Das Projekt einer europäischen Identität steht auf der Tagesordnung. Die Versuchung ist groß, die »Vision einer leisen Supermacht«, so der Untertitel von Jeremy Rifkins neuester Europa-Hymne, gegen die »laute« amerikanische Supermacht aufzustellen. Unser Autor meldet Zweifel an einem so begründeten Identitätsprojekt. Was Europa der Welt zu bieten hat, wird es nur mit der USA realisieren können. Das Beste davon ist die europäische Einigung selbst. Sie schlägt jene Brücken zwischen kleinen und großen, armen und reichen, zentralen und am Rande gelegenen Ländern, die auch zwischen Okzident und Orient wieder errichtet werden müssen.
Nach dem erneuten Wahlsieg
George W. Bushs machte das liberale Europa aus seinem Herzen keine Mördergrube.
Im Feuilleton einer linksliberalen Tageszeitung durfte der in den USA lehrende
Literaturprofessor Helmut Müller-Sievers an prominenter Stelle über die »ödipale«
Unreife einer Nation urteilen, die ihre Begrenzungen nicht ertragen könne.
Während in Freuds Ödipus-Modell bekanntlich das »Nein!« des Vaters dem grenzenlosen
Narzissmus des Kindes das Realitätsprinzip erst abringt, ihm die
Allmachtsillusionen raubt und normative Maßstäbe an deren Stelle setzt, die
dann verinnerlicht werden, fehle den USA dieses triebdämpfende,
narzissmusbegrenzende Überich. Die pädagogische Konsequenz seiner
Defektdiagnose überließ der Autor einer psychoanalytisch gebildeten
Leserschaft: Die seelisch unreife, selbstgefällige und ihre Grenzen nicht
kennende amerikanische Nation braucht einen starken Widerstand, damit sie
endlich erwachsen werden kann. Kann also das »Nein!« des Vaters im »Nein!« von
Schröder und Chirac gegen den Irakkrieg entdeckt werden? Soll das
alteuropäische Europa dieses zivilisatorisch und moralisch rückständige Amerika
buchstäblich Mores lehren? »Europa eine Seele geben« (Jacques Delors) – kann
das bedeuten, europäisches Selbstbewusstsein aus der Gewissheit einer kulturellen
Überlegenheit gegenüber Amerika herstellen zu wollen?
Dieses Beispiel ist
keineswegs ein überzogener Einzelfall. Es gehört in Westeuropa zum guten Ton,
den USA Narzissmus und Größenwahn zu bescheinigen, im kollektiven Unbewussten
der Nation ihren notorischen Hang zur Gewalttätigkeit zu entdecken, Bushs Persönlichkeitsstruktur
tiefenpsychologisch mit der von bin Laden zu vergleichen et cetera. Und im
interkulturellen Verachtungsdiskurs hat man vor allem in Deutschland immer
schon gerne den Tiefgang der eigenen »Kultur« einer angeblich
oberflächlich-flachen amerikanischen »Zivilisation« gegenübergestellt. Wir
haben es dabei mit einem Amerikabild zu tun, das in einem Spiegel entstanden
ist, freilich einem Zerrspiegel. Eine über ihre eigenen Motive unaufgeklärte
europäische Arroganz verzerrt jedoch nicht nur unser Bild von den USA, sondern
auch die eigene Vision eines Vereinten Europa.
Nun mögen manche einwenden:
Was heißt hier europäische Arroganz? Es sind doch die Vereinigten Staaten
gewesen, die Europa am Fall Irak ihrerseits Mores lehren wollten! Und es ist
doch keineswegs Antiamerikanismus, wenn man der einzig verbliebenen Supermacht
ihren selbstherrlichen Unilateralismus vorhält, dem Land zivilisatorische
Defizite bescheinigt und den wiedergeborenen Bush als Repräsentanten eines
bornierten Amerika attackiert. Warum sollte Europa den USA also keinen
kritischen Spiegel entgegenhalten? Dagegen spricht überhaupt nichts. Nur eignet
sich ein Spiegel – gerade das macht ihn eben zum Zerrspiegel – auch als Projektionsfläche
für eigene Unzulänglichkeiten. Das gilt umgekehrt allerdings genauso. Auch die
Wahrnehmung und Behandlung Europas durch die amerikanische Mehrheit enthüllt
ein Spiegelverhältnis, das voller Projektionen steckt, aber eben nicht ganz
falsch ist. Zur Illustration nur ein Beispiel: Während wir das Fehlen
sozialstaatlicher Sicherungen in den USA monieren, macht sich Amerika, auch das
liberale übrigens, über die europäische Vorliebe zum pampering seiner
Bevölkerung durch den Staat lustig. Die eigentümliche Verschränkung im Selbst-
und Fremdbild wirkt eben auf beiden Seiten des Atlantiks identitätsstiftend.
Und sie hat eine lange Vorgeschichte.
Bereits vor 50 Jahren hat
Hannah Arendt in ihrer Studie »Europa und Amerika« (1954, in: In der
Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 238–257)
präzise Einsichten in den inneren Zusammenhang von europäischer und
amerikanischer Identität geliefert, von denen ich einige im letzten Heft der Kommune
(6/04) referiert habe. Man kann sie so zusammenfassen: Amerika war immer schon
»sowohl der Traum als auch der Alptraum Europas«. Die antiamerikanische
»Europatümelei« ist deshalb so gefährlich, weil ihr ein »Amerikanismus« in den
USA entspricht, nämlich die Vormachtsideologie des »america first«. Europa
könnte Amerika als »Spiegelbild der eigenen künftigen Entwicklung« sehen,
weigert sich aber und begreift deshalb die europäische Einigung »als einen Akt
der Emanzipation von Amerika«. Dahinter steht die Angst vor der »Herausbildung
der modernen Welt mit all ihren verwirrenden Erscheinungen und Auswirkungen« –
heute würden wir übersetzen: die Furcht vor der kapitalistischen Moderne, vor
der Globalisierung –, die eng mit Amerika verbunden ist. Ausgerechnet der Zusammenschluss
Europas wird aber einen Zustand schaffen, »der der Situation in den Vereinigten
Staaten sehr ähnlich sein wird«.
Im europäischen Widerwillen,
die eigene Zukunft im Spiegelbild Amerika zu erkennen, liegt eine Wurzel
dessen, was Hannah Arendt damals schon Europatümelei genannt hat. Der
Antiamerikanismus gehört zum europäischen Identitätsdiskurs unvermeidlich dazu,
kann man vermuten, weil er sich als Projektionsfeld für Globalisierungsängste ebenso
eignet wie für antikapitalistische Ressentiments und sozialistische Sehnsüchte.
An der gängigen Rede von der drohenden »Amerikanisierung« lässt sich diese Vermutung
eindrucksvoll belegen.
Im neu entbrannten Streit um
Multikulturalismus, Integration und Identität äußerte sich kürzlich der
bayrische Innenminister Beckstein folgendermaßen: Ausländer müssten sich in
Deutschland integrieren, indem sie sich der Mehrheitskultur anschließen: Parallelgesellschaften,«wie
in Amerika üblich«, könnten hier nicht geduldet werden. Auf die angeblichen
US-amerikanischen Parallelgesellschaften komme ich später zurück. Was an dieser
Äußerung doch zunächst auffällt, dass sie sich wie selbstverständlich Amerika
als einer Drohvokabel bedient und dabei auf eine Zustimmung hoffen kann, die
von weit rechtsaußen bis tief ins linksliberale Lager hineinreicht. Irgendwie
scheint Unheil zu drohen aus diesem Teil der Welt.
Das Gespenst der
»Amerikanisierung« ist uns allen irgendwie vertraut (Andrei Markovits hat in
seinem kürzlich erschienenen Buch Amerika, Dich hasst sich’s besser
einiges zusammengetragen) – fast könnte man von einem europatypischen
Amerikastereotyp sprechen. Wir klagen über die »Amerikanisierung« der Kultur
(einschließlich der Esskultur), des Sports, der Medienlandschaft, der
Sozialpolitik, des Gesundheitswesens, der Alltagswelt und so fort. Hinter der
Klage über die Amerikanisierung steht nicht zuletzt die Angst vor einem
Zusammenwachsen der Welt unter kapitalistischen Vorzeichen – wenn man einmal
das Codewort »Amerikanisierung« durch Begriffe wie »gnadenlose Profitgesellschaft«,
»Kommerzialisierung der Lebenswelt«, »Flexibilisierung des Arbeitsmarkts«,
»neoliberale Sozialpolitik«, »Kulturimperialismus« ersetzt. Die
zeitgenössische, vor allem gegen die USA gerichtete Globalisierungskritik formuliert
in ihrer Sprache dasselbe, was wir Achtundsechziger früher, mit Marx und Adorno
im Gepäck, die »Entfremdung durch das Kapitalverhältnis«, die
»Universalisierung der Warenform« oder die »Verdinglichung aller Lebensformen«
genannt haben. Und schon damals kam das Grundübel aus Amerika.
Die Vereinigten Staaten
gelten in diesem Abwehrdiskurs als Musterfall einer ökonomisch brutalen, sozial
kalten, entsolidarisierten Raubtier- und Ellbogengesellschaft, der heute das
»Sozialmodell Europa« entgegengestellt wird. »Einzigartig auf der Welt«, so
Gerhard Schröder (auf der Konferenz für europäische Kulturpolitik am
26.11.04 in Berlin) habe sich »nur in Europa ... ein Sozialmodell des
Arbeitens, des Wirtschaftens und des solidarischen Zusammenlebens entwickelt,
das ... ungleiche Lebenschancen ... durch aktive Gesellschaftspolitik« überwinde,
ein »gelebtes Bekenntnis zur Pluralität« darstelle, »Toleranz dem
Andersdenkenden und Andersgläubigen gegenüber« praktiziere und einen »Mittelweg
zwischen extremem Individualismus und Kollektivismus« gehe. Ganz offenbar ist
hier der dritte Weg zwischen dem »extremindividualistisch«-kapitalistischen
Amerika und der untergegangenen »kollektivistisch«-sozialistischen Welt
gemeint, der einer gesamteuropäischen Identität die Richtung zeigen soll?
Dass Mittel- und Osteuropa
sich auf diesen »Mittelweg« nicht begeben und in die antiamerikanische
Einheitsfront nicht eingliedern wollen, verstehen wir nicht. Dass die neuen
Beitrittsländer, der Erfahrung totalitärer Gesellschaftsmodelle hinter dem
Eisernen Vorhang gerade entronnen, lieber den amerikanischen Traum
weiterträumen, empört uns geradezu: ganz so, als ob wir den Zusammenbruch der
realsozialistischen Welt, die sich als ein totalitärer Albtraum entpuppt hat,
intellektuell (um nicht zu sagen: ideologisch) nicht bewältigt hätten.
Womöglich steht jene Trauerarbeit der Linken noch an, die dem Verlust der
eigenen Utopie zu folgen hätte. Man könnte – mit Alexander und Margarete
Mitscherlich – geradezu von unserer »Unfähigkeit zu trauern« reden, wenn
man bedenkt, welche Verbrechen wir im Namen des Sozialismus, des nationalen
Befreiungskampfes, der Solidarität der Völker wenn nicht gerechtfertigt, so
doch zumindest verharmlost oder beschwiegen haben. Die Neigung, jede mögliche
Schandtat auf dieser Welt dem kapitalistischen Westen anzulasten und vor allem
seiner aggressiven Führungsmacht, den USA, ist ein Ergebnis dieser
»unbewältigten« Vergangenheit.
Sollen wir wirklich den
blutigen Kaschmirkonflikt, den Stammeskrieg in Ruanda, das Völkermorden im
Sudan oder Mugabes Tyrannenherrschaft in Zimbabwe durch die Brille des
internationalen Klassenkampfs sehen? Wollen wir auch noch den islamistischen
Anschlag auf eine Diskothek oder das palästinensische Selbstmordattentat in
einem Straßencafé auf das Konto des US-Imperialismus buchen? Oder können wir
die Welt auch in anderen Zusammenhängen sehen als den von Tätern hier und
Opfern dort? Wenn uns an der reinen Viktimisierung der so genannten Dritten
Welt (und das bedeutet immer auch: der Selbstbeschuldigung des Westens)
allmählich Zweifel kommen, könnten wir auch damit aufhören, den islamistischen
Terror als »Waffe der Schwachen« zu beschönigen, die aus der Verzweiflung gegen
die ökonomische Ausbeutung, soziale Verelendung und kulturelle Kränkung der arabisch-islamischen
Welt geschmiedet wird. Gewiss, mit dem in der Dritten Welt grassierenden, dort
politisch wohlfeilen und der Entlastung von eigener Verantwortung dienenden
Antiamerikanismus hat unsere eigene, genuin europäische Spielart wenig zu tun.
Und dennoch findet sich auch in jenem aufgeklärten, als Gegenbild zu den
Vereinigten Staaten von Amerika entworfenen Bild eines vereinten Europa so
manche offenkundige Blindheit, wie sie durch Mechanismen der Verleugnung und
Projektion regelmäßig entsteht.
Kann Europa von Amerika lernen: Sozialstaat, Gesellschaftsmodell, nationale Identität
Sozialmodell Europa?
Während Europa sein
Sozialstaatsmodell feiert, erodiert gerade dessen ökonomische Grundlage. Als ob
wir die tiefe Krise der Erwerbsgesellschaft, welche die sozialstaatlichen
Fundamente unterhöhlt, nicht wahrzunehmen bereit sind, antworten wir auf die
anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Europa seit Jahren mit einer Politik der
magischen Beschwörung. Ausgerechnet unter der Parole der sozialen Gerechtigkeit
– und ohne die Interdependenzen eines weltweiten Kapital- und Arbeitsmarkts zu
berücksichtigen – halten wir an Tarifstandards fest, die den Ausgeschlossenen
den Zugang geradezu verwehren. Dabei ist Exklusion weltweit das soziale Problem
Nummer eins, bedeutet erzwungene Arbeitslosigkeit im nationalen und
internationalen Maßstab die größte Ungerechtigkeit, der wir uns, auch moralisch
übrigens, zu stellen haben. Was so mancher (oder so manche, wie kürzlich Renate
Künast) populistisch als »Sozialdumping« attackiert, ist in Wahrheit das
unvermeidliche Resultat einer fehlgeleiteten Politik, die nach außen vergeblich
die »Festung Europa«, nach innen ebenso vergeblich die »Festung Sozialstaat« zu
sichern versucht hat.
Die »böse« Globalisierung
sorgt nämlich auch dafür, dass die skandalöse Kluft für den Preis der Arbeit
zwischen den hochentwickelten und den unterentwickelten Ländern sich auf lange
Sicht schließen wird, nicht immer nach oben. Unvermeidliches Ergebnis offener
Märkte ist jedenfalls ein Prozess der Angleichung, wie wir ihn bei
kommunizierenden Röhren kennen – eine fragwürdige, der Physik entlehnte
Metapher bloß, aber sie trifft in diesem Fall. Denn eine Begleiterscheinung
dieses Prozesses ist die Verlagerung von Kapital in so genannte
Billiglohnländer, eine andere, dazu komplementäre, ist der Einwanderungsdruck,
dem sich der prosperierende Westen ausgesetzt sieht. Was für die USA eher die
mittel- und südamerikanischen Länder sind und Indien oder Pakistan, sind für
Westeuropa eher die osteuropäischen und afrikanischen Länder sowie der Nahe Osten.
Nur gehen beide mit ihren potenziellen Immigranten anders um:
Während Amerika die
Einwanderer als Bereicherung seiner Ökonomie und kulturellen Vielfalt einlädt,
werden sie in Europa immer noch als »bloße Wirtschaftsflüchtlinge« diskriminiert
und draußen gehalten oder bloß als Verfolgungsopfer und Asylbewerber moralisch
anerkannt – was faktisch zur Einwanderung in die Sozialsysteme führt. Und
selbst der Umgang mit dem Arbeitsplatzexport ist sehr verschieden: Auch in den
USA beklagt man das outsourcing, also die Verlagerung von Jobs etwa der
einheimischen Computer- und Telekommunikationsindustrie nach Bombay oder
Kalkutta, ist aber zugleich in der Lage, den langfristigen Nutzen zu erkennen,
den die Entwicklung des indischen Subkontinents für die amerikanische und auch
für die Weltwirtschaft haben wird. Gewiss, der Erfolg der amerikanischen
Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik ist relativ und hat seinen Preis – zum
Beispiel die schlecht bezahlten Jobs der working poor. Aber hat dieses
»Sozialmodell« nicht auch Vorzüge gegenüber der Alternative, nämlich einem
dauernden Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen aus dem Berufsleben, dem
regelmäßig auch die soziale Desintegration mit all ihren depravierenden Begleiterscheinungen
folgt?
Multikulturalismus oder
Parallelgesellschaft!
Auch auf diesem beliebten
Spielfeld des völkischen Populismus gibt es für Europa keinerlei Grund, eine
moralische Überlegenheit gegenüber den USA zu beanspruchen. Hier komme ich nun
auf das Gerede vom Ende der multikulturellen Träumerei zurück. In dieser
jüngsten Debatte um nationale Identität und Leitkultur geht einiges
durcheinander und verlangt nach Klarstellung. Erstens: Moderne freiheitliche
Gesellschaften sind immer multikulturell. Neben der Mehrheitskultur gibt es
Minderheitskulturen, die im Rahmen sozialer, ethnischer oder religiöser
Bindungen entstanden sind und Zugehörigkeit unterhalb der Ebene nationaler oder
auch europäischer Identität vermitteln. Zweitens: Solche nebeneinander
bestehenden Lebenswelten sorgen nicht nur für die kulturelle Pluralität einer
Gesellschaft, sondern auch dafür, dass Spannungen gedämpft werden, die sich aus
Weltverdichtung, Zwangsnachbarschaft und unwillkommener Nähe (auch das im
übrigen Synonyme für Globalisierung) notwendig ergeben. Drittens: Multikulturalismus
wird erst dann zur Gefahr für das Zusammenleben, wenn es keinen gemeinsamen
Kodex gibt, der die verschiedenen kulturellen Lebenswelten miteinander
verbindet. Abgeschlossene Parallelgesellschaften, mit eigenen Regeln, eigener
Sprache und eigener Gesetzgebung, bedeuten Bürgerkrieg in Latenz. Viertens: In
den liberalen Demokratien des Westens besteht dieser Kodex aus demokratischen
Grundwerten, bürgerlichen Freiheiten, zivilgesellschaftlichen Verkehrsformen
und rechtsstaatlichen Normen. Deren Anerkennung muss von allen in einer
Gesellschaft zusammenlebenden Kulturen verlangt werden – anstatt Toleranz
gegenüber der Intoleranz von Überlegenheitsansprüchen zu üben, seien sie
religiös, rassisch oder ethnisch begründet.
Ein Blick auf New York City
könnte hier nützlich sein und Europa bei der Suche nach eigenen Lösungen
helfen. Gewiss, es gibt Chinatown, das sich in Manhattan inzwischen Little
Italy einverleibt hat. Ja, es gibt Little India in Queens und Little Odessa in
Brighton Beach. Es gibt die orthodox-jüdischen Gemeinden in den Stadtteilen von
Brooklyn. Es gibt Spanish Harlem. Es gibt die mexikanischen Viertel in der
Bronx, die Ghettos der Einwanderer aus Puertorico, aus Haiti, aus der
Dominikanischen Republik im Norden von Harlem und weitere Latino-Neighborhoods,
die in der ganzen Stadt mit ihren fünf boroughs verteilt sind. Der Armut
und Hoffnungslosigkeit zu Hause entflohen, versuchen all diese Menschen, hier
zu überleben, indem sie arbeiten. Und man lässt sie arbeiten – wenn auch unter
Bedingungen, bei denen sich jeder deutsche Gewerkschaftsfunktionär die Haare
raufen würde: rund um die Uhr, niedrig bezahlt, ohne soziale Absicherung. Aber
sämtliche Bewohnergruppen verstehen sich als Teil des amerikanischen Integrationsprojekts,
das eben kein melting pot im Sinne einer Verschmelzung ist, sondern eher
ein soziales work in progress: das andauernde Großprojekt einer
Gesellschaft im Wandel, die Unterschiede toleriert – bis zur erstaunlichen
Toleranz gegenüber individuellen Abweichungen, befremdenden Existenzweisen,
sonderbarsten Lebens-, Glaubens- und Ausdrucksformen, ohne die Gemeinsamkeit
aufzugeben.
Staatsbürgerschaft,
nationale Identität, Eigenverantwortung
Das kosmopolitische New York
repräsentiert nicht das ganze Amerika. Aber die USA verstehen sich immer noch –
und zwar von der Atlantikküste im Osten bis zur Pazifikküste im Westen,
einschließlich des weiten Landes dazwischen – als eine Gesellschaft freier
Bürger, die Neuankömmlinge willkommen heißt. Sie ist weit weniger fremdenfeindlich
als europäische Gesellschaften (das gilt selbst für die illegalen Einwanderer –
die undocumented, man schätzt bis zu acht Millionen, darunter
mehrheitlich Mexikaner –, die weitgehend geduldet sind). Dass so etwas wie
»nationale Identität« nicht über Blutsbande oder Hautfarbe, über Abstammung,
ethnische Zugehörigkeit oder religiöse Orientierung hergestellt wird, ist eine
von Europa aus kaum wahrgenommene Bedingung für die enorme Attraktivität und
Integrationsfähigkeit der USA. Ihr Zusammenhalt bildet sich aus diesem Grunde
so demonstrativ über äußere Symbole – über die Fahne, die Hymne, den
Verfassungstext selbst und nicht zuletzt über die großen Nationalsportarten.
Der überbordende Patriotismus, der im postnationalen Europa regelmäßig
Befremden auslöst, erklärt sich gerade aus dem Fehlen jener völkischen
Ingredienzien, die in der europäischen Geschichte bis hin zu den jugoslawischen
Bürgerkriegen zu Mord und Totschlag geführt haben.
Und da ist noch ein weiteres
in der Verfassung festgeschriebenes Integrationselixier – der pursuit of
happiness. Was Amerika im Innersten zusammenhält, ist der tief im Einzelnen
verwurzelte Glaube, dass jeder seines Glückes (auch seines Unglücks) Schmied
ist. Eine kulturvergleichende Umfrage des unabhängigen Pew-Instituts, im
Jahr 2004 diesseits und jenseits des Atlantik durchgeführt, hat dazu
aufschlussreiche Zahlen erbracht: Siebzig Prozent der US-Amerikaner- und
Amerikanerinnen schreiben sich ihr Schicksal selber zu und nur dreißig Prozent
nennen gesellschaftliche Ursachen. In Westeuropa ist dieses Verhältnis genau
umgekehrt, nur dreißig Prozent fühlen sich als Herren ihres Schicksals, während
siebzig Prozent die Gesellschaft oder andere äußere Faktoren verantwortlich
machen. Ungeachtet der empirischen Gründe für sozialen Erfolg oder Misserfolg
zeigt sich auf der einen Seite eine für die USA so typische Kultur der
Eigenverantwortung, auf der anderen Seite eine zumindest für Westeuropa ebenso
typische Kultur, die sich eher um Versorgung und Anspruch dreht. Schon aus
ökonomischen Gründen wird sich auch Europa in Richtung auf eine weniger
etatistische, dafür aber stärker auf individuelle Freiheit, persönliche
Risikobereitschaft und unternehmerische Tugenden begründete Bürgergesellschaft
ändern. Wenn sich die spezifisch ostdeutsche Befindlichkeit, das Einklagen von
Wohlstand, sozialer Sicherheit und Transferleistungen, nicht ganz Mittel- und
Osteuropa infizieren soll, wird sich das erweiterte Europa in dieser Hinsicht
den Vereinigten Staaten von Amerika annähern müssen.
Damit kein Missverständnis
entsteht. Zweifellos gibt es jene Schattenseiten des amerikanischen Traums, die
wir Europäer so gerne ausleuchten – oder von Kronzeugen wie Michael Moore oder
Jeremy Rifkin ausleuchten lassen. Und natürlich gibt es das helle Licht einer
europäischen Einigung, das wir nicht unter den Scheffel zu stellen brauchen.
Auch die etatistische Tradition in Europa hat ihre gute, nämlich eine
aggressionsdämpfende und sozialintegrative Funktion. Man kann den historisch so
fortschrittlichen Sozialstaat nicht schleifen, mit dessen dringend benötigtem
Umbau wir uns so schwer tun. Selbstverständlich muss Europa also eine eigene
Identität entwickeln, die seiner besonderen Geschichte, seinem soziokulturellen
Erbe und auch seiner gesellschaftspolitischen Vision entspricht. Aber die Suche
nach europäischer Sinngebung wird in die Irre führen, wenn sie sich negativ auf
ein verzerrtes Bild von Amerika fixiert.
Globale Verantwortung –
Weltbürgergesellschaft, Interdependenz, Rollenverteilung
Spätestens seit Europa dem
genozidalen Treiben im zerfallenden Jugoslawien zusehen musste und erst die zu
Hilfe gerufene US-Armee den ethnischen Säuberungen ein Ende bereitete, lässt
sich auch jene komfortable Arbeitsteilung nicht mehr aufrechterhalten, die moralisch
wie realpolitisch noch nie gestimmt hat: Hier das friedliebende, unschuldige,
auf Entspannung und Dialog setzende Europa, das auf Multilateralismus eingeschworen
ist – dort das aggressive, imperialistische, auf seine militärische Macht setzende
Amerika, das Unilateralismus zur Richtschnur seiner Politik erklärt. Wer die Katastrophen
des zwanzigsten Jahrhunderts verfolgt, wird dies eine Geschichtsklitterung
nennen müssen. Und für die sich abzeichnenden oder bereits eingetretenen
Katastrophen des einundzwanzigsten – ob von Menschen oder der Natur verursacht
– gilt dasselbe. Gerade die abenteuerlichen Alleingänge der letzten
verbliebenen Supermacht, ihr angemaßter Exzeptionalismus, ihre missionarische
Obsession vom Demokratieexport ließen sich glaubwürdiger kritisieren (und
womöglich wirksamer einschränken), wenn Europa seiner eigenen Verantwortung für
den Zustand der Welt besser gerecht würde. Auch hier gibt es nämlich einen
spiegelbildlichen Zusammenhang, der uns in der Vergangenheit nicht gerade zur
Ehre gereicht: Anstatt dem unilateralen Aktivismus auf der einen bloß die
multilaterale Tatenlosigkeit auf der anderen Seite entgegenzusetzen, muss
Europa seinerseits global handlungsfähig werden.
Aber wir lernen dazu, wie
man am Palästinakonflikt, an der Krise in der Ukraine oder auch an den
Anstrengungen zur Bewältigung der Flutkatastrophe in Südostasien erkennen kann.
Der längst fällige Aufbau einer gemeinsamen europäischen Entwicklungs-,
Sicherheits- und Außenpolitik kommt in Gang. Auf der Tagesordnung der Weltgesellschaft
stehen Aufgaben, die Europa und Amerika nur gemeinsam bewältigen können – indem
sie ihre Schwächen gegenseitig ausgleichen und ihre Stärken miteinander verbinden.
Im Spiegel der einen Welt wird sich am Ende zeigen, welche Entwicklungshoffnungen
(und welche Entwicklungsbefürchtungen) der demokratisch-kapitalistische Westen
als Ganzes für den unaufhaltsamen Prozess der Globalisierung verkörpert.