektive betrachtet, bewegen wir uns definitiv in
Richtung Frieden. Dies ist vielleicht die letzte Stufe, die schwierigste, die
gefährlichste. Ich glaube, es gibt nun eine wirkliche Gefahr für die Existenz
des palästinensischen Volkes, größer als die Palästinenser selbst erkennen. Es
gibt Leute an der Macht, die das palästinensische Volk als Nation, als Einheit
eliminieren wollen. Dies ist eine große Gefahr, die Palästinenser müssen sich
ihr stellen.
Sari Nusseibeh: In den
letzten drei Jahren haben natürlich beide Seiten ihre Muskeln spielen lassen.
Dabei gibt es zwei Aspekte: Der eine ist, du übst Gewalt gegen den anderen aus.
Doch der andere Punkt ist, dass du auch siehst, wo die Grenzen der Ausübung
dieser Gewalt liegen. In den letzten drei Jahren übten sie die Gewalt aus,
indem sie die Bevölkerungen insgesamt leiden ließen, die Israelis gegen uns und
wir gegen die Israelis, doch mehr und mehr Menschen haben auch die Grenzen der
Gewalt erkannt. Also denken sie nun, vielleicht sollten wir verhandeln.
Das
Gespräch vom 16.11.03 (Köln) wurde geführt für
israel&palästina. Zeitschrift für Dialog, 1/04 und in der vorliegenden
Fassung von der Redaktion gekürzt. Wir danken Jörn Böhme für die freundliche
Abdruckerlaubnis. –
Übersetzung: Marianne Weiß.