Ereignisse & Meinungen

 

Balduin Winter

 

Strafflut?

 

 

 

Die BBC zeigte am 22.1. eine 16-jährige Gymnasiastin in Thailand. Sie ist Klassenbeste, möchte später Biologie studieren. Sie war von der Welle durch die Straßen gespült worden, bevor sie ohnmächtig wurde, hörte sie die gellenden Schreie um sich. Von der Familie überlebte nur der Vater. Man sieht, wie das Mädchen den Arm des Vaters nimmt, als sie den menschenleeren Strand entlanggehen, wie sie sich an ihn schmiegt, als die Brandung etwas lauter antost. Es falle ihr schwer, ans Meer zu gehen. Dort müsse noch ihre Mutter sein und ihr Bruder. Sie könne nicht lernen, sie habe schwere Konzentrationsstörungen. Dann kehren beide wieder um, höher hinauf, zurück auf die Straße. Dort stehen Gruppen von Menschen, die auf das mäßig bewegte Meer schauen.

Die Psychologin und Holocaust-Forscherin Revital Ludewig-Kedmi beschreibt in der NZZ vom 15.1. (»Zwischen Zerbrechen und Bewältigung«) die posttraumatische Belastungsstörung (PTB). Als besondere psychische Belastung nach der Flutkatastrophe stellt sie fest, »dass hier in vielen Fällen Trauer um Verschollene geleistet werden muss. Trauer ohne eine Beerdigung, ohne die Gewissheit über das Schicksal von Angehörigen wird vielen Familien abverlangt.« Auch wenn die Einsicht da ist, will man die Hoffnung nicht aufgeben, und der Abschied wird immer wieder hinausgeschoben. Das »schwächste Glied in der Traumakette« sind die Kinder, zumal diese sich oft als Waisen jäh allein in der Welt finden. Ein »Plus« bei Naturkatastrophen ist die Möglichkeit kollektiver Verarbeitung. Einer Studie zufolge ist das Risiko, an PTB zu leiden, am höchsten bei Vergewaltigung und Missbrauch, etwas geringer bei Flutkatastrophen und Erdbeben.

 

Die Psychologin betont, dass viele Personen »Kraft durch den Glauben« schöpfen, aber auch dass andere den Glauben an Gott verlieren. In dieser Region ist »Gott« durch verschiedene Religionen repräsentiert. Herbert Kremp charakterisiert in der Welt vom 5.1. die wichtigsten, Buddhismus, Hinduismus, Islam, Konfuzianismus, Taoismus und Christentum und ihre Haltung zum Tod und »ewigen Leben«. Buddhisten und Hinduisten haben »die Möglichkeit der Erleuchtung« und »den Kreislauf der Wiedergeburt«, kennen aber »kein bleibendes Ich, keine personale Seele«; der Tod hat keinen Schrecken, der Mensch nimmt ihn mit Gelassenheit. Bei den Christen und Muslimen ist das anders, auf sie lauern im Sündenfall Höllenqualen, für Muslime als Durchgangsstadium, für Christen sogar für immer und ewig. In ihren Religionsgeschichten ist das Weltengeschehen ein Ausdruck göttlicher Präsenz, Naturkatastrophen wurden lange Zeit auch und gerade in den abrahamitischen Religionen als Strafe Gottes verstanden.

Berthold Seewald hat in der Berliner Morgenpost (28.12.) einen der vermutlich mächtigsten Tsunamis angesprochen, der sich rudimentär in den Erinnerungen der Menschen bewahrt und seinen Niederschlag in der Bibel als eine Art Neubegründung des Lebens auf der Erde gefunden hat: »Da sprach Gott zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz ... Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch ... Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.« (1 Moses 6) Diese Flut soll im 7. Jahrtausend stattgefunden haben, sie wird in den Schriften der Sumer um 3000 v. Chr. ebenso erwähnt wie im Gilgamesch-Epos tausend Jahre später. Neueste Forschungen datieren diese Großflut auf noch viel früher, nämlich auf das Ende der letzten Eiszeit; damals reichte die nördliche Polkappe weit nach Europa hinein, und bei einem riesigen Gletscherabbruch und -schmelzvorgang habe sich eine 1600 Kilometer lange und 120 Meter hohe Welle gebildet, die zur Hebung der Meeresspiegel auf der ganzen Welt beigetragen haben soll. Im Mittelmeer seien etwa um 14000 ganze Landbrücken, etwa jene zwischen Sizilien und Malta, »gewässert« worden, auf denen man heute – unter Wasser – ausgiebige Spuren steinerner Baukultur entdeckt hat. (ZDF, 14.1.)

Dinge, die einst völlig unerklärlich waren, die sozusagen in die Kompetenz Gottes fielen, lassen sich heute wissenschaftlich entschlüsseln. Unmittelbar nach der Katastrophe ging jedoch der Ausruf einer alten Frau aus Tamil Nadu (Südindien) rund um die Welt: »Warum, Gott, taten Sie uns das an? Was taten wir, um Sie zu verärgern?« (Telegraph India, Calcutta, 29.12.) – Die indische Zeitung führt Ausschnitte aus Predigten eines israelischen Rabbis, eines indischen Hindu-Priesters, eines muslimischen Klerikers in Malaysia und einer zyprischen Zeugin Jehovas an, die übereinstimmend vom »Zorn Gottes«, vom »künstlichen Übel«, verursacht durch den Menschen, und von einer »Gedächtnishilfe Gottes« als Weltenschöpfer und Weltenzerstörer predigten: »Traditionalisten verschiedenen Glaubens beschreiben die Vernichtung als Teil des Plans Gottes, als Machtbeweis und als Strafe für die menschlichen Sünden.« Im Guardian (28.12.) erinnerte Martin Kettle daran, »vielleicht haben wir so viel über das Potenzial unserer Zivilisation gesprochen, den Planeten zerstören zu können, dass wir dabei vergessen haben, welche ungezähmten Fähigkeiten dem Planeten innewohnen, die Zivilisation zu zerstören«. Seinem Kollegen, dem katholischen Kolumnisten Hugo Young bereitete »das Erdbeben viel mehr Schwierigkeiten« als 9/11, »denn diese Katastrophe und der Glaube an ein Gottesurteil sind tatsächlich sehr schwer miteinander zu versöhnen«. Eine Antwort versuchte der australische Philosoph Edward Spence im Fairfax Digital (30.12.), der die wohltätige Seite des christlichen Gottes ebenso bestreitet wie die manichäische Auffassung. Er beruft sich auf Epikur, für den »die Götter zwar nicht verrückt (waren), aber sowohl gegenüber menschlicher Heiterkeit als auch gegenüber Kummer schlicht und einfach gleichgültig. Wenn es zu sozialen oder natürlichen Übeln kommt, sind wir ganz allein.« Das Übel aber ist kein Rätsel, sondern ein Mysterium, wie auch das Leben selbst ein Mysterium ist, das nur durch das Mysterium der Liebe wirklich erfahren werden kann. Gegenstimmen erhoben sich von linker Seite, István Eörsi schrieb in der Budapester Zeitung Élet és Irodalom vom 14.1.: »Welche seelischen Turnübungen helfen ihm [dem gläubigen Menschen, B. W.] dabei, dass er akzeptiert, dass ein unendlich mächtiger, unendlich gütiger Geist eine schlechte Welt erschaffen hat? Wie soll er ohne Ironie zur Kenntnis nehmen, dass dieser am Ende sogar noch zufrieden war mit seinem Werk? ›Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte: und siehe da, es war sehr gut.‹ (1.Moses 1.31) Selbst die Gläubigen können das nur dann annehmen, wenn sie ihm die Fähigkeit zu jeglicher Weitsicht absprechen.«

 

Bei allen fundamentalen Zweifeln am göttlichen Charakter der höheren Gewalt, geäußert vorwiegend in den ersten Tagen nach der Katastrophe, schien doch das von Edward Spence angesprochene »Mysterium der Liebe« in Gestalt einer nie gekannten Welle von Spenden- und Hilfsbereitschaft sofort zu greifen. Auch wurde, jedenfalls in den westlichen Medien, weit weniger auf die göttliche als auf die naturwissenschaftliche Erklärung rekurriert. Etwas fiel jedoch in Sachen Religion auf. Es gibt hier tiefe Gräben in der Welt. Gleich in den ersten Tagen danach berichten SZ und Zeit (5.1.) von Reden muslimischer Prediger, die den Tsunami als Strafgericht Allahs darstellten – und als Strafe für die zu geringen Anstrengungen der Muslime im Kampf gegen Juden und Ungläubige. In der ägyptischen Wochenzeitung Akhbar Al-Yawm (1.1.) hat der Generalsekretär von The Arab Doctors’ Association erklärt: »Das war eine göttliche Bestrafung für die Unterdrückung der Moslems durch Ungläubige und die USA.« Diese hätten auch bei der Hilfe das Heft an sich gerissen. Die Gläubigen hingegen müssten denen helfen, die im Kampf für den heiligen Jihad stehen und ihr Blut im Irak, in Tschetschenien, in Afghanistan, in Bosnien vergössen – Sieg oder Martyrium ... Zahlreiche Erklärungen ähnlicher Art aus dem Raum der OAS listet das MEMRI auf (http://memri.org/), wobei die Feinde ergänzt werden durch Indien und Israel und ihre Untaten sich durch den thailändischen Sündenpfuhl potenzieren.

Es scheint, als ob ein Gutteil der christlichen und muslimischen Publizistik durch einen Epochengraben getrennt ist. Auch ohne Christ zu sein kann man feststellen, dass die christliche Rhetorik weitgehend den Bahnen der Aufklärung und dem Grundgedanken der Säkularisierung folgt. Fundamentalistische Ausnahmen existieren, wie Jörg Lau in der Zeit (13.1.) aufzeigt, wenn er auf die höchst ungustiöse Homepage der evangelikalen Fanatiker verweist(http://www.raptureready.com), denen nicht wenige der regierenden Neocons angehören. Auf der islamischen Seite hingegen droht die Gefahr einer wachsenden Vereinnahmung der Religion durch radikale Kreise, die es aufgegeben haben, den intellektuellen Vorsprung des Westens aufholen zu versuchen und an Stelle von Vernunft und Wissenschaft ihre Welterklärung ausschließlich aus der göttlichen Schrift beziehen, die sie als Kampfschrift auslegen.

Auch in der Vorgangsweise der konfessionellen Hilfsgruppen gibt es, wie The New Zealand Herald vom 14.1. berichtet, große Unterschiede. »Es ist eine alte Debatte, die mindestens ins 16. Jahrhundert zurückgeht, als sich Jesuiten und Franziskaner um die Seelen in China bewarben: Sollte die Religion für Handel oder für Hilfe sorgen? Heute freilich sagen die meisten konfessionellen Hilfsgruppen, dass sie den lokalen Kulturen nachgeben und ihre Handlungen lauter sprechen lassen als Wörter.« Anders hingegen die muslimischen Gruppen des MMI, des Rats der Indonesischen Mujahedins, gegründet vom radikalen Kleriker Abu Bakar Bashir, die ausdrücklich geistliche Arbeit – und somit Propaganda – machen. In der Bürgerkriegsprovinz Aceh mit 95 Prozent muslimischer Bevölkerung (Navid Kermani hat in der taz am 22.1. einen guten Abriss der Problemlage geliefert) ist derzeit einiges im Gange.

 

Einen Augenblick lang keimte Hoffnung auf: »Die Welt rückt zusammen«, titelte die Zeit (5.1.), konnte diese Hoffnung freilich nicht konkret begründen. Neu war, dass wohl nie zuvor eine so große Zahl von Menschen sich für eine Naturkatastrophe interessiert hat, für ihr Zustandekommen, für Vorwarnsysteme, für die betroffene Region. Auch die Hilfsbereitschaft der breiten Massen war einmalig, sie ging vielfach über die anonyme Spende hinaus. Dort aber, wo das Politische beginnt, tauchen viele Fragen auf. Wird es tatsächlich eine Wende in der Entwicklungspolitik geben, wie führende Politiker der rot-grünen Koalition oft beteuert haben? Werden die finanziellen Zusagen der Staaten wirklich eingehalten – oder wird sich die Kritik Kofi Annans sowie des UN-Hilfskoordinators Jan Egeland bewahrheiten? Wird der Konflikt USA–UN sich verschärfen (allerdings auch der Konflikt: arabische Länder–UN), waren die kümmerlichen Ergebnisse der Konferenz von Kobe nicht schon ein schlechtes Omen? Wird man bei der Ursachenfrage je auf einen gemeinsamen Nenner kommen?

Ulrich Beck hat in der NZZ (14.1.) festgestellt, es gibt »keine ›reinen‹ Naturkatastrophen; immer ist menschliches Handeln – oder Nicht-Handeln! – im Spiel«. Die neokonservativen Falken im American Enterprise Institute haben sofort die UNO und NGOs unter Feuer genommen (z. B. der ehemalige Präsidentenberater David Frum in der kanadischen National Post, 4.1.) und vom »Machtspiel der Vereinten Nationen« gesprochen. Glenn Reynolds behauptet: » Der beste Schutz gegen Katastrophen ist eine Gesellschaft, die reich genug und verschieden genug ist, für alle Arten von Eventualitäten bereit zu sein. Das bedeutet, dass Wirtschaftswachstum und die Freiheit, die es erzeugt, der beste Bürge der Sicherheit für uns alle sein kann.« Eine reiche Gesellschaft, so Dave Glassman vom AEI (www.aei.org/news/ newsID.21797,filter./news_detail.asp), hat eben alles, »nicht zu erwähnen die Einbildungskraft und Flexibilität, um auf Unvorhergesehenes antworten zu können«.

Dagegen stellt Ulrich Beck fest, »dass in der Dritten Welt die Fremdgefährdung durch den Westen als Gefahrendefinition an Boden gewinnt. Danach sind es die Industrienationen mit ihrem umweltzerstörerischen Verhalten, die für immer mehr Naturkatastrophen die Verantwortung tragen. ... Das ist die weltpolitische Ambivalenz, die mit der Flutkatastrophe hervorbricht: Sie kann einem kosmopolitischen Blick zum Durchbruch verhelfen oder aber dem antimodernen Fundamentalismus Auftrieb geben. Wird angesichts solcher Ereignisse bald einmal das Imperial der westlichen Globalisierung angeklagt werden? Oder gelingt es heute, durch nachhaltige Hilfe das westliche Versprechen auf kosmopolitische Verantwortung für das Leiden der Anderen glaubhaft zu machen?«